Über das Buch

Was hat es für einen Sinn, ein Leben zu haben, wenn man nichts damit anfangen kann?

Eve, die letzte Frau der Menschheit, konnte mithilfe von Bram aus dem Turm, in dem sie seit ihrer Geburt gefangen war, fliehen. Und damit hat sie das System, das sie manipuliert, unterdrückt und instrumentalisiert hat, verlassen. – Aber auch die Mütter, die sie 16 Jahre geliebt und versorgt haben.

Für einen kurzen Moment ist die Freiheit greifbar. Doch die Welt, die Eve nicht kennt, ist ein gefährlicher Ort. Als sich das Netz der Verfolger immer enger um sie zuzieht, muss sich Eve fragen, ob sie nicht ein Gefängnis gegen ein anderes getauscht hat. Wieder will man sie für eigene Zwecke einspannen. Eve und Bram müssen sehr genau schauen, wem sie vertrauen. Und auf Eve lastet darüber hinaus die Verantwortung, die sie als letzte Frau für die Menschheit hat.

 

 

 

 

Für Buzz, Buddy und Max

1

MICHAEL

Eingeschränkter Dienst.

Kann man wohl sagen, verdammt noch mal. Eingeschränkt. Ich kriege kaum genug zu beißen für die Ratte, die hier mit mir wohnt. Eins muss man ihr lassen: Eigentlich ist dieser Turm uneinnehmbar – eine eiserne Festung –, aber sie hat es trotzdem neunhundert Stockwerke weit heraufgeschafft, und dann hat sie auch noch einen von ganz wenigen Menschen hier gefunden, der so etwas wie sie nicht auf der Stelle tötet.

Sie ist eigentlich ein Er, nehme ich an. Oder ist sie die Eve der Rattenpopulation, die man hier oben wegsperrt – zu ihrem eigenen »Schutz«?

Ich werfe ihr einen Brotkrümel hin. Ziemlich abgefahren, dass sie das pappige, künstliche Zeug überhaupt noch Brot nennen, das sie sich ausgedacht haben, nachdem der Weizen eingegangen war. Die Ratte schnuppert kurz daran, wendet sich aber gleich wieder ab und rührt es nicht an.

»Ich kann’s dir nicht verdenken«, sage ich und stopfe mir den Rest in den Mund. Ich spüle mit einem Schluck Wasser nach, aber irgendwie bleibt trotzdem was in der Speiseröhre stecken.

Nach dem, was ich getan habe, kann ich froh sein, dass ich überhaupt noch am Leben bin – ganz zu schweigen davon, dass ich hier im Turm bleiben und meinen Job behalten durfte. Wir sind die Finalgarde. Höchste Sicherheitsstufe. Wir haben nur einen Auftrag: Eve zu schützen. Ich habe dabei nicht nur versagt, ich habe sie zusätzlich in Gefahr gebracht, als ich sie in diesen Lift gebracht habe.

Wäre es anders gelaufen, hätte diese Explosion beim Schutzbereich nicht Ketch und das halbe Team erwischt, dann wäre ich … Nun, dann hätte der gute Ratty hier keinen Freund und Leidensgenossen mehr.

Nun ist es aber so, dass mich die Abteilung für den Fortbestand der Menschheit braucht. Sicherheitspersonal ist knapp, und die Lage ist ernster denn je. Die AFM würde das natürlich nie zugeben. Das passt nämlich nicht zu der Fassade, die sie vor Central aufrechterhalten wollen – dem kaum noch schlagenden Herzen dessen, was von dieser Welt noch übrig ist. Manchmal glaube ich, dieser Ort hier ist nichts als eine große Show, eine Illusion. Wahrscheinlich habe ich zu viel mitbekommen von dem, was hier wirklich läuft, und deshalb können sie mich jetzt nicht mehr laufen lassen.

Das Labor.

Das Blut.

Die Experimente.

Eve.

Ich balle die Fäuste und bohre die Fingernägel in die Handflächen, bis die Gelenke knacken. Blitzartig kommt mir ihr Gesicht in den Sinn. Es war das erste Mal, dass wir wirklich aufeinandertrafen – natürlich hatte ich sie schon unzählige Male gesehen, als einer ihrer Finalgardisten, Eves persönlicher Wachmannschaft, aber wir hatten bislang keinen Blickkontakt. Dass so was tabu ist, haben sie uns Gardisten vom ersten Tag an eingebläut.

Sie war starr vor Entsetzen, das ist mir jetzt klar. Eingesperrt im Lift, mit mir, wie in einer Gefängniszelle aus Metall.

Eingeschlossen mit einem Mann.

Was zum Teufel habe ich mir nur dabei gedacht?

»Was wirst du mit mir tun?«

Ich schüttele heftig den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Am meisten macht mir Angst, dass ich nicht weiß, was ich eigentlich vorhatte. Dass es keinen Plan gab. Ich wusste nur, dass ich sie aus diesem Raum schaffen musste, weg von diesem fanatischen Kandidaten. Mutter Nina hatte er schon ermordet – im Glauben, sie sei Eve. Ich musste sie in Sicherheit bringen.

Bevor ich’s mich versah, waren wir beide allein und …

Das Licht in meiner Stube flammt grell weiß auf und reißt mich aus meinen Gedanken. Das Heulen des Alarms schrillt durch die Betonkorridore und malträtiert meine Trommelfelle, bis ich auf den Beinen bin.

Ratty huscht davon, und die Tür fährt mit einem Zischen zur Seite.

»Turner!«, donnert Gardist Ryan von der Türschwelle, die Augen weit aufgerissen. »Finalgarde, wir werden sofort gebraucht.«

»Ich bin aber im eingeschränkten Dienst!«, brülle ich im ohrenbetäubenden Lärm der Sirenen.

»Nicht mehr.« Er weist auf meinen nackten Oberkörper, und ich folge seinem Blick hinunter auf meine Plakette – das kleine runde Implantat unter der Haut links auf meiner Brust. Der feine rote Schimmer, der die letzten Tage dort zu sehen gewesen war, ist nun einem frischen Blau gewichen. Ich bin also ohne weitere Erklärung wieder voll im aktiven Dienst.

Es muss etwas passiert sein.

Ich schnappe mir eine Weste, ziehe sie mir über den Kopf und folge Ryan hinaus auf den Gang, wo sich der Rest meiner Kollegen von der Finalgarde versammelt. Sie werfen mir neugierige Blicke zu, aber ich zucke nur mit den Achseln. Ich bin mindestens ebenso überrascht wie sie, dass ich hier bin, aber ich bin froh, wieder dazuzugehören.

