Marta schläft

Romy Hausmann

Marta schläft

Thriller

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Romy Hausmann

Romy Hausmann, Jahrgang 1981, hat sich 2019 mit ihrem Thrillerdebüt ›Liebes Kind‹ an die Spitze der deutschen Spannungsliteratur (Nr.-1-SPIEGEL-Bestseller) geschrieben. 2020 folgte mit ›Marta schläft‹ ihr zweiter Bestseller. Übersetzungen ihrer Bücher erscheinen in 25 Ländern, die Filmrechte wurden hochkarätig verkauft. Romy Hausmann wohnt mit ihrer Familie in einem abgeschiedenen Waldhaus in der Nähe von Stuttgart.

 

Weitere Informationen unter www.romy-hausmann.de

Über das Buch

Es ist Jahre her, dass man Nadja für ein grausames Verbrechen verurteilt hat. Nach ihrer Haftentlassung wünscht sie sich nichts sehnlicher, als ein normales Leben zu führen. Doch dann geschieht ein Mord. Und ein abgelegenes Haus wird zum Schauplatz eines bizarren Spiels – denn Nadjas Vergangenheit macht sie zum perfekten Opfer. Und zur perfekten Mörderin …

 

Ein tief unter die Haut gehender Psychothriller über Schuld, Vergeltung und die Frage, ob ein Täter je wieder frei sein kann.

 

Von Romy Hausmann sind bei dtv außerdem erschienen:

Liebes Kind

Perfect Day

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2022

© 2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: plainpicture.com/Anja Weber-Decker

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkungen nicht erkennbar.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43688-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21989-1

ISBN (epub) 9783423436885

 

 

Für dich, Karl.

Möge dein großes, leuchtend buntes Herz

dir immer den richtigen Weg weisen.

Danke, dass ich deine Mama sein darf.

 

 

hope is a dangerous thing

for a woman like me to have

– – – but I have it.

lana del rey

Mein Engel,

 

ich habe dir Dutzende von Briefen geschrieben und es niemals mehr bereut als heute, dass ich keinen davon je abgeschickt habe. Ich hätte es tun sollen. Müssen. Du hast ein Recht darauf, zu erfahren, was damals wirklich geschah. Es von mir zu erfahren, in meinen Worten, von denen ich immer glaubte, sie genügten nicht. Ich weiß nicht, woran du dich erinnerst. Ob sich irgendwo in deinem Hinterkopf noch ein Fetzen unseres letzten Treffens versteckt. Ich, wie ich dir versprach, den bösen Mann zu fangen. Ich, wie ich dich mit dem Meer lockte, und du, wie du den Eindruck haben musstest, dass du dich auf mich verlassen konntest. Dass alles wieder gut werden würde und ich diejenige wäre, die dafür sorgte.

Jetzt sind alle Worte hinfällig, und ich kann dir diesen, meinen vielleicht letzten Brief, nur noch in Gedanken schreiben.

Es ist vorbei, mein Engel.

Ich soll heute sterben.

Genau wie sie.

 

Er hat gewonnen.

Nadja

Eine Panikattacke ist Stehen am Rand einer weißen Klippe. Nicht nach unten schauen, sage ich mir, lege den Kopf in den Nacken, versuche zu atmen. Über mir schieben sich schiefergraue Wolken über den eben noch lavendelfarbenen Himmel. Ich höre Geräusche. Es klingt wie ein Regen, der sein Stakkato gegen eine Fensterscheibe drischt.

Das ist kein Regen, wird mir klar. Es ist Gestein, das unter meinen Füßen bröckelt. Ich will einen Schritt zurücktreten. Kann nicht. Ich gerate ins Taumeln, verliere das Gleichgewicht. Ich rudere mit den Armen, weil ich es nicht wahrhaben will. Weil ich jedes Mal denke, ich hätte eine Chance.

Ich habe keine.

Ich falle und schreie stumm.

Das Wasser …

 

Ich blinzele. Ein Süßigkeitenregal schwappt auf mich zu, eine Eistruhe rutscht näher, wie von Wellen gepackt. Mein Körper liegt verdreht auf einem kalten Steinboden. Der schwankt. Ich bin seekrank, würge an einem Schlückchen Galle. In der Ferne Stimmengewirr und hektisches Gewusel. Was ist passiert?, will ich fragen – so ein Unsinn. Ich weiß genau, was passiert ist. Ich bin von der Klippe gestürzt, zum vierten Mal in diesem Monat. Es ist Samstag, der zwanzigste Juli. Vier Stürze innerhalb von zwanzig Tagen. Ich sollte dankbar sein, es war schon schlimmer. Ich fasse nach der pochenden Stelle auf meiner Stirn, fühle eine leichte Erhebung, eine Beule, und etwas Feuchtes. Blut. Ich muss mit dem Kopf aufgeschlagen sein. Mein Kreislauf. Meine Augenlider, die flattern wie Insektenflügel. Die Ohnmacht will mich holen. Ich würde um Hilfe rufen, wäre ich nicht längst ertrunken. Im roten Wasser.

 

Keine Sorge, sie schläft nur.

 

Ich wache auf.

Der Boden unter mir ist wieder fest; ich muss gestrandet sein. Jemand zerrt mich hoch zum Sitzen, fragt: »Geht’s wieder?«

Ich glaube, ich nicke. Suche nach Orientierung. Das Süßigkeitenregal, die Eistruhe. Der Verkaufsraum einer kleinen, leicht heruntergekommenen Tankstelle an der A13. Super für 1,51 Euro, Diesel für 1,43. Ich habe den alten Land Rover vor eine der beiden Zapfsäulen gelenkt, bin ausgestiegen, habe mich umgeblickt wie eine Getriebene.

Da war niemand. Kein anderes Fahrzeug, das nach mir zur Tankstelle einfuhr, keins, das schon da gewesen wäre, um mich zu erwarten. Erleichterung. Durch die Scheibe des Verkaufsraums sah ich den Kassierer neugierig den Hals recken. Also tat ich etwas Normales, Unauffälliges. Ich füllte meinen Tank, verriegelte das Auto, ging zum Bezahlen.

»Bestimmt nur der Kreislauf«, höre ich einen Mann. Sein Gesicht ist vorerst nur ein verschwommener Fleck; ich vermute aber, es handelt sich um den Tankstellenkassierer. Ich erinnere mich an ein rot-blau kariertes Kurzarmhemd und bellende Lachgeräusche, die unter seinem nikotinverfärbten Schnauzer hervordrangen, als er beim Herausgeben des Wechselgeldes einen Witz machte. »Schluckt ganz schön, so ’ne alte Dame, was?« Er meinte den Land Rover.

