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© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2019

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2019

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Projektleitung: Simone Kohl

Lektorat: Sylvie Hinderberger

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Lena-Maria Stahl

 

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ISBN 978-3-8338-7210-5

1. Auflage 2019

 

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Coverabbildung: Gettyimages

Illustrationen: Adobe Stock; iStock

Fotos: Gettyimages

Syndication: www.seasons.agency

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JETZT WIRD’S GRUSELIG ...

Das Geräusch des prasselnden Regens hatte fast etwas Beruhigendes. Rhythmisch schlugen die Tropfen auf den schwarzen Asphalt und bildeten immer größere Pfützen. Auf den sonst so belebten Straßen der Großstadt war niemand zu sehen oder zu hören. Nur eine junge Frau lief schnellen Schrittes durch die Gassen, die Kapuze ihrer Jacke tief ins Gesicht gezogen, um sich vor dem immer stärker werdenden Regen zu schützen. Sie kam von einer Party und hatte sich entschieden, das Geld fürs Taxi zu sparen und die 15 Minuten zu ihrem Wohnheim zu Fuß zu gehen. Ängstlich schaute sie sich an jeder Kreuzung um, doch die Gegend war wie ausgestorben. Die Autos standen still. Die Bars waren geschlossen. Keine Menschenseele weit und breit.

Das letzte Stück ihres Heimweges führte durch einen Park, der nur spärlich von Straßenlaternen beleuchtet wurde. Sie kannte den Ort gut, bei Tageslicht war er eine grüne Ader in den Häuserschluchten. Jetzt, bei Dunkelheit, jedoch wirkte alles ganz anders. Finster und bedrohlich. Sie dachte kurz daran, einen Umweg zu nehmen, entschied sich aber dagegen. Es würde keine drei Minuten dauern, den Park zu durchqueren. Und sie war einfach nur müde und wollte ins Bett.

Sie hielt ihr Handy ans Ohr und drückte eine Kurzwahltaste, die sie mit ihrer besten Freundin verbinden sollte. Sie wollte wenigstens eine Stimme bei sich haben, die sie auf diesem dunklen Weg begleitete. Aber es klingelte vergeblich. Also steckte sich die Frau ihre Kopfhörer ins Ohr, um etwas Musik zu hören.

Sie sah ihn weder, noch hörte sie ihn kommen. Er dagegen hatte sie schon von Weitem beobachtet. Hatte sich versteckt. Ihr aufgelauert wie ein Jäger seiner Beute. Und sich dann herangepirscht. Die Dunkelheit war seine Verbündete. Es war eine Sache von Sekunden. Wie aus dem Nichts presste er das Tuch auf ihr Gesicht. Sie war viel zu überrascht, um sich zu wehren. Hilflos zappelte sie ein letztes Mal, konnte gerade so realisieren, was passiert war, da wirkte bereits das Chloroform …

Diese fiktive Geschichte gibt wieder, wie wir uns ein Verbrechen vorstellen: Es findet nachts statt, im Dunkeln, an einem einsamen Ort. So kennen wir Morde aus Filmen und Serien. Und deswegen hat man manchmal den Eindruck, hinter jeder Ecke lauere ein Serienmörder, ein Psychopath oder Killer. Die Wahrheit jedoch ist eine andere.

Die größte Gefahr, ermordet zu werden, erwartet euch nicht draußen. Der Killer lauert nicht in einem dunklen Park, nicht in einer nächtlichen Großstadtgasse und nicht in einem düsteren Wald. Geht man nach den Statistiken, ist der Mörder auch kein geheimnisvoller Unbekannter, kein Phantom oder Serienkiller. Es ist der eigene Partner, der Nachbar oder der beste Freund. Jemand, den wir kennen. Denn Menschen, denen wir vertrauen, von denen wir ganz fest denken, dass sie uns niemals ein Leid zufügen, sind die, die genau das am ehesten tun würden. Der Tatort ist das Schlafzimmer, die Küche oder der Garten – Orte also, an denen wir uns eigentlich sicher und beschützt fühlen.

