Über das Buch

Sunny hat ein neues Herz – und einen perfekten Plan für ihr neues Leben, das so viel besser sein wird als das der alten Sunny:

1.    wunderbare und aufregende Dinge tun, die vorher unmöglich waren,

2.   eine neue beste Freundin finden und

3.   ihren ersten Kuss erleben – und zwar mit einem Jungen!

Als Sunny das erste Mal nach ihrer Operation im Ozean schwimmt, trifft sie auf die beste beste Freundin, die man sich vorstellen kann: Quinn hat blaue Haare, coole Outfits und schon die halbe Welt bereist. Gemeinsam wollen die beiden herausfinden, wie sich die berühmten Schmetterlinge im Bauch anfühlen. Und schon bald flattern sie wie verrückt! Die Frage ist nur, für wen?

 

 

 

 

Wie viele Köpfe, so viele Sinne und wie viele Herzen, so viele Arten von Liebe.

Leo Tolstoi

Über Ashley Herring Blake / Bernadette Ott

Ashley Herring Blake hat früh damit begonnen, eigene Songtexte zu verfassen. Heute gilt ihre Leidenschaft dem Schreiben von Gedichten und Romanen. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Nashville, Tennessee.

Bernadette Ott lebt als freie Übersetzerin in München. Sie studierte Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie.

 

 

 

 

Für Rebecca Podos

Eins

Ich werde heute sterben.

Ein bisschen jedenfalls, ein paar Minuten lang ganz sicher. Vielleicht auch für immer. Kate kann mir noch so oft sagen, dass es nicht für immer sein wird. Niemals. Unmöglich. Aber sie tut sich da leicht. Bei ihr wird nicht gleich das wichtigste innere Organ ausgetauscht. Und das ist was anderes als einen neuen Badeanzug bekommen, wenn es wieder Sommer ist.

Diesen Moment habe ich mir schon oft ausgemalt. Damit meine ich, wirklich sehr oft. Jeden Tag. Immer wieder. Die vielen Tausend Male, die Kate zwischen zu Hause und dem Buchladen, der ihr in unserem kleinen Ort gehört, hin- und hergeradelt ist, um nachzusehen, wie es mir geht. Ich habe mir den Augenblick in leuchtenden Farben ausgemalt, immer wieder und wieder. Und ich habe viel Fantasie. Wahrscheinlich mehr Fantasie als alle anderen hier auf Juniper Island. Wer zwei Jahre lang fast die ganze Zeit auf dem Sofa verbringt und beobachtet, wie die Sonne über den Himmel wandert, so wie ich es getan habe, kann sehr viel über alles nachdenken.

Normalerweise spritzt dabei Blut. Das kann auch gar nicht anders sein. Schließlich handelt es sich um mein Herz, auch wenn es noch so jämmerlich ist. Die kümmerliche Pumpe, die meine anderen, echt spitzenmäßigen Organe total schlecht mit Blut versorgt. Blut hat eine schöne Farbe. Hellrot wird es sich von meiner blassen Haut abheben. Und vom Operationssaal in Weiß und Metall.

Und dann werden da die Geräusche und Gerüche sein. Viele Menschen vergessen die Geräusche und Gerüche, wenn sie sich etwas ausmalen. Aber ich nicht. Das Skalpell wird hart und scharf mein Brustbein durchschneiden. Mein Körper wird Schmatzgeräusche von sich geben, wenn Hände in Gummihandschuhen in meinen aufgestemmten Brustkorb hineingreifen.

Ja, ja, ich weiß. Mir ist es auch so gegangen. Mir hat sich am Anfang auch der Magen umgedreht, wenn ich mir das vorgestellt habe. Solche Sachen sind nichts für Menschen mit einem schwachen Herz.

Oder eben gerade.

»Du machst es schon wieder«, sagt Kate. Sie sitzt aufrecht in dem erbsengrünen Kunstledersessel, der ihr in meinem Krankenhauszimmer als Ersatzbett dient. Auf ihrem Schoß hat sie ein aufgeschlagenes Buch liegen, aber ich weiß, dass sie keine Zeile darin gelesen hat. Sie ist viel zu sehr damit beschäftigt, mich anzusehen. Die Schläuche zu beobachten, die in meine Nase und in meine Unterarme führen. Die Maschine neben meinem Bett zu beobachten und auf ihr Piep-piep-piep zu lauschen, das anzeigt, ob ich noch am Leben bin. Das tue ich. Ich lebe.

Noch.

Die Augenlider werden mir schwer. Meine Augen klappen zu. Das machen sie in letzter Zeit oft. Schwer wie eine Eisentür zufallen. Jedes Mal, wenn ich blinzle. Ich öffne sie mit aller Kraft wieder. »Was mache ich denn?«

»Dir Dinge ausmalen«, sagt sie.

»Hmm. Ich würde auch lieber Frisbee spielen.«

Sie schaut mich an, lächelt, schüttelt den Kopf. »Wenn du dir was ausmalst, dann schöne Dinge, okay?«

»Wie am Strand entlangzurennen und mich dort mit – «

Ich rede nicht weiter. Aber wir wissen beide, welcher Name mir jetzt beinahe rausgerutscht wäre. Der meiner offiziellen EBF – meine Abkürzung für: Ehemalige Beste Freundin. Seit vier Monaten habe ich sie aus meinem Leben verbannt. Trotzdem fällt mir ihr Name jedes Mal sofort ein. Aus Gewohnheit. Schlechter Gewohnheit.

»Wie am Strand entlangzurennen, zu schwimmen und den Sommer zu genießen!«, beendet Kate für mich den Satz, ohne dass für Margot Banks darin Platz ist.

»Ich hab übrigens Suzette angerufen«, fährt sie dann fort.

»Was? Warum?« Suzette ist die Mutter von Margot und ich kenne sie, seit Kate mich von Nashville hierher nach Juniper Island gebracht hat, vor der Küste von South Carolina. Damals war ich vier.

»Weil sie dich sehr gern mag«, sagt Kate.

Ich verdrehe die Augen, obwohl es stimmt. Suzette hat mich wirklich sehr gern. Aber sie ist auch nicht das Problem.

»Ich hab ihr mitgeteilt, dass wir den Anruf bekommen haben und dass heute die OP ist. Sie hat gesagt, sie denkt an dich und schickt dir alle guten Wünsche. Und sie wird Margot ausrichten, dass es so weit ist.«

Ich warte darauf, dass Kate noch mehr erzählt. Mir eine Nachricht von Margot überbringt, und wenn es nur ein kurzes Hallo ist, ein Satz wie Viel Glück mit deinem neuen Herz, und, ach ja, dann wollte ich dir noch sagen, dass ich wirklich die mieseste beste Freundin bin, die es jemals gegeben hat. Aber Kate sitzt nur da und ihre Augen glänzen nass, als sie mich anschaut.