»Ist ja auch kein Wunder, bei der Bullenhitze heute«, sagt er jetzt. Diesmal meint er mich. Die Frau, die gerade von einer Sekunde auf die andere vor seiner Kasse kollabiert ist. Wieder ein bellendes Lachen, anschließend: »Annelies, hol doch mal eine Flasche Wasser!«

Langsam klärt sich meine Sicht. Ich versuche, auf die Beine zu kommen, bin ungeschickt dabei. »Nicht so hastig!« Der Schnauzbartmann fasst mich stützend am Arm. Mein rechtes Knie zittert, als hätte man mir das Gelenk rausgetreten und die frei gewordene Stelle mit Gelee ausgefüllt. »Ach, du je, Sie Arme.« Er heftet seinen Blick an meine blutende Stirn. Ich öffne den Mund, um ihm zu sagen, dass es mir gut geht. Dass ich bloß empfindlich bin und sehr nervös, dass ich – abgesehen von gestern Abend – seit meiner Führerscheinprüfung nie wieder ein Auto gesteuert habe und die Fahrt bis hierhin die Hölle gewesen ist – jede Spurverengung bedeutete, dass ich gleich einen Unfall hätte, jedes Auto, das hinter mir fuhr, dass ich verfolgt wurde – und dass es alles in allem wahrscheinlich bloß eine Frage der Zeit gewesen ist, bis meine Angst in einer ausgewachsenen Panikattacke gipfeln würde. In einem Sturz über den Klippenrand, mitten hinein ins rote Wasser.

Aus: Brief #9

Die neue Therapeutin rät mir, meine Träume aufzuschreiben. Ich weiß nicht, was das bringen soll. Ich träume doch ohnehin immer nur dasselbe. Immer und immer wieder die Salinen von Aigues-Mortes … Erinnerst du dich überhaupt noch daran, an dieses Bild? Aigues-Mortes, wie es auf dem Kalenderblatt vom Juni abgedruckt war. Alles auf dem Foto sah falsch aus, so als hätte man es auf möglichst verstörende Art und Weise nachkoloriert. Unter einem lavendelfarbenen Himmel erhob sich ein stechend weißer Salzberg über einem blutroten Gewässer. Du hattest mich gefragt, wie das sein konnte: rotes Wasser. »Sieht aus wie Blut«, fandst du. »Ein ganzer See voller Blut.«

»Nein, nein«, hatte ich entgegnet und dir erklärt, dass es durch bestimmte halophile Bakterien zu dieser sonderbaren Verfärbung kam und dass »halophil« vom griechischen Wort »halos« für »Salz« abgeleitet wurde. Nur, dass »Aigues-Mortes« aus dem Französischen übersetzt so viel heißt wie »totes Wasser«, behielt ich für mich. Ich wollte nicht, dass du Angst bekamst.

Nadja

Ich klappe den Mund zu, ohne etwas gesagt zu haben. Stattdessen will ich der Besorgnis des Schnauzbartmanns einfach ein Lächeln entgegensetzen. Natürlich war es bloß die – wie er sie nannte – Bullenhitze, die zu meinem Zusammenbruch geführt hat. Es gibt keinen Grund, mir zu misstrauen.

Mein Lächeln stockt, als im gleichen Moment ein Schreck durch meinen Körper fährt wie ein Stromstoß. Vor mir auf dem Boden liegt, fallen gelassen, meine Handtasche und daneben, aufgefächert wie die Fransen eines alten Wischmopps: die blonde Perücke. Reflexartig reiße ich die Hände nach oben, befühle meinen Kopf, ertaste streng zusammengefasstes Haar – mein eigenes. Der aufmerksame Schnauzbartmann bückt sich, reicht mir die Perücke und wendet sich höflich ab, als ich sie mir mit zittrigen Fingern überstülpe. Früher hatte ich mir oft vorgestellt, blond und damit ein ganz neuer Mensch zu sein. Jetzt, wo der akkurate hellblonde Pony schräg über meinem rechten Auge hängt, fühle ich mich nur noch unsäglich dumm.

»Wasser!« Eine Frau in bunt geblümter Kittelschürze stürmt mit einer Flasche aus Richtung der Kühlregale heran. Ihr dicker Körper bebt unter aufgeregten, schnellen Schritten. Mir ist zum Heulen. Statt nach der Wasserflasche zu greifen, bitte ich um meine Handtasche. Ich öffne sie und krame. Portemonnaie, Haus- und Autoschlüssel, der Zettel mit der Wegbeschreibung, Handy, Kaugummi. Schließlich, wonach ich gesucht habe: der Blister mit meinen Tabletten. Der Tankstellenkassierer beobachtet mich. Unter seinem neugierigen Blick verwerfe ich den Gedanken an mein Medikament. Ich will nicht, dass er mich für krank hält, und ohnehin wäre es wohl eine schlechte Idee, jetzt etwas einzunehmen. Ich muss fahrtüchtig bleiben, ich bin noch nicht am Ziel.

»Nun trinken Sie doch mal einen Schluck!«, beharrt die Schürzenfrau. In der einen Hand hält sie immer noch die Wasserflasche, mit der anderen streichelt sie meine Wange. Als sie dabei ihren Arm bewegt, rieche ich süßlichen Schweiß und Bratöl. »Sie ist ganz weiß, Herbert«, sagt sie zu dem Mann, er daraufhin: »Vielleicht sollten wir lieber einen Krankenwagen rufen«, und ich: »Nein, bitte nicht.«

 

Herbert und seine Frau Annelies. Sie erinnert mich an Tante Evelyn, die ich gar nicht anders kannte als in einer ihrer Kittelschürzen. Dazu die Hände in die breiten Hüften gestemmt und dieser Ausdruck in ihrem sonst so fröhlichen Knautschgesicht: Mein Gott, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt, Kind? Sie sehen vom Wasser ab und finden, dass ich stattdessen einen Schnaps gebrauchen könnte. Zwetschge, selbstgebrannt. Viel besser angeblich als der Industriefusel, den Herbert in kleinen Fläschchen zum Verkauf an der Kasse stehen hat.

»Nicht nötig, der Krankenwagen, es geht schon wieder«, bekräftige ich noch einmal, was sinnlos klingen muss für das Tankstellenehepaar, denn keiner hat dahingehend ein weiteres Wort verloren. Herbert sagt trotzdem: »Okay, wie Sie wollen.«

Sie eskortieren mich in ein nach kaltem Rauch riechendes Büro hinter dem Verkaufsraum. Es ist kaum groß genug, uns alle zu fassen, zumal fast die Hälfte der Fläche von einem Schreibtisch eingenommen wird. Dahinter, auf einem Drehstuhl, sitzt ein kleiner Junge. Ich schätze ihn auf sechs oder sieben Jahre. Dünne rotblonde Löckchen, ein schmales, bleiches Gesicht, spitzes Kinn. Ein zartes Pflänzchen, das im Nikotindunst zu gedeihen versucht. Vor ihm liegen Malsachen, ein Zeichenblock und eine Schachtel Buntstifte. Er ist ganz versunken und merkt erst auf, als Annelies sagt: »Hoch mit dir, Timmy. Wir brauchen den Stuhl für die arme Frau.« Der Junge erhebt sich wortlos. Starrt aus großen, stechend blauen Augen. Ich nestele erst verschämt an meiner Perücke herum, dann an meinem Shirt. Ich komme mir vor wie ein Clown. Herbert rollt den Stuhl um den Schreibtisch herum und macht eine Geste: »Bitte sehr.«

Ich nehme Platz, drehe mich so, dass ich Timmys Blick entgehe. Was mir nicht gelingt. Er tritt nun ebenfalls nach vorne, seine Augen weiterhin auf mich gerichtet. Er sei ihr Enkel, sagt Annelies und tätschelt seinen Kopf. Sie passten auf ihn auf, während sich ihre Tochter, Timmys Mutter, um ihre Ausbildung in einer Plastilin-Fabrik bei Zossen kümmere. Ich nicke eifrig, auch wenn ich eigentlich nichts hören will von Familie. Und ich will erst recht nicht, dass der Kleine mich so ansieht, wie er es gerade tut. In seinen Augen erkenne ich hunderte von gebrochenen Versprechen. Und den Tod.

