Cover.jpg

Impressum

Eden Books

Projektkoordination: Juliane Noßack

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

INHALT

Ein Vorwort

Fliegen lernen am Ballermann

Playa de Palma

Britta und der belgische Schwindler

Port d’Andratx

Stichtag bei den Hartmanns

Es Trenc

Yoga-Klaus und der herabschauende Hund

Sineu

Sangria und Peitsche

Palma

Rollende Rentner auf Überlebenstour

Cala Millor

Abenteuer in Pradaletten

Costitx

Der alte Mann und die Plastiktüte

Santa Ponsa

Das Märchen von der Katze an der Fleischtheke

Paguera

Die feinen Damen, der Rotwein und die Ratte

Santanyi

Der verflixte Freitag der Montagsmalerin

Son Servera

Die Welpenschmuggler aus der Kölner Südstadt

Soller

EIN VORWORT

Als junger Mensch war ich oft auf Reisen, habe viele Länder besucht. Aber ich musste Mitte dreißig werden, bis ich zum ersten Mal nach Mallorca kam. Es war Mai – und schon nach wenigen Tagen hatte mich diese Insel gepackt. Die Mohnblüte war in vollem Gang, die Luft warm und doch erfrischend. Der Blick von den Klippen im Norden der Insel aufs Mittelmeer raubte mir fast den Atem, und Palma überraschte mich mit Schönheit und mediterranem Flair, wie ich das in noch kaum einer Stadt zuvor erlebt hatte. Kurzum: Mallorca und ich, das war Liebe auf den ersten Blick.

Seit April 2002 lebe ich auf Mallorca. Und nicht nur das: Ich berichte von hier für deutsches Radio und Fernsehen, schreibe über die Insel und die Menschen – seien es Urlauber, Residenten oder Einheimische. Ich beobachte. 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.

Die skurrilsten, lustigsten, ungewöhnlichsten Geschichten aus all den Jahren habe ich für dieses Buch aufgeschrieben. Manche habe ich persönlich erlebt. Wieder andere habe ich mir erzählen lassen – von den Akteuren dieser Geschichten selbst oder von denen, die dabei waren. Alle sind im Kern wahre Geschichten. Aber weil sie nicht immer denen schmeicheln, die darin vorkommen, habe ich sie verfremdet, ergänzt, verkürzt. Und ich habe Namen und Orte geändert.

Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit diesem Buch. Es ersetzt keine Reise auf die schönste Insel der Welt. Aber es bringt Sie für ein paar Stunden an diesen Sehnsuchtsort, weckt womöglich Erinnerungen und lässt Sie staunen, was unsere Landsleute hier alles erlebt haben. Oder sich erlaubt haben.

Eines zeigt jede einzelne Story: Mallorca ist nicht Las Vegas. Was auf Mallorca passiert, bleibt nicht auf Mallorca …

Jürgen Mayer

PS: Ich widme dieses Buch Christina, die so oft meiner Erinnerung auf die Sprünge geholfen hat und ohne die es Mallorca für mich nicht gäbe.

FLIEGEN LERNEN AM BALLERMANN

Playa de Palma

Johanna ist eigentlich schon ziemlich durch. Am zweiten Abend in Arenal. In der Nacht zuvor, kurz vor Mitternacht, ist sie mit ihren acht besten Freundinnen in Palma gelandet. Mit dem letzten Flug aus Hannover. Bereits auf der Fahrt von Nienburg an der Weser zum Flughafen hatten sie ordentlich gebechert, um sich in Malle-Stimmung zu bringen. Sie und ihre Mädels. Gehört sich ja auch so bei einem Junggesellinnenabschied!

Rosa Shirts und schwarze Shorts hatten sie sich besorgt, mit Hosenträgern. Nur Johanna trägt einen Petticoat. Er steht ihr gut, sie ist schlank, sieht jünger aus als die 23 Jahre, die in ihrem Ausweis stehen – und in dem Röckchen kommen ihre langen, schlanken Beine sehr gut zur Geltung. Sie hat kurze, dunkle Haare, und ihre Augenbrauen sind gepierct. Auf dem Kopf sitzt ein goldenes Krönchen, das ihre Freundinnen im Netz geschossen haben, bei einem Versandhandel für Junggesellinnenfeiern. Johannas beste Freundin Andrea hat am Ende die Klamotten für alle besorgt. Sie hat auch die ganze Reise organisiert. Flüge, Hotel, einfach alles. Sie ist ein wahrer Schatz!

»Du bist die Braut, du brauchst dich um nichts zu kümmern«, hatte sie zu Johanna gesagt.

Jetzt sind sie also hier. Auf Malle. Als sie gestern Abend kurz nach zweiundzwanzig Uhr gelandet sind, ging es direkt vom Flughafen an den Ballermann. Sie waren mächtig angeheitert, haben gleich eine Tour durch unendlich viele Läden gemacht, haben alles durcheinandergetrunken – und als es Sarah schlecht wurde, sind sie alle zum Strand gelaufen und haben sich ein paar Stunden schlafen gelegt. Das soll eigentlich verboten sein. Aber kein Polizist kam vorbei und hat sie aufgeweckt.

Andrea hatte für die erste Nacht kein Hotel gebucht. Warum auch? Sie wollten ja feiern. Und nicht schlafen.

