Über das Buch

Separation: Trennung

Charlotte (12) und Ben (11) leben mehr als 2.000 km getrennt voneinander.

Disparität: Ungleichheit

Oberflächlich betrachtet haben die beiden nicht viel gemeinsam, außer vielleicht ihrem Hobby Scrabble. Charlotte lebt in der Nähe von Philadelphia, Pennsylvania, während Ben in der Kleinstadt Lanester in Louisiana lebt. Charlotte möchte Geologin werden und besitzt eine beeindruckende Steinsammlung. Ben ist ein Harry-Potter-Fan, begeistert sich für Geschichte und ist ein glühender Verfechter von Recycling.

Affinität: Verbindung

Aber die beiden haben mehr gemeinsam, als sie denken: Sie sind hochbegabt, einsam und versuchen, die Schule bestmöglich zu überleben. Außerdem müssen sie mit schwierigen Familiensituationen zurechtkommen.

Solidarität: Zusammengehörigkeit

Schritt für Schritt kommen sich die beiden näher – zuerst nur online, bald aber schon am Telefon – und stellen überrascht fest, wie wichtig Freunde sind, egal, wo sie wohnen.

Wahrheit:

Ein Freund kann dein Leben verändern – zum Besseren.

 

 

 

 

Für Marianne

MONTAG

Äquilibrium, das: Gleichgewicht

Mädchen mit Limo

Nachrichten aus dem Kaninchenbau: Kaninchen graben manchmal Löcher, in die sie hineinkriechen, um sich zu verstecken. Manchmal werden einzelne Höhlen zu einem unterirdischen Tunnelsystem ausgebaut, einer Art Labyrinth. Das nennt man Kaninchenbau.

Die zwölfjährige Charlotte Lockard balancierte eine verschlossene Limodose der Marke Dr Pepper senkrecht auf der Hand. So etwa müsste es sich anfühlen, Dads Herz in der Hand zu halten, dachte sie.

Im Internet hatte sie gelesen, dass das Herz eines Erwachsenen ungefähr dreihundert Gramm wiegt.

Etwa so viel wie eine Dose Dr Pepper.

Sie stand ganz fasziniert vor einem beleuchteten Getränkeautomaten, bis auf einmal jemand »Darf ich mal?« sagte. Eine Frau mit grauem Haar und müden Augen stand neben ihr.

Charlotte murmelte so etwas wie eine Entschuldigung und lief dann schnell zurück in den Warteraum, wo ihre Mutter sich unaufhörlich die Nase putzte und behauptete, ihre Allergien seien daran schuld.

Normalerweise würde Charlottes Mutter ihrer Tochter nie erlauben, koffeinhaltige Limonade zu trinken, aber gerade eben war gar nichts normal.

Noch vor zwei Stunden hatte Charlotte im Biologiesaal gesessen. Als es an der Tür klopfte, kaute sie gerade am Bleistift und starrte auf das Thema der Klassenarbeit:

Es gibt etwa fünfzehnhundert Arten von Seesternen. Sie leben vor allem in der Gezeitenzone, auch Litoral oder Wattenmeer genannt. Organismen in diesen Bereichen sind außerordentlich befähigt, unter schwierigen Bedingungen zu überleben. Beschreibe einige der Charakteristiken der Gezeitenzone im Vergleich zu der ausgedehnteren peritidalen Zone.

Charlotte hatte gerade geschrieben: »Die Gezeitenzone ist das Gebiet, das bei Ebbe trocken liegt und bei Flut überspült wird. Sie unterscheidet sich von der peritidalen Zone, dem Gebiet, das vom höchsten Flutsaum bis zur Ebbelinie reicht«, als die Lehrerin, Ms. Schneider, ihren Namen rief. Neben der großen, schlanken Ms. Schneider stand die Beratungslehrerin Ms. Khatri, die eher klein und rundlich war. Ein lebendes Gegensatzpaar. Vergleiche und arbeite Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Beide Frauen machten eine ernste Miene.

»Ist etwas mit meinem Vater?«, fragte Charlotte, ohne aufzustehen. Erst als sie die Blicke ihrer Mitschüler spürte, begriff sie, dass sie aufstehen und Ms. Khatri vor die Tür folgen sollte. Dort erfuhr sie, dass sie mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte. Ihr Vater hatte am Steuer seines Wagens einen Herzinfarkt erlitten und war gegen eine Mauer geprallt. Der Rettungswagen hatte ihn ins Krankenhaus gebracht, wo er gerade notoperiert wurde.