»Kate.«

»Ja?«

»Du weinst ja schon wieder.«

»Ähm, ja. Na und? Das ist doch wohl nicht verboten.«

Sie steht auf. Ihr Buch gleitet zu Boden, aber sie bückt sich nicht, um es aufzuheben. Normalerweise ist Kate ein Ordnungsfreak. Bei uns zu Hause und in ihrem Laden ist alles immer tipptopp aufgeräumt. Vor Margots Geburtstagsparty, also bevor es zu dem großen Verrat gekommen ist, haben wir immer dieses Spiel mit Kate gespielt, bei dem wir etwas in der Wohnung verändert haben – nur etwas Kleines, wie zum Beispiel eine Kerze aus dem Wohnzimmer in die Küche stellen oder ein gerahmtes Foto auf dem Regalbrett vom einen Ende ans andere schieben – und dann haben wir gewartet, wie lang Kate wohl braucht, bis sie es merkt.

Einmal hat sie dafür siebenundvierzig Minuten gebraucht, das war die längste Zeit, und davon ist sie einundzwanzig Minuten in der Buchhandlung gewesen.

Jetzt liegt ihr Buch mit dem Gesicht nach unten auf dem Krankenhausfußboden, der voller Bakterien ist, die Seiten sind zerknittert, und es ist ihr völlig egal. Dabei handelt es sich sogar um ein gebundenes Buch. Und das alles wegen mir. Ich habe ihr alle Kraft ausgesaugt, sogar ihre Bücher sind ihr nicht mehr wichtig. Aber das wird bald wieder anders werden.

Sie legt sich neben mich aufs Bett und streicht mir eine widerspenstige Strähne hinters Ohr. Dann zeichnet sie mit den Daumen Kreise auf meine Schläfen, wie sie es immer macht, wenn ich nicht schlafen kann.

Ich schiele zur Maschine neben meinem Bett, auf der mein Herzschlag angezeigt wird. 62 … 63 … 64 … 62.

»Hast du Angst?«, fragt Kate.

»Davor zu sterben? Pfff.«

»Sunny St. James.«

»Ja?«

»Du wirst nicht sterben«, sagt sie.

»Werd ich aber. Für ein paar Minuten, nachdem sie das schlimme alte Herz herausgeschnitten haben, werde ich – «

»Hör mal, ich liebe dein Herz!«

»Trotzdem.«

Sie sagt darauf nichts mehr. Vor zwei Jahren, als ich zehn war, bin ich in der Schule während der Pause umgekippt. Plötzlich ohnmächtig. Mit dem Gesicht nach unten lag ich auf dem Gummiboden. Einfach so. Am nächsten Tag haben sie bei mir dann eine Kardiomyopathie diagnostiziert. Was nichts anderes heißt, als dass ich ein schlechtes Herz habe. Nicht nur schlecht: die totale Katastrophe.

»Und nachdem sie es herausgeschnitten haben«, fahre ich mit meiner kleinen Belehrung in Todeskunde fort, »werde ich tot sein. Also, ich meine, wirklich tot. So lange, wie sie brauchen, um das neue Herz einzusetzen und die Blutgefäße und Arterien und das ganze Zeugs anzuschließen.«

Kate seufzt und fährt sich über die Stirn. »Ich hätte nicht fragen sollen.«

Ich stupse sie mit der Schulter an, so fest ich kann – mit ungefähr so viel Kraft, wie wenn eine kleine Fliege sich auf der Sessellehne niederlässt.

»Ich wüsste gern, wie es sich anfühlt, tot zu sein«, sage ich. »Ob es wohl so ist, wie wenn man unter Wasser ist? Weißt du, was ich meine? Wenn ich ganz tief tauche und dann nach oben schaue und ganz weit über mir ist ein Licht und alles um mich herum ist verschwommen und fließt … Klingt gar nicht so übel, oder?«

Kate stöhnt auf.

»Oder vielleicht ist der Tod ja so, wie wenn ich vom Meer in eine dicke, fette Umarmung hineingezogen werde.«

»Sunny!«

Ich grinse und kuschle mich ganz fest an sie. Jedenfalls so weit es alle meine Schläuche erlauben.

Natürlich habe ich eine Riesenangst. Aber ich freue mich auch und bin total aufgeregt. Beides gleichzeitig. Das ist möglich, glaubt mir. Ich hab nämlich die Nase voll davon, immer nur krank zu sein. Ich habe keine Lust mehr, immer daran denken zu müssen, dass Margot und ihre Freundinnen aus dem Schwimmteam einfach viel cooler sind als ich, weil sie viel mehr und ganz andere Dinge machen können – oder überhaupt andere Dinge, als immer nur auf dem Sofa zu liegen. Ich hab die Nase voll davon, immer nur auf das Meer hinauszusehen, ohne selbst schwimmen und tauchen zu können. Und ich will auch nicht immer über den Tod nachdenken müssen, obwohl ich so viel darüber rede. Kate glaubt wahrscheinlich, dass das meine Lieblingsbeschäftigung ist.

Ich will nicht sterben. Ich will dreizehn Jahre alt werden. Ich habe noch kein einziges Mal das Schulhaus der Juniper Island Middle School von innen gesehen, obwohl ich eigentlich im Herbst in die siebte Klasse kommen müsste. Wenn bei mir alles normal wäre. Ich möchte lauter aufregende Sachen machen, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie noch mal machen kann, wie BungeeJumping oder Fallschirmspringen oder Wasserskifahren. Ich will in ein Zeltlager fahren. Ich will mich zusammen mit meiner besten Freundin mit Junkfood vollstopfen.

Ich will wieder eine beste Freundin haben.

Vor allem aber will ich wirklich, wirklich, wirklich unbedingt einen Jungen küssen. Ich bin so verrückt danach, einen Jungen zu küssen, dass sich meine Lippen davon ganz kribbelig anfühlen. Ich meine damit nicht die Sorte von Kuss, wie ihn Kate mir jeden Abend auf die Stirn drückt. Oder den Handkuss von Dave, wenn er mal wieder mit mir herumalbert. Ich meine einen richtigen Kuss. Die Sorte von Kuss, die Margot bereits mit Sam Blanchard und Henry Lee hatte. Die Sorte von Kuss, die mein ganzes Leben verändern kann.

Okay, ja, schon gut. Ich weiß, dass das mit dem Küssen vielleicht nicht die wichtigste Sache auf der Welt ist, wenn das eigene Herz gerade seine letzten Zuckungen macht. Aber wenn ich sterben muss, ohne ein einziges Mal so wirklich echt und richtig geküsst worden zu sein, dann würde mich das total ärgern.

