Jessie Burton

Die Geheimnisse meiner Mutter

Roman

Aus dem Englischen von Peter Knecht

Insel

Für meine Freundinnen und Freunde

María Vargas (Ava Gardner): Das ist schwer zu glauben für jemanden, der in unserer Zeit lebt.

Harry Dawes (Humphrey Bogart): Wie kommen Sie darauf, dass wir in unserer Zeit leben?

Joseph Mankiewicz, Die barfüßige Gräfin, 1954

Man kann aus der fiktiven Welt in die Alltagswelt zurückkehren, aber etwas Fremdartiges bleibt nach dieser Rückkehr im Geist lebendig.

Pauli Pylkkö

1979

1

An diesem Samstag, einem Nachmittag im Spätherbst in Hampstead Heath, hatte Elise eigentlich auf jemand anderen gewartet. Ihr Vermieter und Mitbewohner John hatte das arrangiert. Sie wusste nicht recht, warum sie sich darauf eingelassen hatte, hier einen wildfremden Mann zu treffen, aber sie folgte oft den Vorschlägen anderer Leute. Am Ende war der Typ nicht aufgetaucht, und als sie aus einer Lichtung in die letzten Sonnenstrahlen trat, sah Elise eine Frau da stehen, hinter ihr eine Reihe von Bäumen, zimtfarbene Blätter vor dem türkisblauen Himmel. Das Größenverhältnis zwischen den Bäumen und dem Körper der Frau war immens, aber durchaus korrekt. Sie wirkten wie ein kostbarer riesiger Kopfputz, so als wäre sie eine Gottheit oder eine Königin der Natur. Sie wandte sich über die Entfernung hinweg Elise zu und bedachte sie mit einem Lächeln, als wäre Elise ein Page ihres Hofstaats, ein Glückspilz, der bei seiner Herrin Gefallen gefunden hat.

Und wenn vielleicht doch ein Mann in den Park gekommen ist, um Elise zu treffen, verspätet, ein Mann mit Schal und Winterjacke, der durchs herbstliche Laub gehastet wäre? Elise sollte es nie erfahren. Sie erwiderte das Lächeln der Frau, die sich auf sie zu in Bewegung setzte – und der ursprüngliche Plan war gestorben. Elise wandte sich ab und ging los. Sie schaute einmal über die Schulter, und die Frau folgte ihr. Elise war es gewohnt, dass Leute ihr folgten. Mit zehn, als sie einmal eine Unterhaltung der Erwachsenen in der Küche belauschte, hatte sie die Freundin ihrer Mutter sagen hören: Die wird einmal eine große Herzensbrecherin!, und sie hatte das nie vergessen. Wenn man ein Kind ist, sagen die Leute einem, was man ist, wie man später sein wird, und oft bleibt einem das in Erinnerung. Sie war eine Schönheit geworden, man versicherte es ihr immer wieder. Sie sprach nie darüber oder machte ein Aufhebens darum, obwohl sie Angebote bekam, als Model zu arbeiten, und mit dreizehn, vierzehn auf der Straße angesprochen wurde und dergleichen. Sie ging nie darauf ein, aber es war nun einmal so. All den zudringlichen Blicken zum Trotz, die man ihr zuwarf, fühlte sie sich unsichtbar, bis Constance Holden sie in Hampstead Heath bei den zimtfarbenen Bäumen ansah.

Sie verließen den Park und näherten sich dem langen Gitterzaun, der einen Friedhof umschloss, und Elise fragte sich, was wohl passieren würde. Sie war noch nie mit einer Frau zusammen gewesen. Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen, stand da wie der Ochs am Berg in dem Kinderspiel. Sie stellte sich vor, sie würde eine der Gitterstangen wie eine Speerwerferin bei Olympischen Spielen weit hinaus schleudern, die Spitze würde sich tief in ein Grab bohren und Knochen zerschmettern. Das würde dieser Frau zeigen, dass Elise stark war.

Sie drehte sich um, und die Frau war noch da, die Arme verschränkt, die Miene ein bisschen verlegen. Sie war ohne Zweifel älter als Elise, aber Elise war zwanzig, und die meisten Erwachsenen, mit denen sie zu tun hatte, waren älter als sie. Die Frau war wohl zwischen dreißig und vierzig. Elise musterte ihre Kleidung: ein Herrenhemd, ein langer Mantel, offen, sodass man die schmal geschnittenen schlichten Jeans sah, Budapester Halbschuhe. Offenbar ungeschminkt, eine kleine Silberkugel in jedem Ohrläppchen, eine zierliche Armbanduhr am schönen Handgelenk. Elise umfasste einen Gitterstab des Zauns und sprach die Frau an, denn sie fühlte sich sicher hier in der Öffentlichkeit. Die Frau konnte sie nicht belästigen oder sie mit einer Gitterstange aufspießen. Und außerdem war der Kurs, in dem Elise Modell sitzen sollte, ausgefallen, und sie hatte nichts zu tun.