Jetzt stand sie hier im Krankenhaus, trank verbotene Limonade und beobachtete ihre Mutter beim Lesen von US Weekly, einer Zeitschrift, die sie sonst nie lesen würde. Doch sie las ja auch nicht wirklich, das wusste Charlotte – sonst hätte die Mutter nicht die Lesebrille auf den Kopf geschoben. Die Sehkraft ist das Erste, was nachlässt, wenn man die Fünfzig überschritten hat, sagte die Mutter oft. Charlotte wusste auch, warum das so war: Die Augenlinse wurde mit der Zeit härter und konnte deshalb nicht mehr so gut fokussieren. Das hatte Charlotte gelernt, als sie wieder mal in ihren Kaninchenbau gekrochen war – so nannte ihr Vater es, wenn Charlotte im Internet alle möglichen nutzlosen Informationen googelte und darüber völlig die Zeit vergaß.

»Bist du wieder in deinen Kaninchenbau gekrochen?«, pflegte der Vater dann zu sagen.

Charlotte nippte an ihrer Limo. Dabei starrte sie auf das Schild mit der Aufschrift WARTERAUM. Sie liebte es, aus möglichst vielen Buchstaben eines Begriffs neue Wörter zu bilden. Buchstabensalat nannte sie das. Zu Warteraum fielen ihr spontan Amateur, Armatur, Mauer, Traum und Raute ein.

Raschel, raschel, raschel – eine Seite nach der anderen blätterte Charlottes Mutter um, und bei dem Geräusch stellten sich der Tochter die Haare auf. Die Mutter war Statistikerin, und normalerweise lauerte sie über jeder Seite mit Informationen wie ein Habicht über einem Feld. Doch jetzt schlug sie die Seiten so schnell um, dass sie unmöglich auch nur ein einziges Wort lesen konnte. Sie musste sich nur beschäftigen.

»Hast du Bridget erzählt, was passiert ist?«, fragte sie jetzt.

»Ja.« Bridget war Charlottes beste Freundin. Natürlich hatte sie es ihr gesagt.

Charlotte ließ sich auf ihren Stuhl sinken und starrte einen weggeworfenen Strohhalm am Boden an.

»Wie lange dauert es noch, bis Dad aus dem Operationssaal kommt?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht.« Die Mutter warf einen Blick auf die Wanduhr. »Nicht mehr lange, hoffentlich.«

Charlotte war auf alles gefasst. Im Vorjahr, als man ihrem Vater einen Stent ins Herz gesetzt hatte, war sie in ihren Kaninchenbau gekrochen und hatte sich zwei Stunden lang Videos von Transplantationen und Operationen am offenen Herzen angeschaut. Sie wusste, was in diesem Moment geschah. Er war an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Vermutlich hatten sie sein Herz schon angehalten, um es operieren zu können.

Mit ein paar großen Schlucken leerte Charlotte ihre Limo und machte sich dann auf den Weg zur Toilette. Bloß weg von diesem Geraschel.

»Hast du dir auch gründlich die Hände gewaschen?«, fragte ihre Mutter, als Charlotte zurückkam. »In einem Krankenhaus schwirren Millionen Keime herum.«

Charlotte antwortete nicht, sondern rollte nur unauffällig mit den Augen. Als hätte sie noch nie vom Acinetobacter baumannii gehört, einem multiresistenten Keim, von dem es auf Bettgestellen, Essenswagen und Fußböden nur so wimmelte. Als wüsste sie nicht, dass dieser Keim besonders langlebig war und sich in etwa jedem zweiten Krankenzimmer befand. Als wäre ihr nicht klar, dass diese Keime opportunistische Parasiten waren, die gezielt Jagd auf Menschen machten, deren Immunsystem geschwächt war.

»Meinst du, wir können zu ihm, wenn er im Aufwachraum ist?«, fragte sie ihre Mutter.

»Wenn alles gut geht. Der Arzt sagte mir vorhin, Kinder ab zwölf dürfen mit in den Aufwachraum und auf die Intensivstation. Da hast du Glück gehabt.«

Charlotte wollte wieder nach dem Strohhalm am Boden schauen, doch er war nicht mehr da. Hatte jemand ihn aufgehoben, während sie auf der Toilette war?

Stattdessen konzentrierte sie sich auf den Teppichboden.

