Über das Buch

Ellery Hathaway ist Polizistin in Woodbury, einem verschlafenen kleinen Ort in Massachusetts, wo selten etwas passiert. Trotzdem hat sie Erfahrung mit Serienmördern. Denn, was niemand in Woodbury weiß: Sie war einst Opfer Nr. 17 in der grausigen Serie von Bluttaten des Serienkillers Francis Michael Coben, der seinen Opfern, jungen Frauen, die Hände abschnitt. Und sie hat als Einzige überlebt. Jetzt bekommt Ellery plötzlich seltsame Geburtstagskarten, die auf den damaligen Fall anspielen – und jedes Mal verschwindet danach eine Person aus ihrem Umfeld spurlos. Beim dritten Mal weiß sie, sie muss etwas unternehmen. Ihre Vorgesetzten nehmen sie nicht ernst. Verzweifelt setzt sie sich mit dem einzigen Menschen in Verbindung, der ihr vielleicht glauben wird: dem FBI-Agenten, der sie damals aus Cobens Gewalt gerettet hat.

 

 

 

 

Für meine Mutter und meinen Vater,
die mich in einem Haus voller großartiger Bücher
großgezogen haben

 

 

 

 

Vor vierzehn Jahren

Es ist zu dunkel, um hinauszugehen, aber zu heiß, um zu schlafen. Die Geräusche eines Sommerabends dringen durch das offene Fenster zu mir herein: lachende Jugendliche, ein Ball, der über den Asphalt springt. In der Ferne heulen Sirenen. Ich liege ausgebreitet auf dem Bett wie Jesus am Kreuz. Obwohl meine Körperteile sich nicht berühren, klebt meine Haut am Laken. Ich stehe auf und schleiche die Treppe hinunter, um nach draußen zu gehen, in die stickige Luft. Die Stadt hat die Hitze der Sonne gespeichert, die den ganzen Tag über gebrannt hat, sodass die Wärme jetzt vom Beton abstrahlt.

Ich streife durch das Viertel, doch es ist niemand auf der Straße, den ich kenne. Ventilatoren drehen sich in den Fenstern, und ich schnappe Gesprächsfetzen von streitenden Menschen und von Fernsehsendungen auf. Jack und Lindsay Bierenbaum schieben gerade eine Nummer. Ich stehe unter ihrem Fenster, in der Dunkelheit, als ich sie zum ersten Mal sehe, das Mädchen auf dem Fahrrad. Sie trägt eine kurze Hose, und ihr langes, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar flattert im Fahrtwind, als sie mit ihrem Fahrrad auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu dem beleuchteten Park fährt.

Sie ist schon fast da, als ein Auto neben ihr hält. Das Licht der Straßenlampe fällt auf sie herab, als stünde sie auf einer Bühne und ich wäre das Publikum. Ein Mann sitzt in dem Wagen und sagt etwas, das ich jedoch nicht verstehe. Er gestikuliert, vielleicht fragt er nach dem Weg. Sie steigt von ihrem Fahrrad ab und deutet auf die Straße, aber der Mann fährt nicht weiter. Stattdessen steigt er aus. Ich bemerke einen Lappen in seiner Hand und vermute, dass es ein Taschentuch ist, womit er sich den Schweiß abwischt.

Ich irre mich.

Sie wehrt sich kurz, als er den Lappen auf ihren Mund drückt. Dann erschlafft sie in seinen Armen. Er verfrachtet sie so schnell in den Fond des Wagens, dass ich beinahe glaube, mir den Vorfall eingebildet zu haben. Ich stehe wie gelähmt da. Als er ihr Fahrrad in den Kofferraum lädt, fällt sein Blick auf mich, und wir sehen uns über die Straße hinweg an. Ich bin immer noch nicht in der Lage, mich zu bewegen.

Der Mann starrt mich für einen Moment an. Dann presst er einen Finger auf den Mund.

Ich zucke zusammen, als er die Autotür zuschlägt. Er fährt weg, und ich sehe sein Gesicht erst sehr viel später wieder, in den Nachrichten, unmittelbar neben den Gesichtern weiterer junger Mädchen, die verschwunden sind.

Sein Gesicht mit dem Finger an den Lippen und das Mädchen, das er wie eine Stoffpuppe in sein Auto geworfen hat, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Schsch. Erzähl niemandem davon!

Ich habe nie jemandem davon erzählt.

1

Heute

Ellery Hathaway trat, schon wieder angezogen und bereit zu gehen, aus dem dampfigen Badezimmer und trocknete sich das Haar mit einem Handtuch ab. Sam lag ausgestreckt auf dem Bett des Motels, einem Modell mit quietschender Matratze und kratzigen Laken. Er wollte wie immer noch etwas länger bleiben und sie ein weiteres Mal küssen, was eines der Dinge war, die sie an ihm hasste. »Wir haben schon fast Mitternacht«, sagte sie und legte das feuchte Handtuch über die Rückenlehne des billigen Motelstuhls. Im Zimmer herrschte wie gewohnt völlige Dunkelheit, da er sie nicht gänzlich nackt sehen sollte. Das war keine manipulative Absicht, sondern hatte eher praktische Gründe. Aber je zurückhaltender sie sich ihm gegenüber verhielt, desto stärker wurde sein Verlangen. Sie hatte jetzt eindeutig seine Aufmerksamkeit.

