Andri Snær Magnason

Wasser und Zeit

Eine Geschichte unserer Zukunft

Aus dem Isländischen von Tina Flecken

Insel Verlag

Dieses Buch widme ich meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln.

Du schützt nur das, was du liebst,
du liebst nur das, was du kennst.
Du kennst nur das, was man dich lehrt.

Guðmundur Páll Ólafsson

Mögest du in interessanten Zeiten leben

»Achte das, was du beachtest.«

Þorvaldur Þorsteinsson

Wenn ich ausländische Gäste habe, fahre ich manchmal mit ihnen über die Borgartún in Reykjavík und erzähle, diese Straße sei der Boulevard der zerbrochenen Träume. Ich zeige ihnen das Höfði-Haus, das große weiße Holzhaus, in dem sich Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1986 trafen, ein Ereignis, das für viele das Ende des Kommunismus und den Fall des Eisernen Vorhangs markiert. Das nächstgelegene Gebäude ist ein schwarzer Klotz aus Marmor und Glas, in dem sich früher der Hauptsitz der Kaupþing-Bank befand. Als die Bank 2008 zusammenbrach, war das die viertgrößte Insolvenz in der Geschichte des Kapitalismus – nicht pro Kopf der isländischen Bevölkerung, sondern in Dollar: 20 000 Millionen. Zwanzig Billionen Dollar.1

Ich empfinde keine Schadenfreude über das Unglück anderer, aber es ist schon erstaunlich, gerade einmal in der Lebensmitte angekommen zu sein und bereits den Zusammenbruch zweier gigantischer Weltanschauungen erlebt zu haben. Beide Systeme wurden von Leuten gestützt, die den Gipfel des Establishments erreicht hatten und wegen ihrer Stellung an der Spitze der Pyramide entsprechend angesehen waren. Tief in ihren Systemen verankert, wahrten sie den Schein bis zum letzten Tag. Am 19. Januar 1989 sagte Erich Honecker: »Die Mauer wird in fünfzig und auch in hundert Jahren noch bestehen bleiben.« Die Berliner Mauer fiel im November desselben Jahres. Der Präsident von Kaupþing beteuerte in einem Interview im TV-Nachrichtenmagazin Kastljós am 6. Oktober 2008, nachdem seine Bank von der Isländischen Zentralbank einen Notkredit erhalten hatte: »Wir stehen sehr gut da, und die Zentralbank wird ihr Geld mit Sicherheit zurückbekommen (…) Das kann ich, ohne rot zu werden, sagen.« Drei Tage später war die Kaupþing-Bank pleite.

Wenn ein System zusammenbricht, befreit sich die Sprache aus ihren Fesseln. Wörter, die eigentlich die Realität beschreiben sollten, schweben frei in der Luft und sind nicht mehr zutreffend. Lehrbücher werden über Nacht obsolet, und Rangordnungen verschieben sich. Auf einmal fällt es den Menschen schwer, Wörter und Begriffe zu finden, die ihrer Realität entsprechen.

Zwischen dem Höfði-Haus und dem Hauptsitz der Bank befindet sich eine Rasenfläche mit einem kümmerlichen Wäldchen, sechs Fichten und ein paar verdorrte Wollweide-Sträucher. Ich legte mich auf die Wiese zwischen den Gebäuden, blickte in den Himmel und überlegte, welches System wohl als Nächstes zusammenbrechen würde und welche große Vision darauf folgen könnte.

Wissenschaftler haben uns aufgezeigt, dass die Grundlage unseres Lebens, die Erde selbst, kollabiert. Die wesentlichen Ideologien des 20. Jahrhunderts betrachteten die Erde und die Natur als billigen, unbegrenzten Rohstoff. Man dachte, die Erdatmosphäre könne endlos Emissionen aufnehmen, das Meer könne endlos Müll aufnehmen, die Böden könnten durch mehr Dünger endlos Erträge liefern, die Tiere könnten endlos weiterziehen, während der Mensch sich immer mehr Lebensraum nimmt.