April 2014
(fünf Jahre zuvor)

Nelly Schütt liebte Filme. Das war schon immer so gewesen. Ihre Eltern betrieben in dritter Generation einen Gasthof auf dem platten mecklenburgischen Land; nichts Besonderes – vier Fremdenzimmer, genießbare Küche und ein Anstandsmaß an Sauberkeit. Hier strandete, wer auf der Durchreise oder zu geizig für ein Hotel war. An der Hirschhorngarderobe hinter der Bleiglastür, die zum Speiseraum führte, hingen die Träume ihrer Mutter – dort war neben den Mänteln der wenigen Gäste immer genügend Platz. Manchmal hörte Nelly sie weinen. Ihrem Vater gefiel das Leben als »der junge Schütt vom Goldenen Kalb«; sobald er fertig war mit dem Spülen der Bierhumpen, saß er am Kopfende des Stammtischs und schimpfte mit auf die Verlodderei der Großstädter. Im Film ihrer Eltern hatte Nelly nie mehr als eine Statistenrolle gespielt, schon als Kleinkind war sie ständig im Weg gewesen. Sie rannte ihnen in den unmöglichsten Momenten zwischen die Beine – Mensch, Nelly! –, es regnete Bier und glitschige braune Soße, Bratenscheiben landeten klatschend auf dem Boden, es gab Scherben. Eine Weile wurde sie daher von Ort zu Ort gerückt wie ein Tischgedeck – wie eine der kleinen Vasen mit den Kunströschen darin oder die Gewürzstreuer –, bis man außerhalb von Küche und Gastraum hinter der Rezeption schließlich den perfekten Platz für sie gefunden hatte. Dort saß sie nun bei ihrem Großvater, der sich um die Verwaltung der Fremdenzimmer kümmerte, erst auf seinen Knien, später auf einem eigenen Stuhl. Zusammen vertrieben sie sich die Zeit mit Großvaters geliebten alten Schwarzweißfilmen, die in Endlosschleife über einen VHS-Rekorder auf einem kleinen Röhrenfernseher liefen. Nelly lernte schnell. Großvater sagte: »›Gefährliche Begegnung‹«, und sie – sechsjährig – antwortete wie aus der Pistole geschossen: »1944, Regie: Fritz Lang. In den Hauptrollen: Edward G. Robinson und Joan Bennett.« Der Großvater lachte und reichte Nelly aus der Glasschale auf dem Rezeptionstresen ein Karamellbonbon, das erst an den Zähnen und dann am Gaumen klebte. Anschließend schob er das Videoband ein und drückte auf den Abspielknopf.

In ›Gefährliche Begegnung‹ verliebte sich der Universitätsprofessor Richard (Edward G. Robinson) in das Gemälde einer schönen jungen Frau, das im Fenster einer Kunstgalerie ausgestellt war. Kurz darauf lernte er die Frau (Joan Bennett) nach dem Besuch eines Herrenclubs leibhaftig kennen: Sie hieß Alice. Richard, dessen Ehefrau und Kinder gerade Verwandte besuchten und dem es vermutlich an Bestätigung fehlte, begleitete die schöne Alice in deren Wohnung. Dort tranken sie gerade etwas miteinander, als plötzlich Alice’ Liebhaber Claude auftauchte und sich blindwütig auf Richard stürzte. In Notwehr tötete Richard Claude mit einer Schere. Verzweifelt beschlossen er und Alice, den Mord zu vertuschen; Richard versprach, sich um alles zu kümmern.

Großvater sagte: »›Gefährliche Begegnung‹«, und die fünfzehnjährige Nelly gab zurück: »Was für ein Idiot, dieser Richard. Wie kann man nur so viele Fehler machen?«

Und Richard machte Dutzende. Zuerst transportierte er den toten Claude auf dem Rücksitz seines Wagens; er hatte vor, die Leiche in ein Waldgebiet zu bringen und dort zu verstecken. Doch bereits unterwegs, auf einer Brücke mit Mautstelle, fiel er dem diensthabenden Brückenwächter durch seine Schusseligkeit auf – er ließ doch ernsthaft das Geld für die Brückenüberquerung fallen, sodass der Wächter beinahe durch das Seitenfenster einen Blick auf die Leiche erhascht hätte. Im Wald selbst hinterließ Richard Reifenspuren und Fußabdrücke und blieb überdies an einem Stacheldraht hängen, wodurch er seinen Anzug zerriss und sich sogar verletzte. Ein Stück Stoff und sein Blut – alles Beweise, die die Polizei nach dem Auffinden von Claudes Leiche ebenfalls schnell sicherstellen würde. Und dann verplapperte er sich auch noch ständig bei seinem besten Freund, der als Staatsanwalt in die polizeilichen Ermittlungen involviert war.

Großvater sagte schulterzuckend: »Richard ist Universitätsprofessor, Mädelchen. Ein ganz normaler Kerl, der im Leben nicht vorhatte, einen anderen Menschen zu töten, und nun in Panik ist. Er ist kein abgebrühter Verbrecher, der tagtäglich Morde begeht und Leichen verschwinden lässt.«

Großvater hatte schon recht, fand Nelly, und doch machte Richard sie auf eine unerklärliche Art einfach nur wütend. So wie alles sie inzwischen einfach nur noch wütend machte. Das eingekesselte Leben auf dem Dorf. Ihre Mutter, die immer nur sinnlos rumheulte. Ihr Vater und seine Stammtischbrüder, die auf die Stadt schimpften, ohne jemals selbst dort gewesen zu sein. Auf ihren eigenen Film, dieses zähe, langatmige, effektlose Drama. Auf die Übernachtungsgäste, die kamen und genau wussten, wann sie wieder fahren würden. Durften. Und manchmal sogar auf Großvater, der nichts anderes tat, als seine Zeit mit den dummen alten Filmen zu verschwenden.

Großvater sagte nicht mehr: »›Gefährliche Begegnung‹«; er war mittlerweile gestorben. Die zweiundzwanzigjährige Nelly konnte sich seine Stimme nur noch denken, wenn sie auf die Play-Taste am Videorekorder drückte. Dann seufzte sie schwer. Wegen Großvater und weil sie ihn so schmerzlich vermisste. Weil es einsam war, hinter dem Rezeptionstresen ohne ihn. Und wegen Richard. Er war ein guter Mensch. Er war da irgendwie hineingeraten, in diesen ganzen Schlamassel mit Alice und Claude. Nelly wusste jetzt selbst, wie das war – in etwas hineinzugeraten, ganz ohne Absicht und bösen Willen. Wie gerne hätte sie das der Frau gesagt, die an diesem Morgen mit ihrem Auto auf den Hof gerollt und kurz darauf zu ihr an die Rezeption getreten war. Die kein Zimmer wollte, sondern reden. Etwas klarstellen. Und Nelly warnen.