71 … 72 … 73 …

Kate umarmt mich noch fester. Sie spürt immer genau, wann ich im Kopf anfange durchzudrehen, weil ich dann nämlich ganz still werde – und Stillsein ist nicht gerade meine Spezialität. Sie tätschelt meinen Kopf, so als könnte sie ihn dadurch beruhigen. Dann lässt sie ihren Daumen auf meiner rechten Schläfe kreisen. Sie schaut mich an. Kate kann das unglaublich gut. Einen auf so eine besondere Weise anschauen. Wenn Margot früher bei mir übernachtet hat und wir zu lange nicht einschlafen wollten und immer noch Krach gemacht haben, obwohl Mitternacht schon vorbei war, dann hat sie die Tür zu meinem Zimmer aufgeschoben. Und uns einfach nur angeschaut. Sie brauchte kein einziges Wort zu sagen. Wir wussten auch so Bescheid: Sie meinte es ernst und wir waren schnell still und haben geschlafen.

Wie sie mich jetzt anschaut, ist natürlich ganz anders. Sie ist mir nicht wegen irgendetwas böse, das weiß ich. Trotzdem schaut sie mich lange an. So als müsste sie mich ganz in sich aufnehmen.

»Was ist los?«, frage ich. Was sich wie eine ziemlich blöde Frage anhört, schließlich wissen wir beide, wo wir gerade sind und was gleich passieren wird. Aber da ist noch etwas anderes. Das spüre ich genau. In den letzten vier Monaten war Kate meine beste und einzige Freundin. Sie ist mein Ein und Alles und ich ihres. Mal abgesehen von Dave. Deshalb kenne ich sie ziemlich gut. Und ich weiß auch, dass die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen nur eines bedeuten kann: Sie will mit mir über Mom sprechen.

»Du bist in Dave verliebt, oder?«, frage ich, um sie aus dem Konzept zu bringen.

Ihre Augen werden riesengroß. Ich versuche, ein ernstes Gesicht zu machen, aber an meinen Mundwinkeln zerrt ein breites Grinsen. Dave ist ihr bester Freund, die beiden kennen sich schon seit der Highschool. Alle, die ihn kennen, mögen ihn. Er ist Musiker, hat muskulöse Arme, gelockte schwarze Haare und dunkelbraune Haut, und als echter Künstler trägt er dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr karierte Hemden und auf der Nase eine schwarze Brille. Sogar ich finde, dass er süß aussieht, und das, obwohl er mindestens tausend Jahre alt ist. Für alle ist sonnenklar, dass die Songs, die er schreibt, nur von Kate handeln. Von seiner unglücklichen Liebe zu ihr. Nur Kate scheint das nicht begreifen zu wollen.

»Um Himmels willen, Sunny!«, ruft sie. »Nein!« Aber sie ist knallrot geworden.

»Ähm, klar doch!«

Sie holt tief Luft. Ihr Lächeln verschwindet wieder. »Sunshine, ich muss mit dir reden.«

Mein schwaches Herz fängt sofort an, hektisch zu klopfen. Ich sage ihm, dass es runterschalten soll, aber wie immer hört es nicht auf mich.

»Ich will aber nicht über sie reden«, sage ich.

Kate seufzt und die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen verschwindet. Es ist immer dasselbe Spiel zwischen uns. Jedes Jahr an meinem Geburtstag, an jedem größeren Feiertag und am ersten Schultag nach den Ferien versucht sie, mit mir ein Gespräch über Mom zu führen – und ich kann nie herausfinden, ob sie erleichtert ist oder ob es sie traurig macht, wenn ich darauf keine Lust habe. Ich sage dazu nämlich jedes Mal Nein. Kate sagt zu mir dann jedes Mal noch, dass es das Allernormalste auf der Welt ist, wenn ich mehr über meine Mom wissen will, und ich antworte jedes Mal, danke, nein, keine weiteren Fragen.

Ich bin in Nashville geboren. Der Name meiner Mutter ist Lena. Sie war Musikerin wie Dave. Mein Vater, der Ethan hieß, ist kurz nach meiner Geburt bei einem Motorradunfall gestorben. Als ich vier Jahre alt war, hat Lena sich dann nicht mehr um mich kümmern können, deshalb hat sie mich ihrer besten Freundin Kate anvertraut. Kate war nämlich der einzige Mensch, den sie hatte. Kate hatte damals gerade die Buchhandlung auf Juniper Island übernommen, deshalb hat sie mich hierhergebracht. Meine Kate, die seither jeden Tag meines Lebens für mich da war. Meine Kate, die sich die Augen ausgeheult hat, als sich das mit meiner Krankheit rausstellte. Die mich nicht allein gelassen und immer einen klaren Kopf behalten hat, auch als es richtig schlimm und schwierig wurde. Meine Kate, die auch jetzt hier bei mir ist.

Mehr brauche ich nicht zu wissen, richtig?

Richtig.

»Sunny«, sagte Kate. »Deine Mom – «

»Kate, ich mag jetzt nicht. Kann sein, dass ich gleich für immer sterbe. Lass uns über was anderes reden.«

»Darüber, dass der Tod wie eine dicke, fette Umarmung durch den Ozean ist?« Sie schaut mich wieder an.

»Ja, genau.« Ich hole so tief Luft, wie ich kann, und schiebe Lena innerlich ganz weit weg. »Meinst du, dass er sich warm oder kalt anfühlen wird? Oder vielleicht wird er ja einfach nur ein großes Nichts sein? So, wie es ist, bevor man geboren wird? Wäre aber ein bisschen schade, oder? Hoffentlich ist der Tod kein Nichts, sondern ein Etwas.«

Kate seufzt wieder. Sie lächelt und presst ihre Nase gegen meine Wange. »Ich liebe dich, Sunshine.«

Ihre Stimme klingt rau und heiser, obwohl sie lächelt.

Bevor ich ihr sagen kann, dass ich sie auch liebe, kommt Dr. Ahmed ins Zimmer. Ihre langen schwarzen Haare hat sie zu einem festen Knoten zusammengebunden. Sie hat diesmal nicht ihren normalen weißen Kittel an, sondern steckt von oben bis unten in grüner OP-Bekleidung. Hinter ihr schieben zwei Krankenpfleger ein Rollbett herein und bugsieren es neben mein Bett.

Dr. Ahmed beugt sich über mich und lächelt mir zu. Sie ist seit zwei Jahren meine Ärztin. Sie war es auch, die Kate und mir vor eineinhalb Jahren gesagt hat, dass eine Transplantation das Einzige ist, was mich retten kann.

Gestern Abend meldete sich dann plötzlich der Pager, den wir vom Netzwerk Organspende bekommen hatten. Wir saßen gerade auf der Veranda, damit ich das Meer riechen konnte, aßen Salat mit Halloumi und besprachen, ob wir danach noch ein bisschen an den Strand hinuntergehen wollten, falls ich dazu nicht zu müde war. Unsere Zehen in den kalten Atlantik tauchen. Es ist ja erst Anfang April. Aber dazu kam es nicht mehr, weil der Pager, den Kate immer vorn an ihre Jeans geklemmt hat, uns auf einmal anpiepste. Er hatte bisher noch kein einziges Mal einen Laut von sich gegeben, und das konnte nur eines heißen.