Die Metallkugel öffnet sich. Wir treten ein und blicken Ryan an, unseren momentanen Kommandanten.

»Das ist ein Ernstfall. Wir müssen davon ausgehen, dass in den Turm eingedrungen wurde«, sagt Ryan und setzt sich einen mattschwarzen Helm auf den rasierten Schädel. Eves goldenes Emblem blitzt im Licht auf, als sich der Kinnriemen selbsttätig schließt und automatisch straff zieht. »Ich weiß, es ist nicht ideal, dass ich anstelle von Ketch hier bin, aber wir müssen jetzt zusammenarbeiten.«

»He, fahren wir etwa nach oben?«, platzt es aus mir heraus. »Wir sind auf der neunhundertsten Etage. Wo zum Teufel soll da jemand eingedrungen sein?«

SIE HABEN DIE KUPPEL ERREICHT, verkündet die Automatenstimme des Fahrstuhls nach wenigen Sekunden.

Wir blicken uns alle an.

Die Kuppel?

Eindringlinge in der Kuppel?

Das ist unmöglich.

Ryan hebt zur Bestätigung eine Augenbraue, schiebt sich rückwärts hinaus und geht in Richtung Pforte – der unsichtbaren Barriere zwischen Turm und Kuppel. Ich folge ihm und spüre am Vibrieren der Plakette in meiner Brust, wie die unsichtbare Energieschranke beim Passieren meine Zugangsberechtigung prüft und mich gegebenenfalls sofort lähmen würde. Vorübergehend natürlich, aber ich würde mich nicht einmal in die Nähe der Pforte wagen, wenn meine Marke noch rot leuchten würde. Selbst mein Rattenkamerad würde nicht durchkommen.

Mein Herz hüpft vor Freude darüber, dass ich wieder im Dienst bin. Kommandant Ryan streicht mit der Hand über ein Sensorfeld an der Wand. Mit einem Zischen öffnet sich eine verborgene Luke. Überall im Turm gibt es solche geheimen Waffenkammern. Nur der befehlhabende Offizier kennt ihre Position und hat Zugang dazu. Aus naheliegenden Gründen dürfen Waffen hier oben nicht in falsche Hände geraten.

In Sekunden sind wir bewaffnet und mit Schutzausrüstung versehen. Solche Szenarien haben wir hundertmal geprobt.

»Wachen!«, bellt Ryan.

»Bereit, Sir!«, antworten wir im Chor und reihen uns hinter ihm ein.

Ich übernehme die zweite Position hinter Ryan. Ohne den Vorfall im Lift wäre ich Erster, aber für derartige Spitzfindigkeiten ist jetzt nicht die Zeit.

Plötzlich blinken rote Leuchtstreifen entlang des Korridors auf, die uns zum Ort des Geschehens leiten sollen.

»Sie müssen den Eindringling lokalisiert haben«, sage ich, und wir alle beschleunigen unseren Schritt.

NOTFALL. IN DER KUPPEL IST DRINGEND UNTERSTÜTZUNG ERFORDERLICH, meldet eine Stimme, worauf wir losstürmen und den rot erleuchteten Gängen folgen. Alle anderen sind abgedunkelt.

»Das kann nicht stimmen«, hören wir Ryan über das Intercom in unseren Helmen murmeln.

Wir wissen alle, was er meint. Die Alarmbeleuchtung führt uns zum Gartenbereich.

Als sich die Türen entriegeln und zur Seite fahren, weicht die kalte Umgebung aus Beton und Stahl zurück, und wir betreten Eves Welt.

Das leise Klicken unserer Waffen verrät, dass sie sich automatisch in den nicht-tödlichen Modus umgeschaltet haben.

Eve kann nicht weit sein.

Wir blicken uns verstohlen an. Ich weiß, dass auch die Herzen der anderen jetzt heftig schlagen – allerdings nicht so heftig wie meines. Sie kennen Eve nicht so wie ich. Wissen nicht, wie sie aus der Nähe aussieht. Wie sie sich anfühlt. Wie sie …

»Zum Abgrund. Sofort«, befiehlt eine scharfe Stimme, die wir nicht oft zu hören bekommen: die von Miss Vivian Silva. Ich entdecke sie vor uns, ungeduldiger denn je.

»Jawohl, Miss Silva«, antwortet Ryan zackig und gibt uns Handzeichen, ihm zu folgen. Sie mustert uns eindringlich, während wir vorbeistürmen, und ich nehme bei ihr eine unterschwellige Angst wahr, die sie hinter ihren kantigen Zügen nicht verbergen kann.

Unsere Augen treffen sich für einen langen Moment.

Ich lese ihren Blick.

Das ist die Chance, mich zu rehabilitieren.

»Heilige Scheiße«, zischt mir Ryans Stimme ins Ohr. »Die Lage ist ernst.«

Ich sprinte zwischen den Bäumen hindurch, ohne auf die vom Aussterben bedrohte Pflanzenwelt zu achten, die meine Stiefel zertreten.

Die Wachen sammeln sich an der Tür zum Abgrund – Eves Lieblingsplatz in der Kuppel. Von hier kann sie auf die Welt hinabblicken und philosophieren – in seliger Unwissenheit, dass all das Schwindel ist. Die aufwendigsten und teuersten Gefängnismauern der Geschichte – und sie hat nicht die leiseste Ahnung von deren wahrer Natur.

Hier projizieren von der AFM oder, genauer gesagt, von Miss Silva kontrollierte RealiTV-Bildschirme rund um die Uhr an sieben Tagen der Woche eine alternative Weltsicht. Eve sieht die Welt so, wie Miss Silva es wünscht – endlose Sonnenuntergänge, gefühlt über Stunden in zärtlichem Kuss mit den Wolken vereint, bis sie schließlich in so klares Sternenlicht übergehen, dass man seinen Schatten auf der Betonkanzel sehen kann. Eine perfekte Illusion für eine Illusion der Perfektion. Und all das nur, um Eve Hoffnung zu schenken. Damit sie glaubt, die Welt wäre es wert, gerettet zu werden. Immerhin ist niemand sonst dazu imstande.

»Was zum Teufel macht sie da?«, raunt Ryan.

»Ich seh nichts. Macht mal Platz.« Ich zwänge mich zwischen den sechs Wachleuten hindurch, die sich an der Tür drängen und vergeblich versuchen, die gehackte Steuerung außer Kraft zu setzen, die sie geschlossen hält. Mein Gesicht ist praktisch schon gegen das Türglas gepresst, als ich die beiden sehe.

Eve und Holly, die holografische Projektion, die Eve ihre Freundin nennt.