Er rollte sich zum Nachttisch, um seine Armbanduhr wieder anzulegen, machte aber keine Anstalten, in seine Kleider zu schlüpfen. »Es ist schon wieder Juli. Dabei scheint’s, als hätten wir gerade erst Memorial Day gehabt.«

Sie spazierte zum Fenster und sah hinaus in die schwüle, pechschwarze Sommernacht. Vor dem Zimmer befand sich ein ungefähr drei Meter breiter Kiesstreifen. Ein dichter Wald schloss sich daran an, in dem sich unsichtbare Lebewesen versteckten. »Er wird bald wieder zuschlagen«, sagte sie. »So wie im letzten Jahr, und wir haben nichts getan, um es zu verhindern.«

»Herrgott noch mal, Ellie! Nicht wieder dieses Thema!« Er setzte sich auf und zog seine Unterhose an. »Ich habe gedacht, du wolltest es ruhen lassen.«

Ihre Stirn sank gegen die Fensterscheibe, die im Rhythmus mit der ächzenden Klimaanlage vibrierte, die im unteren Bereich des Schiebefensters angebracht war. Sie spürte, wie das Brummen ihren Körper erfasste. »Drei Menschen sind tot«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu Sam. Er hatte diese Worte schon x-mal gehört, es war gar nicht nötig, dass Ellery sie wiederholte. Ihr letztes Gespräch zu diesem Thema hatte vor mehr als einem halben Jahr stattgefunden. Damals war er bloß Chief und sie eine junge Streifenpolizistin gewesen. Er hatte ihr nicht zugehört, aber vielleicht war das jetzt anders. Denn jetzt gab es etwas, das er von ihr haben wollte.

Er trat halb nackt zu ihr ans Fenster. Seine langen Gliedmaßen bewegten sich geschmeidig, was eines der Dinge war, die sie an ihm liebte. »Wir haben keine Beweise für einen Mord«, entgegnete er. »Das weißt du genauso gut wie ich. Wir wissen nicht einmal, ob diese Menschen tot sind.«

»Das sind sie«, beharrte sie. Die neunzehnjährige Bea Nesbit war die Erste, die vor drei Jahren auf dem Weg zwischen Woodbury und ihrem Studienort Boston verschwand. Die State Police war in die Suche eingebunden worden, wofür Ellery dankbar war, weil sie ihren Dienst als Polizistin damals erst seit sieben Monaten ausübte und die Familie Nesbit nicht kannte. Zehn Tage später, Bea galt noch immer als vermisst, erhielt sie die erste Postkarte.

Sam umfasste Ellerys hochgezogene Schultern und drückte sie sanft herunter. »Menschen verschwinden ständig aus ihrem bisherigen Leben, ohne sich noch einmal umzusehen.«

Sie riss sich von ihm los. Ihr musste niemand erklären, warum man unbedingt alles hinter sich lassen wollte. Immerhin gab es einen Grund dafür, warum sie sich seit mehr als zehn Jahren ihr Haar färbte, neuerdings kastanienbraun. Ein Farbton, der dem von getrocknetem Blut glich, wenn sie ihn auswusch und die Reste in ihrem weißen Porzellanwaschbecken verschwinden sah.

Sams Haarfarbe war ein ehrliches graumeliertes Schwarz. Er war zweiundzwanzig Jahre älter als Ellery und hatte sich in Boston schrittweise vom einen zum nächsthöheren Dienstgrad gearbeitet, ehe er die Stelle als Chief in der kleinen Stadt Woodbury antrat. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass er der cleverste Polizist im Raum war. Ellery war die einzige Frau in seinem Dezernat. Keine große Errungenschaft angesichts einer Mannschaft von acht Beamten, doch Ellie brachte gewisse Erfahrungen mit, die Sam trotz seiner fundierten Kenntnisse fehlten.

»Bea Nesbit, Mark Roy und Shannon Blessing sind tot«, erinnerte sie ihn und drehte sich um, damit sie ihm in die Augen sehen konnte, während sie das sagte. »In den nächsten beiden Wochen wird dieser Liste noch ein weiterer Name hinzugefügt werden, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Und wir werden eine weitere trauernde Familie haben, der wir keine Antworten geben können. Ist es das, was du willst?«

»Was soll ich deiner Meinung nach denn tun? Diese Fälle sind bereits untersucht worden, sowohl von unserer Dienststelle als auch von anderen. Und wir sind weder auf Leichen noch auf Beweise gestoßen. Nicht einmal auf einen Hinweis, aus dem wir den Schluss ziehen könnten, dass überhaupt ein Verbrechen stattgefunden hat. Ich sehe deine Befürchtungen, Ellie, aber ich muss etwas Stichhaltiges in der Hand haben, um zu ermitteln. Dein Bauchgefühl reicht nicht aus.«

Sie schaute weg, da ihre Wangen glühten. Er hatte es wenigstens nicht weibliche Intuition genannt. Der einzige Beweis, den sie hatte, abgesehen von den wenigen Angaben in den Akten, lag verschlossen in der Schublade ihrer Schlafzimmerkommode. In einem Umschlag, sodass sie die Karten nur dann sah, wenn sie gezielt danach suchte. Dabei stand nicht einmal viel darauf geschrieben. Sie konnte sich Sams irritierten Gesichtsausdruck vorstellen, wenn sie ihm das Material vorlegen würde und dessen Bedeutung zu erklären versuchte.

Das hier beweist gar nichts, außer dass du ein Jahr älter geworden bist. Herzlichen Glückwunsch, Ellery. Da geht es dir so wie jedem anderen.

Vielleicht würde er alles verstehen, wenn sie ihm von diesem einen Geburtstag erzählen würde, der schon so viele Jahre zurücklag. Dann würde er handeln müssen. Oder er würde sie bloß mitleidvoll und entsetzt ansehen. Ob so oder so, wenn sie ihm davon erst einmal erzählt haben würde, wäre das nicht mehr rückgängig zu machen.