»Hast du gewusst, dass auch Seesterne Herzen haben?«, fragte sie. »Das Herz eines Menschen kann hundertmal die Minute schlagen, das eines Seesterns nur sechsmal.«

Die Mutter zögerte, ehe sie antwortete. »Das wusste ich nicht. Also das mit den Seesternen.«

»Sie gehören zum Stamm der Stachelhäuter. Wir sezieren demnächst einen in Bio.«

Raschel, raschel, raschel. Das Teppichmuster bestand aus lauter Sechsecken.

Die Summe der Innenwinkel jedes Sechsecks betrug siebenhundertzwanzig Grad.

Charlotte fixierte die Innenwinkel, bis sie sich vor ihren Augen fast auflösten.

Das Leben aus Bens Sicht

Teil I

Der elfjährige Benjamin Boxer hatte vor drei Monaten sein neues Handy bekommen, und seitdem hatte er rund vierhundert Partien Scrabble online gespielt. Die ganze Zeit verfolgte er mit fieberhaftem Eifer nur ein Ziel: seine Rivalin – ein zwölfjähriges Mädchen namens Lottie Lock – vom Thron zu stürzen und selbst die Nummer eins in der Rangliste, dem Leaderboard, zu werden. Lottie und er hatten sich über ein Scrabble-Forum kennengelernt, das speziell für jüngere Schülerinnen und Schüler eingerichtet war. Doch als Lottie in die Mittelstufe kam, verlor sie den Zugang dazu, und so beschlossen die beiden, direkt gegeneinander zu spielen, sozusagen im Nahkampf. Doch auch wenn sie nur noch in dieser Zweiergruppe spielten, wurden ihre Ergebnisse weiter in der allgemeinen Liste geführt, und bisher hatte Lottie ihn stets abgehängt.

Doch es war eine freundschaftliche Rivalität. Über den Sommer hatten sie Dutzende von SMS ausgetauscht – So was nennst du ein Spiel?! – Tut mir so leid / kein bisschen leid, dass ich dich geschlagen hab / Mach dich auf meine massive Rache gefasst. Doch sie lobten sich auch gegenseitig für geschickte Spielzüge, zum Beispiel einmal, als Ben EIS gelegt und Lotti mit dem Anschlusszug AMEISE gewonnen hatte. Sie waren also nicht gerade Superman und Lex Luthor, aber trotzdem …

Ben fand es gut, eine Gegenspielerin zu haben, und er war fest entschlossen, auf Platz eins aufzusteigen. Als Nutzernamen wählte er »Ben Boot«, eine Verneigung vor Harry Potters Mitschüler Terry Boot aus dem Haus Ravenclaw, einem etwas obskuren Mitglied von Dumbledores Armee. Dann, an einem Tag im September, keine halbe Stunde nach Schulschluss, geschah das Undenkbare. (Genau genommen war es vollkommen denkbar, aber Ben hatte nicht damit gerechnet, wenigstens nicht so bald.) Aus irgendeinem Grunde hatte Lottie ihren Spielzug in der vorgegebenen Zeit verpasst, und Ben Boxer war auf den ersten Platz vorgerückt, mit dem Wort LORBEER. Ausgerechnet!

Sofort machte Ben einen Screenshot und flitzte aus dem Zimmer, durch den Flur und in die Küche, um die freudige Nachricht mit seinen Eltern zu teilen, die beide – anscheinend durch einen glücklichen Zufall – an diesem Tag freihatten. Bestimmt würden sie ihn auf ihren Schultern durch die Nachbarschaft tragen. Zumindest gedanklich.

Zum Glück standen seine Eltern schon Seite an Seite, was wiederum etwas seltsam war, denn sie flüsterten miteinander, und seine Mutter trank Kaffee, obwohl es drei Uhr nachmittags war. Außerdem machten beide, bis sie ihn bemerkten, sehr ernste Mienen. Wie auf Knopfdruck verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck in etwas noch viel Beunruhigenderes: gespielte Heiterkeit.

»Ben«, sagte seine Mutter, so als wäre er ein lange verschollener naher Verwandter, der zu einem gemütlichen Abendessen erschienen war.

»Mein Junge«, sagte sein Vater. »Wir wollen dir etwas mitteilen.«

Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Wir wollten dich gerade hereinrufen«, sagte seine Mutter. Sein Vater nickte.

Ben blickte von seiner Mutter zu seinem Vater, dann setzte er sich an die Kücheninsel und legte sein Handy ab, mit dem Bildschirm nach unten. Offenbar musste die freudige Nachricht erst einmal warten.