»Was tun sie?«, frage ich.

»Ich weiß nicht, aber sie hat irgendetwas in der Hand«, bemerkt Ryan. »Ich dachte, Gegenstände wären am Abgrund nicht erlaubt.«

»So ist es«, fährt Miss Silva von hinten dazwischen. »Jetzt hört auf zu glotzen und seht, dass ihr diese Tür aufkriegt.«

»Ja, Ma’am. Gardist Turner, Gardist Finn.« Ryan tritt zur Seite, und wir machen uns ans Werk. Ich ziehe den kleinen Plasmaschneider von meinem Koppel und setze ihn an der Dichtung zwischen den Türscheiben an, aber sie ist so zäh, dass ich fürchte, dass es Stunden dauern wird, sie zu durchtrennen.

»Warum ist diese Tür überhaupt verschlossen?«, fragt Ryan, während Finn meinem Beispiel folgt und ebenfalls sein Trennwerkzeug ansetzt.

»Jemand hat das ganze System kompromittiert«, sagt Miss Silva, die ein paar Meter hinter uns steht.

»Kompromittiert? Aber wie?«, fragt Ryan. »Ich dachte, dieser Ort wäre von außen undurchdringlich, physikalisch wie digital.«

»Das stimmt. Das hier wurde von innen durchgeführt«, bemerkt Miss Silva kühl, ohne Eve aus den Augen zu lassen.

»Sir …«, sagt Finn. Er hat seine Bemühungen an der Türdichtung aufgegeben und zeigt hinaus auf den Abgrund.

Wir schauen alle hin. Wir sehen es alle.

»Nein …«, haucht Miss Silva.

Eve holt mit dem Arm aus, und kurz sehe ich einen kleinen bunten Würfel in ihrer Hand, bevor sie ihn hoch über die Brüstung hinweg in die Luft schleudert.

Es herrscht Stille. Völlige Stille, während wir sehen, wie sich der Würfel dreht und ruhig seine Bahn zieht, bevor er aus unserem Blickfeld verschwindet. Aber wir wissen alle, was Eve als Nächstes sieht. Der kleine Würfel wird auf einem Stückchen Himmel liegen bleiben wie von einer unsichtbaren Kraft festgehalten.

Sie dreht sich um und schaut ihre virtuelle Gefährtin an – mit aufgerissenen Augen, als hätte man sie unvermittelt aus einem Traum gerissen. Oder aus einem Albtraum.

Das Spiel ist aus.

Eve weiß Bescheid.

»Zerbrechen Sie die Scheibe!«, befiehlt Miss Silva, und wir treten alle in Aktion. Ich lasse mit dem nutzlosen Messer von der gummiartigen Dichtung ab, hole mit der Waffe aus und ramme den Kolben gegen die massive Glastür.

Eve wirft einen Blick in unsere Richtung, und mir bleibt das Herz fast stehen. Ich spüre, wie ich vor Scham rot werde bei dem Gedanken, dass sie mich in diesem Wolfsrudel erkennt, das auf sie Jagd macht.

»Turner!«, brüllt Ryan, und mir wird klar, dass ich saumselig hinausstarre. »Weg da!«

Ich höre das hohe Sirren, mit dem sich ein Sprengzünder auflädt, und meine Augen finden instinktiv die Quelle – zwei an den Türen angebrachte Hohlladungen.

Ich springe in Deckung und spüre die Druckwelle, die mir den Atem nimmt und die Tür in Stücke reißt. Durch die Glassplitter, die vom künstlichen Himmel herabregnen, sehe ich, wie Eve hinunterspringt.

Und dann bricht Chaos aus.

Stiefel zermalmen knirschend das geborstene Glas, als die Finalgarde mit gezogenen Waffen auf die Plattform hinausstürmt. Ich erreiche den Rand als Erster und sehe, wie sich Hollys flackernde Projektion gegen einen unsichtbaren Gegner zur Wehr setzt. Offenbar hat man ihren Piloten gefunden.

Ich steige übers Geländer, das sich rings um die kreisförmige Aussichtsplattform herumzieht, und starre hinunter auf die Wolken. Ryan taucht neben mir auf, und wir holen beide tief Luft, bevor wir springen. Mir dreht es den Magen um, während wir fallen. Der Anblick wirkt täuschend echt, obwohl ich weiß, dass alles nur Illusion ist.

Krachend prallen wir auf den Bildschirmen auf, die einen Himmel vorspiegeln; sie flackern, und die Bilder erstarren. Es ist nicht vorgesehen, dass sie betreten werden, schon gar nicht von einer trampelnden Horde adrenalinbefeuerter Wachsoldaten. Ryan kommt als Erster auf die Füße und jagt Eve hinterher, während Franklin neben mir auf die Paneele herunterkracht. Es fallen Schüsse.

»Ich brauche Verstärkung«, knarzt Ryans Stimme in meiner Hörmuschel. Ich suche den Horizont ab und entdecke sie – Eve, dicht gefolgt von … Eve?

Da sind jetzt zwei von ihr. Die Männer teilen sich auf und verfolgen beide.

»Das sind beides Projektionen!«, kreischt Miss Silva von der Aussichtsplattform herunter.

Ich rappele mich hoch.

Ich muss etwas unternehmen.

Ich muss mich bewähren.

Ich ziehe meine Waffe. Der Lauf schimmert in sanftem Grün. Eve, die echte Eve, ist noch ganz in der Nähe – so nah, dass ich die Waffe nicht benutzen kann.

»Ich habe sie! Ich hab’s geschafft!«, hallt die Stimme von Ryan in meinem Helm.

Ich klappe schnell das Visier herunter.

»Gardist Ryan lokalisieren«, befehle ich. Auf dem Schirm wird seine Gestalt sofort markiert. Er ist etwa dreißig Meter von mir entfernt und hält Eves Fußgelenk gepackt, aber sie versetzt ihm einen Tritt mitten ins Gesicht, und er lässt los.

Der Idiot. Genau deshalb hätte er besser nicht das Kommando erhalten sollen.

So bekomme allerdings ich eine Chance. Die anderen laufen den falschen Eves hinterher, aber ich habe die echte direkt vor mir.

Sie steigt aufwärts. Ich sprinte hinterher.

Auf dem Weg über den Himmel spüre ich den Blick von Miss Silva im Rücken. Ich blicke mich rasch um, aber sie ist nicht mehr auf der Plattform. Als ich den Kopf wieder herumreiße, ist Eve verschwunden.

»Dort oben!«, gellt Miss Silva. Sie steht inzwischen mit uns auf dem falschen Himmel. Verdammt, ist sie schnell!