Sie schleppten sich mehr schlecht als recht durch den Vormittag, besorgten sich Bocadillos und Café, zogen ihre Bikinis an, die im Handgepäck steckten, und legten sich wieder an den Strand. Was für ein Abenteuer! Mehr braucht es eigentlich nicht zum Leben. Trotzdem waren alle ziemlich froh, als sie am frühen Nachmittag auf ihre Hotelzimmer durften. Ausnahmslos alle legten sich noch mal hin und schliefen tief und fest ein.

Jetzt treffen sie sich wieder. Unten in der Lobby des Hotels. Frisch geduscht und bereit, die Nacht wieder zum Tag zu machen. Es ist kurz nach zweiundzwanzig Uhr. Die beste Zeit also, um am Ballermann loszulegen.

»Wer ist für Bierkönig?«, grölt Andrea in die Runde. Und alle halten wie in der Schule ihre Hände in die Höhe: »Dann los, Mädels! Und heute Abend werden keine Gefangenen gemacht. Wir sind auf Malle! Was hier passiert, bleibt hier.« Andrea zwinkert Johanna zu, die Mädels schlagen in der Mitte ein und stolzieren los in ihren rosa Shirts und schwarzen Shorts.

Sandro hat zu diesem Zeitpunkt bestimmt schon vier Bier intus. Es ist Happy Hour im Bierkönig. Du bestellst ein Bier und bekommst zwei. Jeweils halbe Liter, logo! Sandro und die Jungs von der zweiten Mannschaft der Borussia Osnabrück sind schließlich nicht zum Spaß hier!

Sie kommen jetzt schon zum vierten Mal nach Arenal. Es ist ihre Abschlussfahrt nach der Saison. Kreisliga spielen sie, nichts Berühmtes, immer im Mittelbereich der Tabelle. Seit Jahren schon. Fußball ist ihr Hobby, sie trainieren zweimal in der Woche, am Wochenende das Punktspiel – fertig. Mehr Zeit können sie nicht investieren. Und dürfen es auch nicht, sonst würden die Frauen meckern. Noch mehr als bisher. Die wollen einfach nicht kapieren, dass Männer eben auch ihre eigene Zeit brauchen. Mit Männern. Beim Fußball. Und beim Bier danach. Ist ja wohl nichts dabei.

»Nimm!«, brüllt André rüber und stellt ihm zwei weitere Bier vor die Nase auf den Stehtisch. Jeder von den Jungs ist dran mit einer Runde. Sandro hat eben den Anfang gemacht, er kann jetzt laufen lassen. Er fällt auf, auch unter seinen Freunden. Er ist mit gut 1,90 der Größte von ihnen, die blonden Haare lässt er seit einigen Monaten wachsen, sie reichen ihm fast bis zum Kinn. Ein »Surfer-Typ« ist er, könnte glatt in einer der Serien mitmachen, die an einem kilometerlangen Strand mit Pudersand irgendwo in Kalifornien spielen. Aber Sandro hat in seinem ganzen Leben noch nie auf einem Surfbrett gestanden. Will er auch gar nicht. Fußball reicht ihm.

Auch diese Fahrt an den Ballermann hat wieder zu Diskussionen mit den Frauen geführt – wie in jedem Jahr. Die meisten sind noch nicht verheiratet, außer Fiete und Klausi. Aber alle anderen haben feste Freundinnen zu Hause, leben meistens auch schon einige Jahre mit ihnen zusammen. »Verlobt mit der Alina ist er«, sagt Sandros Vater immer, wenn die Verwandtschaft fragt. Aber es gab weder einen Antrag noch ’ne Verlobungsfeier oder so etwas. Sandro ist es egal. Alina ist in Ordnung, es läuft eigentlich ganz gut.

Vor dem Abflug mit den Jungs haben sich Alina und Sandro richtig gestritten. Wie immer vor der Ballermann-Fahrt mit dem Verein. Sandro regt sich im Streit kurz auf, aber sobald er in seinen GTI gestiegen ist in Richtung Flughafen, ist es ihm egal.

Alina traut ihm nicht. Sie glaubt, dass er jedem Rock hinterherrennt, sobald er auf Malle ist. Dabei war sie selbst auch bereits zweimal mit ihren Freundinnen hier. Auch ohne die Männer. Und ohne ihn.

»Ich frage dich nicht, wie es war. Dann erfahre ich auch keine Sachen, die ich gar nicht wissen will«, hatte er damals gesagt, als er sie am Flughafen abholte.

Genau so hält er es umgekehrt auch. Er ist ja auch treu. Also in gewissem Sinn. Er liebt Alina – und das bleibt auch so. Klar hatte er auf jeder Mannschaftsfahrt irgendeine Frau am Start. Vor drei Jahren diese Dunkelhaarige mit dem bayerischen Akzent. Regine hieß die. Oder voriges Jahr. Tiziana. Italienerin aus Berlin. Die hat Sachen mit ihm gemacht, von denen träumt er heute noch in manchen Nächten und wacht schweißgebadet auf.

