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Buch

Paris: Der Wiener Privatdetektiv Peter Hogart begleitet seine Freundin Elisabeth zur Versteigerung eines wertvollen Kunstwerks. Die aus Elfenbein geschnitzte Knochennadel stammt von einem geheimnisumwobenen mittelalterlichen Künstler, und im Auftrag einer Versicherung soll Elisabeth den ordnungsgemäßen Ablauf der Auktion überwachen. Doch dann verschwinden sowohl die Knochennadel als auch Elisabeth unter mysteriösen Umständen – und kurz darauf wird einer der Teilnehmer der Auktion brutal ermordet. Hogart ist sich sicher, dass ein Zusammenhang besteht, und fürchtet um Elisabeths Leben. Weil er bei der französischen Polizei kaum Unterstützung findet, beginnt er selbst zu ermitteln. Bald stellt er fest, dass er nicht der Einzige ist, der Interesse an dem Verbleib der Knochennadel hat. Als dann auch noch eine zweite Leiche auftaucht, wird aus Hogarts Ermittlungen ein Wettlauf gegen die Zeit …

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Andreas Gruber

Die Knochennadel

Thriller

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Originalausgabe Oktober 2020

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Ein Projekt der AVA international GmbH

Autoren- und Verlagsagentur

www.ava-international.de / www.agruber.com

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Arcangel / Claudia Carlsen

FinePic®, München

Karte von Paris: © Peter Palm, Berlin

TH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-25822-1
V002

www.goldmann-verlag.de

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für Robert Froihofer,

die Poker-Legende

von Grillenberg

»Paris ist nicht bloß die Hauptstadt von Frankreich,
sondern der ganzen zivilisierten Welt und
ist ein Sammelplatz ihrer geistigen Notabilitäten.
Versammelt ist hier alles, was groß ist
durch Liebe oder Hass,
durch Fühlen oder Denken,
durch Wissen oder Können,
durch Glück oder Unglück,
durch Zukunft oder Vergangenheit.«

Heinrich Heine, Französische Zustände

PROLOG

Ein dumpfes Geräusch riss Aimée aus dem Schlaf. Sie drehte sich im Bett um und tastete nach ihrem Idefix-Wecker. Der blinkte mit roten Ziffern. 00:09.

Wieder einmal Stromausfall! Und zwar vor genau neun Minuten.

Wie spät war es wohl tatsächlich? Aimée öffnete schlaftrunken die Schublade, tastete hinein und zog ihre rote Plastik-Armbanduhr heraus.

3.27 Uhr.

Nur noch drei Stunden, dann musste sie aufstehen und sich für die Schule fertig machen. Was war das vorhin für ein Geräusch gewesen? Egal! Wahrscheinlich hatte sich Mutter unten in der Küche ein Glas Wasser geholt und die Kühlschranktür zu fest zuge… Da, schon wieder! Eher dumpf. Wie von einem festen Schlag!

Jetzt saß Aimée aufrecht im Bett. Rasch schlüpfte sie unter der Decke hervor, schlich zur Tür, öffnete sie leise und lauschte. Der Gang lag im Dunkeln, das Mondlicht erhellte nur schwach den Teppich, die Kommode und die Gemälde an den Wänden. Von unten drangen Keuchen und Schnaufen herauf.

Mit nackten Füßen und in ihrem Wollpyjama huschte Aimée zum Absatz der breiten Holztreppe, die in den unteren Stock der Villa führte. Von hier oben wirkten die mannsgroßen griechischen Statuen, die in der Vorhalle mit dem schwarz-weiß gemusterten Boden standen, fast lebendig. In nahezu jeder Ecke des Hauses waren sie zu finden. Wegen der Sammelleidenschaft ihrer Mutter wusste Aimée mit ihren neun Jahren besser über Kunststile und Kulturepochen Bescheid als all ihre Mitschülerinnen zusammen.

Da öffnete sich die Tür am Ende des Gangs auf ihrer Etage. Sanftes Mondlicht fiel aus dem Zimmer auf den Teppich, und im Türrahmen sah Aimée die Umrisse ihres sechsjährigen Bruders. Davids Haare standen struppig weg. Er hielt seinen Teddybär in der einen Hand und rieb sich mit der anderen verschlafen die Augen. Als er Aimée am Treppenabsatz erkannte, taumelte er auf sie zu. Obwohl von unten weiter das Geräusch von Schlägen und ein lautes Stöhnen heraufdrang, das nach ihrer Mutter klang, legte sie rasch die Finger über die Lippen. Er begriff sofort, schlich leise zu ihr und drückte sich an sie.

»Hast du das auch gehört?«, flüsterte er.

»Ja.«

»Was ist da unten?«

Ich weiß es nicht, wollte sie gerade sagen, als etwas laut krachte, gefolgt von einem Splittern, als wäre eine von Mutters wertvollen Porzellanvasen auf den Boden gefallen.

Aimée zuckte zusammen, und David begann zu wimmern.