Wenn sich die Prognosen der Wissenschaftler über die Zukunft der Ozeane, der Atmosphäre und der Wettersysteme, über die Zukunft der Gletscher und Küstenregionen als richtig erweisen, müssen wir uns fragen, welche Wörter Themen einer solchen Größenordnung erfassen können. Welche Welterklärung kann das bewältigen? Was soll ich lesen? Milton Friedman, Konfuzius, Karl Marx, die Offenbarung des Johannes, den Koran oder die Veden? Wie lassen sich unsere Begehrlichkeiten zügeln, unser Konsum und unsere Profitgier, die das Biosystem der Erde allen Messungen zufolge bezwingen werden?

Man kann sagen, dieses Buch handelt von »Wasser und Zeit«. In den nächsten hundert Jahren wird sich der Zustand des Wassers auf der Erde grundlegend verändern. Die meisten Gletscher außerhalb der Pole werden beträchtlich schmelzen, der Meeresspiegel wird steigen, die Erdtemperatur wird sich erhöhen, begleitet von Dürren und Überflutungen, und der pH-Wert des Ozeans wird sich stärker verändern als in den letzten 50 Millionen Jahren. All dies wird sich während der Lebenszeit eines Kindes abspielen, das heute auf die Welt kommt und wie meine Großmutter 95 Jahre alt wird.

Die größten Kräfte der Erde haben die geologische Zeitskala verlassen und verändern sich nun auf einer menschlichen Skala. Veränderungen, die bislang hunderttausend Jahre brauchten, geschehen jetzt in hundert Jahren. Ein solches Tempo ist sagenhaft; es betrifft das gesamte Leben auf der Erde und die Grundfesten all dessen, was wir denken, entscheiden, produzieren und glauben. Es betrifft alle, die wir kennen, und alle, die wir lieben. Die Veränderungen, denen wir gegenüberstehen, sind komplexer als die meisten Dinge, mit denen wir uns normalerweise beschäftigen. Sie übersteigen all unsere bisherigen Erfahrungen, sie übersteigen die Sprache und die Metaphern, die wir benutzen, um unsere Realität zu verstehen.

Es ist, als würden wir versuchen, den Lärm eines Vulkanausbruchs aufzuzeichnen. Bei den meisten Geräten bricht das Geräusch in einer bestimmten Frequenz, und man hört nur noch ein Rauschen. Für viele Leute ist das Wort »Klimawandel« ein solches Rauschen. Da ist es einfacher, zu kleineren Themen eine Meinung zu haben. Wir verstehen, wenn etwas Wertvolles zerstört wird, wenn ein Tier erschossen wird oder ein Bauprojekt sich als zu teuer entpuppt. Aber bei einer so unendlich großen und heiligen Sache, die dazu noch die Grundlage unseres Lebens ist, reagieren wir nicht angemessen. Als könnte unser Gehirn ein solches Ausmaß nicht erfassen.

Das Rauschen narrt uns. Wir sehen Überschriften und glauben, die Wörter zu verstehen: »Gletscherschmelze«, »Rekordhitze«, »Versauerung der Meere«, »Treibhauseffekt«. Wenn die Wissenschaftler recht haben, bezeichnen diese Wörter etwas sehr Ernstes, etwas, das in der Menschheitsgeschichte noch nicht passiert ist. Wenn wir sie gänzlich verstehen würden, hätten sie unmittelbaren Einfluss auf unser Verhalten und unsere Entscheidungen. Doch 99 Prozent der Bedeutung dieser Wörter scheinen in dem Rauschen unterzugehen.

Vielleicht ist Rauschen nicht die richtige Metapher, denn das Phänomen ähnelt eher einem schwarzen Loch. Kein Wissenschaftler hat je ein schwarzes Loch, das die millionenfache Sonnenmasse haben und Licht komplett verschlucken kann, gesehen. Schwarze Löcher kann man nur ausmachen, indem man an ihnen vorbeischaut, auf nahe gelegene Nebelflecken und Sterne. Bei Themen, die das gesamte Wasser auf der Erde, die gesamte Erdoberfläche und die gesamte Atmosphäre betreffen, erreicht man eine Dimension, die jegliche Bedeutung aufsaugt. Über ein solches Thema kann man nur schreiben, wenn man dahinter, daneben und darunter schaut, in die Vergangenheit und die Zukunft blickt, sich ihm persönlich, aber auch wissenschaftlich annähert und die Sprache der Mythologie benutzt. Ich muss über die Dinge schreiben, indem ich nicht über sie schreibe. Ich muss rückwärtsgehen, um vorwärtszukommen.