»Eines Tages werde ich sterben. Und das war’s dann.« Elise streckte den Finger durchs Gitter. Sie machte keine Bemerkung dazu, dass die Frau ihr gefolgt war.

Die Frau schloss die überkreuzten Arme enger zusammen und lachte; sie wirkte selbstsicher, eine Füchsin, aufgerichtet auf den Hinterbeinen. Elise blickte über ihre linke Schulter hinüber zu den Grabsteinen, die wie Zahnstümpfe aus der Erde ragten. Es war die Ecke für arme Leute, abseits von den Gräbern aus geädertem Marmor, in denen tote Industriekapitäne lagen, Seite an Seite mit ihren Ehefrauen. Weiter hinten ragte der Ziegelkamin eines Krematoriums auf, der zum Glück gerade keinen Rauch ausstieß.

»Du wirst noch lange nicht sterben«, sagte die Frau, und ihre Stimme lief durch Elise wie Eisen.

Sie starrten einander an. »Kann ich etwas für dich tun?«, fragte Elise.

Sie fanden bald einen rund um die Uhr geöffneten schäbigen Imbiss, aber sie aßen nichts. Die Frau stellte sich als Connie vor. Elise sagte ihr, dass sie Elise Morceau hieß. Sie saßen einander gegenüber, tranken Tee und wärmten sich die Finger an dem billigen Porzellan der Becher. Die Frau sah Elise an, als wäre sie gar nicht wirklich. »Ich mache das normalerweise nicht«, sagte sie. »Und du?«

»Ist schon okay«, sagte Elise, und dann: »Was machst du normalerweise nicht?«

Connie blickte von ihrem Becher auf. »Das hier. Jemanden einfach so kennenlernen. Zusammen spazieren gehen.«

»Nein, eher nicht.« Elise schaute Connie an und konnte sehen, wie sie sich bemühte, eine Sehnsucht nach Antworten zu verbergen. »Ich mache das normalerweise auch nicht«, sagte sie, und Connie entspannte sich sichtlich.

Sie redeten ein bisschen darüber, wo sie wohnten – Connie nicht weit von hier, Elise in Brixton. »Wohnst du immer schon südlich der Themse?«, fragte Connie.

»Ja.«

»Bist du dort geboren?«

Elise sah sie an. »Ja.«

»Wie alt bist du?«

»Achtundzwanzig«, sagte Elise.

Connie runzelte die Stirn. »Das glaube ich dir nicht. Wie alt bist du?«

»Wie alt bist du

»Ich bin sechsunddreißig. Ich bin wirklich sechsunddreißig, und ich heiße wirklich Connie.«

»Ich bin zwanzig«, sagte Elise. »Und ich heiße Elise.«

»Arbeitest du in London?«

»Ich arbeite in einem Café in Pimlico. Es heißt Seedling. Und als Platzanweiserin im National Theatre. Und ich sitze Modell im RCA

»Eine bunte Mischung«, sagte Connie.

»Arbeitest du im Zentrum?«, fragte Elise, und Connies Körper straffte sich ein bisschen, als fühlte sie sich verspottet durch die sonderbare Frage.

»Ich arbeite zu Hause«, antwortete sie. »Ich bin Schriftstellerin.«

»Was schreibst du?«

»Geschichten.«

»Was für Geschichten?«

»Verdammt gute.« Connie lachte.

»Bist du sicher?«, fragte Elise.

»Manchmal.«

»Würde ich dich in einer Bibliothek finden?«

»Bestimmt. Und in Buchhandlungen.«

»Das ist ganz schön cool«, sagte Elise.

Connie starrte in ihren Teebecher. »Ja, vermutlich.« Sie blickte auf. »Darf ich dich zum Essen einladen?«

Am nächsten Freitag, einen Tag vor dem gemeinsamen Essen, ging Elise in die Bibliothek in Brixton und suchte den Buchstaben H in der Abteilung Romane. Da stand das Buch: Herz aus Wachs, erschienen im Jahr zuvor. Elise nahm es aus dem Regal, wobei ihr auffiel, dass schon eine Menge Leute es in der Hand gehalten haben mussten. Auf der Rückseite stand fett gedruckt: »Das Buch, über das alle sprechen.«

Als John am Abend von der Arbeit nach Hause kam, erzählte sie ihm, dass sie Constance Holden, die Autorin von Herz aus Wachs, kennengelernt hatte. Die genauen Umstände ihrer Begegnung frisierte sie ein bisschen, weil sie nicht wirken wollte wie eine, die sich in Parks auflesen lässt. Sie gab sich lieber als jemand, der Leute bei edlen Soireen kennenlernte, wo Schriftstellerinnen hingingen. John zeigte sich nur mäßig beeindruckt, da Constance Holden keine Romane über Raubüberfälle schrieb, Bücher mit geprägter Schrift auf dem Umschlag und der unvermeidlichen Silhouette eines Mannes, der aus einem brennenden Gebäude flüchtet. Er hatte auch in der Schule nichts von ihr gelesen. Er hatte noch nie von ihr gehört.