Jeder noch so gute Mensch hat eine böse Seite an sich und manche Experten behaupten sogar, dass unter den entsprechenden Umständen jeder zum Mörder werden könnte. In diesem Buch beschreibe ich 13 spektakuläre echte Kriminalfälle, von denen einige niemals aufgeklärt wurden. Ein paar davon zeigen die schlimmsten menschlichen Abgründe auf und in nicht wenigen findet sich der Täter im nächsten Umfeld des Opfers. Eine Mutter entführt ihr eigenes Kind. Ein charmanter Arzt baut ein Hotel voller Geheimgänge, in dem er grausam mordet. Ein Mädchen engagiert Auftragskiller für ihre eigenen Eltern …

Bei drei der ominösen Fälle hat mir der erfahrene Kriminal- und Geheimdienstanalyst Mark T. Hofmann seine Sicht der Dinge geschildert. Von ihm stammt auch das erste Kapitel, in dem er über die Arbeit als Profiler schreibt und darüber, was einen Psychopathen von anderen Verbrechern unterscheidet.

Bist du bereit, in die Schattenseiten unserer Welt einzutauchen? Dann wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen! Nur noch ein kleiner Tipp: Lies es nicht unbedingt nachts alleine zu Hause.

Mord, Totschlag, Diebstahl, Entführung und Einbruch. Jeden Tag passieren überall auf der Welt die schlimmsten Verbrechen. In unserer Fantasie finden diese Taten immer an dunklen, einsamen Orten statt und der Täter ist ein geheimnisvoller Unbekannter. Die Realität sieht völlig anders aus. Nicht umsonst ermittelt die Polizei immer zuerst im Umfeld des Opfers. Die Täter sind oft der eigene Partner, der Nachbar oder der beste Freund.

In seinen Geschichten zeigt Julian Hannes alias Jarow die schlimmsten menschlichen Abgründe: Eine Mutter entführt ihr eigenes Kind. Ein charmanter Arzt baut ein Hotel voller Geheimgänge, in der er Leute grausam ermordet. Ein Mädchen engagiert Auftragskiller für ihre eigenen Eltern.

Und der Criminal Profiler Mark T. Hofmann erklärt uns, wie es passieren kann, das eigentlich ganz normale Menschen zu solch schlimmen Verbrechen fähig sind.

IST DER MENSCH WIRKLICH BÖSE?

»Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

Friedrich Nietzsche

Die Aufgabe eines guten Profilers ist es, das Verbrechen mit den Augen des Täters zu sehen: Zu spüren, was der Täter spürt. Zu sehen, was der Täter sieht. Zu denken, was der Täter denkt. Es erfordert wahre Empathie, sich in Menschen und Taten zu versetzen, für die man eigentlich nur Verachtung empfindet. Das Böse hat etwas Abschreckendes und Faszinierendes zugleich.

Ich hatte die Gelegenheit, zahlreiche Interviews mit solchen Menschen zu führen, die die meisten nur aus Krimis kennen – vom Serienmörder bis zum funktionellen Psychopathen in der Wirtschaft. Dennoch kennen weder Profiler noch Analysten oder Kriminologen die genaue Formel für das, was einen Menschen zum Mörder macht. Sonst wüsste man wahrscheinlich auch, wie man Morde verhindert. Zumindest aber können wir aufgrund der aktuellen Forschung und aus zahlreichen Befragungen sagen, was Mord wahrscheinlich macht.

Wir haben oft nur eine Erklärung für Mörder: Die sind einfach böse! Aber ist das wirklich so? Wird jede böse Tat von einem bösen Menschen verübt? Oder können auch gute Menschen Böses tun? Wie wird ein Mensch zum Mörder? Kann jeder dazu werden? Oder noch präziser: Könnten Sie zum Mörder werden? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir einen kurzen Blick in den Kopf der Täter werfen – und in Ihren.

Psychopathen

Auch wenn das, was böse ist, immer im Auge des Betrachters liegt, gibt es doch Menschen, die dem, was die meisten als böse bezeichnen, am nächsten kommen: Psychopathen. Ihre Wesensmerkmale: ein flaches Gefühlsleben, keine echte Empathie und manipulatives Verhalten.

Ob ein Mensch psychopathisch ist, wird wissenschaftlich meist auf einer Skala von 0 bis 40 gemessen – wobei man ab etwa 30 Punkten von Psychopathie spricht. Psychopathie ist also keine Schwarz-Weiß-Kategorie, sondern eine fortlaufende Skala – und wir alle befinden uns auf dieser Skala irgendwo zwischen 0 und 40 Punkten.