Wir leben in einer Zeit, in der sich das Denken und die Sprache von ideologischen Fesseln befreien. Wir leben in der Zeit des chinesischen Fluchs, dessen Herkunft nicht eindeutig belegt ist, der aber gleichwohl zutrifft: »Mögest du in interessanten Zeiten leben.«

Eine kleine Kostbarkeit

Im Sommer 1997, nach meinem Abschluss an der Universität Islands, arbeitete ich im Kellergeschoss des Árni-Magnússon-Instituts für Isländische Studien. Das Institut befand sich hinter einer verschlossenen Tür in der geisteswissenschaftlichen Fakultät, und aus unerfindlichen Gründen war ich in all den Jahren, in denen ich in dem Gebäude studiert hatte, noch nie durch diese Tür gegangen. Es war eine geheimnisvolle Schwelle, eine Art Elfenfelsen: Ich hatte Geschichten von Leuten gehört, die in dieser Welt verschwunden und nie wieder aufgetaucht waren. Dort wurden die mittelalterlichen isländischen Handschriften aufbewahrt, und die Wissenschaftler brauchten Ruhe und Zeit, um diese Schätze zu erforschen. Die Türklingel war so schrill, dass sie mir wie ein Feueralarm vorkam. Ich traute mich nicht, auf den Knopf zu drücken, bis ich eines Tages das brennende Verlangen hatte, zu sehen, was sich dort drinnen befand. Ich klingelte und wurde hereingebeten.

Es war ruhig und dämmrig und roch nach alten Büchern, eine überwältigende Stille für einen jungen Mann, und ich fühlte mich ein bisschen fehl am Platz. Ich war umgeben von Handschriftenforschern, die teilweise so alt waren wie meine Großeltern. Meine Bedeutungslosigkeit wurde mir schlagartig bewusst, als in der Kaffeeküche darüber spekuliert wurde, ob Þorvaldur im Sommer 86 im Skagafjörður gewesen sei. Ich wusste nicht, ob sie von 1186, 1586 oder 1986 sprachen. Meine Angst, als unbelesen zu gelten, verstärkte sich noch durch meine Glossophobie – ich hatte das Gefühl, mich gleichzeitig (oder sagte man zugleich?) dumm und ungrammatisch auszudrücken.

Ich hatte im Sommer sonst immer draußen gearbeitet, Pflastersteine gelegt oder gegärtnert, und pflegte Büromenschen für ihre Unfreiheit zu bemitleiden. Jetzt beobachtete ich manchmal durchs Fenster meine leicht bekleideten Altersgenossen, die auf dem Campus Gras mähten, und meine Gedanken schweiften ab, in die große weite Welt hinaus. John Thorbjarnarson, mein Onkel mütterlicherseits, war Biologe und hatte mich eingeladen, ihn zu begleiten, um in den venezolanischen Mangrovenwäldern Anakondas zu erforschen und anschließend mit einer anderen Gruppe im Mamirauá Reservat im brasilianischen Amazonas-Regenwald Krokodileier zu zählen. Er leitete dort ein Forschungsteam zum Schutz des Schwarzen Kaimans, Melanosuchus niger, das größte Raubtier Südamerikas.2 Da der Wasserstand in dem Flutwald jährlich um bis zu zehn Meter schwankt, sollten wir in schwimmenden Häusern wohnen. John beschrieb mir das so: »Man kann sich nicht beschweren, wenn man morgens von den Geräuschen der Delphine aufwacht, die direkt vor der eigenen Haustür jagen.«

Zur selben Zeit stellte sich jedoch heraus, dass meine Freundin Margrét und ich unser erstes Kind erwarteten, weshalb es ziemlich unverantwortlich von mir gewesen wäre, mich in ein solches Abenteuer zu stürzen. Man könnte also sagen, in meinem Leben wurden die Weichen gestellt. Der Zug fuhr ohne mich nach Venezuela und zum Amazonas, während ich mich in einer Art Warteschleife befand, unsicher, ob mir die ernsthafte Forschung und das einsame Schreiben lägen.