Am Abend las Elise den Roman. Er war heftig, schroff, leidenschaftlich und voller Sätze, die sie gerne unterstrichen hätte. Sie stellte fest, dass beim Lesen ihre Loyalität von der Frau auf den Mann überging. Arme Beatrice, diese gescheiterte Spinnerin, verheiratet mit einem Mann, der sie zum Narren hielt. Aber wie verführerisch, wie überzeugend Frederick sein konnte. Beatrice liebte einen Mann, der gefährlich für sie war. Gleichwohl liebte sie ihn, sie liebte ihn, liebte ihn. Würde sie heil davonkommen? Was würde aus ihrer Tochter Gaby werden? Das Buch war fesselnd, packend, brutal, eine Art Anti-Liebesgeschichte und dennoch voller Herz.

Elise dachte in dieser Nacht über die Liebe nach, das Buch mit dem schon etwas rissigen Rücken unter der Einbandfolie aufgeschlagen auf ihrer Brust. Liebe. Wie fühlte sie sich wohl an? Elise glaubte, sie habe sich ihr Leben lang vorsichtig um den Rand eines Vulkankraters herumbewegt, dessen Tiefe sie nicht ermessen konnte, der aber voll mit etwas Gewaltigem war, das sich ihr noch nie gezeigt hatte. Da unten im Dunkeln waren viele glückliche Seelen, aber auch viele Leichen.

Das Abendessen, ihr erstes Date, fand in einem Restaurant namens Mariposa in der Dean Street in Soho statt. Connie hatte es ausgesucht: schummrige Nischen, Messinglampen und mit rotem Samt bezogene Polster, dessen Farbton man fühlte, wenn man ihn auch nicht wirklich sehen konnte. Elise ging die Treppe hinab in einen Raum, der sich unter ihr auftat, voller Bewegung, Rauch, summenden Geräuschen. Frauen mit breitem Lidstrich in schicken Samtkleidern schmiegten sich an müde Jünglinge aus der City und Männer mit langem Haar unter schicken Hüten. Jeans, Leder, Nikotin, Geld – Elise konnte es auf der Zunge schmecken.

Connie war schon da und hatte eine Flasche Wein bestellt. Sie stand auf und trat aus dem Schatten, um ihren Gast zu begrüßen. Elise war überrascht davon, wie viel Mühe sie sich gegeben hatte. Sie sah umwerfend aus: ein schlichtes schwarzes Cocktailkleid, eine Goldkette, das rote Haar in perfekter Nonchalance zerzaust. Elise fühlte Neid in sich aufwallen: Sie wäre auch gern sechsunddreißig, besäße ein Haus, hätte Bücher wie Herz aus Wachs veröffentlicht, ginge in Lokale wie dieses in Soho, wo solche Leute aßen.

»Hallo«, sagte Connie.

»Hallo«, sagte Elise. Sie schaute an sich hinunter: schwarze Jeans, weißes T-Shirt. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich besser angezogen.«

»Du siehst wunderbar aus.« Connie streckte die Hand aus und berührte leicht Elises Schulter. Sie lächelten einander an.

»Ich komme direkt vom Café«, sagte Elise und nahm in der Nische Platz.

»Vom Seedling

»Ja.« Es freute Elise, dass Connie sich an den Namen erinnerte.

Connie schenkte Elise ungefragt ein Glas Wein ein. »Und wenn du im Theater arbeitest, bist du dann auch bei den Vorstellungen dabei?«

»Ja, immer.«

»Langweilst du dich manchmal?«

»Die ganze Zeit.« Connie lachte. Der Kellner erschien, ein junger Mann mit schlanker Taille und dunklem Augen-Make-up. Elise bemühte sich, ihn nicht anzustarren. Connie entschied sich für pot-au-feu mit Gemüse. Elise überflog kurz die Speisekarte und wählte dann das Steak. »Prost.« Connie hob ihr Glas. »Auf das Kellnern, das Platzanweisen und das Modellsitzen.« Sie nahm einen großen Schluck Wein. »Gibt es noch andere Sachen, die du gern ausprobieren würdest?«

»Andere Sachen?«

»Andere Jobs, andere Länder.«

»Ich weiß nicht«, sagte Elise.

»Was meinen deine Eltern?«

»Ich weiß nicht.« Elise starrte, als wollte sie Connie herausfordern, weiterzufragen, aber diese tat es nicht. »Ich habe Ideen für Stücke«, sagte Elise.

»Stücke?«

»Ja, ich würde gern ein Theaterstück schreiben.«

»Dann solltest du das tun.«

Elise war nicht sicher, ob es wirklich stimmte, dass sie ein Stück schreiben wollte, aber sie dachte, es klinge eindrucksvoll. Was stimmte, war, dass sie immer im Dunkeln eines der drei Säle des National Theatre saß und zusah, wie die Bühnenbilder wechselten, die Augen nach oben, von wo die Kulissen herunterkamen und leere Räume in viktorianische Wohnzimmer verwandelten, in postapokalyptische Schauplätze griechischer Tragödien, in ländliche englische Idyllen, in Japan, Manhattan, Indien. Manchmal versuchte sie, eine Szene zu schreiben, aber der Sinn verlor sich, am Ende war die Aufgabe zu groß für sie, und sie gab sich mit bloßen Plänen zufrieden. Sie konnte die Welt nicht zu Papier bringen. Die Wirbel in ihrem Inneren, ihre Bewegung, ihr abstraktes Wesen ergaben einen perfekten Sinn. Sie dachte, eines Tages würde er nach außen dringen. Aber, dachte sie, es war noch nicht so weit. »Es gefällt mir, Modell zu sitzen«, sagte sie.