Und dann natürlich vor zwei Jahren Steffi aus Bremen. Die hatte so geweint, als er abreiste – er wusste gar nicht, wie er sie beruhigen sollte. Natürlich würde er sich sofort melden. Natürlich würden sie sich wiedersehen, sobald auch sie aus Mallorca zurück wäre. Gleich am Wochenende drauf! Bremen–Osnabrück, das ist ja keine Entfernung. Gut hundert Kilometer, eine Stunde Fahrt: kein Ding! Er hat zu Hause so getan, als würde seine SIM-Karte nicht mehr funktionieren, und sich eine neue besorgt. Mit neuer Nummer. Selbstverständlich hat er Steffi niemals angerufen.

Ballermann ist Ballermann! Und zu Hause ist zu Hause. Zwei Welten. So ist das nun mal. Weiß doch jeder!

Klausi entdeckt sie zuerst.

»Alter!«, ruft er, »’ne Braut!« Johanna stolziert in ihrem Petticoat und mit dem Krönchen in den Bierkönig, gefolgt von ihren Freundinnen in rosa Shirts und schwarzen Shorts. Sie schauen sich kurz um und steuern dann auf eine Ecke zu, in der noch nicht ganz so viel Trubel herrscht.

Also Sandro sie sieht, trifft es ihn wie der Blitz. Seine Knie werden weich. Seine Hände fangen an, ganz leicht zu zittern. Sein Magen wird flau. Er hat das Gefühl, als ob sein Kopf gerade komplett in Watte eintauchen würde. Flauschig, weich, wohlig. Etwas Warmes strömt durch seinen Körper – und es ist so stark, dass er das Gefühl hat, gleich zu glühen. Das kannte er bislang nur von einer anfliegenden schweren Erkältung – dieses Erhitzen kurz vor dem Fieberausbruch, diese Hilflosigkeit. Dieses Empfinden, als ob der Körper abwechselnd glühend heiß und anschließend wieder eiskalt würde.

Sandro hasst es, wenn sein Körper ihm nicht gehorcht. Wenn er krank ist. Wenn er nicht macht, was Sandro will. Sandro hasst es, die Kontrolle zu verlieren. Und solch einen Kontrollverlust hat er in seinem ganzen Leben noch nicht erfahren. So einen wie gerade in diesem Moment im Bierkönig auf Mallorca.

Johanna steht jetzt mit ihren Freundinnen an einem Tisch in der Ecke, keine zehn Meter von Sandro entfernt.

Er möchte das eigentlich nicht. Und will es doch. Er möchte auf keinen Fall länger hierbleiben, weil er spürt, dass diese Frau ihn nie mehr loslassen wird. Er weiß das nicht, er kann das ja nicht wissen. Und doch spürt er es. Diese Frau da hinten, das ist die Frau seines Lebens!

»Lass uns da mal was klarmachen«, sagt Ralf, schnappt sich Klausi und den Trainer.

Alle drei gehen rüber zu den Mädels in Rosa und Schwarz. Klausi macht einen Spruch, die Mädels lachen, und schon stehen die drei Bier der Jungs auf dem Tisch der Frauen. Alle stecken die Köpfe zusammen und prusten einige Augenblicke später los. Auch Johanna lacht sich schlapp. Bestimmt hat der Trainer wieder einen seiner zweideutigen Witze gemacht. Wie immer beim Baggern. Das ist seine Masche, um bei Frauen das Eis zu brechen.

Sandro beobachtet das alles von seinem Tisch aus. Er bewegt sich keinen Zentimeter dort weg. Sein Kopf fürchtet, dass sein Körper bei der geringsten Bewegung zusammenbrechen wird, er zu Boden fällt und alle rundherum lachen. Was natürlich absoluter Quatsch ist.

Überhaupt will Sandro das alles nicht – dieses Verknalltsein, diese plötzliche Liebe, wörtlich auf den ersten Blick. So was kann sich Alina in ihren Filmen angucken, die in Cornwall spielen und die sie sich jeden Sonntagabend im ZDF reinzieht, während er eigentlich lieber Tatort schauen würde. Aber er sagt nie etwas, weil Alina nach der Romantik-Soße so emotional aufgeladen ist, dass sie anschließend fast immer im Bett landen. Dafür verzichtet er gern auf den Tatort!

Das hier ist wie Cornwall. Ein Mädchen, dessen Name er noch nicht mal kennt. Und er, Sandro, der weiche Knie bekommt, wenn er sie nur anschaut. Er fragt sich kurz, warum es ihn jetzt gerade so erwischt. Ist das ihr Gesicht? Das Lachen? Er weiß es nicht – und er kann auch überhaupt keinen klaren Gedanken fassen.

»Kommst du mit, wir drehen ’ne Runde.«

Tom und der Rest der Jungs wollen jetzt Klausi und Co. ihren Mädels-Tisch überlassen und lieber anderswo in dem Laden nach Beute suchen.

»Sandro, alter Kacker, was ist? Alles gut bei dir?« Sandro nickt und lässt die Jungs gehen. Er holt sich noch ein Bier an der nächsten Theke – und als er zurückkommt, steht eine andere Gruppe Männer an seinem alten Tisch. Sandro bleibt etwas abseits stehen, um zu überlegen. Geht er doch noch quer durch den Laden und sucht die Jungs? Oder stellt er sich zu Klausi, Ralf und dem Trainer rüber – und zu ihr?