»Du könntest die Fälle noch einmal untersuchen«, sagte sie zu ihm und bemühte sich, mit ruhiger, fester Stimme zu sprechen. »Sieh sie dir noch einmal an. Wenn wir herausfinden, worin die Verbindung zwischen den Opfern besteht, sind wir vielleicht auch in der Lage, ihn zu stoppen.«

»Du bist die Einzige, die überhaupt glaubt, dass eine Verbindung existiert.«

»Dann übertrag mir die Fälle!« Sie reckte ihr Kinn und blickte ihn herausfordernd an. In der Polizei von Woodbury gab es nur einen Ermittler, und sie war es nicht. Das stand fest.

In Sams Augen leuchtete Frust auf. Und Mitleid, was noch viel schlimmer war. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Du weißt, dass das nicht geht.«

»Na gut. Aber mach mir keine Vorwürfe, wenn wieder jemand verschwindet!« Sie durchquerte das Zimmer, um ihre Stiefel anzuziehen.

»Was ist, wenn du dich irrst und gar nichts passiert? In was steigerst du dich dann hinein?«

Sie sah auf. »Willst du damit etwa andeuten, dass ich das brauche?«

Er betrachtete sie. »Ein Teil von dir, vielleicht. Du fährst schon auf Dramen ab, gib es zu, Ellery.«

»Nein, das tue ich nicht.« Sie schnürte die Schuhe zu und richtete sich auf. »Du bist derjenige, der immer gern alles verkompliziert.«

Er griff nach ihrem Arm, als sie an ihm vorbeigehen wollte. »Bleib noch«, sagte er sanft, und seine Finger glitten vorbei an ihren Narben zu ihrer schmalen Taille. »Wir können darüber reden.«

Sie wand sich aus seinem Griff, sodass sich ihre Hände berührten, aber sie erwiderte seinen Blick nicht. »Geh nach Hause, Sam. Julia wundert sich bestimmt schon, wo du bleibst. Wir sehen uns morgen früh, okay?«

Er ließ sie los, ohne etwas zu sagen, und sie schob sich an ihm vorbei, hinaus in die drückende Hitze der Nacht. Vögel schnatterten ihr aus den hohen Kiefern zu, und der weiße Kies knirschte unter ihren Füßen, während sie zu ihrem Pick-up ging. Die Luft Neuenglands war feucht, und ihr T-Shirt klebte an ihrem Körper. Ellery hielt kurz inne, als sie das Auto erreichte, und schaute zum Waldrand. Sie hatte sich diese ruhige Stadt ausgesucht, weil sie weit entfernt war von den Metropolen mit ihren Abertausenden von Einwohnern. Wenn kein großer Trubel in Woodbury herrschte, was ehrlich gesagt meistens der Fall war, saßen die Kollegen auf der Wache herum und malten sich aus, wie es wäre, wenn in ihrem kleinen Ort ein schweres Verbrechen geschehen würde. Ein Bankraub vielleicht. Als würde sich jemals ein Mensch in ihr verschlafenes Nest verirren, das aus einer Apotheke, einem Postamt und einer Handvoll Läden bestand, weil er glaubte, er könnte die örtliche Bank um eine Million Dollar erleichtern. Die Jungs in ihren blauen Uniformen waren sich sicher, dass sie die Bösewichte noch vor Erreichen der Stadtgrenze geschnappt haben würden. Sam, der sich mit Bösewichten besser auskannte als der Rest der Truppe, grinste stets über ihre großspurigen Reden. Manchmal versuchte er, Ellies Aufmerksamkeit zu erregen, um ihr mit einem Augenzwinkern zu verstehen zu geben, was er von dem vollmundigen Gerede hielt. Doch Ellery schaute immer weg und dachte nur: Ihr solltet vorsichtig sein mit dem, was ihr euch wünscht.

Ellie stieg in ihren Pick-up und schaltete ihr Handy wieder ein. Das Display warf ein gespenstisches Licht in den sonst dunklen Innenraum. Wie Ellery anhand der verpassten SMS und Anrufe feststellte, war sie in der vergangenen Stunde ein ungewöhnlich gefragter Mensch gewesen. Ein verpasster Anruf stammte von ihrer Mutter, die keine Nachricht hinterlassen hatte. Brady hatte ihr eine SMS geschickt, die sie zum Lächeln brachte: Sechs neue Kätzchen. Habe überall winzige Kratzspuren, die höllisch wehtun. Schick mir Hilfe! Als sie den anderen verpassten Anruf sah, verschwand ihr Lächeln. Dieses Mal war eine Nachricht hinterlassen worden. »Sie streiten sich wieder, bitte komm schnell!«, flüsterte eine junge, verängstigte Stimme am anderen Ende der Leitung.

Ellery warf das Handy auf den Sitz und legte den ersten Gang ein. Der Kies unter den Reifen wirbelte hoch, als sie vom Parkplatz des Motels jagte. Sie hielt nicht einmal mehr an, um den Vorfall zu melden, denn laut Zeitstempel war der Anruf bereits vor dreiundzwanzig Minuten eingegangen. Auf den Straßen herrschte zu so später Stunde kein Verkehr, weshalb sie es in Rekordzeit ans andere Ende der Stadt schaffte. Sie bog in ein ruhiges Wohnviertel ab. Die Häuser lagen etwas zurückgesetzt von der Straße, nirgendwo brannte mehr Licht. Die Durchschnittsfamilie von Woodbury besaß zwar nicht viel Geld, dafür aber reichlich Land. Das erklärte die vielen großen, üppig bewachsenen Vorgärten zwischen den kleinen, abgewohnten Häusern, die nach dem Zweiten Weltkrieg in großer Zahl gebaut und seitdem so gut wie nicht mehr renoviert worden waren. Ihre identischen gestreiften Markisen waren längst ausgebleicht und hingen windschief herab. Als Ellery sich ihrem Ziel näherte, erfassten die Scheinwerfer ihres Wagens einen Lattenzaun, dessen weiße Farbe abblätterte, und ein Kinderfahrrad, das im Vorgarten lag.