»Warum?«, fragte Connie.

Wenn Elise sich auszog und vor diese Kunststudentinnen und -studenten trat, war ihr ganzer Körper gefordert, alles war willig und bereit, sich anzupassen, ihre Lippen, Hände, Brüste, ihr Hals, die Innenseiten ihrer Beine. Sie saß stundenlang still, lauschte dem leisen Kratzen der Stifte auf dickem Papier und wanderte durch die Kammern ihres Geistes. Sie war so gut darin, still zu sitzen, dass sie immer wieder engagiert wurde. Und manchmal, wenn alle gegangen waren, wartete sie eine Weile auf der Toilette und schlich sich dann wieder ins Atelier zu den Staffeleien mit den Zeichnungen, die an diesem Tag entstanden waren. Sie war auf der Jagd nach sich selbst, obwohl sie diejenige war, die als Vorlage gedient hatte. Sie streifte durch den Papierwald ihrer eigenen Glieder, ihres Gesichts, ihres Geschlechts, ihrer Kniescheiben, um die Person zu finden, die sie so festgehalten hatte, wie sie wirklich war. Niemand hatte es je geschafft, der Schatz war immer noch unentdeckt.

Sie erzählte Connie nichts von alledem. »Weil es so friedvoll ist.«

»Aber du verharrst immer in ein und derselben Pose?«

»Ja.«

»Stundenlang?« Elise zuckte die Achseln, und Connie grinste. »Es gefällt dir, angeschaut zu werden«, sagte Connie.

»Ist das etwas Schlechtes?«

»Nein. Es ist nur ungewöhnlich, dass jemand es zugibt.« Connie lächelte. »Willst du nicht herkommen?«

Elise war einen Moment lang verwirrt. »Wohin?«

»Hierher«, sagte Connie und klopfte mit der flachen Hand auf den Platz direkt neben sich. Elise gehorchte, und dann spürte sie Connies kühle Finger auf beiden Seiten ihres Gesichts. Sie drückten fest auf die Haut, als wollten sie Elise ummodeln. »Ich könnte dieses Gesicht rahmen«, sagte Connie.

Von dem Wein hatte Elise das Gefühl, dass sie die Kontrolle verlor. »Das wird dich etwas kosten«, sagte sie. Sie schloss die Augen und fragte sich, ob die andere wohl verstand, dass es ein Scherz war.

Connie fasste Elises Gesicht zart mit den Händen ein. Sie beugte sich vor. Ihr Atem war angenehm und heiß. Elise konnte die Rundung ihres zierlichen Mundes sehen, ihre aufmerksamen Augen im Kerzenlicht. »Wie viel?«, fragte Connie.

»Fünfzig Pfund pro Kuss.«

Connie lachte. »Ich sagte rahmen, nicht küssen.«

Ihre Hände sanken herab, und Elise fühlte sich ertappt. Sie nahm Connies Hände, die in ihrem Schoß lagen, und führte sie wieder an ihr Gesicht. »Ich habe dein Buch gelesen«, sagte sie. »Ich habe Herz aus Wachs gelesen.«

»Oh?«

»Du bist sehr gut.« Sie hielt Connies Hände fest, und Connie lachte.

Als Elise erwachte, stellte sie fest, dass sie in einem fremden Bett lag. Sie hob die Bettdecke: Sie trug noch ihre Unterhose und ihr T-Shirt, aber keine Hose. Wann hatte sie sie ausgezogen? Sie lag auf dem Fußboden wie der mit Kreide gezeichnete Umriss eines Mordopfers. Ihre Stiefel lagen, die Sohlen einander zugekehrt, auf den Seiten, offenbar nachlässig abgestreift, doch sie konnte sich nicht daran erinnern. Wo war sie? Es war schummrig, aber sie konnte eine grün gestreifte Tapete ausmachen, einen kleinen Kleiderschrank, einen Papierkorb, alles sehr ordentlich. Eine große flauschige Schildpattkatze mit weißem Brustlatz und weißen Pfoten saß mitten im Zimmer und beobachtete sie.

»Ich hoffe, Ripley stört dich nicht«, sagte eine Stimme an der Tür.

Elise drehte sich um. »Ripley?«, fragte sie.

»Der Kater. Bleib liegen, ganz ruhig.« Connie kam näher mit einem Glas Wasser und zwei Aspirin, die sie auf das Nachttischchen neben Elises Kopf legte.

»Danke«, murmelte Elise.