Sie zeigt auf eine dunkle Öffnung, wo ein Himmelspaneel eingedrückt ist.

Ich erreiche es von der Garde als Erster, und Miss Silva tritt beiseite, um mich durchzulassen. Es ist dunkel, vor mir ist eine Leiter. Oben auf den Metallsprossen höre ich Eves Schritte hallen.

Ich steige hinterher, als – WUMM!

Der Druckstoß in meinem Kopf kommt so unvermittelt, dass ich den Halt verliere und auf Matthews herunterkrache.

Von hinten braust kalte Luft heran, die gemeinsam mit Eve aus der Kuppel entwischen möchte. Sie hat die Luke gefunden.

Ich gähne, um den Druck in meinen Ohren auszugleichen. Meine Trommelfelle pochen, aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Ich stürme die Leiter hinauf, aber als ich ihr Ende erreiche, ist Eve fort.

Mein Helm registriert den veränderten Sauerstoffgehalt, als ich aus der Kuppel in die kalte Realität hinaustrete. Die Wolken, die mich hier in bedrohlicher Regungslosigkeit umgeben, blicken auf uns herab wie in Erwartung einer blutigen Schlacht. Ein schmaler Metallsteg zieht sich um die Kuppel herum. Mein Visier fährt automatisch weiter aus und schließt am Kinnriemen nun dicht ab. Der Innendruck normalisiert sich, und Sauerstoff wird eingespeist.

Normal atmen, weist die Automatenstimme an.

»Eve lokalisieren«, befehle ich. Sofort zeigen durchsichtige Pfeile an, in welche Richtung ich den Kopf drehen muss.

Dort ist sie, ein Stück weiter vorn auf dem Steg, und sie ist nicht allein.

Mein Herz setzt einen Schlag aus.

Dort ist er.

Der Sohn von Dr. Wells. Der Pilot, zu dem sie eine Beziehung hatte. Bram.

Aber wie kann er wieder hier sein? Er hat schon einmal das Unmögliche geschafft und ist von hier entkommen. Aber wieder hereinzukommen? Das ist eine ganz andere Sache.

Ich laufe ihnen über die scheppernden Gitterroste nach. Die Tiefe unter mir übersteigt jedes Fassungsvermögen, also kümmere ich mich erst gar nicht darum.

»Bram Wells anvisieren.« Mein Visier markiert ihn.

Ich hebe die Waffe; ihre Hauptfunktion ist noch gesperrt, weil ich so nah bei Eve bin. Ich ziele auf den leuchtenden Umriss von Bram in meinem Display und drücke den Abzug.

Ein nichttödlicher Energiepuls schießt in seine Richtung, verfehlt ihn aber.

»Drohnen sind unterwegs«, meldet Ryan in meinem Ohr, und ich sehe, wie er sich vom anderen Ende des Stegs nähert und Eve und Bram den Weg abschneidet. »Jetzt können sie nicht mehr entkommen.«

Er wird von der Stimme von Miss Silva unterbrochen, die so gewaltig dröhnt, dass alle abrupt stehen bleiben.

Mit meinem rasenden Puls und keuchenden Atem kann ich sie kaum hören, verstehe aber zumindest das Ende.

»Dies ist dein Zuhause, Eve. Deine Welt. Nur deine. Ein perfekter Ort.«

Eve sieht in meine Richtung. Meine Waffe ist auf die beiden gerichtet.

»Runter mit den Waffen!«, befiehlt Miss Silva.

Die ganze Finalgarde geht aus dem Anschlag.

Und mit einem Mal weiß ich, was als Nächstes geschehen wird. Wie eine Vorahnung blitzt es vor mir auf.

Dann werde ich in die Gegenwart zurückgerissen und sehe es tatsächlich so ablaufen.

Die gelbe Kassette, der Bram einen Rettungshandschuh entnimmt, wirkt nun wie eigens für ihn dort bereitgestellt. Er legt den Sicherungsgurt um Eve, und gemeinsam steigen sie über das Geländer, zunächst noch von Vivian Silvas und dann von Dr. Wells’ Stimme beschallt.

»Was sollen wir tun, Turner?«, flüstert mir Ryan in meine Ohrmuschel, denn er erkennt, dass er nicht zum Kommandanten taugt, aber es ist schon zu spät.

Wir haben sie schon verloren.

»Zusehen, sonst nichts«, antworte ich.

Sie küssen sich.

Sie lächeln.

Sie springen.

Sie fallen in Richtung der zerrissenen Wolkendecke, und zurück bleibt eine seltsame Stille – als hätte es der ganzen Welt in diesem Moment den Atem verschlagen.

Immer wieder läuft dieser Augenblick vor meinem inneren Auge ab, wie die Aufnahme in einer Endlosschleife.

Ihr Mund an seinen gepresst.

Ihr Mund an seinen gepresst.

Ihr Mund an seinen …

Ich schüttle den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Vor meinen Augen ist gerade der wichtigste Mensch der Geschichte vom höchsten Gebäude der Welt gesprungen, und mir geht nichts im Kopf herum als dieser Kuss.

Ich sehe meine Kameraden von Eves Wachmannschaft an. Ihre Blicke sind nun auf mich gerichtet, und ich spüre, wie mich das Gewicht der Verantwortung niederdrückt, das diese Uniform mit sich bringt – als würde sie von mir verlangen, den beiden zu folgen, übers Geländer und durch die Wolken.

Ich weiß, was ich zu tun habe, wozu ich ausgebildet bin … was ich tun will.

Ich werde Eve zurückholen.

2

EVE

Ich stürze mit ihm durch die Luft. Fort von der Welt, die sie für mich gebaut haben. Fort von ihrem Gefängnis und ihren Lügen. Fort von ihren Spielen und ihrer Manipulation.

Manches durchschaute ich natürlich, aber wie hätte ich das ganze Ausmaß der Täuschung erfassen können? Die Dichte des Schleiers, den Vivian Silva mir mein ganzes Leben vorgehalten hat?

Ich weiß, Holly war ein Kunstwerk, erschaffen als Freundin für mich, damit sie verstehen könnten, wie mein Verstand funktioniert. Ich wusste wohl, dass sie nicht wirklich war, nicht im üblichen Sinn, und doch war ich froh, dass ich sie hatte.

Ihn.

Bram.