Schon beim ersten Schritt spürt er förmlich, dass es die richtige Richtung ist. Dabei scheinen ihm seine Beine gar nicht zu gehorchen. Sie gehen einfach. Rechts. Links. Rechts. Links. Ohne Befehl aus seinem Kopf, scheint es. Einfach so. Instinktiv würde man bei einem Tier sagen. Sandro jedenfalls glaubt, dass er überhaupt keinen Einfluss auf seine Beine hat in diesem Moment. Er kann nicht denken. Sein Körper geht einfach zu ihr rüber.

Als er am Tisch angekommen ist, schaut sie ihn an, sagt: »Hi!«, streckt ihm ihre Hand entgegen. Sandro nimmt sie wie bei einem Vorstellungsgespräch und schüttelt sie.

»Johanna.«

»Sandro.«

Hat er da gerade gestottert? Bei seinem Namen? Wie megapeinlich ist das denn? Sandro weiß noch nicht mal, wie er jetzt hier an dem Tisch gelandet ist. Er hat sich nicht mehr im Griff. Er tut Dinge, die er eigentlich nicht tun will – und das liegt nicht am Alkohol. Die fünf oder sechs Bier, das ist für Sandro normalerweise kein Thema.

»Ich habe dich eben schon gesehen, drüben am Tisch. Gehörst du zu den Fußballjungs?«, fragt Johanna.

»Und ob! Das ist unser Abstauber. Und nicht nur auf dem Platz, wenn ihr versteht!«, sagt Klausi, und alle lachen, auch Johanna.

»Alter, geh kacken! Was soll die Scheiße?« Sandro ist richtig sauer auf den Arsch. Will er ihn hier vor der Frau vorführen, oder was? Als er merkt, dass er gerade die Stimmung in der Runde runterzieht, versucht er, noch schnell die Kurve zu kriegen.

»Jetzt wollte ich einmal den Schüchternen machen, da lässt der mich gleich auffliegen. Mann, Mann, Mann – du bist ein Freund! Aber ich nehm dir schon nix weg.«

Klausi lacht und alle anderen mit. Auch Johanna.

Irgendwie fühlt sich Sandro jetzt ein wenig sicherer. Er glaubt immer noch, seine eigene Nervosität zu spüren. Aber er ist sicher, dass kein anderer das merkt. Schon gar nicht Johanna. Er ist wieder ganz der Alte. Der Coole. Er hat sich wieder im Griff. Er macht Witzchen in der Runde, macht eine blöde Bemerkung zum Trainer, sagt was Nettes zu Johannas Freundin Laura, klopft Sprüche.

Johanna beobachtet ihn. Er war ihr schon aufgefallen, als sie in den Bierkönig reingekommen sind. Unter all den Kerlen, die da rumstanden und auf sie und ihre Freundinnen starrten, unter all denen ist ihr dieser Sandro sofort aufgefallen. Er hat diesen verschmitzten Blick. Und schöne Augen. Johanna steht auf schöne Augen – und erst jetzt sieht sie, wie klar und frisch seine Augen wirklich sind – jetzt, wo er neben ihr steht.

»Ist der nervös?«, fragt sie sich. Er wirkt zumindest so auf sie.

Sein Blick sagt ihr: Er würde gern flirten, traut sich aber offenbar nicht. Komisch. Für besonders große Schüchternheit scheint er ja eigentlich nicht bekannt zu sein, glaubt man den Bemerkungen seiner Kumpels. Johanna vermutet, dass er moralische Bedenken hat.

Sie, die Braut, die in zwei Wochen heiraten wird. Und er der gewissenlose Kerl, der sie womöglich noch ein letztes Mal zweifeln lassen wird, ob Andres wirklich der Mann ihres Lebens ist. Der vielleicht damit eine künftige Familie zerstört – wegen einer Nacht am Ballermann, in der beide dann in der Kiste landen. Aber bekommt der Typ wirklich wegen so etwas ein schlechtes Gewissen? So, wie der sich gibt und wie der aussieht, schleppt der nicht zum ersten Mal eine Frau für einen One-Night-Stand ab. Kann nicht sein! Aber warum wirkt der nervös?

»Ein richtiges Schnittchen, oder?« Andrea brüllt ihr das ins Ohr und deutet mit dem Blick auf Sandro. Anders würde Johanna sie auch nicht verstehen bei der höllisch lauten Musik, die jetzt im Bierkönig läuft. Irgendeine Schlagersängerin mit knappen Klamotten steht inzwischen auf der Bühne, sie müht sich ab, schreit mehr, als sie singt, wackelt mit dem Hintern – und die Menge johlt. Johanna zieht die Augenbrauen hoch und deutet ein Nicken an. Soll heißen: »Aber so was von einem Schnittchen!«

Als sie sich rumdreht, steht das Schnittchen direkt vor ihr und hält ihr ein Bier hin.