Nun fielen Schatten aus dem Wohnzimmer auf den Fliesenboden der Eingangshalle. Dort unten kämpft jemand! Mit Mutter!

»Komm mit, aber sei leise!«, zischte Aimée. Sie packte ihren Bruder an der Hand und zerrte ihn mit sich hinunter. Die Treppe knarrte, doch bei dem Lärm da unten war das garantiert nicht zu hören.

Als sie die Zwischenetage erreichten, spürte Aimée einen kühlen Luftzug. Sie blieb stehen und sah sich um. Einer der Vorhänge in der Eingangshalle bauschte sich auf. Scherben schimmerten auf dem Boden. Jemand musste die Fensterscheibe eingeschlagen haben und ins Haus eingedrungen sein. Aber warum war die Alarmanlage nicht losgegangen?

Der Stromausfall!

Aimées Herz schlug schneller. Sie hockte sich hin, David kauerte sich neben sie. Von dieser Stelle aus konnten sie zwischen den Holzstreben des Geländers hindurch ins Wohnzimmer spähen. Nun sahen sie tatsächlich ihre Mutter. Mit offenen Haaren und in ihrem cremefarbenen Nachthemd mit den Rüschen kämpfte sie mit einem maskierten Mann in dunkler Kleidung.

Aimée unterdrückte einen Schrei. Sie spürte, wie sich David an sie klammerte. »Lauf rauf und hol Papa«, wisperte Aimée, doch David bewegte sich nicht, hockte nur starr da.

»Mach schon!«, zischte Aimée.

David hob die Hand und zeigte in die hintere Ecke des Wohnzimmers. Dort lag eine reglose Gestalt in einem hellen Morgenmantel. Die kurzen grauen Haare glänzten im Mondlicht. Jetzt wäre Aimée beinahe doch ein Schrei entfahren. Papa! Der fremde Mann musste ihn niedergeschlagen haben. Bitte sei nicht tot!

Indessen rang ihre Mutter verzweifelt mit dem Kerl. Er packte und würgte sie, hob sie dabei hoch, sodass ihre zappelnden Beine zum Teil gar nicht mehr den Boden berührten.

Mama!

Aimées Herz schien stehen zu bleiben. Was, wenn er auch sie tötete? Was, wenn er danach raufging, um nach ihnen zu suchen? Ausgerechnet in dieser Nacht waren sie allein zu Hause, da ihr majordome, ihr Butler und Hausmeister, frei hatte. Was suchte der Einbrecher überhaupt hier?

Aimée bemerkte, dass ihr Vater sich zu bewegen begann. Ganz langsam, zuerst die Arme, dann die Beine. Papa ist am Leben! Jetzt würde alles gut werden. Er würde Mama zu Hilfe eilen und den Einbrecher vertreiben.

»Schau!« David fing aufgeregt an, mit den Fingern in Richtung ihres Vaters zu wedeln, doch Aimée presste ihm rasch die Hand auf den Mund.

»Sei leise!«, zischte sie.

Ihr Vater erhob sich. Dabei drückte er die Hand gegen die Schläfe, wo der Einbrecher ihn anscheinend getroffen hatte. Er taumelte auf den Mann zu, der immer noch ihre Mutter im Würgegriff hielt.

»Keinen Schritt weiter!«, ertönte da eine fremde keuchende Stimme.

Aimée spürte, wie David sich vom Treppengeländer losreißen wollte, um hinunterzulaufen. Doch ihre Finger krallten sich in seinen Arm, hielten ihn zurück. Er schrie auf, im gleichen Moment krachte ein Schuss.

Aimées Herzschlag setzte aus.

Der Fremde ließ den Hals ihrer Mutter los. Sie wurde schlaff in seinen Armen, sank langsam auf die Knie und fiel dann wie ein nasser Sack nach vorne, wo sie liegen blieb.

Nein, nein, nein!

Aimées Blick verschwamm. Sie ließ David los, ebenso das Geländer, das sie die ganze Zeit mit der anderen Hand umklammert hatte. Sie wollte aufstehen, spürte jedoch etwas Warmes, das sich um ihre Füße ausbreitete. Es roch nach Urin. David hatte sich in die Hose gemacht. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund hockte er neben ihr und starrte auf ihre Mutter, die einfach nur dalag und sich nicht mehr bewegte.

Als Aimée endlich nach Luft schnappte und wieder klar sah, konnte sie den Blick nicht von dem Einbrecher lösen. Er und ihr Vater standen sich wortlos gegenüber. Niemand bewegte sich.

Als Nächstes wird der Mann meinen Vater töten, schrie eine Stimme in ihr. Sie fühlte sich völlig hilflos.

Bis sie merkte, dass etwas an dieser ganzen Situation nicht stimmte.

»Papa?«, murmelte sie.

Nicht der Einbrecher hielt die Waffe in der Hand, sondern ihr Vater.

Er hatte Mutter erschossen.