»Alles ist vorbereitet, Sunny«, sagt Dr. Ahmed jetzt und legt mir ihre kühle Hand auf die Stirn, nachdem sie ein letztes Mal meine Werte überprüft hat. »Dein neues Leben wartet auf dich.«

»Vielleicht«, antworte ich.

Sie lächelt. Inzwischen kennt sie mich gut genug, um zu wissen, dass ich meine Lage lieber nüchtern einschätze.

»Ich werde mein Bestes geben, versprochen! Alles wird gut!«

Als Antwort recke ich den rechten Daumen hoch. Dann nickt Dr. Ahmed den Krankenpflegern zu, die an meinem Bett stehen. Kate atmet einmal tief durch, und ich spüre, wie sie dabei zittert. Sie küsst mich auf die Wange und presst ihre Lippen so fest darauf, dass es fast wehtut. Aber ich bin froh darüber. Ich kann ihren Kuss spüren. Mich immer an ihn erinnern.

»Ich bin hier, wenn du zurückkommst«, sagt Kate, als sie von meinem Bett aufsteht. »Ich bin hier und warte auf dich, Sunshine.« Tränen laufen ihr übers Gesicht und ihre Stimme klingt merkwürdig, so als könnte sie nicht richtig sprechen, weil sie den Mund voller Erdnussbutter hat.

»Eins, zwei, drei«, sagt einer der beiden Krankenpfleger, und dann heben sie mich vorsichtig hoch und verfrachten mich auf das Rollbrett, als wäre ich ein Stück Holz.

Ich würde zu Kate gern noch etwas sagen, aber mir fällt nichts ein. Deshalb halte ich nur den kleinen Finger hoch, als sie mich aus dem Zimmer schieben. Kate hat einen knallroten Kopf und ihr Gesicht glänzt vor lauter Tränen. Sie gibt leise Laute von sich, bei denen ich einen Kloß im Hals bekomme. Dann verhakt sie ihren kleinen Finger mit meinem und wir schütteln uns kurz die kleinen Finger.

Szenenwechsel: Kate ist verschwunden und in meinem Rollbett sause ich durch einen Gang mit weißen Wänden, über mir sind grelle Neonröhren. Wir biegen ein paarmal nach rechts und nach links ab, bis sie mich schließlich in ein kühles Zimmer schieben, in dem es genauso riecht, wie ich es mir vorgestellt habe – nach fast nichts.

Ein Arzt mit einer Brille taucht auf und drückt mir eine durchsichtige Maske aufs Gesicht. Dr. Ahmed steht hinter ihm, mit einer Chirurgenmaske über Mund und Nase. Überall sind Krankenschwestern. Ich kann Beutel mit durchsichtiger Flüssigkeit und Bluttransfusionsbeutel sehen. Die Schwestern tragen ebenfalls Masken vor dem Gesicht, damit sie mich nicht anniesen oder anatmen.

»Zähl für mich rückwärts, Sunny«, sagt der Arzt mit der Brille. »Fang mit zehn an.« Ich nicke, bin eine folgsame kleine Patientin, aber in meinem Bauch krabbeln eine Million Ameisen durcheinander.

Zehn … neun …

Die Augen fallen mir zu.

Acht … sieben …

Ich habe das Gefühl zu schweben, so als würde ich vom Wasser getragen. Das muss ich mir unbedingt merken, damit ich es Kate erzählen kann. Aber ich weiß gar nicht, ob –

Sechs … fünf … vier …

Weiter schaffe ich es nicht, weil der Ozean mich mit Haut und Haar verschlingt.

Zwei

Tot sein, stellt sich heraus, hat viel Ähnlichkeit mit einem Traum.

Die Welt fühlt sich sanft und weich und glibberig an, als wäre ich unter Wasser. Ich bin auch wirklich unter Wasser, glaube ich. Alles ist blau. Alle Arten von Blau – Tiefblau und Ultramarinblau und Kobaltblau und Bergblau, alles durcheinandergeschüttelt wie in einem Kaleidoskop.

In einiger Entfernung sehe ich einen dunklen Umriss auf mich zugleiten. Er kommt näher und näher, wird größer und größer, und ich erkenne, dass es sich um eine menschliche Gestalt handelt.

Eine Frau. Sie hat keine Beine, dafür einen sich anmutig bewegenden Fischschwanz, und ihre Haare sind lang und tintenschwarz, genauso wie meine.

Immer näher und näher gleitet sie auf mich zu, kraftvoll schieben ihre Hände das Blau auseinander, um zu mir zu gelangen. Ich höre, wie sie meinen Namen ruft, mit einer kräftigen und hellen Stimme. Ich weiß genau, wer die Meerjungfrau ist.

Ihr Gesicht ist dasselbe wie auf dem Foto, das ich zu Hause neben meinem Bett in einer Schublade aufbewahre. Kate hat es mir gegeben, als ich noch klein war. Sie glaubt, dass ich es vor langer Zeit weggeworfen habe, das habe ich ihr nämlich erzählt. Aber es ist nicht wahr. Jeden Abend, nachdem Kate mir gute Nacht gesagt hat, hole ich das Foto heraus und schaue es an – und jedes Mal staune ich darüber, dass das Gesicht auf dem Foto genauso aussieht wie meines, nur älter.

Mit sieben Jahren, dann auch noch mit acht und mit neun und, okay, vielleicht auch noch mit zehn habe ich das Foto immer ganz lang angestarrt und mir dabei vorgestellt, dass sie eine Meerjungfrau ist. Eine schöne Meerjungfrau mit langem schwarzem Haar und einem schimmernden Fischschwanz, die nicht wusste, was sie mit einem zweibeinigen Menschenmädchen anfangen sollte. Und deshalb hat sie nach ein paar Jahren, in denen sie mich unablässig aus den tiefsten Tiefen des Ozeans hochschleppen musste, damit ich über den Wellen Luft schnappen konnte, beschlossen, dass ich aufs Land gehörte. Sie ließ mich in einer kuscheligen kleinen Sandgrube am Strand von Juniper Island zurück, damit Kate mich dort finden konnte. Danach verschwand sie in den tiefen Weiten des Ozeans und ward nie mehr gesehen.

Aber jetzt schweben wir hier gemeinsam unter Wasser. Wir sind vereint, deshalb weiß ich, dass etwas passiert sein muss. Alles fühlt sich unwirklich an, vielleicht bin ich also tatsächlich tot. Hektisch bewege ich Arme und Beine, um auf die Meerjungfrau zuzuschwimmen. Je näher ich ihr komme, desto glücklicher fühle ich mich. Aber unendlich viele Tränen brennen in meinen Augen. Wenn ich mich wirklich unter Wasser befinde, werden sie nie zu Boden fallen.

Dann schwebt sie direkt vor mir. Unsere Haare fließen ineinander, tintenschwarze Strähnen im blau leuchtenden Meer. Ihre bernsteinfarbenen Augen schauen in meine, die ebenfalls bernsteinfarben sind. Über Nase und Wangen der Seejungfrau breiten sich Sommersprossen aus.