»Danke.«

Sie stoßen an, und Johanna brüllt dem Schnittchen ins Ohr: »Du willst es aber wissen.«

»Was?«

»Na, mit dem Bier. Ihr Jungs habt aber eine ordentliche Schlagzahl. Wie viel hast du denn schon?«

»Na, so sieben, acht Stück. Aber da geht noch was … Sind ja nicht zum Spaß hier!«

Beide lachen. Sandro, weil er glaubt, wieder mal einen grandiosen Spruch gesetzt zu haben. Johanna, weil sie einfach ziemlich gute Laune hat. Den Spruch hat sie schon gekannt – und so originell war der ja auch nicht. Aber egal. Heute Abend will sie mal nicht so streng sein.

»Wo kommst du her?« Jetzt brüllt Sandro in ihr Ohr.

»Nienburg!«

»Wo?«

»Nienburg! An der Weser! Zwischen Bremen und Hannover. Ziemlich in der Mitte.«

»Kenn ich.«

»Woher?« Sie findet es ziemlich gut, immer wieder so nah an sein Ohr zu kommen.

»Pokalspiel. Fußball! Wir spielen zusammen Fußball, die anderen Jungs und ich. Borussia Osnabrück, zweite Mannschaft, nur so als Hobby. Wir haben mal ein Pokalspiel in Nienburg gehabt – voriges Jahr oder vor zweien. Weiß nicht mehr so genau.«

Sandro kann sie riechen, wenn er sich so nah zu ihr rüberbeugt und in ihr Ohr brüllt. Sie riecht toll! Er könnte gerade durchdrehen. Diese Frau wird er nie vergessen. Niemals! Weiß er jetzt schon, obwohl er sie erst ein paar Minuten kennt. Aber diese Frau hat ihn ziemlich erwischt. Er spürt gerade schon wieder dieses flaue Gefühl im Magen. Er kann seinen Blick einfach nicht von ihr lassen, er kann nichts dagegen tun. Er muss sie einfach ansehen.

»Was glotzt du so?«, sagt Johanna plötzlich.

Für den Bruchteil einer Sekunde kommt so etwas wie Panik in ihm auf, dann aber legt Johanna ihren Arm um seinen Hals und gibt ihm einen kleinen Kuss. Auf die Wange.

»War Spaß«, sagt sie. »Ich find dich auch ziemlich gut.« Sie nimmt ihn an der Hand und zieht ihn weg von den anderen, hin zur Bühne. Sie beginnt zu tanzen und flirtet ihn mit den Augen an. Sandro, die coole Socke, tanzt nie. Zumindest bisher. Heute Abend ist es ihm egal. Hauptsache, diese Frau ist um ihn herum. Hauptsache, er verliert sie nicht. Und bei diesen vielen Menschen hier sehen die anderen Jungs ja auch gar nicht, dass er tanzt. Erst bewegt er sich nur ganz langsam im Takt mit – und als Johanna ihn immer mehr anlächelt, lässt er sich gehen. Lässt sich auf die Musik ein. Tanzt, dreht sich, schaut Johanna jetzt immer ungenierter an. Vielleicht liegt es auch am Bier, dass er seine Hemmungen verliert. Aber hauptsächlich tanzt er, weil er ihr dann ganz nah ist.

Einer Frau ganz nah sein. War bisher bei ihm nicht vorgesehen. Körperlich schon, na klar. Aber bei keiner Frau hat er bisher Nähe gesucht. Im Gegenteil.

Auch Johanna sucht Nähe. Und zeigt das auch. Sie packt Sandro von hinten an die Hüften und schiebt ihn so vor sich her – zurück zum Tisch ihrer Freundinnen. Irgendwer hat »Kleiner Feigling« besorgt. Eine ganze Pappkiste mit den kleinen Fläschchen steht auf dem Tisch. Johanna schnappt sich ein Fläschchen und nimmt noch eines für Sandro. Beide klopfen es auf die Tischplatte und kippen es in einem Zug runter.

»Ich heiße Johanna!« Sandro schaut sie offenbar eine Sekunde zu lange fragend an, sie beginnt zu lachen, sagt noch etwas von Bruderschaft und küsst ihn. Jetzt aber richtig. Lange, innig, als wolle sie gar nicht mehr aufhören.

»Ich heiße Schnittchen!«, sagt jetzt Sandro, und beide prusten los.

»Du hast das gehört vorhin, oder?«

»Was gehört? Ich hab gar nichts gehört.« Er legt wieder sein Buben-Lächeln auf. »Schnittchen ist mein zweiter Vorname. Sandro Schnittchen.«

Beide lachen – und Sandro fühlt sich jetzt wieder in Hochform. Ganz der alte Sandro. Der alte Charmeur, der Baggerkönig vom Ballermann.

Als er noch Bier holen will und an Klausi vorbeikommt, ruft der ihm zu, schon deutlich lallend: »Hey, Alter, die hast du am Haken! Da geht noch richtig was!«

»Halt einfach die Fresse!«

»Oh, der feine Herr ist heute etwas empfindlich.«

»Klausi, halt einfach deine besoffene Fresse, und alles ist gut.«

»Er kriegt in seine gleich richtig was rein«, sagt Klausi nur noch leise, als Sandro schon längst weiter in Richtung Theke unterwegs ist und ihn nicht mehr hören kann. So reden sie nun mal. Unter Freunden. Unter Männern. Ganz normal. Kein Ding. Sie sind Norddeutsche, sie sind Fußballer, sie sind am Ballermann – und sie sind nun mal etwas derb. Wer das nicht abkann, muss zu Hause bei Mutti bleiben.