Meine Dankbarkeit war aber leider mein Verderben. Sie verhinderte, dass ich meine Freundin als Warnung begreifen konnte. Anstatt mich darüber zu freuen, jemanden zum Reden zu haben, hätte ich erkennen müssen, was Holly wirklich war – eine Demonstration, wozu sie fähig sind. Ich hätte durchschauen müssen, dass jeder Sonnenauf- und jeder Sonnenuntergang, dass praktisch alles Schöne, das mir je etwas bedeutet hatte, ein Fantasiegebilde war, mit dessen Hilfe sie mich in ihrem hübschen Käfig eingesperrt halten konnten, damit ich alles tat, was sie von mir verlangten.

Bis jetzt war mein Leben eine einzige Lüge.

Das ist schwer zu akzeptieren. War denn alles daran verlogen? Die Mütter, die alten Frauen, die mich aufgezogen haben, mich Tag für Tag unterrichtet und angekleidet haben, haben sie mich so geliebt, wie sie behaupteten? Waren sie auch Teil dieser Geschichte? Oder waren die Gründe für ihre Anwesenheit dort so lauter, wie ich glaubte?

Mir kommt das rundliche Gesicht von Mutter Nina in den Sinn, einer Seele von einem Menschen, die ihr Leben für mich gab, und ich bin überzeugt, dass es die Mütter ehrlich meinten. Den Zweifel an ihnen kann ich nicht ertragen.

Beim Gedanken an sie dort oben im Turm meldet sich mein Gewissen, und ich frage mich, was nun aus ihnen wird. Mehr als ein Jahrzehnt ihres Lebens haben sie mir gewidmet, und ich laufe davon.

Ist das denn so? Fliehe ich? Oder jage ich der Wahrheit nach?

War es richtig, Brams Hand zu ergreifen und zu springen?

Immerhin sind wir jetzt erst zum zweiten Mal zusammengetroffen, und doch kenne ich ihn – durch sie – schon fast mein ganzes Leben.

Aber kenne ich ihn wirklich?

Jetzt ist keine Zeit für solche Fragen.

Bram drückt mich noch fester an sich. Erst da wird mir klar, dass ich die Augen geschlossen halte seit dem Augenblick, als ich den Schritt gemacht habe, von dem, was war, zu dem, was mich unten erwartet. Ich presse das Gesicht in Brams Halsbeuge, die Arme um seine Taille und seine breiten Schultern geschlungen. Meine Beine, in seine verhakt, zittern.

Der Wind pfeift so beängstigend an uns vorbei, dass ich nicht wage, mich zu bewegen. Mit einer Willensanstrengung öffne ich die Augen. Das Ungeheuer von einem Gebäude, das einmal meine Heimat war, jagt immer noch an uns vorbei. Sein Anblick ist mir seltsam fremd. Ich war nie außerhalb seiner Mauern. Jetzt ist es allerdings unmöglich, es in seiner Gänze zu erfassen. Dazu ist alles zu verschwommen.

Wir stürzen durch immer neue Gewitterwolken, die das, was zu unseren Füßen liegt, verbergen und uns mit eisigen Tropfen bearbeiten. Ich bin bis auf die Haut durchnässt.

Die Welt ist laut, und der Wind braust wie Donner um uns. Es blitzt weiß und rot, das Licht tanzt. Noch nie habe ich so etwas erlebt. Es ist geheimnisvoll und erschreckend zugleich.

Wir stürzen noch tiefer und lassen die Wolken hinter uns. Und dann sehe ich sie.

Die Welt unter uns.

Der Boden, auf den wir uns zubewegen, scheint lebendig zu sein. Er wallt, bäumt sich auf, hebt und senkt sich. Erst als ich die Stimmen höre, das Rufen, das Schreien, die Sprechchöre, da begreife ich, dass es nicht der Erdboden ist, den ich sehe, sondern Menschen. Die anderen, die Öffentlichkeit – die Menschen, deren Retterin ich sein sollte. Die Menschen, die meine Geburt bejubelt haben. Die Menschen, von denen man mir gesagt hat, sie würden mir etwas antun, wenn ich sie enttäusche. Vivian wollte, dass ich das glaube. Jetzt, während ich auf die Menge zurase, bleibt mir nur, daran zu glauben, dass sie unrecht hatte.

Ich habe keine Ahnung, warum sie alle hier sind. Alle Blicke richten sich auf etwas, das der Eingang zum Turm sein muss – ein klobiges, abweisendes Metallgebilde.

Bram schnellt herum, und ich fasse ihn noch fester. Ich wende den Kopf und sehe ein schwarzes Objekt, das neben uns herfliegt und einen roten Lichtstrahl auf Brams Gesicht richtet. Er versucht sich wegzudrehen, uns beide abzuschirmen, aber es gelingt ihm nicht. Mit einer Hand hält er dieses Gerät, was immer es ist, das unseren Sinkflug ermöglicht, mit der anderen hält er mich fest. Ihr technisches Gerät umkreist uns. Es folgt Bram, wo immer er sich hinwendet. Ich weiß nicht, ob es uns beschießen, verfolgen oder beschützen soll, aber Letzteres wohl nicht, so wie sich Bram verhält.

Im rasenden Fahrtwind ziehe ich ein Bein an, dann schwinge ich es gegen den Luftwiderstand mit aller Kraft im Halbkreis. Der Tritt gelingt nicht schlecht, Glas splittert und Metallteile lösen sich. Das Objekt trudelt wie benommen.

»Ja!«, schreie ich zu Brams Überraschung und bin dankbar, dass all das Karatetraining, das sie mir verordnet haben, zu etwas nütze ist. Dass es zu ihrem Nachteil ist – diese feine Ironie bleibt mir nicht verborgen.

Ich versuche einen weiteren Tritt. Dieser trifft leider nicht ganz so sauber, denn mein Hosensaum verfängt sich in den wirbelnden Flugpropellern. Der Apparat trudelt nun nicht mehr, denn er hängt an meiner Kleidung fest.

Ich schüttle wie wild mein Bein in der Hoffnung, das Ding loszuwerden, aber es rührt sich nicht. Stattdessen beginnt es, an meiner Hose zu zerren. Das kleine Gerät entwickelt dabei eine überraschende Kraft, sodass ich Mühe habe, mich an Bram festzuhalten.

Ich schreie seinen Namen.

Wieder ein Ruck an meinem Bein. Wir werden in Richtung des Turmes gezogen. Mein Kopf saust an der metallischen Oberfläche vorbei.

Noch ein Ruck.

Und noch einer.

Wir werden herumgewirbelt wie die Schlenkerpuppen, mit denen wir als Kinder gespielt haben.

Mit dem nächsten Ruck werde ich von Bram weggerissen. Wir fassen panisch nach der Hand des anderen. Unsere Blicke finden sich, und ich sehe mein Entsetzen gespiegelt in seinem Blick.

Ich falle.