Diesen Gesichtsausdruck kannte er gar nicht an seinen Eltern – also musste die »Mitteilung« wohl wirklich wichtig sein. Eigentlich konnte es sich nur um eines handeln, dachte Ben: Sie würden dem provinziellen Louisiana entkommen und nach Michigan ziehen, dorthin, wo Mr. und Mrs. Boxer studiert hatten. Ständig sprachen sie davon, dass sie dorthin zurückwollten. Wann immer das Thema aufkam, stellte Ben sich vor, wie er Schneemänner baute, wie er mit großen Schritten durch die Gänge einer neuen Schule spazierte oder zusah, wie sich im Herbst das Laub färbte. Oder sogar wie er Berge bestieg. So sehr sehnte er sich danach, die Sümpfe Louisianas mit ihrer Hitze und ihrer stickigen Luft zu verlassen und in jenes magische Wunderland zu ziehen, das Ann Arbor hieß und in Michigan lag. Er war noch nie in Ann Arbor gewesen. Nicht einmal in Michigan, aber alles musste besser sein als Lanester in Louisiana.

Ben setzte sich auf seine Hände, um nicht vom Stuhl zu rutschen. Auf einmal fühlte er sich so zappelig. Erst der Scrabble-Sieg, jetzt noch die bevorstehende Ankündigung, das war alles zu viel für seine Nerven. In Gedanken packte er schon mal den Koffer, begann ein neues Spiel mit Lottie und atmete den unbekannten Geruch seiner neuen Schule ein, während seine Eltern auf der anderen Seite der Insel noch dichter aneinanderrückten.

Beide fingen gleichzeitig zu sprechen an, hörten gleichzeitig wieder auf.

Bens Vater räusperte sich.

»Du zuerst, Delia«, sagte er.

Bens Mutter schaute in ihren Kaffeebecher. »Dein Vater und ich …«, begann sie.

… haben beschlossen, dass es Zeit wird für einen Umzug.

… wollen endlich unsere Michigan-Pläne in die Tat umsetzen.

… sind dieses Kleinstadtleben endgültig leid.

»… wir wollen uns scheiden lassen.«

Die Küche schwoll an und verschluckte Ben, während er weiter auf seinen Händen saß.

Er schwankte auf seinem Stuhl. Er musste sich verhört haben. Zum einen hatte seine Mutter es zu ihrem Kaffee gesagt, nicht zu ihm. Zum anderen ergab das doch keinen Sinn. Andere Eltern ließen sich scheiden, aber doch nicht seine. Mr. Boxer und Mrs. Boxer waren Mr. und Mrs. Boxer. Beide waren groß, schlank und dunkelhaarig. Beide waren exzellente Chemiker. Beide arbeiteten in Chemieunternehmen. Sie waren gleich alt. Waren auf dasselbe College gegangen. Sie brüllten sich nicht an, schlugen sich nicht, stritten sich nicht, jedenfalls hatte Ben nie so etwas mitbekommen, dabei war er immer zu Hause, wenn er nicht in der Schule war. Ben hatte wenig Ahnung von diesen Liebesdingen – genau genommen überhaupt keine –, doch er war sich sicher, dass seine Eltern nicht zu den Paaren zählten, die sich scheiden ließen.

Er steckte sich beide Finger gleichzeitig in die Ohren und wackelte mit ihnen herum, so als wollte er den Gehörgang von Schmalz und anderen störenden Dingen befreien.

»Ich glaube, ich habe mich verhört«, sagte er.

Doch das hatte er natürlich nicht. Trotzdem, es war nicht logisch, und Ben lebte in einer Welt, in der alles logisch zu sein hatte: Zu jeder nicht-negativen Zahl gehörte eine einzige nicht-negative Quadratwurzel, E war in vielen Sprachen der häufigste Buchstabe, Cookie Dough seine liebste Eissorte, und Delia und Stephen Boxer gehörten nicht zu den Leuten, die sich scheiden ließen.

»Nein«, sagte seine Mutter leise.

Jetzt blickte sie endlich auf, und da wusste er, dass sie die Wahrheit gesagt hatte.

Er hatte richtig gehört.

»Aber«, sagte Ben. Mehr kam nicht. Nur dieses Aber.