Auch Andrea hat noch mal Bier geholt – und als Sandro zurückkommt mit seiner Runde Bier, steht der Tisch schon ziemlich voll mit Gläsern. Sandro stellt seine einfach dazu. Alles kein Problem. Was bezahlt ist, das wird auch getrunken. Er selbst geht mit gutem Vorbild voran und leert sein Glas in einem Zug.

»Halt!«, sagt Johanna, als er gerade zum nächsten Glas greifen will. »Ich will noch einen Feigling mit dir trinken. Aber das Komplettprogramm.«

Sie trinken, und sie küssen sich. Und trinken. Und küssen. Die Musik in dem Laden wird gefühlt immer lauter. Und immer unterirdischer. Aber das ist den meisten hier völlig egal. Saufen, knutschen, grölen, bisschen fummeln vielleicht und jemanden abschleppen: Deshalb sind sie alle hier. Und einfach mal vergessen, was zu Hause wartet. Die Hypothek. Der Ärger mit dem Chef. Die Frau.

Hier ist Malle – und das ist nur einmal im Jahr. Ballermann: Olé-Olé-o-lé-Olé!

Auch Sandro gerät langsam außer Rand und Band. Er singt mit, grölt, tanzt auf der Stelle, dreht sich, springt. Er benimmt sich, als hätte er zwischen den vielen Bieren und Feiglingen auch einen ganzen Krug Glückshormone getrunken.

So wirkt er auf Johanna.

Oder hat er was geschluckt?

»Hast du was genommen?«, fragt sie ihn und küsst ihn minutenlang, bevor er antworten kann.

»Nee, ich nehm nix. Nur das hier«, antwortet er und hält sein Bierglas hoch.

Und das ist wirklich nicht gelogen. Sandro nimmt aus Prinzip keine Pillen. Er hat regelrecht Angst vor dem Zeug. Die anderen schlucken schon mal Speed oder auch Ecstasy, um am Wochenende gut drauf zu kommen. Er nicht. Auf keinen Fall. Dann säuft er lieber doppelt so viel – und ist auch gut drauf. Ein Megaschädel am nächsten Tag und vielleicht die Kotzerei – viel mehr kann beim Saufen nicht passieren. Kevin, der bei ihm um die Ecke wohnt, war mal fast zwei Wochen außer Gefecht, hat nur mit Fieber im Bett gelegen, Schüttelfrost, Krämpfe. Der hatte sich die falschen Pillen von den falschen Leuten andrehen lassen. Das will Sandro auf keinen Fall erleben.

»Ich find das nicht schlimm«, sagt Johanna, »ich hab auch schon mal was reingeworfen. Ist doch nix dabei.« Sie stößt ihre Freundin in die Seite, und Andrea reicht ihr zwei hellblaue Pillen aus ihrer Handtasche. »PP« steht in Großbuchstaben vorn drauf – und auf der Rückseite: »Don’t die!«

Sandro will das nicht. Aber er ist zu betrunken, um Nein zu sagen. Und zu verliebt. Ja, das ist er! Verliebt! Er wollte es nicht, es ist einfach passiert. Und je mehr er trinkt, desto verliebter wird er. »Noch drei Bier«, sagt er zu sich selbst und lächelt dazu, »dann frag ich sie, ob sie mich heiraten will.«

Sie knutschen wieder. Johanna ist richtig fordernd. Sandro mag das. Er steht auf Frauen, die wissen, was sie wollen. Die nach vorn preschen. Die nicht zimperlich sind. »Diese Frau hier ist einfach der Wahnsinn!«, denkt er und sieht in dem Moment, wie die Wahnsinnsfrau von einer Sekunde zur nächsten blass wird im Gesicht.

»Alles okay mit dir?« Sie hält ihn mit dem rechten Arm auf Abstand. Die linke Hand hält sie vor den Mund.

Und rennt los. Zwischen den Tanzenden hindurch, vorbei an der Bühne, begleitet vom Wummern der Bässe rennt Johanna, so schnell sie kann, Richtung Frauenklo. Sie schafft es gerade noch bis zum Waschbecken. Dann gibt es kein Halten mehr. Sie kotzt sich die Seele aus dem Leib. Andrea kommt dazu und hält ihr die Haare aus dem Gesicht.

»Hey, Braut!«, sagt sie, »amüsierst du dich wenigstens mit dem Schnittchen?«

Johanna antwortet nicht. Wie auch. Ein weiterer Schwall kommt aus ihr raus. Das Schlimmste ist, dass sie sich im Spiegel selbst beim Kotzen zuschauen muss. Da kommt es ihr gerade noch mal hoch.

Als die beiden Mädels von der Toilette zurückkommen, hat Sandro bereits zwei weitere Bier intus. Er nimmt sie in den Arm, aber Johanna schüttelt mit dem Kopf.

»Alles in Ordnung?«, Sandro schaut sie mit aufgerissenen Augen an. Er lallt leicht.

»Na ja, ich hab mir gerade die Seele aus dem Leib gekotzt. Mit dem Geruch willst du mich nicht küssen. Das willst du garantiert nicht!«

Wortlos dreht sich Sandro um, verschwindet an der Theke und kommt mit zwei großen Bier zurück. »Dann müssen wir mal ’ne kleine Spülung machen.« Er lacht sich schlapp.