»Von denen hab ich ja gar nichts gewusst«, sage ich.

»Aber ich hab gewusst, dass du welche hast«, antwortet sie. Sie lächelt und berührt mit der Fingerspitze die Sommersprossen auf meiner Nase und auf meinen Wangen. »Wir sind uns da gleich.«

Sie sagt es, als wäre das eine gute Sache, als wäre es irgendwie von Bedeutung. Ich weiß nicht, ob es von Bedeutung ist oder nicht, deshalb bin ich still. Ich schwebe nur, schwebe, schwebe inmitten von all dem Blau.

»Ach, Sunshine, es tut mir so leid«, sagt sie schließlich. Unterwassertränen glänzen in ihren Augen.

»Nur Kate und Dave nennen mich Sunshine«, sage ich.

»Sie nennen dich so, weil ich dir diesen Namen gegeben habe.«

Ich schüttle den Kopf und meine Haare lösen sich von ihren, sie bilden ein zartes schwarzes Geflecht, wie die Fäden einer Qualle im Wasser schwebend. Sie ist meine Meerjungfrau. Sie wirkt traurig und ihr Mund bewegt sich weiter, aber ich kann sie nicht mehr hören. Dann wird sie kleiner und kleiner, weil der Ozean mich von ihr forttreibt, mich an die Wasseroberfläche hochträgt. Meine Meerjungfrau streckt die Arme nach mir aus, ihr Fischschwanz schlägt wie wild, um mich noch zu erreichen, aber vergebens. Ich habe Beine, die kräftig strampeln, meine Lungen lechzen nach Luft und das zweite Mal in meinem Leben spuckt der Ozean mich an Land.

Drei

Wobei an Land in diesem Fall ein Krankenhausbett ist.

Die Meerjungfrau aus meinem Traum sitzt in einem erbsengrünen Kunstledersessel und schaut mich an.

Ihr Fischschwanz ist von zerfransten Jeans bedeckt. Sie hat ein hauchdünnes schwarzes Tanktop an. Ihre nackten Arme sind von den Schultern bis zu den Handgelenken mit dunklen Tattoos übersät. Meine Augen sehen alles noch immer verschwommen. Aber ich bin mir sicher, dass mir von ihr tausend Sonnen entgegenstrahlen, zwischen den Blumen und Sternen und Bäumen auf ihrer Haut. Sie hat schwarze Haare und ihre Augen sind bernsteinfarben, genau wie meine Augen. Genauso wie bei der Meerjungfrau in meinem Traum. Sie beugt sich über mich. Auf der Nase hat sie Sommersprossen, an der Unterlippe blitzt ein silberner Ring. Ihre Lippen sind tiefviolett geschminkt, ganz, wie es sich für eine Meerjungfrau gehört.

»Sunshine«, sagt sie. Ihre Augen sind nass von Tränen. Ich kneife meine Augen fest zu und klappe sie wieder auf. Bestimmt ist es ein Traum. Oder vielleicht bin ich ja wirklich tot und das hier ist das Jenseits. Sie nimmt meine Hand und ich kann ihre Wärme spüren. Der typische Krankenhausgeruch – nach Pisse und Chlorreiniger und Kartoffelbrei – steigt mir in die Nase und ich höre das Piep-piep-piep des Überwachungsgeräts.

Mein Herz.

Nein, nicht mein Herz.

Das von einem anderen Mädchen.

»Alles ist gut, Sunny«, sagt die Meerjungfrau. Ich schüttle den Kopf. Nein, nein, nein, nichts ist gut. Ich bin tot. Ich habe kein neues Herz. Sie haben mich nicht ins Leben zurückgeholt.

Ich entwinde ihr meine Hand, zupfe an dem kratzigen, verschwitzten Krankenhausnachthemd. Es müffelt, als hätte ich jahrelang hier im Bett gelegen. Eigentlich hätten sie mir was Schöneres anziehen können, wenn ich jetzt schon tot bin. Oder das Meer hätte mich gleich behalten sollen.

Das Piep-piep-piep wird schneller und schneller. Ich ziehe an meinem Nachthemd, und da entdecke ich den weißen Verband auf meiner Brust. Er reicht bis zu meinem Nabel hinunter. Ich habe einen Schlauch, der in meinen Unterarm führt, und einen in meiner Nase. Ich zerre an meinem Nachthemd, kralle mich daran fest. Die Meerjungfrau ist immer noch da. Sie ist jetzt aufgestanden, versucht, nach meinen Händen zu greifen. Sie hat Beine.

»Sunny, beruhige dich! Sunny!«

Ich werfe mich hin und her wie eine Robbe.

Piep-piep-piep-piep-piep.

Menschen in grünen und blauen OP-Kitteln stürmen ins Zimmer, überschwemmen den Raum wie eine Flutwelle. Ich sehe Kate. Nein, nein, nein. Ich will nicht, dass sie auch hier ist. Sie darf nicht auch tot sein.

»Sunny, mein Schatz, alles ist gut«, sagt sie und nimmt mein Gesicht zwischen ihre Hände. Eine Krankenschwester lässt neue Flüssigkeit in den Schlauch hineintropfen, der in meinen Unterarm führt. Wärme breitet sich in meiner Brust aus, als hätte ich ein Glas heißes Wasser getrunken.

»Kann ich irgendwas tun, Katie?«, fragt die Meerjungfrau.

»Ich hab dir zehn Minuten gegeben«, sagt Kate, die mir immer noch übers Gesicht streichelt. »Das reicht für heute, Lena.«

»Hier ist sowieso viel zu viel Betrieb«, mischt sich die Krankenschwester ein. »Bitte nicht mehrere Besuche gleichzeitig.« Sie presst ein Stethoskop auf meine Brust, überprüft meinen großen weißen Verband. Es tut weh. Ich fühle mich, als wäre ich in zwei Hälften zertrennt und dann wieder zusammengenäht worden.

»Katie«, sagt die Meerjungfrau. Aber Kate schüttelt den Kopf.

»Ich hab gewusst, dass es zu früh ist. Geh jetzt!«

Das Gesicht der Meerjungfrau zieht sich in tausend Falten zusammen. Ich glaube, sie heißt Lena. Ich glaube, es könnte sein, dass sie … es könnte sein, dass sie …

Mein ganzer Körper ist jetzt wohlig warm, das Piep-piep-piep erklingt regelmäßig wie ein sanfter Wellenschlag und der Ozean nimmt mich wieder auf.

Fünf

Es ist meine Meerjungfrau.

Sie hat einen normalen Menschenkörper, der in ausgefransten Jeans, schwarzen Stiefeln und einem weiten T-Shirt steckt, auf dem der Name von irgendeiner Band steht. Ihre Haare sind ebenfalls schwarz und ihr Make-up … ähm, also ihr Make-up ist umwerfend. Helllila Lippenstift und dunkelvioletter Lidschatten, was zusammen einen total raffinierten und perfekten Look ergibt. Und dazu dann noch die Tattoos. Mir vertraute Tattoos. Solche, die ich schon einmal gesehen habe. Eine Million Sonnen. Blumen. Sterne.