Gelbliches Licht drang aus den offenen Fenstern des Hauses, in dem sich aber niemand bewegte, soweit Ellery das sehen konnte. Sie stellte den Motor ab. In der Stille, die eintrat, stellte sie sich die bevorstehende Konfrontation vor, und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Häuslicher Streit war der unberechenbarste Teil ihrer ansonsten alltäglichen Arbeit. Auch wenn für sie feststand, dass Menschen aus Woodbury verschwunden waren und dass sie Sam von diesem Problem überzeugen musste, hatte der letzte aktenkundige Mord im Jahr 1983 stattgefunden. Tom Pickney hatte herausbekommen, dass sein Bruder Terrance eine Affäre mit seiner Frau hatte, und ihn daraufhin erschossen.

Die Sommernacht war schwül. Dennoch griff Ellery nach ihrer Polizeijacke, die auf dem Boden des Beifahrersitzes lag, und zog ihre Dienstwaffe aus dem verschlossenen Handschuhfach, ehe sie auf das Haus zusteuerte. Energisch klopfte sie gegen die Fliegengittertür. Die schwere Haustür wurde beinahe sofort aufgerissen, als hätte man sie erwartet. Darryl Franklins massiger Körper füllte den gesamten Türrahmen aus, sodass Ellie weder ein Licht ausmachen konnte noch eine Person, die möglicherweise hinter ihm stand. »Was wollen Sie?«, fragte er und grinste sie höhnisch an.

»Wir haben einen Anruf wegen Ruhestörung erhalten, Mr Franklin.«

»Was? Wer hat Sie angerufen?« Er spähte hinaus zu seinen Nachbarn, aber die Straße lag ruhig und dunkel da. »Ich sehe niemanden da draußen.«

»Wer uns angerufen hat, spielt keine Rolle. Ich möchte Rosalie und Anna sehen.«

Darryl Franklin roch nach Schweiß und Alkohol, sein Gesicht war aufgedunsen und seine dunklen Augen bewegten sich unkoordiniert. Er dachte einen Augenblick lang nach. Dann setzte er ein breites, bösartiges Grinsen auf. »Hier hat es keine Ruhestörung gegeben«, sagte er und hielt kurz inne, um an seiner Bierdose zu nippen, die er in seiner fleischigen Hand hielt. »Gehen Sie nach Hause, Ellie! Ein Mädel wie Sie sollte so spät am Abend nicht mehr allein durch die Gegend fahren. Ihnen könnte was zustoßen.«

Ellery straffte die Schultern, eine Hand ruhte leicht auf ihrem Halfter. »Das ist eine offizielle Aufforderung, Mr Franklin. Sie wissen, wie das läuft. Ich kann erst wieder gehen, wenn ich Rosalie und Anna gesehen habe.«

»Das ist mein Haus. Ich kenne meine Rechte. Ich muss Sie nicht hereinlassen, es sei denn, Sie haben einen Durchsuchungsbefehl.« Er schwankte leicht, während er das sagte, und verschüttete Bier auf dem Boden zwischen sich und Ellery.

»Dann werden wir alle gemeinsam zur Wache fahren und dem Polizeichef einen Besuch abstatten. Er wird bestimmt nicht darüber erfreut sein, wenn wir ihn so spät wecken.« Sam schlich sich in diesem Moment wohl eher durch die Hintertür in sein Haus, aber den Gedanken schob Ellery beiseite.

Franklin murmelte eine Reihe von Schimpfwörtern, machte dann aber gerade so viel Platz, dass Ellie durch eine schmale Lücke das Haus betreten konnte. Als sie die Türschwelle überquerte, streifte sie sein verschwitztes Unterhemd, das über seinem dicken Bauch spannte. In dem Haus herrschte eine bedrückende, übermächtige Stille, die Ellie als die unmittelbare Nachwirkung eines Gewaltausbruchs erkannte. Sie ging wenige Schritte über einen abgewetzten Teppich und betrat das Wohnzimmer. Der Fernseher war stumm geschaltet, und in der stickigen Luft hing der Geruch von Zigaretten und den Resten eines Abendessens, das aus Paprika, Zwiebeln und Fett bestanden haben musste. Ellies Blick wanderte von den dicken Polstern des Mikrofasersofas, das vom jahrelangen Gebrauch bereits durchgesessen war, über das eingebrannte Loch in der Armlehne des alten Fernsehsessels hin zu der faustgroßen Delle in der dahinterliegenden Wand, die sie von ihrem letzten nächtlichen Besuch her schon kannte.

»Rosalie, sind Sie hier? Anna, bist du hier? Ich bin’s, Ellie Hathaway.« Ihre Haut begann zu kribbeln, weil die beiden noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben hatten. Franklin stand mittlerweile zwischen ihr und der Wohnzimmertür, trank einen Schluck Bier und täuschte Gleichgültigkeit vor. Ellery achtete darauf, ihren Körper so zu drehen, dass er am Rand ihres Blickfelds blieb.

Mehrere angespannte Sekunden vergingen, bis Rosalie Franklin und die zehnjährige Anna zögerlich um die Ecke geschlichen kamen. Rosas Blick war auf den Boden gerichtet, und ihre Arme waren um die Schultern ihrer Tochter geschlungen. Selbst aus fünf Metern Entfernung konnte Ellie den Striemen auf Rosalies linker Wange erkennen, der anzuschwellen begann. »Officer Hathaway, Sie hätten so spät nicht mehr hierherkommen müssen.«

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Ellery und machte einen Schritt auf die Frau zu, um ihre Verletzungen besser begutachten zu können.