Connie zog die Vorhänge auf. Elise stöhnte, als das schwache Novemberlicht ihr in die Augen fiel. »Entschuldigung«, sagte Connie, aber sie ließ die Vorhänge offen.

»Was ist passiert?« Elises Stimme klang heiser. Connie antwortete nicht sofort. Sie blickte hinaus in den Garten. »Connie?«

»Was ist wann passiert?«

»Letzte Nacht.«

»Weißt du es nicht mehr?«

»Ja. Nein.«

Connie setzte sich unten aufs Bett und sah Elise an. »Wir waren essen. Wir haben zu viel getrunken, sind hierhergekommen, und du bist auf dem Sofa eingeschlafen.«

»Ich bin auf dem Sofa eingeschlafen?«

»Ja. Und ich habe dich dann hier raufgetragen.«

»Du hast mich getragen?«

Sie sahen einander an. Connie lächelte.

»Tut mir leid«, sagte Elise. »Ich hätte nach Hause gehen sollen.«

Connie streckte die Hand aus und fühlte Elises Stirn. »Das hätte ich nie zugelassen. Nicht in deinem Zustand. Hast du halbwegs gut geschlafen?«

»Wie spät ist es?«

Connie schaute auf ihre Uhr. »Zwanzig nach elf.«

Elise schloss die Augen. Es war elf Uhr zwanzig, und sie lag hier im Bett. Irgendetwas stimmte nicht. »Oh, Scheiße! Ich muss heute arbeiten.«

»Unsinn. Am Sonntag muss doch niemand arbeiten.«

»Ich schon. Im Café.«

»Was ist, wenn ich dir die fünfzig Pfund zahle?«

»Was für fünfzig Pfund?«

»Ach, du warst betrunken. Vergiss es.«

Elise hatte ein ungutes Gefühl.

»Lass das Café sausen«, sagte Connie.

Du hast leicht reden, dachte Elise. »Ich muss hin«, sagte sie. Sie richtete sich auf, mühsam wie eine gebrechliche alte Frau.

»Elise, Liebe, leg dich hin.«

»Connie –«

»Du bist nicht in der Verfassung, irgendetwas zu tun. Leg dich einfach hin.«

Elise gehorchte. Sie fühlte sich, als könnte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Ich werde dich hypnotisieren, nicht arbeiten zu gehen«, sagte Connie.

Elise presste ganz fest die Augenlider zusammen. »Ist das ein Witz?«

»Ja. Ich habe es im Hypnotisieren nie zu einem Diplom gebracht.«

Elise wollte eigentlich Widerstand leisten, aber sie lachte nur. Connie sah sie freundlich an. »Soll ich dir ein Sandwich mit gebratenem Speck machen?«, fragte sie.

»Ja. Bitte«, flüsterte Elise.

Sie sah zu, wie Connie verschwand, und hörte sie dann am Telefon sprechen. Wenig später zog der Geruch von Speck aus dem Erdgeschoss herauf, durch den Gang, unter der Tür durch in Elises Nase. Sie schloss die Augen und wünschte sich einen neuen Körper. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad.

Connie kam wieder mit dem Sandwich und zwei Bechern Tee auf einem Tablett. »Hier«, sagte sie, »ich habe mein Bestes gegeben.«

Elise hatte es geschafft, sich aufzusetzen. »Danke«, sagte sie. »Wie lang braucht man von hier nach Pimlico?«

»Mach dir darum keinen Kopf«, sagte Connie. »Ich habe dort angerufen.«

»Du hast was

»In diesem Seedling – was für ein Name! Ich hab gesagt, ich bin deine Mitbewohnerin und du hast einen Virus.«

»Das haben sie dir geglaubt?«

»Natürlich.«

»War Gabe am Apparat?«

»Es war ein Mann. Ich weiß nicht, wie er hieß, aber er wünscht dir gute Besserung. Ich sagte, es würde ein paar Tage dauern und der Doktor meinte, du musst dich schonen.«

Elise starrte auf ihr Sandwich. Es war ein seltsames Gefühl, jemanden zu haben, der ihr Leben in die Hand nahm. »Prima. Danke.«

Connie nippte an ihrem Tee. Elise sah, dass auf dem Becher I Birdworld stand. »Hätte ich das besser nicht tun sollen?«, fragte Connie. »Manchmal bin ich vielleicht etwas übergriffig –«

»Nein, schon okay. Es wäre mir praktisch unmöglich gewesen, zu arbeiten. Ich – ich hätte nur nie erwartet, dass du dort anrufst.«

»Dann hab ich dir also einen Gefallen getan.«

Elise fragte sich, ob sie den Job wohl noch hatte. Und ob es sie überhaupt interessierte. Sie streckte die Hand nach Connies Becher aus und streifte dabei ihre Finger. »Warst du wirklich in Birdworld?«, fragte sie.