Psychopathen sind nicht verrückt im klassischen Sinne. Sie wissen, was sie tun, sind klar orientiert im Hier und Jetzt und haben oft ein auffallendes Charisma. Psychopathen wirken nicht selten sympathisch und charmant und können Empathie oft täuschend echt nachspielen – eine Eigenschaft, die als Mask of Sanity1, also »Maske der Vernunft«, bezeichnet wird. Robert D. Hare, einer der führenden Forscher auf dem Gebiet, beschreibt Psychopathen als geistreich und wortgewandt mit einer chamäleonartigen Anpassungsfähigkeit.2 Ein exzellentes Beispiel für so ein »Schauspiel« ist das letzte Interview des Serienmörders Ted Bundy, das bis heute auf YouTube zu finden ist.

Ein Prozent aller Menschen sind das, was die Psychologie als Psychopathen bezeichnet. Dieser Begriff ist, auch wenn er klingt, als stamme er aus einem Thriller, die wissenschaftlich korrekte Bezeichnung für dieses Persönlichkeitsprofil. Soziopathie und die antisoziale Persönlichkeitsstörung sind nicht gleichbedeutend. Ein Prozent: Das mag wenig klingen, bedeutet aber auch, dass jeder von uns zumindest einen Psychopathen kennt und jedes große Unternehmen ein paar davon beschäftigt. In manchen Branchen und Berufsgruppen liegt die Psychopathiequote sogar deutlich höher: Zu den drei »Topgruppen« zählen Geschäftsführer, Anwälte und Medienleute, insbesondere aus TV und Radio.3

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, wie ein Psychopath Geschäftsführer werden kann? Sind Psychopathen ohne Gewissen und Empathie nicht zwangsläufig kriminell? Nun, das grundlegende Profil bei Psychopathen ist immer ähnlich: flaches Gefühlsleben, Empathielosigkeit, kein Gewissen. So gut wie immer haben diese Menschen Freude daran, Macht auszuleben und sich das zu nehmen, was sie wollen. Allerdings ist der Modus Operandi, also die Art, wie das Motiv befriedigt wird, unterschiedlich. Ein Versager, der weder in der Schule noch im Beruf oder bei Frauen jemals erfolgreich war, braucht ein Messer in der Hand, um ein einziges Mal in seinem Leben ein Machtgefühl über einen Menschen auszuleben. Wer dagegen in Harvard studiert hat, findet im Leben andere Wege, sein Machtgefühl über Menschen ohne physische Gewalt auszuleben.

Ich selbst begegnete Serienmördern das erste Mal in einem Gefängnis in Palm Beach, einer kleinen Stadt in Florida, wo auch Donald Trump gerne Urlaub macht. Die meisten von ihnen sind keine cleveren Masterminds. Wir sollten diese Killer also nicht geheimnisvoller oder interessanter machen, als sie sind. Oder um es deutlicher zu sagen: Nur die Versager morden, die Cleveren gehen eher in die Wirtschaft.

Nicht alle Psychopathen sind also kriminell – genauso wie nicht alle Kriminellen Psychopathen sind. In Gefängnissen liegt der Psychopathenanteil bei etwa 20 Prozent.4 Das ist deutlich höher als in der Normalbevölkerung, aber immer noch weit entfernt von 100 Prozent. Dieses eine Fünftel der Insassen ist jedoch für besonders viele und besonders schwere Gewalttaten verantwortlich. In Nordamerika zum Beispiel geht rund die Hälfte der schweren Gewaltkriminalität auf Psychopathen zurück.5

Psychopathen sind blind für Gefühle

Will man verstehen, warum ein Mensch mordet und was Mörder unterscheidet, ist Psychopathie ohne Zweifel ein wesentlicher Faktor in der Mordformel. Betrachtet man die typischen Mordmotive, wie verletzter Selbstwert, Habgier und Rache, sind diese gar nicht so unmenschlich. Wir alle hätten doch gerne einen Groschen mehr in der Tasche oder waren schon einmal wütend auf den Ex-Partner, die Ex-Partnerin. Die Motive hätten wir also, wir morden aber deswegen nicht.

Anstatt danach zu suchen, was Mörder haben, das uns fehlt, muss man die Frage daher eher umdrehen: Was haben wir, das vielen Mördern (und insbesondere den Psychopathen) fehlt? Wir haben Empathie, ein Gewissen und ein funktionierendes Gefühlsleben. Wir übernehmen Verantwortung, können unsere Impulse kontrollieren und sind clever genug, die Konsequenzen unseres Handelns (wie zum Beispiel 15 Jahre Gefängnis) vorher abzusehen. Kriminelle Psychopathen dagegen übernehmen keine Verantwortung und handeln impulsiv, ohne vorher über die Konsequenzen nachzudenken.