Eines Tages wurde ich gebeten, eine Handschriftenausstellung in einem kleinen Ausstellungsraum im oberen Stockwerk zu beaufsichtigen. Gísli Sigurðsson, der Handschriftenforscher, der für die Ausstellung zuständig war, forderte mich auf, ihm zu einer massiven Stahltür im Keller zu folgen. Dort holte er drei Schlüssel heraus, und ich war ganz ergriffen, als er die Tür zum Handschriftenarchiv aufschloss, dem ehrwürdigen Herz der isländischen Kulturgeschichte. Ich war umgeben von uralten Schätzen: Pergamenthandschriften, von denen die ältesten um 1100 geschrieben waren und Ereignisse aus grauer Vorzeit schilderten, Originalhandschriften der Isländersagas, Rittersagas, Königssagas und steinalte Gesetzesbücher. Gísli ging zu einem Regal und öffnete eine Schachtel. Er nahm eine kleine Handschrift heraus und reichte sie mir vorsichtig.

»Was ist das für ein Buch?«, flüsterte ich.

Ich weiß nicht, warum ich flüsterte. Ich fand es einfach passend, in diesem Raum zu flüstern.

»Das ist der Codex Regius. Konungsbók, das Königsbuch mit der Lieder-Edda.«

Meine Knie wurden weich, ich war hin und weg. Der Codex Regius ist die größte Kostbarkeit in ganz Island, vielleicht sogar in ganz Nordeuropa, die zweitwichtigste Quelle der nordischen Mythologie, die älteste Handschrift der Gedichte Völuspá, Hávamál und Þrymskviða. Eine große Inspiration für Wagner, Borges und Tolkien. Ich kam mir vor, als hätte ich den leibhaftigen Elvis Presley im Arm.

Die Handschrift selbst war unscheinbar. Angesichts ihres Inhalts und ihrer Bedeutung hätte sie vergoldet und prunkvoll sein müssen, aber in Wirklichkeit war sie klein und dunkel, fast wie ein Zauberbüchlein. Sie war uralt, aber nicht verschrumpelt, ein wunderschönes braunes Pergament mit einer schlichten, deutlichen Schrift, fast ohne Illustrationen, bis auf ein paar wenige Versalien – der älteste Beweis dafür, dass man ein Buch nie nach seinem Einband beurteilen soll.

Der Handschriftenforscher öffnete das Buch behutsam und zeigte mir ein deutliches S in der Mitte einer Seite. »Lies mal!«, forderte er mich auf. Ich nahm die Schrift in Augenschein und konnte tatsächlich weiterlesen: »Die Sonne verdunkelt sich, das Land versinkt im Meer, vom Himmel stürzen die hellen Sterne; es wüten Feuer und Rauch, große Hitze steigt selbst bis zum Himmel empor.«3

Ein Schauer lief mir über den Rücken: Das war Ragnarök, der Weltuntergang, wie er in der Originalhandschrift der Völuspá beschrieben wird. Die Sätze standen hintereinander, nicht in Gedichtzeilen unterteilt wie in allen gedruckten Ausgaben. Ich stand in direktem Kontakt mit jemandem, der diese Worte vor über 700 Jahren niedergeschrieben hatte. Ich reagierte hypersensibel auf meine Umgebung, hatte Angst zu husten oder zu stolpern und bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich in unmittelbarer Nähe des Buches atmete. Vielleicht war das übertrieben; immerhin hatte die Handschrift sieben Jahrhunderte in feuchten Torfhäusern herumgelegen, war in Truhen auf dem Pferderücken über schwellende Flüsse transportiert und 1662 als Geschenk für König Frederik III. mit dem Segelschiff nach Dänemark gebracht worden. Mich überkam ein überwältigendes Empfinden für die Zeit. Ich sprach fast dieselbe Sprache wie die Person, die das Manuskript geschrieben hatte. Würde es weitere siebenhundert Jahre überstehen? Bis zum Jahr 2700? Würden unsere Sprache und unsere Zivilisation dann noch existieren?