»Mit einer Freundin und ihrem Sohn. Eigentlich nur dem Jungen zuliebe, aber am Ende hat es mir wirklich Spaß gemacht. Flamingos, Pinguine, Meisen. Alle möglichen Vögel.«

»Ich versuche, mir dich in Birdworld vorzustellen.«

»Es war genau das Richtige für mich.«

»Du bist viel zu elegant dafür.«

»Niemand ist eleganter als ein Flamingo, Elise.«

Sie lachten. Es war ein Flirt, das war Elise klar, ein verkaterter Flirt, aufgedreht und voll innerer Unruhe. Welcher Schritt kam als Nächstes, was war zu tun? War in der Nacht etwas passiert? Es fühlte sich nicht so an. »Möchtest du ein Bad nehmen?«, fragte Connie, als hätte sie es erraten.

»Gerne.« Die Antwort kam so prompt, dass beide lachen mussten. »Ich fühle mich einfach schrecklich«, sagte sie. »Es tut mir wirklich leid.«

»Ach was, du siehst prima aus.«

»Du lügst. Meine Haut!«

»Du bist schön. Kein Grund zur Sorge. Ich lass dir Wasser ein.«

Connie ließ Elise allein mit dem Sandwich. Johns Wohnung hatte kein Bad, und die Haustür von Connies Wohnung schien so weit weg. Das fettige Brot war reinstes Manna und gab Elise wieder das Gefühl, etwas Fleisch auf den Knochen zu haben, aber sie wusste, dass der Tag sich in einer Weise entwickelte, die außerhalb ihrer Kontrolle lag.

Plötzlich dachte sie: Connie wird mich gefangenhalten. Die Paranoia ihres verkaterten Zustands förderte ihren heimlichen Wunsch, von aller Selbstverantwortung losgesprochen zu werden, ein kleines Mädchen in der Obhut dieser tüchtigen, klugen Person zu sein, die sich von dummen Misslichkeiten wie einem Brummschädel nicht davon abhalten ließ, sich für jemand anderen auszugeben und Elise krankzumelden, dafür zu sorgen, dass sie es an einem kalten Novembertag angenehm warm hatte, ihr ein Bad einlaufen zu lassen, ihr ein frisches, sauberes Bett zu geben.

Als das Bad bereit war, stieg Elise in die Wanne: Sie hätte weinen können, so köstlich rein fühlte sich das heiße Wasser an.

»Ich gehe in den Park, meinen Kopf durchlüften«, rief Connie.

Elise fand es erstaunlich, dass Connie so vertrauensselig war, sie in ihrem Haus allein zu lassen. Ich könnte eine Diebin sein, dachte sie. Ich könnte mich hier eingeschlichen haben, um mir ein paar Klunker und ihre Handtasche unter den Nagel zu reißen. Aber andererseits – schau mich doch an: Ich bringe ja nicht mal einen zusammenhängenden Satz zustande.

Sie stellte sich Connie als Hexe vor, die in den Wald ging, um noch mehr Gretels mit Pfefferkuchen und Süßigkeiten anzulocken und mit nach Hause zu schleppen. Aber nach einer Stunde war Connie wieder da mit roten Wangen, die Sonntagszeitung unter dem Arm, und sagte: »Wenn es eine Sorte Menschen gibt, die ich gerne massakriert sehen möchte, dann die, die ihre Hunde überallhin scheißen und die Haufen liegen lässt.«

Connie hatte etwas Sprudelndes an diesem Tag – sie war sanfter, offener als in dem Restaurant in Soho  und sehr freundlich zu Elise. Sie saß mit ihr auf dem Sofa im Wohnzimmer, und als es langsam dunkel wurde, blieb Elise da. Sie sahen sich eine Episode von We, the Accused auf BBC2 an, weil Connie den 1935 erschienenen Roman mochte und sehen wollte, was sie daraus gemacht hatten. Elise lag, ihren Kopf in Connies Schoß, da und schlief schließlich ein, während Connies Finger ihre Schläfen mit einer Zärtlichkeit streichelten, die sie in ihrem erwachsenen Leben bislang nicht gekannt hatte.

2017

2

Ich war vierzehn, als ich meine Mutter umbrachte. Bis dahin hatte ich sie immer in den Kulissen versteckt gehalten, wo sie interessantere Dinge trieb als alle anderen Mütter und nur darauf wartete, auf mein Stichwort hin in mein Leben zu treten. Aber sie war nie bereit, sie kam niemals hervor. Als ich zehn, elf war, erzählte ich den anderen Kindern in meiner Klasse, dass sie mit einem russischen Zirkus auf Reisen war und in einem Zelt aus Yakfellen wohnte. Ich schrieb mir selbst in verfälschter Handschrift Karten mit Ansichten von Gebirgslandschaften und nahm sie mit in die Schule. »Seht ihr? Sie ist dort. Hab ich doch gesagt!«

»Da sind ja keine Briefmarken drauf«, sagte ein Mitschüler namens Hamilton Tanner. Ich hasste ihn.