Aber ich stürze nicht zu Tode. Der Sicherungsgurt hält mich, und ich baumle unter Bram.

Ich bekomme sein Hosenbein zu fassen und schlinge die Arme darum. Ich atme durch und versuche logisch zu denken. Wenn ich das Ding komplett abschüttle, besteht die Gefahr, dass es wieder direkt in uns hineinfliegt, selbst wenn es so eingerichtet ist, dass es mir keinen Schaden zufügt wie die Waffen, die Ketch und die Garde führen.

Ich hebe die Beine noch einmal an. Mit dem anderen Fuß trete ich zu – gerade fest genug, um das Ding zu beschädigen, aber nicht so fest, dass es freikommt – und bearbeite die noch funktionierenden Propeller. Schließlich gehen die Lichter aus, und der Apparat schlägt gegen mein Bein. Dort kann er bleiben, denn mehr als ein paar blaue Flecke kann er mir nicht mehr beibringen.

Bram streckt mir die Hand hin und zieht mich wieder hoch, sodass ich wieder in seinen Armen bin. Mein Herz pocht, während ich ihn an mich drücke, die Arme um seinen Hals, das Gesicht in seinem kurzen braunen Haar vergraben. Mir kommt es vor, als würden wir uns schon seit Stunden so umarmen. Die Welt verlangsamt sich, verblasst und kapselt uns beide ein.

Und doch fallen wir immer noch.

Bram zieht den Kopf zurück und sieht mich mit seinen dunkelbraunen Augen eindringlich, ja fast panisch an. Er ruft mir Anweisungen zu, aber ich kann sie nicht verstehen. Wir sind dem Boden nun näher, und die Geräusche von unten werden immer lauter. Ich glaube, er sagt, wir müssen schnell sein, wenn wir landen, aber vielleicht meint er auch, ich solle keine Angst haben – ich bin mir nicht sicher.

»Ich kann dich nicht verstehen!«, rufe ich. Zwischen all dem Geschrei, den Explosionen und Sirenen höre ich nicht einmal meine eigene Stimme.

Er versucht es noch einmal. Er ist besorgt.

»Ich weiß, dass ich bei dir in Sicherheit bin!«, brülle ich ihm ins Ohr in der Hoffnung, dass er mich hören kann.

Ich ziehe den Kopf zurück und sehe, dass er die Stirn runzelt und die Lippen auf eine Weise aufeinanderpresst, die mir gut vertraut ist.

Unwillkürlich muss ich lächeln. Bram. Mein Bram. So wie sie früher meine Holly war. Er mag jetzt anders aussehen, aber in ihrem Wesen war so viel von ihm.

Ich weiß noch, wie ich sie zum ersten Mal sah, meine Begeisterung, dass jemand in meinem Alter in der Kuppel durch den Garten rannte. Und ich kann mich daran erinnern, als ich ihn kennenlernte – als er den bedauernswerten Gardisten Michael von mir wegriss und k. o. schlug.

Ich sah ihn und wusste sofort, dass er sie war. Sofort.

Ich bin so sehr in meine Gedanken versunken, dass ich erschrocken feststelle, dass wir nur noch Sekunden vom Boden entfernt sind.

Unversehens treffen wir in der Menge auf. Mir stockt der Atem, und es wird dunkel, weil etwas Schweres über mich geworfen wird.

Jemand packt mich. Brams Hände werden weggezogen.

Ich höre laute Stimmen, nur seine höre ich nicht.

»Bram!«, schreie ich und strecke die andere Hand nach ihm aus.

Vergeblich. Seine Hand entgleitet. Ich werde weggerissen.

Ich trete um mich und schreie, aber es hilft nichts. Es sind zu viele.

»Bram!«, kreische ich.

Ich habe ihn verloren.

3

BRAM

Eve!

Wir prallen hart in der Menschenmenge auf und werden sofort von irgendwelchen Händen auseinandergerissen. Der um uns geschlungene Sicherungsgut löst sich, und wir fallen durch die wogende Masse der Körper auf die kalte, nasse Erde.

Alles in mir drängt mich, sie zu rufen, mit aller Kraft festzuhalten und niemals wieder loszulassen, aber ich weiß, dass das nicht geht. Ich darf keine Aufmerksamkeit auf uns lenken.

Noch nicht.

Ich muss mich an den Plan halten.

Ich lasse zu, dass mich die stampfende Masse verschluckt.

Als uns die wartende Menge durch die Wolkendecke brechen sah, brauste uns das einmütige Ächzen Tausender Menschen wie ein Sturm entgegen. Wir hatten es geschafft – das Unmögliche. Dort war sie, fiel vom Himmel wie ein Engel, der herabstieg, um ihre Gebete zu erhören.

Nun sind wir gelandet; die wahre Herausforderung beginnt erst jetzt.

»Wo ist sie?«, hört man viele Stimmen rufen.

»Ich habe sie gesehen!«

»Es war Eve!«

»Ich will etwas sehen!«

»Ist sie am Leben?«

Die Menge wogt, während ich den Rettungshandschuh ablege, das Gerät, das unseren Fall gebremst hat, und schüttele die Hand aus, um wieder Gefühl darin zu bekommen. Eve ist jetzt irgendwo in der Menge, und ich bin bedeutungslos, ein Niemand. Für die Leute hätte sie genauso gut allein aus den Wolken fallen können.

Da sich niemand um mich schert, überfliege ich die Gesichter, die mich umgeben, und suche nach ihr. Sie muss hier sein. Dieser Teil muss einfach geklappt haben.

Wir sind dort, wo sich die Masse am dichtesten drängt, zwischen zwei Wolkenkratzern, die sich neben dem kolossalen Turm in die Höhe recken – gesichtslosen Betonkästen mit der Aufschrift WELLS INNOVATIONEN in fetten Metallbuchstaben. Eleganz oder Design: Fehlanzeige. Reine Zweckbauten. So ist mein Vater, durch und durch.

Hier ist die richtige Stelle. Auf der Nordseite des Turms. So hatte ich es in meine Anweisungen für die Libertisten geschrieben – also, wo sind sie nun?

Da springt mir etwas ins Auge.

In der brodelnden Menge blitzt ein vertrautes Gesicht auf.

Helena.

Sie erwidert meinen Blick und nickt. Ihr faltiges Gesicht wirkt ängstlich, aber darunter liegt eine unerschütterliche Kraft. Ich wusste, dass sie es schaffen würde.

Sie verschwindet, und statt ihrer sehe ich eine massige Gestalt, die auf mich zuprescht, indem sie mit baumstammdicken Armen durch die Masse pflügt.

Mops.