Der Homo sapiens hat nicht viele seiner alten Weltanschauungen derart gut erhalten: Vorstellungen von jenen Mächten und Göttern, die die Geschicke lenken, vom Anfang und vom Ende der Welt. Wir haben griechische, römische, ägyptische und buddhistische Weltbilder. Wir haben die Weltbilder der Hindus, der Christen und Fragmente des Weltbilds der Azteken. Die nordische Mythologie ist eines dieser Weltbilder, und deshalb ist das Konungsbók sogar wichtiger als die Mona Lisa. Das meiste, was wir über die nordischen Götter, über Walhall und Ragnarök wissen, stammt aus diesem Buch. Das Manuskript ist eine unerschöpfliche Quelle und Inspiration für die Künste: Moderne Tanzstücke beziehen sich darauf, Death-Metal-Bands und selbst Hollywood-Blockbuster wie Thor von Marvel Comics, in dem Thor und sein Freund Hulk es mit dem heimtückischen Loki, dem Riesen Surt und dem schrecklichen Fenriswolf aufnehmen.

Ich legte das Manuskript in einen kleinen Warenaufzug, schickte es in den oberen Stock und hastete die enge Wendeltreppe hinauf, um es in Empfang zu nehmen. Dann hob ich es vorsichtig auf ein Wägelchen und schob es, wie ein empfindliches Frühchen, durch den langen Flur zu seinem Platz in einer Glasvitrine, die ich sorgfältig abschloss. Die ganze Woche hatte ich immer wieder denselben Albtraum: Ich war in der Innenstadt und hatte das Buch verloren. Einmal begegnete ich im Flur einer Frau mit einem Putzwagen und malte mir ein kulturelles Desaster aus: Das Manuskript fällt in einen Putzeimer und kommt blitzsauber wie ein unbeschriebenes Blatt wieder heraus.

Marketing gehörte nicht zur stärksten Seite der Mittelalterexperten im Árni-Magnússon-Institut, weshalb ich tagelang mutterseelenallein über die Kostbarkeiten wachte, während die Touristen zum Gullfoss und Geysir fuhren. Natürlich war es ein Privileg, allein mit unserer Mona Lisa Zeit verbringen zu dürfen, und nicht nur mit ihr – neben dem Codex Regius wurden die wichtigsten Schätze der Sammlung ausgestellt: Grágás mit der alten Gesetzgebung des isländischen Freistaats, Möðruvallabók mit den wichtigsten Isländersagas und Flateyjarbók mit seinen zweihundert Kalbshaut-Blättern und prächtigen Illustrationen. Manchmal stand ich vor den Glasvitrinen und versuchte, die Texte auf den aufgeschlagenen Seiten zu entziffern, doch Konungsbók war am besten lesbar, die Schrift war deutlich, und ich konnte mich durch die uralten Wörter buchstabieren: »Jung war ich einst, allein ging ich, da verlief ich mich auf den Wegen; reich schätzt ich mich, als ich einen andern traf, der Mensch ist des Menschen Freude.«4

In derselben Woche rasten Margrét und ich mitten in der Nacht zur Entbindungsstation, und wenig später durfte ich meinen neugeborenen Sohn auf den Arm nehmen. Ich hatte noch nie etwas so Nagelneues und Fragiles in den Händen gehalten. Ich hatte noch nie etwas so Altes und Fragiles in den Händen gehalten. Und dann träumte ich wieder: Ich war in der Innenstadt, wo ich plötzlich merkte, dass ich nur eine Unterhose trug und meinen Sohn und die Handschrift verloren hatte.

In dem an das Handschriftenarchiv angrenzenden Raum befanden sich weitere Schätze: stapelweise Tonbänder mit Aufnahmen, die Ethnologen zwischen 1903 und 1973 im ganzen Land gesammelt hatten. Dort konnte man sich die ältesten Aufnahmen anhören, die je in Island gemacht wurden, aufgenommen 1903 mit einem Wachszylinder oder Edison-Phonographen. Alte Frauen, Bauern und Seemänner rezitierten Gedichte, sangen und erzählten Geschichten. Ich hatte noch nie etwas so Faszinierendes gehört und setzte mir in den Kopf, dass diese alten Stimmen unbedingt der Allgemeinheit präsentiert werden müssten. Meine Hauptaufgabe für den Rest des Sommers bestand darin, gemeinsam mit der Ethnologin Rósa Þorsteinsdóttir eine Auswahl aus der Sammlung zusammenzustellen, um sie auf einer CD zu veröffentlichen.