In Nellys Kopf tanzten die richtigen Sätze. Die Erklärungen, die Entschuldigungen, aber auch die Dinge, die sie hätte sagen können, um sich zu verteidigen. Der Gegenangriff. Stattdessen sagte sie gar nichts, kein Wort. Sie blieb stumm wie ein Fisch. Nickte nur, schämte sich und hoffte, dass die Frau, nachdem sie gegangen war, nie, nie wieder zurückkommen würde.

Aus: Brief #11

Habe mit dem Meterstab, den der Vormieter bei seinem Auszug auf dem Fensterbrett in der Küche liegen gelassen hat, den Flur ausgemessen. Würde mir so gerne einen Teppich kaufen. Habe immer kalte Füße, wenn ich morgens aus dem Schlafzimmer komme und über den Flur zum Bad gehe. Die Fliesen sind so kalt, dass meine Fußsohlen davon schmerzen; die Kälte zieht durch jeden Knochen, selbst, wenn ich zwei Paar Socken übereinander trage. Habe die Maße notiert und den Zettel daraufhin zerknüllt. Kein Teppich. Ich denke, es ist schon richtig, wenn es wehtut. Es kann gar nicht schmerzhaft genug sein.

Ich frage mich, wie du lebst. Habt ihr eine große Wohnung? Seid ihr schön eingerichtet? Ich kann meine Möbelstücke an einer Hand abzählen. In der Küche ein Tisch und ein Stuhl, im Schlafzimmer ein Bett, eine Kommode, ein Kleiderschrank und der Fernseher. Das Wohnzimmer ist leer; ich halte seine Tür stets geschlossen. Nur manchmal, wenn ich nachts aus dem Schlaf hochschrecke, stehe ich auf und gehe hinein. Dann sitze ich in meinem Schlafanzug in der Mitte des Raums auf dem nackten Parkettboden und atme gegen die Dunkelheit an. Ab und zu fährt draußen ein Auto vorbei, dessen Scheinwerferlicht die Zimmerdecke mit Formen bespielt. Ich erkenne vieles darin: Fische mit verkümmerten Schwanzflossen, Blitze, Streitäxte oder den Miniaturumriss von Afrika.

Meine Therapeutin sagt, dass ich vermutlich einfach noch etwas Zeit brauche. Aber wie lange denn noch? Wie wird man normal? Ich meine, ich versuche es doch. Ich habe eine Wohnung und einen Job. »Sie sollten unter Menschen gehen«, das sagt sie auch, meine Therapeutin. »Normal wird man, indem man Normales tut.«

Normal … Ich kann mir nicht einmal einen Teppich kaufen.

Nadja

Timmy glotzt immer noch, ich mache die Augen zu. Eine Geschichte fällt mir ein. Die Geschichte von der Frau, die durch Wände und Türen blicken konnte, sogar durch die vielen Schichten eines Menschen hindurch, bis in sein tiefstes Inneres. Eines Tages bat ein Mädchen sie darum, dass sie es durchschauen möge; es wollte unbedingt wissen, wie es aussah unter seinem Hautanzug, dem Knochengerüst und dem ganzen Adergewirr. Ich höre Timmy ungeduldig mit den Füßen scharren, so als könnte er meine Gedanken lesen und drängte darauf, zu erfahren, wie die Geschichte weitergeht. Mein Bruder Janek war genauso. Ich hatte kaum angesetzt, etwas zu erzählen, als er schon anfing mit seinem ständigen »Und dann?«.

Ich blinzele. Stelle fest, dass Timmys Blick nicht mehr durch mich hindurch-, sondern in die Luft geht. Dabei knetet er seine kleinen Hände vor dem Bauch. Er fühlt sich nicht wohl in meiner Gegenwart. Am liebsten würde ich ihm sagen: »Denk dir nichts. Es geht mir nicht anders mit dir.«

Herbert und Annelies haben uns alleine gelassen, um den Schnaps und den Erste-Hilfe-Kasten zu holen. Zumindest Letzteres war gelogen, denn der Erste-Hilfe-Kasten hängt hier im Büro an der holzvertäfelten Wand, direkt neben einem vergilbten Bikinimädchenkalender, der seit zwei Jahren abgelaufen ist. Außerdem höre ich sie tuscheln, vor der geschlossenen Bürotür. Annelies sagt, irgendetwas stimme hier nicht. Sie fragt Herbert, ob ihm aufgefallen sei, wie nervös ich meine Handtasche durchsucht habe, und dann die Sache mit der Perücke – äußerst seltsam. Herbert entgegnet nichts; ich stelle mir vor, wie er unbeeindruckt die Schultern zuckt. Doch Annelies scheint nicht aufgeben zu wollen. Sie habe Tabletten in meiner Tasche gesehen, möglicherweise Drogen, was mein sonderbares Verhalten erklären könnte. »Vielleicht ist sie gefährlich.«

»Und was willst du jetzt tun? Die Polizei rufen?« Herbert klingt belustigt, was mich erleichtern sollte, doch diesmal schweigt Annelies. Vielleicht hat sie genickt. Ich atme abgehackte Stöße. Die Polizei wird meine Papiere sehen wollen. Ich werde behaupten, ich hätte sie zu Hause vergessen, doch schließlich wird eine kurze Anfrage über das Funkgerät genügen, um zweifellos festzustellen, dass der Land Rover nicht mir gehört.

Mir ist schlecht. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte zu Hause sein, an einem Samstag wie an jedem. Ich sollte meine Wohnung putzen und den beruhigenden Geruch von Ajax inhalieren. Später würde ich mich überwinden, zu dem kleinen Lebensmittelladen nach Charlottenburg zu fahren. Ich würde mich mit einem Blumenkohl, einer Grapefruit, ein paar Äpfeln und einer Tüte Mirabellen beladen und mit abgewandtem Gesicht über den leidigen Versuch des Besitzers lachen, meinen Namen herauszufinden. Ich sei die einzige Stammkundin, die er nicht persönlich begrüßen könne, hatte er einmal gesagt und, als ich mich dennoch nicht erweichen ließ, entschieden, sich im wöchentlichen Wechsel immer wieder neue Namen für mich auszudenken. Letzten Samstag hieß ich Frau Schmidt, in der Woche zuvor Fräulein Wagner.

»Jetzt lass doch einfach gut sein, Anne«, höre ich Herbert, bevor die Klinke geht und er mit einer Flasche klarer Flüssigkeit zurückkommt. Annelies wackelt ihm hinterher, in der Hand einen Waschlappen, den sie mir reicht, damit ich die Wunde auf meiner Stirn säubern kann. Ihr Blick ist durchdringend; ich kann förmlich spüren, wie sie jedes Detail aufsaugt, um es im Fall des Falles möglichst genau wiedergeben zu können.