»Da war ein Umschlag drum«, sagte ich. »Den hat mein Papa weggeworfen.«

Ich war immer darauf vorbereitet, die nächste Schicht dessen, was ich mir zusammendichtete, freizulegen und mich noch tiefer einzugraben. Von Kindheit an spielte ich jede nur erdenkliche Phantasie durch, aber meine Mutter war eine Geschichte, die sämtliche Antworten schuldig blieb. Meinem Vater zufolge verschwand sie, als ich ein Jahr alt war, doch ich begann ihre Abwesenheit erst so richtig schmerzhaft zu spüren, als ich in die Schule kam. Es war die Zeit, wo alle anderen Mütter sich am Tor versammelten, miteinander schwatzten, die Arme verschränkt, und sich hin und her wiegten, während ihre Kinder an den Säumen ihrer Anoraks zupften. Bei Geburtstagspartys sorgten dieselben Mütter für angenehme Nachmittage mit Spielen, Spaß und gutem Essen, wobei sie immer darauf achteten, dass ich besonders viel Aufmerksamkeit bekam, was mich bei den anderen Kindern höchst unbeliebt machte. Es war nett, so bemuttert zu werden, aber ich fragte mich die ganze Zeit: Was macht sie? Warum macht sie es nicht mit mir? Wo ist sie gerade?

Ich liebte Geschichten von Babys, die aus Pflanzen zur Welt kamen oder sich von Tieren in Menschen verwandelten. Ich zerbrach mir den Kopf über griechische Mythen – wie konnte ein Kind aus einem Lichtstrahl oder Blitz oder von einem Schwan geboren werden? Ich fühlte mich diesen Babys verwandt, diesen andersartigen Menschen, eine gewagte Verwandtschaft, sollte ich hinzufügen, denn in Wahrheit war ich einfach ein ganz normales menschliches Wesen. Ovid würde nie über mich schreiben. Ich war keine Göttin. Aber woher war ich gekommen, aus wessen Körper? Wessen Herz hatte für meinen Vater geschlagen?

Ich fand keine Antworten und fing an, meine Mutter, die ich nie gesehen hatte, zu benutzen, um mich zu einem mehr geheimnisvollen und ungewöhnlichen als bemitleidenswerten Wesen zu machen. Ich versuchte es auf die wirr dramatische Art, auf die romantische, mit wilden Hypothesen. Ich scheute keine Mühe. Ich erinnere mich an die Geschichte von der russischen Akrobatin, an eine von der Kriminellen auf der Flucht (sie hatte ein unschätzbar wertvolles Diamantenhalsband gestohlen, aber nicht mit Absicht) und an die, in der sie Kapitänin auf einem Handelsschiff war, das die Gewässer um die Bahamas befuhr. Aber Kinder sind argwöhnisch, sie lieben Ordnung und Normalität. Meine Klassenkameraden fanden mich unheimlich, leichtfertig. Was für ein Geschöpf war ich, dass meine Mutter sich nicht einmal in meiner Nähe blicken ließ – wenn es auch für sie als Diamantendiebin nicht ganz einfach gewesen wäre? Als wir in der Schule alte Mythen und Märchen lasen, sagte Hamilton Tanner, der mich ebenso verabscheute wie ich ihn, zu mir: »Deine Mama hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Er hat sie in ein wildes Tier verwandelt.«

Ich wusste über sie nur das, was mein Papa mir erzählt hatte: dass sie Elise Morceau hieß und dass sie mich bekam, als sie noch jung war und er und sie in New York lebten. Und dass sie uns vor vierunddreißig Jahren, noch vor meinem ersten Geburtstag, verließ. Es gab keine Fotos, auf denen wir zusammen zu sehen waren; mein Vater hatte keine. Nichts, was von ihr Zeugnis gab, sei es auf Papier, sei es in Gestalt von Dingen, die sie besessen und zurückgelassen hätte. Meines Wissens hatte mein Vater es nie geschafft, nach ihrer Flucht ihre Spur aufzunehmen – entweder hatte er nicht die Absicht, ihr nachzujagen, oder sie hatte es ihm verboten, er sagte es mir nicht. Ich wartete immer auf geeignete Momente, ihm Fragen nach ihr zu stellen – sie ergaben sich nur selten –, und manchmal gab er dann doch spärliche Informationen preis. Sie hatte kurze Beine. (Kurze Beine! Sagt das etwas über eine Persönlichkeit aus oder über die Fähigkeit eines Menschen, sich schnell aus dem Staub zu machen?) Sie hatte dieselbe Haarfarbe wie du. (Das gefiel mir.) Sie war schwierig. Sie war positiv. Einmal, als er zu viel getrunken hatte: Es hätte nicht funktioniert. Sie war launisch.

Papa behauptete immer, er erinnere sich nicht mehr so genau oder es sei zu lange her – und es sind doch in der Zeit so viele andere Dinge passiert, Rosie, und es geht dir doch gut, oder nicht? So erfuhr ich nie, wie er Elise kennengelernt hatte und warum er und nicht sie das Sorgerecht für mich erhalten hatte. Ich wusste, dass der Aufenthalt in New York relativ kurz gewesen war, weil er mit mir vor meinem ersten Geburtstag nach England zurückgegangen war. Er wollte mich beschützen, vermutete ich, und machte es sich zur Aufgabe, mir Vater und Mutter zugleich zu sein. Ich sollte, sagte er mir, an mich und mein Leben denken und nicht an das, was vorher gewesen war. Er war immer liebevoll, er wollte mich schonen. Aber für mein Gefühl hat sein Schweigen mehr Schaden angerichtet als irgendetwas sonst.

Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen, sagte meine Oma Cherry, seine Mutter, bevor sie starb. Ich dachte immer, es ist schwerer, nicht darüber zu sprechen, aber offenbar bestand in diesem Punkt Einvernehmen zwischen ihnen, und ich wurde in die Gründe dafür nicht eingeweiht. Oma Cherry war, was Elise betrifft, genauso verschlossen wie mein Vater, als würde sie einen Fluch entfesseln, wenn sie über sie redete.

Als ich meine Oma fragte, ob sie Elise je begegnet war, sagte sie nein. »Sie war eine durchtriebene Person«, sagte sie, was ich unfair fand: Wie kann man so etwas über jemanden sagen, dem man nie begegnet ist? Aber wie hätte meine Oma Elise für etwas anderes als eine durchtriebene Person halten können, eine Frau, die diesen Verschwinde-Trick beherrschte, in eine Kiste zu steigen und sich zersägen zu lassen?

Also brachte ich sie schließlich selbst um. Die phantastischen Abenteuergeschichten, die ich von ihr erzählte, wurden mir ebenso peinlich wie meinen Mitschülern. Mit vierzehn brauchte ich keine Hamilton Tanners mehr, die mir sagten, was mit meiner Mutter passiert war. Sie hatte sich nicht beim Sturz von einem russischen Trapez den Hals gebrochen, sie schmachtete nicht in einem Gefängnis für Smaragddiebe dahin und hatte auch nicht ihr Schiff vor den Bahamas auf eine Klippe gesetzt. Sie war kein Ungeheuer. Sie war einfach … tot. Und mein Vater war damit ganz einverstanden, ja, er schien sogar der Meinung zu sein, es sei besser, so zu tun, als hätte es sie nie gegeben, als wäre sie nur ein Märchen, das man hinter sich lässt, wenn man erwachsen wird. Nach diesem Muster hatte er sich verhalten, als ich noch ganz klein war, und als ich größer wurde, war es, als wüsste er einfach nicht, wie der Bann zu brechen war. Da er die Muttersprache nie gelernt hatte, konnte er sie mir nicht beibringen. Es war eindeutig besser, wenn sie tot war.

Aber als junge Frau lernte ich Leute kennen, die wirkliche Eltern hatten – Menschen, mit denen sie ihr Leben lang gelebt hatten – und deren Eltern wirklich gestorben waren. Ich musste miterleben, wie sie völlig vernichtet waren, es nicht fassen konnten, wie sie litten, als könnte der Schmerz niemals aufhören. Ich nahm an der Bestattung der Mutter einer Freundin teil und sah zu, wie der Sarg hinter einem Vorhang verschwand, und das Gesicht meiner Freundin war vor Gram bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Der Verlust meiner Mutter war sehr wohl schmerzhaft für mich, aber es war eine andere Art von Schmerz. Meine Trauer war ein verschlossener Kasten, ein Haus, zu dem ich keinen Schlüssel hatte, ein Ort auf einer Karte, den ich nicht benennen konnte. Eines Tages würde mir vielleicht alles offenbart werden, und die schreckliche Erkenntnis würde mit überwältigender Macht über mich hereinbrechen, aber ich sprach nie mit jemandem über diese Furcht. Ich hatte keine Mutter und hatte nie eine gehabt: Wie hätte ich etwas vermissen können, das ich nie wirklich verloren hatte?

Ich spreche nie über die Sehnsucht. Über die Fragen, die mich bewegen. Ich sage: Man kann nicht vermissen, was man nie hatte!

Es gab Zeiten, in denen ich nicht an sie dachte. Es gab andere Phasen meines Lebens, in denen ich ihre Abwesenheit intensiv empfand. Sobald ich Internet hatte, nutzte ich seine Schleppnetze, um nach ihr zu fischen – aber ich konnte nie eine Elise Morceau finden in den langen Nächten, in denen ich, allein mit einer Flasche Wein, all die Kaninchenbaue des Internets und die Seiten mit Familienstammbäumen absuchte. Ich gelangte zu der Vermutung, dass Morceau nicht ihr wirklicher Familienname war. Das französische Wort morceau bedeutet Bissen oder Stückchen, und ich glaubte, dass irgendein Scherz von ihr dahintersteckte. Es war alles vergebliche Liebesmüh, es kam nie etwas bei diesen Recherchen heraus.

Ich glaube nicht, dass sie meinem Vater alle Teile ihres Puzzles gegeben hat – welche Geliebte, welcher Liebhaber tut das schon? Aber sie hat vielleicht sogar noch weniger preisgegeben. Einen geborgten Namen aus einer Liste von Figuren. Sie gab meinem Vater nur ganz kleine Bröckchen, er reichte sie an mich weiter, und es sah so aus, als könnte ich überhaupt nichts damit anfangen.