Wenn ich die schwarzen Spulen in das Tonbandgerät einfädelte und die Kopfhörer aufsetzte, stieg ich in eine Zeitmaschine. Ich stand im Wohnzimmer einer alten Frau, die 1888 geboren worden war. In der Küche tickte die Wanduhr, und die Frau rezitierte einen Vers, den sie von ihrer 1830 geborenen Großmutter gelernt hatte, die ihn von ihrer im späten 18. Jahrhundert geborenen Großmutter gelernt hatte, die ihn von ihrer 1740 geborenen Großmutter gelernt hatte. Die Aufnahme war von 1969 und umspannte einen Zyklus von fast 250 Jahren. Sie stammte aus einer Welt, in der die Jüngsten von den Ältesten lernen. Der Stil des alten Verses war mit nichts Heutigem zu vergleichen, der Tonfall und die Intonation waren mir völlig fremd. Ich suchte ein paar Beispiele heraus, spielte sie meinen Freunden vor und forderte sie auf, zu raten, woher dieser Sprechgesang käme. Sie tippten auf amerikanische Ureinwohner, samische Rentierhirten, tibetische Mönche oder arabische Gebetsgesänge. Nachdem sie alle exotischen Kulturkreise aufgezählt hatten, die sie kannten, sagte ich: »Das ist eine Aufnahme von 1970 aus den Westfjorden, aus Strandir. Der Mann, den ihr da hört, wurde 1900 geboren.«

Wenn mein Sohn unruhig war, spielte ich ihm die Aufnahmen vor, und sobald das Skandieren einsetzte, entspannte er sich. Ich hätte zu gern wissenschaftlich untersucht, ob dieser alte Sprechgesang einen nachweislich beruhigenden Einfluss auf Säuglinge hat.

Die Vorstellung, die Zeit einzufangen, fesselte mich, und mir wurde bewusst, dass ich selbst von so vielem umgeben war, das bald verschwinden würde, so wie die Frauen auf den schwarzen Spulen. Ich hatte drei Großväter und zwei Großmütter, die alle noch lebten, und in jenem Sommer begann ich, eher willkürlich, ihre Geschichten zu sammeln. Opa Jón wurde 1919 geboren, Oma Dísa 1925, Oma Hulda 1924, Opa Árni 1922 und Opa Björn 1921. Sie gehörten einer Generation an, die eine einschneidende Epoche miterlebte, kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren und Zeitzeugen der Weltwirtschaftskrise. Sie erlebten den Zweiten Weltkrieg und viele große Veränderungen des 20. Jahrhunderts. Einige von ihnen kamen vor der Zeit von elektrischem Licht und Maschinen auf die Welt, hineingeboren in eine Welt voller Armut, Hunger und Entbehrungen. Inspiriert von der Tonbandsammlung, beschloss ich, Gespräche mit meiner Familie aufzunehmen. Ich benutzte einen VHS-Videorekorder, ein Diktiergerät und später mein Handy. Im Grunde wusste ich nicht, wonach ich suchte – ich wollte einfach nur alles Mögliche sammeln und das Urteil darüber der Zukunft überlassen. Mein eigenes Tonbandarchiv zusammenstellen. Das Andri-Magnason-Institut.

Ein Gespräch über die Zukunft

Ich bin bei Oma Hulda und Opa Árni in Hlaðbær, wir sitzen in der Küche, der Fluss Elliðaá schlängelt sich am Haus vorbei, Jogger laufen über den Uferpfad. An den Hängen der Bláfjöll liegen noch ein paar Schneewehen, aber der Garten steht in voller Blüte. Ich klappe meinen Laptop auf, klicke ein Video an und zeige meinen Großeltern einen Film, den seit Jahren niemand mehr gesehen hat. Ich hatte eine alte 16-mm-Filmspule in ihrer Abstellkammer gefunden und digitalisiert. Mein Großvater hat den Film 1956 gedreht, schwarz-weiß und ohne Ton, aber die Bildqualität ist perfekt. Festlich herausgeputzte Kinder sitzen in der Sonntagsstube in Selás 3, dem großen weißen Haus, das mein Urgroßvater am Ufer der Elliðaá gebaut hat. Die Kinder trinken Cola aus kleinen Glasflaschen, und meine Großmutter kommt lächelnd herein, sie hält eine prächtige, mit brennenden Kerzen geschmückte Sahnetorte in den Händen. Am Tischende sitzen die zehnjährigen Zwillingsschwestern eng beieinander, sie lachen und pusten kräftig auf die Kerzen. Meine Urgroßmutter trägt ihre Nationaltracht und schaut zu. Im nächsten Filmausschnitt tanzen die Kinder im Garten im Kreis, sie spielen »Ringlein, Ringlein, du musst wandern«. Meine Mutter und meine Oma schauen sich den Film gebannt an und können alle Personen beim Namen nennen. Ein Kindergeburtstag aus dem Jahr 1956, eingefangen auf einem 16-mm-Film, das war wirklich einmalig – aus dieser Zeit gibt es noch nicht einmal Filme von der isländischen Regierung.