Sie war ungefähr 1,65 Meter groß, Herr Kommissar. Sie trug eine von diesen billigen Kaufhausperücken und ein wildbuntes T-Shirt mit einem aufgedruckten Papagei, der statt Pupillen zwei daumennagelgroße neongrüne Strasssteine hatte.

Meine Wunde brennt, ich lege den Waschlappen beiseite und bedanke mich. Annelies nickt, dann schneidet sie ein Stück von einer Heftpflasterrolle aus dem Erste-Hilfe-Kasten. Ich wende den Kopf ab, als sie auf mich zutritt, und sage: »Lieber kein Pflaster, danke. Ist besser, wenn Luft drankommt.« Das hat Tante Evelyn auch immer gesagt, wenn wir uns beim Spielen die Knie aufgeschlagen hatten.

Annelies sieht nicht überzeugt aus.

»Aber vielleicht müssen Sie sogar genäht werden.«

Ich nicke, etwas zu heftig. In meinem Schädel pocht weiterhin der Schmerz.

»Ich fahre direkt von hier aus zum nächsten Notdienst und lasse es anschauen.«

Sie legt den Kopf schräg, seziert mich.

»Mensch, jetzt beruhig dich, Anne«, sagt Herbert, der indes die Schnapsflasche aufgedreht hat, und lacht. »Du siehst doch, dass es ihr gut geht.« Er reicht mir die Flasche; ich greife zu. Die Zwetschge ätzt in meiner Kehle. Ich denke an gestern Abend, an den teuren Chardonnay mit Laura. Ich war glücklich – ich muss verrückt sein.

Annelies schnalzt mit der Zunge.

»Also, ich habe kein gutes Gefühl, Sie in diesem Zustand weiterfahren zu lassen …«

»Quatsch«, fährt Herbert dazwischen. »Sieh sie dir doch an, sie hat schon wieder etwas Farbe im Gesicht.«

»Du bist kein Arzt«, zischt seine Frau. »Was, wenn sie eine Gehirnerschütterung hat? Nachher kriegen wir noch Ärger wegen unterlassener Hilfeleistung. Oder stell dir vor, wir lassen sie weiterfahren und sie verursacht einen Unfall! Dann wären wir am Ende mitschuldig.«

»Ach was«, entgegnet Herbert und macht eine Handbewegung in meine Richtung. Ich deute sie, indem ich ihm die Schnapsflasche zurückreiche, woraufhin er mir zulächelt und sie seinerseits sofort ansetzt.

»Woher kommen Sie eigentlich?«, will Annelies als Nächstes wissen.

»Aus Berlin.«

»Berlin«, staunt Herbert langgezogen, als handle es sich um eine Stadt in einem exotischen Zauberland, weit, weit weg. Dabei liegt Berlin gerade mal eine knappe Stunde von hier entfernt, sogar für mich, die sich während der Fahrt durchweg unterhalb der Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten hat.

»Und wo soll’s hingehen?«

»In den Spreewald«, antworte ich. »Wochenendausflug.«

»Aha«, macht Annelies. »Spreewald, schön da.«

»Spreewald«, wiederholt Herbert nach einem weiteren großen Schluck und klingt bedeutsam. »Kennen Sie die Geschichte von der Entstehung des Spreewalds?«

Ich schüttele vorsichtig den Kopf.

»Ich weiß nur, was Fontane über den Spreewald gesagt hat. Dass es dort wie in Venedig sei, vor 1500 Jahren, als sich die ersten Fischerfamilien ansiedelten.«

Herbert zieht eine verwucherte Augenbraue hoch, die rechte.

»Fontane«, erkläre ich. »Der Dichter.«

Stille, nur der Deckenventilator surrt.

»Also«, sagt Herbert. »Der Legende nach wurde der Spreewald vom Teufel höchstpersönlich erschaffen. Zufällig allerdings.« Unter seinem Schnauzer bebt ein schnapsbeseeltes Lachen. »Angeblich spannte er zwei Höllenochsen vor einen Pflug, um damit das Bett der Spree aufzubrechen. Aber die Tiere gingen ihm durch und rannten wie wild drauflos, kreuz und quer, wobei der Pflug Tausende von tiefen Furchen hinterließ, die sich schließlich mit Wasser füllten. Tada, der Spreewald mit seinem weit verzweigten Netz an Fließen und Kanälen.« Er zwinkert verschwörerisch. »Sind Sie sicher, dass Sie da wirklich hinwollen?«

»Herbert«, nölt Annelies und streckt die Hand aus nach der Flasche, die er gerade wieder zum Mund führen will. »Das reicht jetzt. Es ist Samstagvormittag, noch nicht mal halb elf.«

Helllichter Tag – sie hat recht. Noch so eine Dummheit. Ich war gleich dafür gewesen, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten, aber Laura meinte, so viel Zeit bleibe uns nicht. Ich muss aufstoßen, schmecke Zwetschge. Herbert hält es für ein Kompliment an seine Schnapsbrennerfähigkeiten und lacht wieder. Annelies’ Blick gefällt mir nicht.

»Ich denke, ich kann jetzt weiterfahren«, sage ich. »Es geht mir wirklich schon besser. Vielen Dank für Ihre Hilfe.« Ich deute auf meine Stirn und füge lächelnd »Keine Sorge, ich lass das anschauen« hinzu.

Annelies schüttelt den Kopf.

»Kommt gar nicht in Frage. Sie bleiben schön hier.«

 

Nur ein Wimpernschlag, und ich stehe wieder am Klippenrand. Unter mir lauert das Wasser, bröckelt Gestein. Der Wind schiebt wie im Schnelldurchlauf graue Wolken über den Lavendelhimmel. Ich höre ihn flüstern, den Wind. Er flüstert: Du! Ich setze einen Fuß zurück, doch hinter mir hat sich Annelies aufgebaut, die schon die Arme nach vorne streckt, bereit, mich zu stoßen. Sie bleiben schön hier, wiederholt sie und bricht in ein garstiges Lachen aus. Ich zwinkere wild, zwinkere mich zurück in die Realität. Ich sitze immer noch im Büro der Tankstelle. Ich muss weg von hier, dringend.

Aber zuerst soll ich noch was essen, es seien noch Bratkartoffeln von gestern Abend übrig. Annelies lächelt; ich würge. Es ist der Gedanke, dass sie mich mit ihren Bratkartoffeln ablenken will, während sie heimlich doch noch die Polizei alarmiert. Die kommen und mich befragen würde. Die kommen, mich befragen und mitnehmen würde. Die mich einsperren würde in eine Zelle, in der es keine Pritsche gibt, nur eine durchgelegene, nackte Matratze. Ringsum starrende Wände aus Beton, auf dem rissigen Boden ein dünnes Bett aus gräulichem Zementstaub und abgeschälten Farbschuppen; Zementstaub und Farbpartikel auch unter meinen Fingernägeln.