»Hallo«, sagt sie.

Ihre Stimme ist mir auch vertraut. Samtig und weich.

»Ich habe dich gebeten, draußen zu warten«, sagt Kate.

»Hab ich.«

»Offensichtlich nicht.«

»Katie«, sagt Dave.

Ich glaube, dass er dabei eine Geste zu mir hin macht. Ich glaube, dass Kate nach meiner Hand greift. Ich glaube eine Menge Dinge, aber sicher bin ich mir nicht. Weil ich nicht darauf achte. In meinem Zimmer steht nämlich eine Meerjungfrau. Und dieses Mal bin ich definitiv nicht tot.

»Sunny«, sagt Kate. »Das ist Lena. Sie ist … sie ist …«

»Meine Meerjungfrau«, platze ich heraus.

Lena zieht ihre dunklen Augenbrauen hoch und lächelt. »Ich wollte immer schon eine Meerjungfrau sein.«

»Will doch jedes Mädchen, oder?«, sage ich.

Lena lächelt wieder, aber ich lächle nicht zurück.

»Alles in Ordnung?«, fragt mich Kate und schielt zu meinem Überwachungsgerät.

Wie kann sie mich in so einem Moment fragen, ob alles in Ordnung ist, denke ich und antworte nicht.

»Lena hat mich vor einem Monat angerufen«, sagt Kate. »Ist ziemlich lang her, dass wir davor das letzte Mal voneinander gehört haben. Mehrere Jahre. Bei der Nummer, die ich von ihr hatte, hieß es immer nur: kein Anschluss.«

»Wann hast du denn das letzte Mal versucht, sie anzurufen?«, frage ich sie.

Kate windet sich. »Nachdem du krank geworden bist. Ein paarmal.«

Die Meerjungfrau … oder wer auch immer sie ist … sagt dazu nichts. Sie blickt auch nicht verlegen zur Seite. Sie schaut mich einfach nur an, vollkommen reglos, so als wäre sie eine Statue. Ich habe das Gefühl, sie atmet noch nicht mal.

»Sie wollte dich letzten Monat gleich sehen«, fährt Kate fort, »aber du warst so krank, mein Kleines. Ich konnte und wollte dir das nicht antun. Und ihr auch nicht. Die Aufregung wäre viel zu viel für dein Herz gewesen und …«

Dave steht auf und legt seine Hand auf Kates Schulter. Tränen laufen ihr übers Gesicht, und ich weiß, dass ich sie jetzt umarmen sollte oder so was. Aber ich bin ganz mit den Worten vor einem Monat und angerufen und Lena beschäftigt.

»Und danach musste ich erst mal damit umgehen lernen, dass du ein neues Herz bekommen würdest«, sagt Kate. »Ich habe Lena angerufen, nachdem sie dich in den OP-Saal geschoben hatten. Das war meine Pflicht.«

»Ich hab nicht gewusst, dass du krank warst.« Lena geht ein paar Schritte ins Zimmer. Ihre Stimme klingt so … so wirklich. »Ich hatte ja keine Ahnung. Es tut mir so unendlich leid, Sunshine.«

Ach, Sunshine, es tut mir so leid.

Mein Traum kehrt zu mir zurück. Als ich geglaubt habe, ich wäre tot. Lena, wie sie sich über mich beugt und meine Sommersprossen berührt. Unsere tintenschwarzen Haare, die sich gleichen. Unsere Bernsteinaugen. Unsere Augenbrauen. Unsere Münder, bei denen die Unterlippe ein klein bisschen größer ist als die Oberlippe.

»Ich kann auch gleich wieder gehen, Sunny«, sagt Lena. »Wenn dir das lieber ist.«

Ich schaue sie an. Versuche immer noch herauszufinden, ob das alles gerade wirklich geschieht. Wenn ich sonst an Lena denke, wenn ich Abend für Abend ihr Foto anschaue, ist sie für mich immer so etwas wie eine Figur in einer Geschichte, die ein offenes Ende hat. Statt einem Punkt nur ein großes Fragezeichen.

Lena und Kate waren früher einmal beste Freundinnen. Ich weiß, dass sie zusammen in Mexico Beach in Florida aufgewachsen sind. Kate hat mich hierher nach Juniper Island gebracht, nachdem Lena nicht mehr in der Lage gewesen war, sich um mich zu kümmern.

Als ich in die erste Klasse gegangen bin, habe ich angefangen, mich zu wundern, warum Kate mir nicht erlaubt hat, sie Mom zu nennen. Ich hatte irgendwelche unscharfen Bilder von einer schwarzhaarigen Frau in Erinnerung, die viel gesungen hat. Aber ich war mir nicht sicher, ob es sie wirklich gab oder ob ich das alles nur geträumt hatte. Ich wusste nur, diese singende Frau war nicht Kate. Da sagte mir Kate, sie sei nicht meine Mutter. Margot hatte eine Mom. Alle meine Freundinnen hatten Moms, aber ich hatte keine. Dafür hatte ich Kate mit ihren weißblonden Haaren und blauen Augen, die so gar nicht wie meine eigenen Augen aussehen.

Eines Tages kam ich nach Hause und fragte Kate, ob ich sie Mom nennen dürfte. Ich weiß noch, wie sie das Messer weggelegt hat. Sie war gerade dabei, Apfelschnitze mit Erdnussbutter zu bestreichen.

»Nein, Sunny«, sagte sie.

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht deine Mom bin.«

»Bist du aber. Du lässt für mich das Wasser in die Badewanne ein und du hast mir meinen Lieblingspyjama mit den Einhörnern drauf geschenkt.«

Sie lächelte mich an, aber in ihren Augen glänzten Tränen. »Das stimmt.«

Ich runzelte die Stirn. Was sie sagte, ergab alles keinen Sinn. Mütter ließen das Badewannenwasser ein. Mütter kauften supertolle, kuschelige Schlafanzüge. »Hab ich denn eine?«

»Eine Mom? Ja, natürlich hast du eine. Und auch einen Dad.«

»Aber er ist tot.«

Sie strich über meine Haare und nickte.

»Und Mom ist nicht tot?«

»Nein, mein Schatz. Sie ist nicht tot. Aber sie war damals sehr, sehr traurig und wusste nicht, wie sie ihre Traurigkeit überwinden konnte. Es hat sie alles überfordert.«

»Was alles?«

»Ihre Traurigkeit. Und zu versuchen, bei dir alles so gut wie möglich zu machen.«

»Hat sie es denn nicht gut gemacht?«

Kate seufzte und reichte mir meinen Teller mit den Apfelschnitzen. Dann hat sie in ihrem Bücherregal nach einem alten Buch gegriffen und wir sind zusammen hinaus auf die Veranda. Auf der Schaukel hat sie mich auf den Schoß genommen. Die Schaukel knarzte leise, während wir in der salzigen Luft schaukelten, und der Ozean flüsterte vom Fuß der Felsen sein beruhigendes Schschsch – schschsch – schschsch zu uns herüber wie ein Wiegenlied.