Johanna trinkt das große Glas in einem Zug aus. Sandro ist schwer beeindruckt.

»Du kannst ja sogar trinken! Und wie du das kannst. Dich könnte man ja glatt heiraten.«

Eigentlich ist ihm das jetzt nur so rausgerutscht. Nicht ernst gemeint. Und doch findet Sandro, wenn er wirklich drüber nachdenkt, dass die Idee vielleicht gar nicht so schlecht ist. Er kann allerdings nicht mehr richtig nachdenken. Nicht in diesem Zustand. Nicht in diesem Laden.

Und Johanna? Nimmt den Spruch natürlich auch nicht ernst. Sie küsst ihn mit dem biergespülten Mund, schaut ihn an und sagt: »Tja, du bist zu spät. Ich hab schon einen, den ich heirate. In zwei Wochen.« Dann zieht sie die Schultern hoch. »Kann man nix machen.«

Sandro zieht eine Schnute. Er macht ein Gesicht, wie Angetrunkene es machen, wenn sie nicht wissen, ob sie jetzt lachen oder weinen sollen. Trotz seines hohen Pegels und der Scheißegal-Stimmung versetzt ihm dieser Satz einen kleinen Schlag in die Magengrube. Er fühlt sich verletzt.

»Ich glaube nicht, dass du den heiraten wirst!«, hört er sich reden. »Du wirst nämlich mich heiraten, wenn du siehst, was ich kann.«

Johanna grinst, deutet mit dem Zeigefinger auf seine Hose und ist offenbar kurz davor, laut loszulachen.

»Nein, nein«, stottert Sandro fast. »Also, das natürlich auch. Meisterlich kann ich das! Kannst dich gern erkundigen! Aber das meine ich gar nicht.«

»Sondern?«

»Sondern was?

»Sondern was meinst du? Was kannst du?«

»Fliegen!«

Der Trainer stellt eine weitere Runde Bier auf den Tisch, Andrea kommt mit ’nem neuen kleinen Päckchen Feigling um die Ecke. Links hinten prügeln sich ein paar Typen, einer wirft einen Barhocker, zwei Jungs haben sich gegenseitig am Hals gepackt. Die Security geht sofort dazwischen und schmeißt alle vor die Tür. Keiner stört sich groß dran, weiter kann’s gehen mit dem Feiern. Das ist Alltag am Ballermann – »Allnacht«.

Johanna und Sandro klopfen ihre Feiglinge auf die Tischplatte, und sie knutschen wieder lange und intensiv.

»Du kannst also fliegen?«, flüstert sie ihm ins Ohr – und brüllt dabei gleichzeitig. Anders geht’s nicht bei dieser Lautstärke.

»Komm einfach mit, ich zeige es dir. Unser Hotel ist nur zwei Straßen weiter. Das Alce. Da zeige ich dir das.«

Jetzt gehen bei Johanna doch noch die Alarmglocken an, so viel Verstand hat sie trotz ihres Pegels noch übrig.

»Aber doch nicht allein. Du fliegst, ich sehe das – und hinterher glaubt mir keiner!« Sie ist froh, dass ihr diese Ausrede noch eingefallen ist.

Sandro schaut sie lange an, er scheint nachzudenken. Vielleicht starrt er aber auch nur vor sich hin, so voll, wie er inzwischen ist. »Na gut«, sagt er dann, »deine Freundinnen kommen alle mit! Euch allen zeige ich, wie ich fliege!«

Tatsächlich geht Johanna jetzt los und sammelt die Mädels ein. Andrea steht sowieso den ganzen Abend am Tisch und quatscht mit dem Trainer, Sandra und Laura tanzen, Kerstin knutscht mit irgendeinem Typen an Theke rum, die lässt sie in Ruhe.

»Dann mal los!«, sagt Johanna, mit den drei Freundinnen im Schlepptau, »jetzt wollen wir was sehen.« Alle sind betrunken, lachen, sind sehr laut. Auch der Trainer kommt mit. Er kann jetzt sowieso nichts mehr saufen – und egal, was die Mädels jetzt mit Sandro vorhaben: Er will das nicht verpassen! Klausi und die anderen Jungs haben sie alle schon seit Stunden nicht mehr gesehen. Die sind vermutlich schon längst in irgendwelchen anderen Läden unterwegs.

Sandro fühlt sich benebelt und ist trotzdem wahnsinnig hibbelig. Unruhig. So rastlos. Er könnte Bäume ausreißen! Das könnte an der Pille liegen, die Johanna ihm gegeben hatte.

Das Hostal Alce liegt gerade mal fünf Minuten zu Fuß vom Bierkönig entfernt, in einer relativ ruhigen Seitenstraße. Hier sind die Jungs alle untergebracht. Ein einfaches Hotel ist das, drei Stockwerke, Pool, kleines Frühstück. Keiner von den Freunden hat bisher allerdings den Frühstücksraum gesehen, obwohl sie schon drei Tage hier sind. Fast jeden Morgen sind sie erst zurück ins Hotel gekommen, kurz bevor es hell wurde. Sie sind jedes Mal sofort ins Bett gefallen, besoffen, fertig, halb tot. Und haben bis weit über Mittag geschlafen, um sich dann irgendwo an einer der Buden ’ne Currywurst zu holen. Das ist ihr Ballermann-Frühstück! Und hat eigentlich schon Tradition bei der zweiten Mannschaft von Borussia Osnabrück.