Meine Faszination für das Böse ist bis heute ungebrochen. Mir ist jedoch klar geworden, dass ich die cleveren Psychopathen eher an der Wallstreet suchen muss als im Gefängnis. Um Psychopathie umfassend zu verstehen, musste ich also nicht nur Interviews mit Kriminellen führen, sondern auch mit sogenannten funktionellen Psychopathen aus der Wirtschaft. Dazu waren unzählige anonyme Apps, viel Überzeugungskraft und jede Menge Geduld nötig.

Am meisten fasziniert mich die völlige »Blindheit« für Gefühle. Manche Psychopathen sagten mir, sie hätten Gefühle, obwohl nichts aus dem Gespräch darauf hindeutete. Auf die Frage, was genau Trauer sei, antwortete mir zum Beispiel eine junge Dame: »Trauer ist zum Beispiel, wenn man den Bus verpasst.« Ein Naturwissenschaftler, der anonym mit mir sprach, beschrieb Liebe als »einen sich annulierenden Adrenalinpegel«. Und keiner meiner Probanden konnte mir den Unterschied zwischen Glück und Liebe erklären. Stattdessen lernen Psychopathen Gefühle oft wie Vokabeln: Auf Beerdigungen muss man traurig sein und über Geschenke muss man sich freuen. Sobald man jedoch nach den feinen Schattierungen der Emotionen fragt, wird die Luft sehr, sehr dünn.

Born or made?

Wenn wir über Mord, das Böse und Menschen wie Adolf Hitler sprechen, wird eine Frage immer wieder gestellt: Werden diese Menschen so geboren oder sind sie im Lauf ihres Lebens zu dem geworden, was sie sind und waren? Oder wie man in Amerika kurz und knapp fragt: »Born or made?«

In einer TV-Doku zum Thema Pädophilie wurde einmal ein Sexualmediziner mit der Frage konfrontiert, warum Menschen pädophil sind. Er gab darauf die beste Antwort, die ich bis dato gehört habe: Das hat biopsychosoziale Gründe – was in meinen Augen die wahrscheinlich cleverste Art ist zu sagen, dass wir keine Ahnung haben, wo es herkommt.

Bei Psychopathie ist die Antwort ähnlich ernüchternd: Zwillingsstudien und Gehirnscans zeigen, dass es gewisse biologische und genetische Veranlagungen gibt. Ich halte es jedoch für gefährlich, diese genetischen Faktoren zu stark hervorzuheben, weil es die Täter in gewisser Weise von ihrer Schuld freispricht. Wenn sie so geboren sind, können sie ja nichts dafür. Das ist jedoch falsch! Um noch einmal auf das Beispiel der Pädophilie zurückzukommen: Die betroffenen Menschen können zwar nichts dafür, was sie sexuell anziehend finden. Sie können aber sehr wohl etwas für ihre Taten.

Bei manchen Serienmördern lassen sich erstaunliche Parallelen in der Kindheit entdecken. Viele berichten zum Beispiel, dass sie als Kind zugesehen haben, wie Tiere geschlachtet wurden, und sehen darin eine Art Schlüsselerlebnis. Solche Faktoren alleine sind jedoch keine Erklärung. Tausende andere Kinder, die ebenfalls bei einer Schlachtung dabei waren, führen ein völlig normales Leben. Es muss also eine ganz bestimmte Person mit ganz bestimmten Genen ein ganz bestimmtes Schlüsselerlebnis machen. Es ist ein Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren – und die exakte Formel ist bislang nicht bekannt.

Ein fundamentaler Denkfehler

Wenn wir die Frage stellen, warum Menschen morden, fokussieren wir uns auf zwei Möglichkeiten: Entweder sie sind böse geboren oder sie sind böse geworden. Auf jeden Fall aber steht außer Zweifel, dass die Ursache in der Person liegt.

Mit so einem Menschen muss einfach irgendetwas nicht stimmen. Wer Böses tut, muss böse sein. Was wir dabei eindeutig unterschätzen, ist die Macht der Umstände. Und dieser Denkfehler ist solchermaßen typisch und gravierend, dass er in der Psychologie einen eigenen Namen erhalten hat: fundamentaler Attributionsfehler.