Kate hat das Buch aufgeschlagen und das Foto einer schwangeren Frau herausgezogen. Sie hatte lange schwarze Haare und leuchtende honigbraune Augen. Ich umklammerte das glänzende Foto mit meinen Fingern. Mein Mund war weit aufgeklappt.

»Sie sieht aus wie ich«, sagte ich.

»Ja. Das ist deine Mom und das da in ihrem Bauch bist du. Sie heißt Lena und hat dich sehr, sehr lieb.«

»Wenn sie mich so lieb hat, warum ist sie dann nicht da?«, fragte ich.

»Sie kann sich nicht mehr um dich kümmern.«

»Warum nicht?«

»Weil sie krank ist.«

»Wie wenn man eine Erkältung hat?«

»Ein bisschen anders«, sagte Kate. »Sie ist Alkoholikerin.«

»Was ist das?«

»Sie trinkt zu viel Alkohol und das ist nicht gut für sie. Sie macht dann Dinge, die man besser nicht machen sollte.«

»So, wie mich im Supermarkt allein lassen?« Wie ein Blitz war es in diesem Moment durch mein sechsjähriges Gehirn gefahren und ich sah einen Fliesenboden vor mir, ich weinte und schrie, und eine blau gekleidete Kassiererin fragte mich, wo denn meine Eltern seien.

»Oh, Sunny, mein Schatz«, sagte Kate und drückte mir einen Kuss auf die Haare.

»Und darum hat sie mich dir geschenkt?«, fragte ich.

»Ja.«

»Für immer?«

»Sie wird wieder für dich da sein. Sie liebt dich. Sie holt sich Hilfe und dann kommt sie zu dir zurück.«

Kate presste ihr Gesicht in meine schwarzen Haare. Ihre Arme hatte sie so fest um mich geschlungen, dass es fast wehtat. Wir saßen ganz lange gemeinsam auf der Verandaschaukel und blickten hinaus aufs Meer. Ich musste immer wieder auf das Foto von Lena schauen. Sie war so schön. Ich wollte sie gern kennenlernen und bei ihr sein. Aber ich wollte auch bei Kate sein. Mit den Fingern fuhr ich über das Gesicht meiner Mutter. Wann sie wohl zurückkommen würde? Ich überlegte, was dann mit Kate geschehen würde.

Aber das war etwas, das ich nie rausfinden musste. Ich wartete. Ein Jahr. Zwei Jahre. Drei Jahre und noch viel länger. Immer habe ich darauf gewartet, dass es Mom besser ging und sie zu mir zurückkehrte. Aber sie kam nie. Jeden Abend habe ich das Foto angeschaut, um sie sofort zu erkennen, wenn sie vor der Tür stehen würde. Aber das war nie notwendig. Deshalb habe ich mir schließlich meine eigene Geschichte ausgedacht. Wie bereits gesagt, ich habe viel Fantasie, das war schon immer so. Lange bevor mein Herz schlappgemacht hat, beschloss ich, dass Lena eine Meerjungfrau war. Sie musste mich einfach verlassen, es ging gar nicht anders. Wir passten nicht zusammen. Für ein normales Menschenmädchen wie mich war sie viel zu rätselhaft und exotisch.

Ich habe Kate nie mehr nach Mom gefragt. Natürlich war sie keine Meerjungfrau, das wusste ich. Aber es interessierte mich nicht, wer sie wirklich war. Denn egal, wie die Antwort gelautet hätte – es lief immer darauf hinaus, dass sie mich verlassen hatte, als ich vier Jahre alt war. Acht lange Jahre habe ich nichts von ihr gehört.

Und jetzt ist sie auf einmal da. Steht an meinem Bett. Nach acht Jahren Schweigen. Jetzt, wo man mir das Herz, das ich von ihr hatte, herausgenommen und durch ein neues ersetzt hat. Plötzlich steht meine Fragezeichen-Mom wie ein riesiges Ausrufezeichen vor mir.

Mein Kopf weiß, dass sie es ist. Mein Kopf weiß, dass sie lang krank gewesen ist.

Aber mein Herz empfindet nichts, als sie vor mir steht.

Jedenfalls nicht das Herz, das jetzt meines ist.

Sie hätte wenigstens einmal anrufen können. Sie hätte mir schreiben können. Sie hätte mich besuchen können. Sie hätte ja nicht für immer bleiben müssen. Das hat sie alles nicht getan.

Ich will wissen, warum. Ich will ich sie fragen, warum sie das nicht getan hat. Und gleichzeitig will ich es nicht wissen. Fühlt sich komisch an, wenn man sich etwas schon so lange so sehr wünscht und gleichzeitig will man es gar nicht. Davon wird mir ganz schwindlig und mein Atem geht hektisch und flach.

Ich rolle mich in meinem Bett zusammen und drehe mich auf die andere Seite, sodass ich der Meerjungfrau und den beiden anderen den Rücken zukehre. Als ich mich umdrehe, fährt mir ein scharfer Schmerz durch den Körper. Die Bewegung war nicht gut für die Narbe auf meiner Brust. Aber das ist mir egal. Ich muss dringend etwas aufschreiben, ich brauche Stift und Papier. In meinem Kopf drängen sich so viele Gedanken, die ich unbedingt loswerden muss. Wenn ich die Wörter auch noch reimen könnte, würde daraus bestimmt ein großartiger Song werden. Mein Gehirn spuckt Wörter wie Erinnerung und verlassen und allein aus, an die ich mich klammere und die ich fest an mich drücke, damit ich nicht anfange zu heulen. Jetzt vor den anderen zu heulen ist das Letzte, was ich will.

Keiner sagt etwas. Schließlich küsst Kate mich auf die Haare und steht von meinem Bett auf. Dave steht ebenfalls aus dem Sessel auf, weil er ihr immer alles nachmacht. Dann flüstert Kate meiner Meerjungfrau etwas zu.

Ich stecke die Finger in die Ohren und bohre sie so tief hinein, bis ich nichts anderes mehr hören kann als mein Herz, das schlägt und schlägt und schlägt und Blut durch meinen Körper pumpt – genau so, wie es ein ordentliches Herz tun soll.

Ich habe keine Erinnerung

an damals,

an dich nicht

und auch sonst nicht.

Alles ist verschwommen.

Wir haben unter Wasser gelebt.

Dann hast du mich verlassen,

und jetzt tauchst du

plötzlich auf

und schnappst nach Luft.

Wie war es heute für dich,

als ich mich weggedreht habe?

Hat dir da das Herz geblutet?

Mein Herz schlägt stark

und selbstsicher.

Du bist ihm fremd.