»Okay!« Sandro stellt sich an den Poolrand des Hotels und hält so was wie eine kleine Rede. »Okay!«, fängt er wieder an. Er lallt, er schwankt. Fast sieht es so aus, als würde er gleich rückwärts in den Pool kippen. Sandra kichert vor sich hin, Andrea schaut, als müsste sie sich auch gleich übergeben. Laura sieht so aus, als würde sie Sandro am liebsten einen Schubs geben, damit er ins Wasser plumpst. Und Johanna fallen fast die Augen zu. Der Trainer steht ein wenig abseits mit verschränkten Armen und bekommt offenbar von allem nichts mit. Er wirkt, als würde er im Stehen schlafen.

»Meine Damen, meine Herren!«, fängt sich Sandro wieder, »verehrtes Publikum: Sie werden gleich erleben, wie der übergroße Sandro, der größte Artist der Welt, vor Ihren eigenen Augen und Ohren fliegen wird. Bitte haben Sie noch einen ganz kleinen Augenblick Geduld, es geht soforrrrrrt los!«

In diesem Moment läuft Sandro los – und bevor der Rest das richtig mitbekommt, ist er verschwunden. Wo ist er hin? Am Pool ist er nicht mehr. Auf der Terrasse auch nicht.

»Tatatataaaaaaa!« Keine Minute später ruft Sandro wieder: »Meine Damen und Herren! Verehrtes Publikum!« Irgendwo von oben. Nein, er ruft jetzt nicht. Er brüllt es!

Sandro steht auf dem Balkon seines Zimmers im dritten Stock des Hotels. Er steht bereits mit beiden Füßen auf dem Geländer.

Alle starren hoch.

Als Erstes fängt sich Johanna: »Sandro, hör auf! Komm da weg!« Auch sie schreit jetzt: »Komm da runter, Sandro! Was soll das denn?«

»Ich fliege! Weil du mich dann heiratest.«

»Hör auf mit dem Scheiß! Komm da jetzt runter.«

Weitere Fenster werden aufgerissen, und wütende »Ruhe«-Rufe von anderen Urlaubern sind zu hören. Der Nachtportier kommt aus dem Hotel gelaufen und spricht aufgeregt irgendetwas auf Spanisch ins Telefon.

Johanna schaut den Nachtportier an und sieht – vielleicht zum Glück – nicht, wie Sandro aus dem dritten Stock wie ein nasser Sack vom Balkon nach unten fällt. In den Pool will er offenbar von da oben springen. Aber das ist völlig unmöglich, der ist viel zu weit vom Gebäude weg.

Sandro fliegt. Für einige Sekunden. Und kracht dann mit einem dumpfen Knall in einen großen Oleanderbusch direkt an der Hauswand.

Totenstille. Kein Geräusch. Kein Wummern. Keine Bässe.

fleuron

Sandro hat den Sprung vom Balkon überlebt. Mit einer Gehirnerschütterung und mehreren Knochenbrüchen. Knapp zwei Wochen muss er im staatlichen Krankenhaus Son Espases in Palma bleiben, dann darf er nach Hause fliegen. Er kann sich wegen der Gehirnerschütterung an so gut wie nichts erinnern, was an diesem Abend im Bierkönig passiert ist. Auch nicht an Johanna. Er muss eine Strafe von siebenhundert Euro bezahlen – wegen Balconing. Das Herumklettern und Springen von Balkons ist wegen der zahlreichen Todesfälle während der Saison auf Mallorca explizit verboten.

Johanna erleidet einen Schock, als Sandro vom Balkon fliegt. Sie wird ebenfalls wie ihre Freundinnen im Rettungswagen behandelt, darf dann aber in ihr Hotel zurück. Sie heiratet, wie geplant, zwei Wochen nach der Mallorca-Reise. Von der denkwürdigen Nacht im Bierkönig und ihrem Ende, das fast ein Menschenleben gekostet hätte, hat sie niemandem erzählt. Die Mädels haben sich noch vor ihrem Rückflug darauf geeinigt, über diese drei Tage auf Mallorca eisern zu schweigen. Bislang haben sich alle dran gehalten.

Jenseits vom Ballermann

Balconing

Wer auf den Balearen auf Balkons herumklettert oder gar von ihnen in die Tiefe springt, macht sich strafbar. Balconing wird auf den Inseln von der Polizei verfolgt. Wer erwischt wird, muss eine Geldbuße zwischen 750 und 1.500 Euro zahlen und wird des Hotels verwiesen. Die Behörden hatten beobachtet, dass die Balkonkletterer nach Zechgelagen und Drogenkonsum in den Touristenhochburgen immer höhere Risiken eingingen und wollten dem mit der Strafe entgegenwirken. Pro Saison fordert das Balconing auf Mallorca und Ibiza bis zu einem halben Dutzend Menschenleben und sorgt für zahlreiche Schwerstverletzte.