Irgendetwas reißt in mir, ich brülle: »Lasst mich in Ruhe!«

Annelies zuckt zusammen, Timmy verschwindet eingeschüchtert hinter Herberts Beinen. Ich springe von meinem Stuhl auf, schnappe mir meine Handtasche – raus hier. Aus dem Büro, durch den Verkaufsraum, aus der Glastür, über den Tankstellenvorplatz zum Auto. Ich schlüpfe hinter das Lenkrad, rase davon und bin für einen Moment erleichtert. Bis ich im Rückspiegel Annelies entdecke, die unter der Benzinpreisanzeige steht und mir nachblickt. In der einen Hand ein Stück Papier oder ein kleiner Notizblock, in der anderen ein Stift. Das Nummernschild, denke ich und dresche meine Faust gegen das Lenkrad.

Was zum Teufel hast du getan, Mädchen?

Aus: Brief #12

Jahrestag.

So viel Blut, überall.

Auf dem Boden. Auf dem Vorleger. An der Wand. Sogar bis an die Decke ist es gespritzt.

Das Wasser ist rot. Totes Wasser.

Mai 2014

 

Nelly Schütt war seit Tagen nervös. Mindestens so nervös wie Richard in ›Gefährliche Begegnung‹, als er und Alice plötzlich erpresst wurden. Claude war nämlich von einem Mann beschattet worden, der ihm mehrmals zu Alice gefolgt war und nun sehr richtig vermutete, dass sie etwas mit dem Mord zu tun hatte. Zumal dieser Mann auf der Suche nach Beweisen in Alice’ Wohnung dann auch noch Claudes Taschenuhr fand, die Alice eindeutig mit Claude in Verbindung brachte. Aus Angst und um zukünftige Erpressungsversuche auszuschließen, planten Alice und Richard, auch ihn zu töten. Alice sollte ihn vergiften. Als das misslang und sich zudem sämtliche polizeilichen Ermittlungen in Richards Richtung verdichteten, sah dieser keinen Ausweg mehr und nahm eine Überdosis Schlafmittel in der Absicht, Selbstmord zu begehen.

Im Gegensatz zu Richard jedoch würde Nelly nicht aufgeben, egal, wie ausweglos ihr in manchen Momenten alles schien. Es war kein Verbrechen, sich zu verlieben. Das sagte sie sich immer wieder, wenn das Telefon klingelte und die Frau, die sie kürzlich an der Rezeption aufgesucht hatte, am Apparat war, um sie an ihr Gespräch zu erinnern. Nelly solle die Finger von ihm lassen, sie mache alles kaputt. Nelly solle die Finger von ihm lassen, sie zerstöre eine Familie. Nelly solle die Finger von ihm lassen, sonst würde sie es bereuen. Nelly legte auf, jedes Mal.

Sie hatte gleich vermutet, dass Paul verheiratet war, als er vor einem knappen halben Jahr ein Zimmer bei ihr mietete. Ein freundlicher, charmanter Mann, der sie vom Aussehen her an Victor Mature erinnerte (›Der Todeskuss‹, 1947, Regie: Henry Hathaway), einer, der schon auf den ersten Blick zu gut wirkte, um wahr oder Single zu sein. Aus dem Anmeldebogen, den sie die Übernachtungsgäste ausfüllen ließ, erfuhr sie, dass er einundvierzig war und aus Berlin kam. Sie gab ihm Zimmer Vier, das hatte ihrer Meinung nach die schönsten Vorhänge. Cremefarben mit Streublumenmuster, im Gegensatz zu den anderen drei Zimmern mit Vorhängen aus ockerbraunem Cordstoff, die schon weit vor Nellys Geburt dort gehangen haben mussten.

Nach dem Abendessen, das Paul in der Gaststube ihrer Eltern eingenommen hatte, stieß sie zu ihm, als er sich auf dem Hof gerade eine Zigarette ansteckte. Sie wusste selbst nicht genau, was sie dazu bewogen hatte, ihren Platz hinter der Rezeption zu verlassen und ausgerechnet in diesem Moment hinauszugehen, es war wohl einfach so ein Gefühl gewesen. Eins, das wuchs und wucherte, je länger sie sich mit Paul unterhielt. Er sei geschäftlich unterwegs, von Berlin hoch nach Lübeck. Er sei verheiratet und Vater einer Tochter, und er beneide Nelly darum, hier zu leben, so herrlich ruhig und idyllisch. Das Leben in Berlin sei bisweilen so anstrengend, so vollkommen überdreht und schnell, wie ein außer Kontrolle geratenes Kettenkarussell. Nelly sagte, sie wäre der ein oder anderen wilderen Fahrt gar nicht so abgeneigt, sie langweile sich hier doch manchmal sehr. Paul entgegnete, Langeweile habe nichts mit dem Wohnort zu tun, sondern vielmehr mit den Menschen, die einen umgaben.

Paul schien zu wissen, wovon er sprach; er wirkte ebenfalls gelangweilt. Als er auf seiner Rückreise wieder im Gasthaus von Nellys Eltern übernachtete, küssten sie sich zum ersten Mal, und das war aufregend. Er sei schon lange nicht mehr glücklich mit seiner Frau, sagte er Nelly später im Bett von Zimmer Vier bei zugezogenen Streublumenvorhängen. Sie sei so einnehmend, kontrollierend, herrschsüchtig. Nelly dachte an Gene Tierney in ihrer Rolle als Ellen Harland in ›Todsünde‹ (1945, Regie: John M. Stahl) – so eine musste Pauls Frau sein, so ein richtig böses, gemeines Biest. Nur lange nicht so hübsch wie Gene Tierney, natürlich nicht. Eher gewöhnlich stellte Nelly sie sich vor und auf jeden Fall unattraktiv. Es musste ja schließlich einen Grund geben, warum laut Paul schon seit Jahren nichts mehr lief im Bett. Wenigstens hatte sich Gene Tierney alias Ellen Harland gegen Ende des Films umgebracht, und ihr armer Mann konnte daraufhin mit seiner neuen Liebe glücklich werden.

Nelly wartete, wartete vergebens.

Er bleibe noch ein Weilchen wegen seiner Tochter. Er bleibe noch ein Weilchen, weil das gemeinsame Haus noch nicht abbezahlt sei. Seine Frau habe ihren Job verloren, dann sei sie plötzlich krank geworden, und unter diesen Umständen könne er jetzt natürlich erst recht nicht gehen. Nelly hatte viel gehört in den letzten Monaten, wenn sie sich mit Paul auf halber Strecke in einem Hotel an der A24 traf. Wenn sie im Bett in seinem Arm lag, die Wange gegen seine heiße Brust gepresst, oder wenn sie gemeinsam durch das dem Hotel nahegelegene Waldstück spazierten, ihre Hand fest in seiner. Und sie hatte ihm geglaubt. Ihm seine Ruhe gelassen.

Bis zu dem Tag, an dem seine Frau im Gasthaus aufgetaucht war, wobei sie völlig gesund und sehr entschlossen gewirkt hatte und vor allem mindestens genauso hübsch war wie Gene Tierney. Wahrscheinlich störte Nelly dieser Umstand am meisten.

Jetzt wollte sie Klarheit. Dass Paul sich entschied. Und er versprach ihr, alles zu regeln, diesmal wirklich. Das war vor fast einem Monat gewesen.

Nelly beschloss, nachzuhelfen.