Wir neigen dazu, die Ursache einer Handlung immer in der Person zu sehen, die sie ausübt: Jemand fährt nicht los, obwohl die Ampel grün ist? Sonntagsfahrer! Die Rezeptionistin lächelt nicht? Arrogant! Jemand schreit am Flughafen rum? Aggressiver Choleriker! Alles eine Sache der Persönlichkeit.

Aber stellen Sie sich vor, jemand würde mir nur zwei Situationen aus Ihrem Leben erzählen: eine, in der Sie einen Fehler gemacht haben, und eine, in der Sie wütend waren. Das Profil, das ich daraufhin von Ihnen erstellen würde, lautet: dumm und aggressiv. Wahrscheinlich würden Sie sofort widersprechen und erklären, dass das ja zwei Ausnahmesituationen waren. Sie würden erklären, wie es dazu kam, was die Vorgeschichte war, warum das passieren konnte. Wie Sie normalerweise sind, welche Personen involviert waren und was die vorher gemacht oder gesagt haben. Was danach passiert ist …

Bei uns selbst sehen wir durchaus die Komplexität hinter dem, was wir tun. Bei anderen dagegen sehen wir nur das Ergebnis ihrer Handlungen, nicht, wie es dazu kam.

Extremsituationen

Wenn ein Prozent aller Menschen Psychopathen sind, heißt das auch, dass 99 Prozent aller Menschen keine Psychopathen sind. In vielen Fällen liegt die Lösung, um zu verstehen, warum Menschen töten, also gar nicht im Kopf der Täter, sondern in der Situation. Auch gute Menschen können Böses tun, sofern sie in Extremsituationen geraten.

Der Psychologe Kurt Lewin hat eine gute Formel gefunden, um menschliches Verhalten zu erklären: Verhalten = Person x Umwelt. Um Verhalten zu analysieren, muss man also die Person und die Situation kennen.

Anfang 2017 stach in England die 34-jährige Diane C. mit einem Messer auf ihren Freund ein, weil er ihre Pommes gegessen hatte.6 Man weiß nicht genau, ob man lachen oder weinen soll, wenn man so eine Geschichte hört. Tatsache aber ist: Manche Personen haben ein so hohes Gewaltpotenzial, dass schon kleinste Provokationen der Umwelt zu einem Gewaltexzess führen können. Immer wieder gibt es Meldungen von schweren Körperverletzungen und Morden wegen eines falschen Blickes, einer Beleidigung, lächerlich kleinen Geldbeträgen – oder eben auch Pommes frites. In diesen Fällen sind die Psychopathiewerte wahrscheinlich höher als gewöhnlich. Zumindest der Aspekt »Impulskontrolle« scheint nicht gegeben zu sein.

Es gibt aber auch wirkliche Extremsituationen, die selbst friedliche Menschen aggressiv machen können. Ein kleines Gedankenexperiment: Ich nehme an, dass Sie nicht wegen ein paar Pommes auf jemanden einstechen würden. Aber wie sieht es aus, wenn Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin beim Fremdgehen erwischen würden? Können Sie auch hier sicher sagen, dass Sie ruhig und besonnen reagieren würden? Was wäre, wenn Ihr Kind Opfer von sexuellem Missbrauch geworden wäre und Sie dem Täter vor Gericht begegnen würden? Das freche Grinsen auf dem Flur brächte Sie vermutlich bereits innerlich zum Kochen.

Aber was, wenn er auch noch stolz auf seine Taten wäre und Ihnen wortwörtlich ins Gesicht spucken würde? Könnten Sie dann immer noch sicher Ihre Reaktion vorhersagen?

Ich will das Töten eines Menschen in keiner Weise rechtfertigen und Selbstjustiz nicht verteidigen. Manchmal liegt die Erklärung für eine böse Tat aber nicht in der Person, sondern in der Situation. Wir wissen zum Beispiel, dass Menschen in der Geschichte immer wieder zu Kannibalismus neigten, wenn die Alternative die war zu verhungern. Die Situation muss nur extrem genug sein, damit auch ganz normale Menschen Dinge tun, die sie sonst nie tun würden.