»Ich weiß, das kannst du jetzt noch nicht verstehen«, sagte sein Vater. »Aber es ist nun mal so – auch in Beziehungen findet im Laufe der Zeit eine gewisse Evolution statt.«

Nein! Das stimmte doch gar nicht! Evolution? Das war die allmähliche Veränderung der vererbbaren Merkmale einer Population im Laufe von Millionen Jahren im Zusammenspiel mit der Umgebung. Die unterschiedlichen Schnäbel von Finken auf den Galapagos-Inseln: Evolution. Aber das hier, das hatte mit Evolution gar nichts zu tun. Das hier war das genaue Gegenteil von Evolution.

Moment – was wäre denn das Gegenteil von Evolution?

Bens gut geöltes, sonst so scharfes Gehirn war nur noch ein Haufen Matsch. Er konnte nicht klar denken. Hier lief gerade alles verkehrt. Was war mit Ann Arbor? Wann hatte diese angebliche Evolution stattgefunden? Erst letzte Woche hatten sie doch noch zu dritt diese Castingshow im Fernsehen angeschaut, und jeder hatte die Auftritte der Bewerber beurteilt. Bens Vater hatte eine große Schüssel Popcorn mit Butter gemacht, und Ben hatte gedacht: Wir sind wirklich eine typisch amerikanische Familie – wir gucken zusammen Reality TV und essen Popcorn dazu.

Fast hätte er es an dem Abend laut gesagt. Aber nur fast.

Vielleicht hätte er’s tun sollen.

Oder war die Entscheidung da längst gefallen?

Bestimmt. Man beschließt doch nicht innerhalb einer Woche, dass man sich scheiden lässt. Oder?

Seine Eltern sahen ihn beide erwartungsvoll an, dabei waren sie doch diejenigen, die etwas sagen sollten. Oder?

Das Gegenteil von Evolution – was war das?

»Dein Vater zieht in eine eigene Wohnung, aber wir beide bleiben hier«, sagte seine Mutter. Mit den Händen umklammerte sie noch immer den Kaffeebecher so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Wir bleiben weiterhin eine Familie, Ben. Wir werden nur an verschiedenen Orten leben. Wann immer du mit deinem Vater reden oder ihn besuchen willst, kannst du das tun.«

Moment – sein Vater hatte eine Wohnung?

Seit wann das denn?

Ich hätte besser aufpassen müssen, dachte Ben. Ich war nicht achtsam genug.

»Ich weiß, das ist jetzt ein bisschen viel, was du da verarbeiten musst«, fügte sein Vater hinzu. »Aber wir werden alle deine Fragen beantworten. Wenn es etwas gibt, was du uns sagen möchtest – nur heraus damit. Du kannst ganz offen sprechen, das weißt du.«

Offen sprechen.

Ben öffnete den Mund, der inzwischen nur noch ein großes, trockenes, klaffendes Loch war. Luft kam da weder herein noch heraus.

»Ich«, sagte Ben, so als wäre das ein vollständiger Satz.

Noch ein Versuch: »Ich.«

Er sah seinen Vater an. Starrte auf die weißen Knöchel seiner Mutter. Sein Herz rutschte auf den Küchenboden und verschwand in den Fliesen.

»Ich steh jetzt auf Platz eins der Rangliste«, sagte Ben.

Seesterne

Nachrichten aus dem Kaninchenbau: Die lebenswichtigen Organe der Seesterne befinden sich in den Armen. Wenn sie einen Arm verlieren, wächst er nach. Nach einer Verletzung können sie also zu etwas Neuem werden. Auch Eidechsen können sich regenerieren. Ganz allgemein gehören Reptilien zu den widerstandsfähigsten Lebewesen überhaupt.

Charlotte war ganz aufgeregt bei dem Gedanken daran, dass sie bald einen Seestern sezieren würde. Das Projekt hatte sie schon in mehrere Kaninchenlöcher geführt – vom Seestern zu den wirbellosen Meerestieren und weiter zu den Seeanemonen, bis sie schließlich zur Fossilienüberlieferung gelangte. Doch als sie jetzt ihrer Mutter zum Aufwachraum folgte und ihr Herz im Takt mit ihren dröhnenden Schritten klopfte, setzte sich ein Bild in Charlottes Kopf fest, das sie nicht wieder loswurde, auch wenn sie ihn noch so fest schüttelte. Dieses Bild setzte sich zusammen aus dem Seestern, einem Skalpell und ihrer Hand an beidem. Auf einmal war der Seestern verschwunden. Stattdessen sah sie ihren Vater.