Aus: Brief #13

Träume jetzt schwarz. Liegt wahrscheinlich an den neuen Tabletten. Sie sorgen dafür, dass ich fest und ruhig schlafen kann. Aber dafür wirken sie auch so dermaßen stark und sofort – wirklich sofort – nach der Einnahme, dass der gesamte Einschlafprozess wegfällt. Du weißt schon, diese Phase, in der man im Bett liegt und spürt, wie der Körper und die Gedanken schwerer werden. So ein sachtes Dahingleiten. Das gibt es bei mir nicht. In einem Moment bin ich noch hellwach, im nächsten kippe ich einfach weg. Vor kurzem habe ich den Fehler gemacht, meine Tabletten in der Küche einzunehmen, während ich noch am Tisch saß und schrieb. Ich schrieb gerade an dich. Erst als ich am nächsten Morgen aufwachte, stellte ich fest, dass ich mit dem Gesicht auf die Tischplatte geknallt war. Es war nur ein einfacher Nasenbeinbruch, wie der Arzt diagnostizierte, und er verheilte auch schnell. Trotzdem kam es mir irgendwie bedeutsam vor, dass mein Blut ausgerechnet auf diese Stelle des Briefpapiers getropft war. Genau auf deinen Namen.

»Ich hatte Ihnen die Dosierung doch ausführlich erklärt«, sagte meine Therapeutin bei der nächsten Sitzung. »Eine halbe, wenn die Panik kommt, und eine ganze, wenn Sie nachts nicht schlafen können.« Sie sah mich an mit diesem seltsamen Blick. So, als hätte ich die Dosis absichtlich ignoriert. Vielleicht hatte sie recht. Meine Träume sind schwarz, das schon, aber die Fragen sind immer noch da, sie verstummen einfach nicht.

Was hat sie gefühlt am Schluss? Hatte sie Angst?

Ich will nicht denken, dass sie Angst hatte. Ich stelle mir lieber vor, wie der Schmerz ein Feuerwerk vor ihren Augen zündete. Dass da bunte Blitze und schöne Sterne waren, fast so, als hätte sie aus einer Unachtsamkeit heraus in die gleißende Sonne geblickt. Oder ins Scheinwerferlicht. Ich will mir einreden, dass sie glücklich war in ihren letzten Sekunden.

Es gelingt mir nicht.

Nadja

Ich blinzele, die Welt ist grell, in der Hitze flirren unsichtbare Feuer auf der Fahrbahn. Ich klappe die Sonnenblende herunter. Genau zwölf Minuten sind vergangen, seitdem ich fluchtartig die Tankstelle verlassen habe. Die Heizung läuft auf vollen Touren, ich spüre nichts davon. Mir ist kalt, die Luft im Wagen stickig, schal und seltsam süßlich. So als hätte sich jahrelang Staub in den Schlitzen der Klimaanlage verfangen, der nun verbrennt. Mein Blick zuckt immer wieder in den Rückspiegel. Der rote Golf, der für etliche Kilometer hinter mir war, ist inzwischen abgefahren. Nun folgt mir ein dunkelblauer Van, das aber nur kurz – ich bin ihm zu langsam, er überholt mich. Ich fasse nach dem Spiegel, um ihn zum hundertsten Mal auf ein paar Millimeter nachzujustieren. Dabei erhasche ich einen flüchtigen Blick auf mich selbst: glotzende Augen, darunter getrocknete schwarze Rinnchen verlaufener Wimperntusche. Links auf der Stirn eine Platzwunde wie ein akkurat gezogener Messerschnitt, drei oder vier Zentimeter lang. Erleichtert stelle ich fest, dass sich bereits Schorf gebildet hat; ich muss nicht zum Arzt. Ich wende meinen Blick zurück auf die Straße und beschließe trotzdem, bei nächster Gelegenheit noch einmal anzuhalten. Ich brauche frische Luft, sonst ersticke ich.

Ich fahre, bis ein Schild die Ausfahrt zu einem Parkplatz anzeigt. Keine Raststätte, kein Kiosk, keine Tankstelle, nicht mal eins von diesen notbehelfsmäßig aufgestellten Plastiktoilettenhäuschen. Stattdessen bloß ein paar Haltebuchten, dahinter auf einer ausgedörrten, plattgetretenen Wiese ein Müllcontainer und drei Tische mit jeweils zwei daran festgeschraubten Bänken. Ich stelle mir einen einsamen Trucker vor, der hier sitzen könnte, eine Zigarette im Mundwinkel und eine Thermosflasche mit fadem Maschinenkaffee vor sich. Oder eine Familie. Mutter, Vater, zwei Kinder – ein kleiner Junge und ein älteres Mädchen. Da sitzen sie mit ihren Tupperdosen voller Apfelspalten und Gemüseschnitze, und Alufolie knirscht, wenn sie ihre liebevoll geschmierten Pausenbrote auswickeln. Sie fahren in den Urlaub ans Meer. Ein zartes Stimmchen fragt: »Wie fühlt sich das eigentlich an, wenn man salzige Luft atmet? Muss man dann husten wegen der Salzkörnchen?«, woraufhin eine andere Stimme antwortet: »Da sind keine Salzkörnchen, du Quatschkopf. Es ist einfach nur Luft.« Ich denke wieder an den Trucker, es ist mir lieber.

In der Realität ist es mir am allerliebsten, dass niemand hier momentan Rast macht, die Haltebuchten und Essplätze alle leer sind. Ich steuere den Land Rover bis zum Ende der Parkfläche, steige aus. Als hätte die frische Luft ihnen ein geheimes Kommando gegeben, wollen meine Beine einknicken. Mit einer Hand fasse ich nach Halt am Griff der Fahrertür, mit der anderen reibe ich mir den Nacken. Der Halssaum meines T-Shirts ist schon ganz klamm von kaltem Schweiß. Ich muss mich beruhigen – sammeln – ordnen. Ich darf jetzt nicht zweifeln oder einknicken, so wie meine Beine es mir vormachen wollen. Ich muss stark sein. An Laura denken. Mich daran erinnern, dass all das hier zu ihrem Besten geschieht und es einfach keine andere Möglichkeit gibt. Also beschwöre ich ein Bild herauf: Laura, wie sie gestern Abend, kurz nach Feierabend, in der Kanzlei auftauchte. Wie sie im Türrahmen zu meinem Büro stand, schwankend und blass, und sich an den Riemen ihrer Handtasche klammerte. Laura, früher Laura Brehme und ebenfalls Assistentin in der Kanzlei, inzwischen Laura van Hoven, verheiratet mit meinem Chef. Es war Jahre her, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.