Es nähern sich noch mehr Leute, die mir zunicken, weitere Libertisten. Sie sind alle hier, alle Verbliebenen.

Für Eve.

Mops langt bei mir an, dreht mir den Rücken zu und schafft mir ein bisschen Raum, damit ich mich für das sammeln kann, was als Nächstes passieren wird.

»Bist du dafür bereit?«, fragt er über die dröhnenden Stimmen hinweg. »Sie müssen jede Sekunde hier sein.«

In diesem Augenblick stürzen sich Hunderte schwarzer Kampfdrohnen wie jene, die mich und Eve verfolgt hat, aus den Wolken.

Sie bleiben mit sonorem, bedrohlichem Summen über uns in der Schwebe.

»Achtung, Bürger von Central!« Vivian Silvas Stimme durchschneidet die Luft, und ihr kantiges Gesicht erscheint auf allen Gebäudefassaden der Umgebung. »Es ist zu einem katastrophalen Sicherheitsverstoß gekommen. Eve, eure kostbare Retterin, befindet sich unter euch, und ihr Leben ist in ernsthafter Gefahr.«

Scheiße.

Aus der Menge dringen aufgeregte Rufe und entsetzte Schreie.

»Unserer letzten Hoffnung für die Rettung der Menschheit darf kein Leid geschehen. Es darf ihr nichts zustoßen. Sie darf keinesfalls entkommen …« Vivian hält inne und verbessert sich: »… darf uns keinesfalls genommen werden. Bleibt ruhig, während wir den Bereich abscannen. Meldet euch sofort, wenn ihr wisst, wo sich Eve aufhält.«

Unvermittelt spüre ich eine Helligkeit im Gesicht, als würde im Dunkeln ein Suchscheinwerfer auf mich gerichtet. Es dauert einen Moment, bis sich meine Pupillen darauf eingestellt haben. Dann sehe ich, dass die gesamte Menschenmenge ausgeleuchtet wird, denn nun flutet von den Drohnen überall grelles weißes Licht herab.

Ich atme durch. »Das war’s wohl«, flüstere ich Mops zu.

»Wirklich?«, fragt er, ohne mich anzusehen.

»… Nein«, antworte ich offen.

»Dann sehen wir uns wohl in der Tiefe wieder«, sagt er und dreht sich zu mir um.

Er schiebt die Umstehenden so beiseite, dass ich deutlich zu sehen bin – genau wie das Mädchen, das nun neben mir steht.

Eve.

»HIER IST SIE!«, brüllt Mops aus voller Kehle.

Stille.

Keine Rufe.

Keine Schreie.

Nichts als völlige, fassungslose Stille.

Die Leute wenden die Köpfe, bis die ganze Menschenmenge auf uns blickt. Alle nehmen ihren Anblick in sich auf. Ihre Schönheit. Das hier ist kein RealiTV-Bildschirm. Das ist ihre Eve, die mitten unter ihnen steht.

Wir sind im Auge des Sturms und müssen mitten hindurch, wenn wir ihm entkommen wollen.

Langsam hebe ich den Arm und biete Eve meine Hand, ohne die schwebenden Drohnen aus den Augen zu lassen. Sie ergreift sie. Bei der Berührung kribbelt meine Handfläche, als würde Strom durch meine Adern pulsieren und mich für die Flucht mit Energie laden. Mir Stärke verleihen.

»Eve, lauf!«, rufe ich.

In derselben Sekunde, in der wir losspringen, stoßen die Drohnen herab, und Chaos bricht im Getümmel aus. Mops prescht voraus, boxt uns den Weg frei und hievt überdrehte Schaulustige aus dem Weg.

»Schritt halten!«, brüllt er, und wir versuchen nach Kräften, ihm trotz der uns bedrängenden Menge auf den Fersen zu bleiben.

»Lass sie los!«, verlangt jemand rechts von mir, ein Zivilist mit einem quer über sein Sweatshirt aufgeklebten Bild von Eve. Ich merke, wie er mich mit den Armen packt, an mir zerrt und versucht, mich von Eve zu trennen. Mein Kniestoß trifft ihn satt in die Rippen. Man hört etwas knacken, er taumelt nach hinten, und wir stürmen weiter hinter Mops her.

»Sie kommen! Zwei Abfangjäger«, ruft er und deutet mit dem Daumen nach hinten Richtung AFM-Turm.

Ich werfe einen Blick zurück und sehe zwei schwarze Luftfahrzeuge über dem Pandämonium auftauchen.

»Ich sehe sie!«, rufe ich. Die gepanzerten Hovercrafts der AFM kommen viel schneller voran als die Wasserfahrzeuge von Central. Zur Kontrolle von Menschenmengen sind sie ausgezeichnet geeignet. Für Flüchtende ist das nicht so toll.

Am Boden ertönt eine Explosion, und eine Stichflamme steigt in die Höhe und zieht eine Rauchfahne durch die Luft. Die Lenkrakete der Libertisten verfehlt den Abfangjäger, trifft aber eine Drohne. Glühende Splitter regnen auf die Menge herab, die von einer Panikwelle erfasst wird.

»Zeit für Phase zwei!«, rufe ich Mops zu, der sofort die Richtung wechselt.

Ich sehe zu Eve hinüber, die neben mir voranstürmt. Ihr Gesicht strahlt Entschlossenheit aus. Die Menschen um uns herum weichen zurück, als wäre ein unsichtbares Kraftfeld am Werk. Eves Energie ist ansteckend, und ich nutze sie, um mir ein paar Schritte vor ihr den Weg durch die andrängenden Verehrer zu bahnen.

»Fast geschafft!«, ruft Mops von vorn. »Ab hier seid ihr auf euch gestellt.«

Weiter vorn wird die Menge etwas lichter. Wir erreichen ihren Rand, müssen aber abrupt stehen bleiben.

Ich verliere fast den Halt. Am Rand des Fußwegs gibt es kein Geländer – wo der Beton endet, beginnt das Wasser.

»Hier drüben!«, ruft Mops und zieht die schwarze Persenning von einem schnittigen Wasserfahrzeug.

»Schicker Kahn«, bemerke ich.

»Das ist kein Kahn, sondern ein Tragflügelboot. Den Renner haben wir uns extra aufgehoben. Jetzt macht, dass ihr reinkommt!«, drängt er und reicht mir einen kleinen Ohrhörer.

Die Menschen um uns herum rennen panisch auseinander, als sich die Abfangjäger nähern. Niemand wagt es, der AFM die Stirn zu bieten.