»Ja. Mir geht es gut.« Rosalie wandte ihr Gesicht von Ellery ab und versteckte die Wange hinter ihrem dunklen Haar. »Sie sollten jetzt gehen.«

Franklin stieß die Fliegengittertür derart fest auf, dass sie gegen das Geländer der Eingangstreppe prallte. Das Geräusch ließ die Frauen zusammenzucken. »Ja. Sie sollten jetzt gehen. Meine Frau und meine Tochter sind in Ordnung, wie Sie sehen können.«

»Einen Augenblick noch«, sagte Ellery, eher zu Rosa und Anna als zu Darryl. »Warum sprechen wir nicht draußen miteinander? Sie, ich und Anna.«

Sie führte die beiden zur Tür, denn ihr war klar, dass Rosalie sich trotz ihrer Angst fügen würde. Ihr tägliches Leben bestand nun einmal daraus, Anweisungen zu befolgen, die ihrem eigenen Interesse zuwiderliefen. Ellery spürte ein gewisses Unbehagen, weil sie sich Rosalies unterwürfiges Verhalten zunutze machte. Doch sie würde sie nie davon überzeugen können, eine Anzeige gegen ihren Mann zu erstatten, wenn dieser gerade einmal zwei Meter von ihr entfernt stand und mit den Hufen scharrte wie ein Stier in der Arena.

Als sie die Tür erreichten, versperrte Franklin ihnen den Weg mit einem seiner kräftigen Arme. »Hier kommen Sie nicht durch«, sagte er entschieden.

»Dann werde ich meinen Kollegen per Funk durchgeben müssen, dass Sie eine Beamtin als Geisel halten. Und dafür werden Sie für eine richtig lange Zeit ins Gefängnis wandern.«

Sie standen alle wie erstarrt da, während Franklin die Information geistig verarbeitete. Schließlich zog er den Arm weg und ließ sie vorbei. Ellery atmete erleichtert aus, als sie hinaus in die schwüle Nachtluft traten. Rosalie und Anna waren barfuß. Anna trug ein Disney-Prinzessinnen-Nachthemd, das knapp ihren Po bedeckte. Ellie führte die beiden über das halb vertrocknete Gras zum äußersten Ende des Vorgartens. Franklin blieb wortlos in der Haustür stehen, warf aber einen langen Schatten. »Was ist heute Abend passiert, Rosa?«, fragte Ellie sie leise.

»Nichts«, beharrte Rosalie, schlang die Arme um sich und blickte über ihre Schulter. »Mir geht’s gut.«

»Er hat sie geschlagen, weil er Tacos zum Abendessen haben wollte. Mama hatte aber heute keine Zeit, um einkaufen zu gehen.«

»Anna!«

»Stimmt doch!« Das Mädchen verschränkte seine dünnen Arme und starrte seine Mutter wütend an.

»Nein, das stimmt nicht«, entgegnete Rosalie flüsternd. »Er war nur verärgert, weil sein Chef ihm diese Woche seine Arbeitszeit gekürzt hat.«

»Beim letzten Mal hat er es auf seinen schmerzenden Rücken geschoben«, erwiderte Ellery. »Welche Entschuldigung wird er das nächste Mal parat haben?«

»Sie verstehen das nicht«, murmelte Rosalie, während ihre Schultern zusammensackten und sie ihren Blick auf den Boden richtete. Ellie schaute zur Straßenlampe, um die ein Schwarm Mücken schwirrte. Sie könnte die Ärmel ihrer Jacke hochkrempeln, Rosa in das helle Licht führen, ihr die Narben zeigen und sagen: Ich habe überlebt, und das können Sie auch. Vielleicht würde Rosalie dann auf sie hören und dieses Kontaktverbot beantragen. Sie könnte Darryl hinauswerfen, einen besseren Job finden, wieder zur Uni gehen, sich und Anna ein friedliches Zuhause schaffen und für den Rest ihres Lebens jeden Abend das kochen, was sie wollte.

Ellie schluckte schwer, als sie sich all das vorstellte, denn sie wusste, dass Rosalie nichts davon machen würde. Sie würde niemals ihre zerbrechliche Existenz aufs Spiel setzen nur für einen Haufen von Vielleichts. Ellery holte tief Luft und sah Rosalie eindringlich an. »Sie müssen seine Gewaltausbrüche nicht ertragen. Das müssen Sie nicht! Sagen Sie nur ein Wort, und ich bringe Sie von hier weg. Sie und Anna, sofort. An einen sicheren Ort. Oder Sie erstatten Anzeige gegen ihn, und ich verhafte ihn auf der Stelle.«

»Sie?« Rosa musterte sie skeptisch von oben bis unten.

»Ja, ich«, antwortete Ellery selbstsicherer, als sie sich fühlte. Sie wagte einen Blick hinüber zur Tür, von wo aus Franklin sie mit einem mürrischen Gesichtsausdruck beobachtete, und sie fragte sich, ob er eine Waffe besaß. Ellery war zwar athletisch gebaut und ein Meter dreiundsiebzig groß, doch Franklin überragte sie um fast dreißig Zentimeter und wog bestimmt einhundert Pfund mehr.