»Hey, Nadja.«

Ihr Mund, der ein scheußlich unechtes Lächeln formte, und meiner, der bloß stumm aufklappte, während ich wie starr hinter meinem Schreibtisch saß und versuchte, ihren Anblick zu verkraften. Das kalkweiße Gesicht. Die winzigen, trüben Augen. Das blonde Haar mit einem schwarzen Haarreif zurückgeschoben und in einem Zopf zusammengefasst, sodass ihr Gesicht flächiger wirkte als sonst und ihr Kopf beinahe riesig auf dem dünnen Hals und dem schmalen Körper saß. Sofort fiel mir ein, wie ich mir einmal fast die Haare gefärbt hätte, blond, so wie sie blond war, wie ich sogar schon einen Termin beim Frisör ausgemacht und mich letztlich nur eine akute Panikattacke davon abgehalten hatte, den Salon tatsächlich zu betreten. Plötzlich war es mir unmöglich vorgekommen, zwei Stunden oder länger vor einem Spiegel zu sitzen und mein eigenes Gesicht auszuhalten, dazu die furchtbaren Geräusche – quengelnde Föhns, tosendes Wasser, das kalte Klackern einer Schere, die eilig auf dem Keramikrand eines Waschbeckens abgelegt wurde. Bis zu diesem Moment war Laura für mich die zweitschönste Frau der Welt gewesen. Jetzt sah sie nur noch aus wie ein Strichmännchen auf einer Kinderzeichnung, ein trauriges Strichmännchen mit gelben Haaren.

Sie fragte: »Ist Gero noch nicht wieder da? Ich versuche schon den ganzen Tag, ihn zu erreichen, aber er geht nicht an sein Handy.«

Ich stellte fest, dass ich mich auch nach Jahren nicht daran gewöhnt hatte, wie sie den Mann, den ich als Herrn van Hoven kannte, bei seinem Vornamen nannte. Etwas daran tat mir weh. Es war kein schlimmer Schmerz, das nicht. Es fühlte sich eher an wie ein Kratzer, wie eine Nadel, die über eine empfindliche Hautstelle schabte – schon auszuhalten, aber dennoch unangenehm. Aus irgendwelchen Tiefen kramte ich eine überfällige Begrüßungsfloskel hervor und erhob mich endlich. Wir umarmten uns kurz und hölzern. Auch das war früher einmal anders gewesen.

»Also, ist er da?«

Ich schüttelte den Kopf. Herr van Hoven war seit gestern auf einer zweitägigen Anwaltskonferenz in Magdeburg und würde erst spät am Abend zurückkommen. Es wunderte mich, dass Laura nicht Bescheid wusste über seinen Zeitplan.

»Laut Konferenzprogramm endet der letzte Vortrag um sieben.« Ich lupfte meinen Blusenärmel für einen Blick auf meine Uhr. »Also in ungefähr einer Stunde.«

»Ach so.«

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

Ihr kalkweißes Gesicht verzog sich, als würde es gleich zu weinen beginnen.

»Ist was mit Vivi?«, bohrte ich weiter und spürte meinen Herzrhythmus schneller werden. Vivi, die knapp vierjährige Tochter der van Hovens. Laura bedachte mich mit einem Blick, den ich kaum ertrug.

»Es geht ihr gut«, antwortete sie kühl. »Sie ist bei ihren Großeltern.«

Ich lächelte verlegen.

»Okay, das ist schön.« Danach fiel mir nichts mehr ein, und ich starrte auf meine Schuhe. Sie brauchten dringend Schuhcreme.

Laura atmete hörbar.

»Kann … kann ich vielleicht einen Kaffee haben? Macht das Umstände?«

Ich schüttelte hastig den Kopf.

»Nein, nein, gar nicht. Ich kümmer mich drum.«

Kaffee mit Laura, so wie früher. Zwar hatte sie mich nicht explizit darum gebeten, gemeinsam Kaffee zu trinken, aber ich würde die Gelegenheit trotzdem nutzen. Wie bei einem Regentanz trippelte ich vor dem Vollautomaten in der Küche am Ende des Flurs herum, als änderte meine Nervosität etwas an der gähnenden Langsamkeit, mit der die Maschine unter monotonem Brummen die braune Flüssigkeit nacheinander in zwei Tassen tröpfeln ließ.

»Mach schon«, zischte ich dem Gerät entgegen. Ich hatte Angst, Laura könnte es sich anders überlegt haben und gegangen sein, wenn es noch länger dauerte. Ich holte die Milch aus dem Kühlschrank und verschüttete ein wenig auf der Arbeitsplatte, als ich unsere Tassen damit auffüllte. Automatisch wollte ich nach dem Lappen in der Spüle greifen, um den Fleck zu beseitigen, ließ es dann aber doch. Laura wartete auf mich.

Als ich aus der Kaffeeküche zurückkam, stand die Verbindungstür zwischen meinem und Herrn van Hovens Büro offen. Laura saß in seinem Sessel, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet. Ich versuchte einen dummen Witz.

»Zweimal Coffee to stay, für Laura und Lauras Freundin.«

Sie fuhr zusammen, als hätte meine Stimme sie unter Strom gesetzt. Sah mich an, als erblickte sie mich heute zum ersten Mal, überrascht, erschrocken, wie aus fremden Augen. Sie öffnete den Mund und bewegte ihn ein paarmal stumm. Ich wollte schon ansetzen, sie erneut zu fragen, was los sei, da sagte sie doch noch etwas: »Danke dir. Aber vielleicht lieber doch ein anderes Mal.« Innerhalb von Sekunden war sie aufgesprungen und an mir vorbeigerauscht. Ich blieb zurück wie eine Idiotin, mit den beiden Kaffeetassen in den Händen.

Erst bei den Aufzügen holte ich sie ein.

»Laura, bitte rede doch mit mir!« Beschimpf mich. Sag mir, dass ich mir meinen gemeinsamen Kaffee sonst wo hinstecken kann und wir schon lange keine Freundinnen mehr sind. Erinnere mich daran, was ich getan habe. Aber verdammt, verdammt, sag doch etwas.

Und das tat sie. Sie sagte es, nachdem sie direkt in meine Arme hineingesackt war: »Ich habe ein Problem, Nadja.«

 

Das Problem liegt jetzt in meinem Kofferraum.

Mai 2014

Nelly Schütt war vorbereitet. Sie hatte sich für einen Sonntag ein Zugticket gebucht, weil sie sich den Berliner Stadtverkehr mit ihrem kleinen, alten Twingo dann doch nicht zutraute. Sie hatte sich die Adresse notiert und sich am Abend zuvor extra noch die Haare gewaschen, damit sie sie nun offen tragen konnte. Man hatte ihr oft Komplimente für ihre Haare gemacht, zumindest an den guten Tagen, wenn sie aussahen wie haselnussbraune Engelslocken. Sie hatte lange überlegt, was sie anziehen sollte, und sich gegen ihr Lieblingssommerkleid entschieden, weil sie befürchtete, darin zu mädchenhaft zu wirken. Und das war sie schließlich nicht mehr. Sie war kein unbedarftes, naives Dorfmädchen, sie war eine Frau, die sich in Berlin und der Welt zurechtfand und ganz genau wusste, was sie wollte. Also entschied sie sich für einen engen schwarzen Rock, eine weiße, kurzärmelige Bluse und die schwarzen Peeptoes, die sie sich schon vor einigen Jahren im Internet bestellt, aber seither bloß für ein paar Probestelzereien durch ihr Zimmer getragen hatte. In dieser Art Schuhe bewegten sich die Frauen, die sie so vergötterte. Joan Bennett, Ava Gardner, Rita Hayworth, Gene Tierney