Vier

Als ich aufwache, fühle ich mich, als hätte ich literweise Meerwasser verschluckt und kurz darauf alles wieder rausgekotzt. Ich bin in einem merkwürdigen Schwebezustand: Mein Kopf ist ganz benommen, und ich muss wohl immer wieder etwas von Meerjungfrauen und dem Ozean vor mich hin gemurmelt haben, denn eine Stimme – dem strengen, schnippischen Tonfall nach eine übermüdete Krankenschwester – versichert mir mehrmals, dass ich mich in der Kinderklinik von Port Hope befinde. Auf dem Festland. Von Juniper Island mit dem Auto eine halbe Stunde entfernt.

Als der Nebel in meinem Kopf sich etwas lichtet, habe ich keine Ahnung, welcher Tag ist. Mir tut alles weh, ich habe immer noch einen Schlauch in der Nase und hänge am Tropf, und Kate darf ich nicht länger als ein paar Minuten am Stück sehen, solange ich noch auf der Intensivstation bin. Mein Brustkorb fühlt sich komisch an – zum Teil taub, zum Teil wow-das-tut-ja-mega-weh und zum Teil … einfach seltsam. Eine leuchtrote Linie, kreuz und quer von Stichen unterbrochen, zieht sich bis zu meinem Bauchnabel hinunter. Eine Narbe, die ich mein ganzes Leben lang behalten werde.

Wie sich herausstellt, bin ich nicht tot. Aber als ich es war, hat sich alles sehr, sehr komisch angefühlt, so viel ist klar.

»Du warst nicht tot, Sunny«, sagt Kate, während sie versucht, das unaufschüttelbare Kopfkissen in meinem Krankenhausbett aufzuschütteln. Seit meiner Operation ist eine Woche vergangen, und es geht mir inzwischen gut genug, um in den nächsten Tagen von der Intensivstation in ein normales Krankenzimmer verlegt zu werden.

»Ich war tot. Und ich bin dabei einer Meerjungfrau begegnet. Wir waren beide unter Wasser. Im Meer. Ich hab dann noch mal von ihr geträumt, da saß sie hier neben meinem Bett. Das mit unserer Begegnung im Meer war hübsch, aber hier im Krankenhaus kann ich sie nicht gebrauchen, nein, danke.«

Ich habe keine Lust, Kate zu erzählen, dass die Meerjungfrau nicht einfach irgendjemand war, sondern Mom. Würde ich das nämlich, dann würde sie bestimmt aufseufzen, sich zu mir auf die Bettkante setzen und mich fragen, ob ich über Lena reden will. Meine Antwort darauf lautet: NEIN. So war es und so wird es auch für immer bleiben.

Deshalb halte ich den Mund. Kate reibt sich die Augen und setzt sich trotzdem zu mir aufs Bett. Mit einem schweren Seufzer stößt sie meinen Namen hervor, als würde er eine Million Tonnen wiegen.

»Wow«, sage ich. »Du hast’s echt drauf. Da ziehen beim schönsten Sonnenschein am Himmel Gewitterwolken auf.«

Womit ich ihr ein Lächeln entlocke. Sie fährt mir mit einer Hand über die Haare. »Du bist immer noch die alte Sunny. Das ist gut so.«

Ich nicke. Trotzdem komme ich ins Grübeln. Bin ich das wirklich noch? Egal, was Kate sagt, ich bin gestorben. Die alte Sunny gibt es nicht mehr. Sie ist tot. Für immer. Unter meiner Narbe habe ich in meiner Brust ein neues Herz. Es ist nicht mehr das Herz, mit dem ich geboren worden bin. Ich lege Daumen und Zeigefinger auf meinen Hals. Presse meine Handfläche auf die linke Hälfte meines Brustkorbs. Jedes Mal spüre ich dasselbe gleichmäßige Herzklopfen. Es kommt von dem neuen Herz. Es ist da drin in meiner Brust und macht seine Arbeit. Bisher noch kein einziger Stolperer.

Ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken, von wem das Herz wohl stammt, das ich jetzt habe. Welchen Namen das Mädchen hatte. Ob sie schon mal jemanden geküsst hat. Ich weiß nur, dass es sich um ein Kind ungefähr in meinem Alter gehandelt haben muss. Man kann nämlich nicht einfach irgendein altes Herz in den Brustkorb eines zwölfeinhalbjährigen Mädchens einpflanzen. Ein Kind in meinem Alter musste sterben. Das Mädchen, von dem ich den Namen nicht weiß, ist tot. Tot-tot und nicht nur im Traum tot. Und ich kann und darf jetzt wegen ihr weiterleben.

Aber man weiß bei Herztransplantationen nie. Von einer Minute auf die andere, sogar von einer Sekunde auf die andere, könnte mein Körper sich plötzlich wehren und zu dem neuen Herz sagen: »Tut mir leid, ich will nicht.« Man nennt das Organabstoßung, hat mir Dr. Ahmed erklärt. Der Körper glaubt dann, dass das neue Herz ein Feind ist, der bekämpft werden muss. Wenn dieser Fall eintritt, ist der Tod ziemlich unausweichlich. Deshalb muss ich jede Menge Tabletten schlucken und noch lange im Krankenhaus bleiben, damit die Ärzte mich fünftausendmal am Tag anpiksen und untersuchen können.

Trotzdem, Hallo an alle, ich bin am Leben. Immer noch. Und das reicht für mich aus, um gleich den Plan für Mein neues Leben in die Tat umsetzen zu wollen. MEIN NEUES LEBEN – ganz groß geschrieben, wie der Titel von einem supertollen Musikalbum oder Buch, so sehe ich es vor mir. Über den Plan, den ich dafür habe, habe ich monatelang zu Hause auf dem Sofa nachgedacht. Wenn ich ein neues Herz bekommen würde, wollte ich vorbereitet sein. Jetzt ist es so weit. Ich habe ein neues Herz – und von nun an wird in meinem Leben alles anders sein.

Zuerst aber muss ich aus dem Krankenhaus raus, und damit ich das kann, muss ich zu Kräften gekommen sein. Deshalb protestiere ich mit keinem Wort, als eine Frau namens Viv in mein Zimmer rauscht und mich aus dem Bett scheucht. Ich soll aufstehen. Sie verlangt von mir, dass ich herumgehe. Ich schiebe dabei eines dieser Gestelle vor mir her, wie es normalerweise nur alte Menschen benutzen, und brauche ungefähr fünfhundert Stunden, bis ich den Gang entlanggeschlurft bin. Aber ich schaffe es. Zwar tut mir weiter alles weh und ich kann nur flüssige Nahrung zu mir nehmen, aber es geht mir besser als vor der Operation. Ich komme nicht so schnell außer Atem und meine Knöchel schwellen nicht mehr sofort an. Wenn ich müde werde, dann ist es auf eine gute Art und Weise. Die Art von Müdigkeit, die ich früher gespürt habe, wenn ich richtig viel geschwommen oder mit Margot am Strand um die Wette gerannt bin.