»Er wird nirgendwo mit Ihnen hingehen. Außerdem, was soll das schon bringen? Sie nehmen ihn mit, und in ein, zwei Tagen ist er wieder da. Wo sollen Anna und ich dann bleiben?«

In der nächstgelegenen Stadt gab es ein Frauenhaus. Dieses Haus aufzusuchen, würde jedoch bedeuten, dass die beiden jetzt mitkommen müssten, mit nichts als ihren Kleidern am Leib. Außerdem war es durchaus möglich, dass die Angelegenheit genauso ausgehen würde, wie Rosalie es beschrieben hatte: Ellery konnte Franklin zwar verhaften, allerdings nur wegen einfacher Körperverletzung. Er würde innerhalb von vierundzwanzig Stunden gegen eine geringe Kaution wieder auf freiem Fuß sein. Haus und Bankkonto gehörten ihm. Rosa und Anna müssten bei null anfangen. »Es gibt Menschen, die Ihnen helfen können«, versuchte Ellery es noch einmal mit wachsender Enttäuschung, denn sie erkannte, dass sie wieder einmal dabei war, eine Schlacht zu verlieren. »Ich werde ebenfalls alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihnen zu helfen.«

Bereits während sie diese Worte aussprach, war sie sich ihrer Grenzen bewusst, und als sich Rosalies Gesicht verschloss, wusste sie, wie die Dinge laufen würden. »Nein, nein. Wir müssen nur noch ein paar Wochen überstehen. Bis zum Herbst. Dann wird er wieder mehr arbeiten können, und alles wird wieder gut sein. Sie werden sehen.« Rosalie zerrte ihre Tochter zurück zum Haus. Anna wand sich unter ihrem Griff und stolperte über den unebenen Boden, während sie Ellery einen flehentlichen Blick zuwarf. Ellie folgte ihnen ein paar Schritte, doch sie war machtlos, rechtlich gesehen.

Die Fliegengittertür wurde geöffnet und schlug krachend wieder zu. Dann verschwanden Rosalie und Anna aus Ellerys Blickfeld, und sie war wieder allein mit Franklin. Sein Gesicht war dunkel, da er mit dem Rücken zum Licht stand, doch Ellie konnte das Weiße in seinen Augen ausmachen, die sie wütend anstarrten. »Halten Sie sich von meiner Familie fern!«, knurrte er und erhob drohend einen Finger.

»Das werde ich tun, sobald Sie mir keinen Grund mehr dazu geben, hierherkommen zu müssen.«

Er ließ die Hand fallen, trank den Rest seines Biers in einem Zug aus und zerdrückte die Dose mit seinen kräftigen, dicken Fingern. »Vielleicht drehe ich den Spieß ja mal um.«

»Was soll das denn heißen?«

Er zuckte mit den Achseln und warf die Dose neben Ellerys Füße. »Na ja, Sie tauchen hier mitten in der Nacht auf, da erscheint es doch nur angemessen, dass ich mich mal revanchiere. Sie leben draußen auf der Burning Tree Road, nicht wahr? Ja, ich habe dort im Wald schon mal gejagt. Und ich weiß, wo Sie wohnen. In einem kleinen Farmhaus. Ganz allein.«

»Drohen Sie mir etwa gerade, Mr Franklin?«

Er hielt seine Hände in einer übertriebenen Geste hoch. »Oh Gott, nein, Officer! Ich bin nur um gute Nachbarschaft bemüht.«

»Wir sind keine Nachbarn«, erwiderte sie tonlos. »Sollten Sie sich je auf meinem Grundstück herumtreiben, werde ich auf Sie schießen.«

Er grinste wieder. »Ist das nun etwa eine Drohung? Vielleicht ist es aber auch eine Einladung. Ob so oder so, wir sehen uns, Officer Ellie. Oh ja, wir sehen uns!«

Ellery umfasste das Lenkrad ihres Pick-ups etwas fester, als sie über die lange, unbefestigte Straße fuhr, die zu ihrem Haus führte. Die Vorbesitzer hatten sie planieren lassen, bevor sie das winzige Farmhaus vor vier Jahren zum Verkauf angeboten hatten. Doch die Fahrbahn hatte sich mit dem Wechsel der Jahreszeiten in eine Landschaft aus Hügeln und Furchen verwandelt. Die Straße war aufgrund des ausgebliebenen Sommerregens auch noch staubig und rissig, sodass die Reifen des Wagens Kies und Dreck aufwirbelten, als Ellie nach Hause rumpelte. Das Farmhaus war nie bewirtschaftet worden und bot bestenfalls Platz für zwei Pferde und ein paar Hühner. Ellery mochte das Haus, weil es fernab von der Straße lag, umgeben von Wald und vielen Quadratmetern geschützten Lands, denn genauso fühlte sie sich hier draußen unter den Sternen und Bäumen: geschützt.

»Hast du keine Angst vor Bären, Kojoten und anderen wilden Tieren?«, hatte ihre Mutter besorgt gefragt, als Ellery, die frischgebackene Hausbesitzerin, mit vierundzwanzig Jahren in ihr Heim gezogen war. Sie hatte ihre letzten finanziellen Reserven aufgebraucht, das Blutgeld, um die Anzahlung für etwas zu leisten, von dem Ellie glaubte, es würde einen klaren Schnitt zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft bedeuten.

»Hier gibt es keine Bären«, hatte sie ihrer Mutter versichert, der Großstädterin, die mittlerweile bestimmt erkannt hatte, dass es sehr viel Furchterregenderes in der Welt gab als Bären. Aber daran erinnerte Ellie sie natürlich nicht.