Jetzt sitzen wir sechzig Jahre später wieder in der Küche. Meine Mutter ist Anfang siebzig, meine Großmutter 94 und meine jüngste Tochter zehn. Oma hat sich kaum verändert, seit ich sie kenne, sie hat bis vor Kurzem noch Golf gespielt und kann sich an fast alles erinnern. Vor ein paar Jahren wollte ein Bekannter seine Bewunderung für sie ausdrücken und bezeichnete sie mir gegenüber als rüstig. Ich war fast beleidigt – rüstig? So wie eine Greisin? Meine Oma sieht die Welt genauso. »Schöner Schal«, bemerkte ich einmal über einen blauen Schal, den sie um die Schultern trug. »Ja, den hat eine alte Frau für mich gehäkelt.« – »Eine alte Frau?«, entgegnete ich. Da antwortete sie lachend: »Ja, sie ist bestimmt zehn Jahre jünger als ich!«

Das Telefon klingelt, und Oma steht auf. Wir bleiben sitzen und essen unsere Pfannkuchen, im Hintergrund dudelt leise das Radio. Ich forderte meine Tochter Hulda Filippía auf, eine kleine Rechenaufgabe zu lösen:

»Wie alt ist deine Uroma, wenn sie 1924 geboren wurde?«

»94!«, antwortet sie prompt.

»Schnell gerechnet«, lobe ich.

»Aber ich wusste ja, wie alt sie ist«, erwidert sie grinsend.

»Jetzt musst du aber wirklich rechnen. In welchem Jahr wirst du 94 sein?«

»Also 2008 plus 94?«

»Ja, genau.«

Sie nimmt einen Zettel und einen Stift und schaut ungläubig auf das Blatt. Dann zeigt sie mir das Ergebnis, als müsste es ein Missverständnis sein.

»2102?«

»Stimmt! Dann wirst du hoffentlich genauso fit sein wie die Uroma heute. Vielleicht wohnst du sogar in diesem Haus. Und vielleicht kommt im Jahr 2102 deine zehnjährige Urenkelin zu Besuch und sitzt mit dir in dieser Küche, so wie du jetzt hier sitzt.«

»Hm, vielleicht«, sagt Hulda und nippt an ihrem Milchglas.

»Lass uns mal weiterrechnen. Wann wird deine Urenkelin 94 Jahre alt sein?«

Hulda schreibt die Rechenaufgabe mit meiner Hilfe auf das Blatt.

»Wird sie 2092 geboren?«

»Ja, richtig gerechnet.«

»2092 plus 94 ergibt … 2186!«

Sie lacht bei dem Gedanken.

»Ja, stell dir mal vor! Du wirst vielleicht ein Mädchen kennen, das im Jahr 2186 noch lebt.«

Hulda kräuselt die Lippen und blickt mich schelmisch an.

»Darf ich jetzt gehen?«, fragt sie.

»Gleich«, antworte ich, »ich habe nur noch eine Rechenaufgabe für dich. Wie lang ist es von 1924 bis 2186?«

Hulda rechnet wieder.

»262 Jahre?«

»Stell dir mal vor! 262 Jahre! Das ist die Zeitspanne, mit der du in Verbindung stehst. Du kennst Menschen aus dieser gesamten Zeitspanne. Deine Zeit ist die Zeit von jemandem, den du kennst, den du liebst und der dich prägt. Und deine Zeit ist auch die Zeit von jemandem, den du kennen und lieben wirst, die Zeit, die du gestalten wirst. Du kannst 262 Jahre mit deinen bloßen Händen berühren. Deine Uroma bringt dir etwas bei, und du bringst deiner Urenkelin etwas bei. Du kannst direkten Einfluss auf die Zukunft nehmen, bis zum Jahr 2186.«

»2186!«