Kann also jeder Mensch zum Mörder werden? Diese Frage beantworten Experten unterschiedlich. Ich persönlich würde sagen: Nein, nicht jeder, aber wahrscheinlich die Mehrheit – wenn die Umstände extrem genug sind. Ich glaube aber auch, dass es Menschen gibt, die niemals töten würden – egal, in welche Situation sie kommen, und egal, was passiert. Andere hingegen würden wegen einer Pommes töten. Profiling bedeutet, Details zu beobachten, rückwärts zu denken und Motive herauszufinden. Wir sollten Verhalten immer im Kontext sehen, im Sinne der Formel: Person x Situation.

Blinder Gehorsam

Wohl kaum ein Versuch in der Psychologie wurde so berühmt wie die Gehorsamkeitsexperimente von Stanley Milgram. Auch wenn seine Gehorsamkeitsexperimente heute umstritten sind und die Ergebnisse teils anders interpretiert werden, wurden die wesentlichen Erkenntnisse doch immer wieder bestätigt. Was war das für ein Experiment?

Stellen Sie sich vor, Sie betreten ein Versuchslabor. Ein Versuchsleiter kommt auf Sie zu und begrüßt Sie. Er trägt einen weißen Kittel und hat einen festen Händedruck. Er erklärt Ihnen, dass es in dem Experiment um das Thema Gedächtnis und Bestrafung gehen soll. Es gibt zwei Teilnehmer. Sie bekommen die Rolle des Lehrers zugewiesen, eine andere Person nimmt die Rolle des Schülers ein. Der Schüler wird in einen Nebenraum gebracht, wo Sie ihn zwar nicht mehr sehen, aber immer noch gut hören können. Er wird dort an einen Elektroschocker angeschlossen – und Sie sitzen an den Schaltern, um die Elektroschocks auszulösen. Der Versuchsleiter erklärt Ihnen, dass der Schüler gleich Aufgaben bekommt. Wenn er einen Fehler macht, sollen Sie ihm einen Schock verpassen – und dabei die Stärke der Elektroschocks bei jedem Fehler steigern.

Es geht los, der erste Fehler passiert und Sie lösen einen kleinen Schock von etwa 15 Volt aus. Die Fehler werden immer mehr, die Schocks immer stärker. Sie werden nervös, der Schweiß steht Ihnen auf der Stirn. 75 Volt, Sie hören den Schüler bereits deutlich leiden. Der Versuchsleiter jedoch erklärt, Sie müssen weitermachen. 120 Volt: Sie hören laute Schmerzensschreie aus dem Nebenraum. Fragend sehen Sie zum Versuchsleiter, aber der meint, es ist wichtig, dass Sie weitermachen. 150 Volt: Der Schüler will abbrechen. 200 Volt: laute Schreie, die Ihnen das Blut in den Adern gefrieren lassen. 300 Volt: Der Schüler trommelt gegen die Wand des Raums. 315 Volt: Er schreit und trommelt nochmals gegen die Wand. 330 Volt: Stille. Sie hören nichts mehr. Keine Antwort, keine Schreie. Haben Sie die andere Person getötet? Der Versuchsleiter aber bittet Sie immer noch, weiterzumachen und die Stärke der Schocks zu erhöhen …

So hätte es sich abgespielt, wenn Sie einer der 40 Teilnehmer des ursprünglichen Experiments gewesen wären – zumindest aus Ihrer Sicht. Aber keine Sorge, in diesem Experiment wurde niemand wirklich verletzt: Der Schüler und der Versuchsleiter waren Schauspieler. Es gab keine echten Schocks, alles war nur Inszenierung. Das Experiment war wie ein Theaterstück, der Einzige, der nicht eingeweiht war, war derjenige, der die Schocks verpasste. Es ging auch nicht um das Thema Gedächtnis. Es ging darum, herauszufinden, wie weit die Probanden gehen. Wann würden sie abbrechen? Wann würden sie sich weigern weiterzumachen?

Wahrscheinlich werden Sie jetzt sagen, dass Sie nie bis über 300 Volt gegangen wären. Dass Sie spätestens beim ersten Schrei abgebrochen hätten. Die Ergebnisse der Studie zeigen aber etwas anderes: Von den 40 Teilnehmern haben nur 14 das Experiment vor dem stärksten Schock abgebrochen. Die meisten Menschen gehen immer weiter und weiter und weiter – nur weil eine scheinbare Autorität das befiehlt.

Aber ist es so einfach? Kann man durchschnittliche Personen in einem so simplen Experiment zu Mördern machen? Wie schon gesagt, wurde der Versuch oft kritisiert. Seine wesentlichen Ergebnisse aber werden immer wieder bestätigt.