Als Ellery aus dem Wagen stieg, atmete sie den kühlen, nächtlichen Sommerduft ihres Zuhauses ein: eine einzigartige Mischung aus Wildblumen, gemähtem Gras und dem erdigem Waldgeruch. Ihre Umgebung war in Dunkelheit gehüllt, nur die nadelstichgroßen Sterne und der sichelförmige Mond leuchteten vom Himmel herab. Es war still genug, dass sie das Rauschen der fernen Laubbäume hören konnte. Sie nahm die zwei abgenutzten Holzstufen, die zur Veranda führten, auf einmal, trat zur Haustür, sperrte das Bolzenschloss auf und hörte augenblicklich das Scharren von Krallen auf dem Holzboden. »Hallo, Bump«, rief sie, und in der nächsten Sekunde kam auch schon ihr Basset freudig auf sie zugerast, wild mit dem Schwanz wedelnd. »Hast du mich vermisst?«

Sie kniete sich hin, ein Lächeln im Gesicht, und rieb seine langen, seidigen Ohren, während sie den kräftigen, aufgeregt zappelnden Körper so fest wie möglich an sich drückte. Er schnupperte sie von oben bis unten ab und erfasste mit seiner Nase die Abenteuer, die sie draußen erlebt hatte. Sie vermutete, dass er auch irgendwo den Geruch von Darryl Franklin wahrnahm. Franklins Versuch, sie einzuschüchtern, hatte ihr keine Angst gemacht. Er war ein Volltrottel, der sich am Abend zumeist sinnlos besoff. Sollte er irgendeine Dummheit versuchen, sähe sie ihn in einer Meile Entfernung schon kommen.

Sie kraulte Bumps Ohren ein letztes Mal, bevor sie sich wieder aufrichtete. »Lass uns nach draußen gehen, damit du dein Geschäft machen kannst.« Er folgte ihr brav durch das Wohnzimmer, die Diele und die Küche, wo sie das Bolzenschloss an der Hintertür öffnete und den Hund in den kleinen Garten ließ. »Komm bloß den Stinktieren dieses Mal nicht zu nahe!«, rief sie ihm hinterher, als er in die Dunkelheit schoss. Ellie schaltete das Licht auf der hinteren Veranda ein, um unerwünschtes Getier in Schach zu halten, während Bump zum Waldrand flitzte. Sie konnte ihn zwar nicht mehr genau ausmachen, ihn aber anhand des klimpernden Geräuschs seiner Hundemarke am Halsband orten. Während Bump seiner Routine nachging, zog Ellie ihr Handy hervor. Sie hatte keine neuen Nachrichten oder SMS erhalten. Nicht einmal von Sam, wie sie erleichtert feststellte.

Sie öffnete ihren Messaging-Dienst und erkannte an dem kleinen grünen Punkt, dass Brady online war. Es ist zwei Uhr morgens, schrieb sie ihm. Geh ins Bett!

Kann ich nicht, tippte er zurück. Fütterung der kleinen Raubtiere.

Er schickte ihr ein Bild, das seine große Hand, eine kleine Milchflasche und ein bezauberndes Knäuel grauweißen Fells zeigte. Brady Archer arbeitete im örtlichen Tierheim, dem Angelman Animal Shelter, wo sie vor wenigen Jahren, kurz nachdem sie in ihr Haus gezogen war, Bump adoptiert hatte. Über die gemeinsame Liebe zu Tieren und der Musik aus den 1980 er-Jahren hatte sich eine Freundschaft entwickelt. Und die Tatsache, dass er genauso unter Schlaflosigkeit litt wie sie, festigte ihre Beziehung, denn so konnten sie in den frühen Morgenstunden miteinander chatten. Kitschigste Ballade, schrieb er bei einer dieser Gelegenheiten.

Einfach, tippte sie zurück. ›I’d Do Anything for Love‹ von Meat Loaf.

Für mich ist es ›Don’t Stop Believing‹. Darin geht es nur um Dinge, die der Typ zufällig draußen sieht. Straßenlampen, Menschen. Was zum Teufel will dieses Lied uns sagen?

Das ist Gotteslästerung! Der Song setzt kulturelle Maßstäbe, und Journey ist eine legendäre Band.

Ja. Eine legendär schreckliche Band.

Die Kommentare, die sie aufeinander abfeuerten, erinnerten Ellery an ihre nächtlichen Gespräche mit ihrem Bruder, Daniel, in Chicago, in der brütend heißen Wohnung ohne Fahrstuhl, wo die Farbe von den Wänden abzublättern schien, weil es so heiß war. Sie saßen am Fenster, neben den überstrapazierten Ventilatoren, eine Dose Cola in den verschwitzten Händen, und erfanden Geschichten über die Menschen auf der Straße. Ellie hatte Brady noch nie von Daniel oder überhaupt sehr viel von sich erzählt, und Brady hatte nie nach Details gefragt. Das war der Grund, warum ihre Freundschaft funktionierte. Sie hatte nicht geglaubt, dass sie Freunde haben könnte, da sie dazu neigten, Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten konnte. Fragen wie: Woher kommst du? oder Woher hast du diese schrecklichen Narben? Freunde wollten einen besuchen kommen und über die Familie reden. Eigentlich wollten sie einfach nur die große Wundertüte des Lebens von einem öffnen und darin herumstöbern. Aber Brady war anders. Sie war erst vorsichtig gewesen und hatte abgewartet, als sie über langhaarige Hunde und langhaarige Bands zu sprechen begannen. Die vielen Fragen, die sie befürchtet hatte, wurden nie gestellt. Ihre Gespräche blieben locker und witzig, und schließlich entspannte sie sich etwas. Gerade so viel, dass sie sich einen Freund in ihrem Leben gestattete. Brady schien mit den Bedingungen ihrer Freundschaft einverstanden zu sein. Ellery hatte durch den einzigen Satz, den Brady je über seine Mutter geäußert hatte, den Eindruck gewonnen, dass auch seine Kindheit und Jugend hart gewesen sein mussten. »Sie lebt in Texas«, hatte er gesagt.