»Charlotte?« Die Mutter hatte gemerkt, dass ihre Tochter ihr nicht mehr durch den nüchternen Krankenhausflur folgte. Jetzt drehte sie sich um und sah Charlotte fragend an. Charlotte war es gar nicht aufgefallen, dass sie stehen geblieben war. Ihre Mutter und der Chirurg Dr. Ansai waren ihr bereits mehrere Schritte voraus.

»Ist alles in Ordnung?«

Charlotte merkte auf einmal, dass ihr die Stimme versagte.

Erst in der vergangenen Woche hatte sie ihrem Vater von dem Seestern erzählt, den sie sezieren würden. Wie gespannt sie schon war, hatte sie gesagt, und dass sie im Laufe des Jahres auch Frösche und Regenwürmer sezieren würden.

»Klingt gruselig«, hatte er gesagt. Gar nicht mal unfreundlich. Einfach nur interessiert. »Deine linke Gehirnhälfte hast du offenbar von deiner Mutter geerbt.«

Charlotte hatte ihm sagen wollen, dass die Gegenüberstellung von rechter und linker Gehirnhälfte ein Mythos war – in Wirklichkeit arbeiteten beide Hälften eng zusammen, wie ein Team. Für Mathe und Naturwissenschaften war nicht allein die linke Hälfte zuständig, genauso wenig wie Kreativität und Kommunikation ausschließlich von der rechten gesteuert wurden. Deshalb konnte man auch nicht zwischen rechtslastigen und linkslastigen Gehirnnutzern unterscheiden. Alle Menschen waren denkende Menschen.

Aber das wäre für ihn nur ein weiterer Beweis für seine Behauptung gewesen, also hatte sie weiter von Seesternen erzählt, und von diesen Meerestieren war ihr Vater nach und nach auf Seelandschaften zu sprechen gekommen – vor allem auf solche, die ein Maler namens Gauguin gemalt hatte.

Als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte er sie einmal ins Kunstmuseum von Philadelphia mitgenommen, um ihr ein Gemälde von Gauguin zu zeigen. Sie erinnerte sich nicht mehr an den Titel. Irgendwas mit Trauben. Trauben in Frankreich? So ähnlich.

»Gleich wirst du’s selber sehen, Charlotte«, hatte er gesagt und dabei übers ganze Gesicht gestrahlt.

Als sie dann vor dem Bild standen, schaute er es so lange an, als wollte er mit dem Bild verschmelzen. Zwei Frauen – oder drei? – waren darauf zu sehen. Auch Charlotte hatte sich die Augen ausgeguckt, aber irgendwann hatte sie sich gefragt: Ja und? Was ist jetzt so toll daran? Sie hatte sich mit dem rechten Fuß am linken Bein gekratzt, dann war sie von einem Bein aufs andere getreten. Schließlich hatte sie gefragt, wann sie wieder nach Hause gehen würden. Als sie endlich zurück in ihrem Zimmer war, hatte sie sich gefragt, ob sie vielleicht in die falsche Familie hineingeboren war.

Sie stellte sich gerne vor, sie und Bridget könnten einfach die Familien tauschen. Bridget liebte Kunst, genau wie Charlottes Vater. Sie wollte sogar selbst Künstlerin werden. Also stellte Charlotte sich vor, wie es wäre, wenn Bridget Lockard hieße und sie selbst MacCauley. Sie könnte mit Sergeant spielen, dem Hund der MacCauleys, und müsste sich nichts mehr über diesen Gauguin anhören.

Klingt gruselig, hatte der Vater gesagt.

Und jetzt lag er auf der anderen Seite der Krankenhauswand.

Frisch operiert.

Charlotte bekam Gänsehaut an den Armen.

Mrs. Lockard bat den Arzt, einen Moment zu warten, und ging zu Charlotte zurück.

»Möchtest du hier draußen warten?«, fragte sie. »Du musst nicht mit reingehen.«

»Aber …« Charlotte stockte.

»Aber was?«

»Aber wenn er nach mir fragt?«

»Vermutlich ist er ohnehin noch im Halbschlaf«, antwortete Mrs. Lockard. »Und falls er doch fragt, sage ich ihm, ich hätte dich gebeten, draußen zu warten. Okay?«

Einen Moment lang schwieg Charlotte, dann nickte sie.

Als ihre Mutter und Dr. Ansai schon nicht mehr zu sehen waren, stand Charlotte noch immer mitten im Flur und starrte auf die Tür.