Der Luzifer-Effekt

Dass normale Menschen durchaus im Stande sind, Böses zu tun, hat auch der Forscher Philip Zimbardo in seinem berühmten Stanford-Prison-Experiment herausgefunden, das trotz Kritik bis heute die Psychologie und Kriminologie prägt. Zimbardo hatte den Keller der Universität zu einem Gefängnis umgebaut und seine Studenten in Gefängnisinsassen und -wärter eingeteilt. Das Experiment eskalierte jedoch und musste bereits nach sechs Tagen abgebrochen werden, weil die Wärter zu grausam wurden.

Dass Menschen unter bestimmten Umständen immer abscheulichere Taten begehen, nannte Zimbardo den Luzifer-Effekt. Eine der Erklärungen dafür haben Sie bereits gehört: Es ist der Gehorsamkeit gegenüber Autoritäten. Es sind aber noch zwei weitere psychologische Phänomene von zentraler Bedeutung, damit gute Menschen Böses tun. Das erste: Sie sehen sich nicht mehr als Individuen, sondern als Teil einer Gruppe (Deindividuation), wodurch sich die Verantwortung zerstreut. Das zweite: Sie sehen ihre Opfer nicht mehr als einzelne Menschen, sondern als »die Häftlinge«, »die Juden« oder »die Ungläubigen« (Dehumanisierung).

Was bleibt?

Extremsituationen, Autoritätsgehorsam und der Luzifer-Effekt sind Beispiele für die Macht der Umstände, die wir oft unterschätzen. Die Ursachen für Psychopathie, Gewalt und böse Taten sind deswegen schwer zu definieren: Es ist ein Mix aus biologischen, genetischen, psychischen und sozialen Faktoren. Das mag unbefriedigend klingen, aber zumindest grundlegend können wir so die Fragen zu Beginn des Kapitels beantworten:

  • Wird jede böse Tat von bösen Menschen verübt? Nein.

  • Können auch gute Menschen Böses tun? Definitiv.

  • Wie wird ein Mensch zum Mörder? Biopsychosoziale Faktoren + die Macht der Umstände (Person x Situation).

  • Kann jeder zum Mörder werden? Vielleicht nicht jeder, aber die meisten.

  • Könnten Sie zum Mörder werden? In Extremsituationen wahrscheinlich ja. Aber egal, mit welchen Voraussetzungen Sie geboren sind und in welche Situation Sie geraten: Sie haben immer eine Wahl.

Nun viel Spaß mit einigen der spannendsten gelösten und ungelösten Kriminalfälle. Sie wurden (noch) nicht aufgeklärt, weil sie schwierig sind, weil die Beweislage dünn ist und die Antwort unklar. Haben wir es mit skrupellosen Psychopathen zu tun? Oder ist der Täter der verzweifelte Familienvater? Julian Hannes hat einen bemerkenswerten Blick für Details, stellt die richtigen Fragen und rekonstruiert die Ermittlungen lebhaft und spannend.

Mark T. Hofmann,

Kriminal- und Geheimdienstanalyst (Profiler)

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Mark T. Hofmann ist Kriminal- & Geheimdienstanalyst (Profiler), spezialisiert auf psychologische Techniken. Er hat Organisationspsychologie studiert und wurde in den USA in Profiling- & Geheimdiensttechniken ausgebildet und staatlich zertifiziert.

Er ist bereits in jungen Jahren einer der führenden Experten seines Metiers und gefragter Gastredner auf Firmenevents, Galas und Kongressen. Zu seinen Kunden zählen Unternehmen jeder Größe, Behörden & Topverhandler im Wirtschafts- & Sicherheitsbereich.

www.mark-thorben-hofmann.de

1 Hervey Cleckley, The Mask of Sanity, An Attempt to Clarify Some Issues about the So-Called Psychopathic Personality, 1950

2 Robert D. Hare, Gewissenlos: Die Psychopathen unter uns, 2005, S. 2–30

3 Kevin Dutton, Psychopathen: Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann, 2013, S. 202

4 Robert D. Hare, Gewissenlos: Die Psychopathen unter uns, 2005, S. 76

5 ebd.

6 https://www.focus.de/panorama/welt/futterneid-fuehrt-zu-koerperverletzung-frau-in-england-verletzt-freund-mit-messer_id_6463223.html