RUHE BEWAHREN. SIE WERDEN JETZT FESTGEHALTEN, kündigt die Automatenstimme von oben an, während der Abfangjäger heranschwebt. Seine Strahlen lähmen jeden, den sie treffen, vorübergehend, während er die erstarrte Menge nach uns absucht.

»Los jetzt!«, befiehlt Mops und schiebt mich zum Bug des Boots. Eve springt auf den Sitz hinter mir und schlingt die Arme um mich.

Ich drehe am Gasgriff, der Motor heult auf und katapultiert uns schneller als erwartet durch den schmalen Kanal.

»Jesus!«, schreie ich auf, während das Wasser hinter uns aufspritzt.

Wir sind schnell, aber alles andere als unsichtbar. Vom Abfangjäger aus sieht man uns. Er wendet hart, entlässt die Menschenmenge aus der Blockade und beschleunigt in unsere Richtung.

Die Jagd beginnt.

Wir brausen mit unglaublicher Geschwindigkeit voran, der Rumpf des Gefährts hebt sich aus dem Wasser, und es ist fast, als würden wir fliegen. Je schneller wir fahren, desto höher hebt es uns heraus.

Verstohlen blicke ich mich zu Eve um, die entschlossen auf die Wasserfläche vor uns blickt.

»Bram, kannst du mich hören?«, knarzt es aus dem Ohrhörer.

»Ja, ich höre! Saunders, bist du das?«, brülle ich in den Fahrtwind.

»Ja, ich werde euch da rauslotsen. Folgt einfach meinen Anweisungen.«

Unsere Jagd über die dicht am Turm gelegenen Entlastungskanäle wird von den höher gelegenen Stegen aus von Tausenden verfolgt.

»Pass auf, Bram, diese Hochwasserkanäle sind eigentlich nicht für Rennen gedacht. Die stecken voller Hindernisse«, sagt Saunders, als die Bootswand auch schon an etwas vorbeischrammt.

»Ach was, echt?«

Rechts taucht eine Drohne auf und erfasst mich mit ihrem Ziel-Laser. In zwei Sekunden werde ich betäubt sein.

Ich reiße das Boot in eine Linkskurve von fast neunzig Grad, und das Salzwasser klatscht in einer hohen Welle auf das betonierte Ufer. Auch die Drohne wird verschluckt und stürzt ab.

»Eine Sorge weniger!«, jubelt Saunders. »Um die anderen werden wir uns kümmern. Halt du nur das Ding auf Kurs.«

»Und die Abfangjäger?«, frage ich. »Wo sind die?«

»Einer muss irgendwo in den Wolken stecken, der andere holt auf«, antwortet er.

Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe die roten Positionslichter des Abfangjägers blinken. Er ist uns dicht auf den Fersen.

»Gleich geht’s links ab«, sagt mir Saunders ins Ohr. »Da müsst ihr abbiegen. Das führt zu einem Tunnel.«

»Der führt direkt nach Central, oder?«, frage ich.

»Richtig, aber es ist ziemlich eng.«

»Wie eng?«

Ich bekomme keine Antwort.

Ich sehe die Verzweigung heranrasen und ziehe das Tragflügelboot bei Vollgas herum. Für Vorsicht ist keine Zeit.

Der Abfangjäger wendet früher, schneidet ein Stück Weg ab und fliegt nun neben uns her. In der Kanzel am Steuer sitzt einer von der Finalgarde. Er gibt mir Zeichen anzuhalten.

Idiot.

Er reißt das Gefährt in unsere Richtung herum und versucht uns an die Kaimauer zu quetschen. Ich steige in die Bremse, wir werden zum ersten Mal wieder langsamer und sinken zurück ins Wasser.

»Nicht bremsen!«, kreischt Saunders. »Sie sitzen euch im Nacken!«

Ich spüre die Drohnen in meinem Rücken und drehe den Gashebel wieder voll auf. Wir beschleunigen abrupt und können unter dem Abfangjäger hindurchschlüpfen.

Nun schlage ich mit dem Tragflügelboot Haken nach rechts und links, um ihnen kein leichtes Ziel zu bieten. Tödliche Schüsse werden sie nicht abfeuern, solange Eve hinter mir sitzt, aber ihr Arsenal bietet genügend Waffen, um uns außer Gefecht zu setzen, ohne sie in Gefahr zu bringen.

Ein Energieblitz lässt das Wasser links neben uns elektrisch aufzischen. Direkt neben uns. Haarscharf.

»Bram, gleich kommt das Portal!«, schreit Saunders. »Kerzengerade durch.«

»Ich sehe es. Wirklich verdammt eng!«, rufe ich zurück.

Der Abfangjäger nimmt den nächsten Anlauf. Er ist schneller als wir und holt rasch auf. Die Drohnen weichen aus, um ihn vorbeizulassen. Der Pilot zieht den Jäger bis dicht über den Kanal herunter, nur Zentimeter über der Wasseroberfläche.

»Köpfe einziehen beim Eintritt!«, brüllt Saunders, als wir uns der Öffnung nähern.

Ich ducke mich tief, und Eve macht es ebenso. Der Abfangjäger zieht im letzten Moment nach oben, während wir in den schmalen röhrenförmigen Durchlass schießen. Der Aufprall der Drohnen gegen die Umfassungsmauer hallt durch den dunklen Tunnel.

»Wir haben es geschafft!«, juble ich im Finstern. Eve hält sich gut an mir fest, während wir durch das schmale Wasserrohr sausen, und ich muss unwillkürlich lächeln.

Schließlich endet der Tunnel, und wir gleiten hinaus auf den Fluss von Central, unter freiem Himmel. Das Tragflächenboot wippt auf der Wasserfläche, während ich den Fluss hinauf- und hinunterspähe.

Niemand zu sehen.

Auch hinter uns im Kanalrohr ist alles schwarz. Wir werden nicht verfolgt.

»Habt ihr es durchgeschafft?«, höre ich Saunders’ Stimme in meinem Ohr knacken.

»Ja, ich bin draußen«, antworte ich.

»Wir haben im Tunnel für einen Moment die Verbindung verloren.«

»Uns ist nichts gefolgt.«

»Wir sind einen knappen Kilometer von euch entfernt und schon unterwegs«, sagt er.

»Okay, beeilt euch.«

Ich sehe einen kleinen hölzernen Steg, für den Wechsel vom Schnellboot in den Pott der Libertisten. Ich will den Gasgriff zurückdrehen – aber mein Arm rührt sich nicht.

Ich versuche es mit äußerster Anstrengung, aber es passiert nichts, ich bin steif.

Gelähmt.

RUHE BEWAHREN, mahnt die Automatenstimme von oben.

SIE WERDEN FESTGEHALTEN.