In manchen Momenten fiel es ihr schwer, ihm nicht mehr aus ihrem früheren Leben zu erzählen. Einer dieser Momente war, als er ihr schrieb: Kennst du jemand Berühmtes?

Ja, ging es ihr durch den Kopf. Mich. Wenngleich berühmt-berüchtigt vielleicht eher zutraf. Im vergangenen Jahr hatte sie eines Abends ein dünnes blondes Mädchen im Fernsehen gesehen, das sie selbst darstellte. Ihr Name war lediglich in Annabelle geändert worden, und das Mädchen hatte sehr viel mehr Oberweite als Ellery damals mit vierzehn Jahren. ›Mind of a Madman‹ hatte der Film geheißen, aber er erzählte nicht wirklich ihre Geschichte. Wir leben in Woodbury, hatte sie Brady damals zurückgeschrieben. Welche Berühmtheit taucht hier schon auf?

Wieso bist du noch wach?, tippte er jetzt. Kannst du nicht schlafen?

Ellie schaute auf das leuchtende Display und dachte an die drei Vermissten. Eine ganze Stadt hatte nach ihr gesucht, als sie verschwunden war, erfuhr sie damals bei ihrer Rückkehr. In Woodbury suchte niemand mehr nach Bea, Shannon oder Mark. In wenigen Wochen würden ein neuer Name und eine neue Suche hinzukommen. Polizeibeamte und freiwillige Helfer würden sich im Wald wie Ameisen auf einem Picknick verteilen und ihn durchkämmen. Ellery biss sich auf die Lippe und tippte ihre Frage, ehe sie es sich anders überlegen würde. Würdest du dein Leben gegen das eines anderen tauschen?

Es dauerte eine ganze Weile, bis Brady antwortete. Kommt drauf an, wessen Leben das wäre.

Das Leben eines Fremden, erwiderte sie.

Eine erneute lange Stille. Vielleicht. Ich müsste darüber nachdenken.

Ellery dachte seit fast drei Jahren über so gut wie nichts anderes mehr nach.

Sie beendete ihren Chat mit Brady und rief Bump zurück ins Haus, der erst an seinem Wassernapf schlabberte und sich dann mit einem tiefen Hundeseufzer auf dem Holzboden niederließ. Ellie spazierte in ihr Arbeitszimmer, obwohl sie eigentlich selten Arbeit mit nach Hause nehmen musste. Die Bluetooth-Lautsprecher verbanden sich automatisch mit ihrem Handy, und die Musik spielte an der Stelle weiter, an der sie heute Morgen, mitten in dem Song ›West End Girls‹, das Haus verlassen hatte. Ellery mochte es, die Stille des Hauses mit Musik zu erfüllen, die Geräuschkulisse lenkte sie von ihren eigenen Gedanken ab. Sie hatte die Songs der 1980 er-Jahre während der Auslieferungsfahrten ihres Vaters lieben gelernt, zu denen sie ihn als Kind am Wochenende begleitet hatte. Ihr Vater war mittlerweile schon lange fort, aber Bruce Springsteen würde immer bleiben.

Die unterste Schublade ihres Schreibtischs war verschlossen. Dort bewahrte sie die wenigen Informationen auf, die sie zu den drei Vermisstenfällen hatte sammeln können. Dieses Mal ließ sie die Ordner jedoch unberührt und griff stattdessen nach einem Snoopy-Plastikfedermäppchen, das sie seit der dritten Klasse besaß. Die Snoopy-und-Woodstock-Aufkleber waren mittlerweile verblasst und an einer Ecke zerfleddert. Sie öffnete das Mäppchen und fand die bekannten Schätze vor: ein Foto von Daniel, ihr und Mom am Landungssteg des Lake Michigan, aufgenommen von ihrem Vater in dem Sommer, bevor er sie verließ; eine Schleife, die sie für den Gewinn des Buchstabierwettbewerbs in der fünften Klasse gewonnen hatte; Daniels Yoda-Armbanduhr und eine Visitenkarte des FBI.

Sie griff danach und las den Namen laut vor. Reed Markham. Der Mann, der ihn in dem Fernsehfilm verkörperte, hatte eine kräftige Kieferpartie und schwarzes Haar, das ihm in die Augen fiel. Sie wusste nicht, ob Markham noch immer für das FBI arbeitete. Oder ob er sich bereit erklären würde, ihr zu helfen. Sam hatte recht. Sie hatte so gut wie keinen Hinweis auf ein Verbrechen. Und sie besaß erst recht keinen Beweis dafür, dass es das Monster tatsächlich gab, das sie spürte und das wahrscheinlich gerade seinem neuen Opfer hinterherspionierte. Ihre Kollegen sahen sie in den Sommermonaten immer an, als sei sie diese Verrückte, die ständig von Mord faselte. Aber sie wussten nicht, wie es war, wenn man seinem eigenen Tod schon einmal in die Augen gesehen hatte. Diese Erfahrung hatten sie noch nicht gemacht. Sie hatten noch nie eingesperrt im Wandschrank eines Mörders gesessen und die Kratzspuren ertastet, die die Mädchen vor ihr im Holz hinterlassen hatten. Betroffen hatte sie sich gefühlt. Das war das Wort, das ihr einfiel, wenn sie, wie jetzt, daran dachte und sich in der Dunkelheit mit den Fingern über ihre Narben strich.

Das Wort brachte beide Zustände auf den Punkt, in denen sie sich damals befand. Sie war emotional betroffen, wenn sie an die Mädchen dachte, die er vor ihr umgebracht hatte, und sie war selbst unmittelbar betroffen. Nein, sie sah keine Gespenster! Sie irrte sich nicht, und wenn es jemanden gab, der ihr glauben würde, dann Reed Markham. Denn auch er war einmal betroffen gewesen.