1. TEIL

PARIS
Fünfzehn Jahre später
Montag, 14. September

1. Kapitel

Mitten im Pariser Zentrum lag die Opéra Garnier – die Pariser Oper –, die trotz des wenigen Platzes, den man ihr zwischen den Häuserschluchten zugestanden hatte, majestätisch über der Stadt thronte.

Vor einigen Jahren hatte man ihr großes 150-jähriges Jubiläum gefeiert. Soviel Peter Hogart wusste, hatte es einige Jahre vor der ursprünglichen Eröffnung in der vorigen Oper einen Bombenanschlag gegeben, bei dem Teile des Gebäudes in Schutt und Asche gelegt worden waren. Das gab es damals also auch schon. Ein neues Opernhaus mit höheren Sicherheitsstandards musste her. Klingt verdammt vertraut. Deshalb hatte eine anonyme Ausschreibung stattgefunden, die schließlich der junge Architekt Garnier gewann.

All das, was es auch heute noch in der Oper zu sehen gab, die prunkvollen Treppen, Balkone, Säulenhallen, Rundbögen, Kronleuchter und Deckenfresken, ging auf Garniers visionäres Denken zurück. Doch so beeindruckend das auch wirkte – aus heutiger Sicht waren die Sicherheitsvorkehrungen alles andere als berauschend. Eine Tatsache, die Hogart bei seinem Besuch in der Oper sofort ins Auge gesprungen war. Das sagte ihm nicht nur seine Erfahrung als Versicherungsdetektiv, mit der er so manchen angeblich unlösbaren Fall geknackt hatte, sondern auch sein gesunder Menschenverstand. Allerdings hielt er den Mund – schließlich war er diesmal rein privat in Paris.

Die letzte deutschsprachige Führung an diesem Nachmittag war schon beinahe am Ende angelangt. Am meisten war Hogart von der riesigen Bühne beeindruckt gewesen, die weit in das Innere des Gebäudes und fünf Stockwerke tief hinunter reichte. Im Moment war noch Sommerpause, und die Handwerker arbeiteten an einem neuen Bühnenbild zur Wiedereröffnung. Außerdem hatte Hogart während der Führung den Schauspielern bei der Probe von Les Misérables zuhören können. Ein Musical! Normalerweise wurde das Haus mit Mozart oder Verdi bespielt, aber offenbar sollte das ein Special Event zur Saisoneröffnung werden. Dafür, dass die Premiere schon an diesem Samstag stattfinden sollte, sah alles noch sehr chaotisch aus.

Nachdem sie auch die Seitenpavillons, das Vestibül und das Pausenfoyer gesehen hatten, stand nun der angebliche Höhepunkt bevor.

»Dort hinten ist es«, wisperte Tatjana aufgeregt.

»Das ist doch nur ein Fake«, bremste Hogart die Euphorie seiner Nichte. »Das Phantom hat es nie gegeben, es ist bloß die Erfindung eines Schriftstellers.«

»Und was macht dich da so sicher?« Sie folgte dem jungen Mann, der die kleine Touristengruppe zu einer holzvertäfelten dunkelbraunen Tür führte. Dort breitete der Guide die Arme aus.

»Und in dieser Loge saß das berühmte Phantom der Oper, um sich die Vorstellungen anzusehen.«

Unter der Bezeichnung 6 Places 5 Louée hing ein Schild.

»Loge du Fantôme de l’Opéra«

Darunter befand sich ein rundes Guckloch, durch das man einen Blick in die Loge erhaschen konnte.

Tatjana presste ihr Gesicht ans Glas. »Siehst du«, zischte sie.

Hogart verdrehte die Augen.

»Und den unterirdischen See gibt es auch«, beharrte sie.

»Der ist genauso eine Legende«, flüsterte Hogart. »Bei den Bauarbeiten sind sie auf Grundwasser gestoßen und haben wegen Statik und Druckausgleich eine große Eisenwanne eingebaut, die gleichzeitig als Wasserreservoir für die Feuerwehr …«

»Danke, ich habe genug Sachbücher darüber gelesen und außerdem den Film gesehen«, unterbrach sie ihn.

»Den von Walt Disney?«, fragte er trocken.

»Nein, den Klassiker von 1925.«

Obwohl Tatjana schon neunzehn war, benahm sie sich in ihrer Begeisterung manchmal wie ein Kind. Und diese junge Frau wollte wie er eine Detektivin werden!

»Durch das Musical Das Phantom der Oper wurde dieses Opernhaus schließlich selbst zur Kulisse eines Stücks«, sagte ihr Guide. »Und damit sind wir am Ende unserer Führung angelangt.«

Hogart blickte auf die Uhr. Es war halb fünf, die Auktion würde bald beginnen.

Nach einem kräftigen Applaus und einigen Euro Trinkgeld löste sich die Gruppe auf. Tatjana fotografierte noch die Loge des Phantoms mit ihrem Handy, knipste nebenbei auch noch den jungen Guide im Profil, und im nächsten Moment war Hogart mit ihr allein.

»Suchen wir Elisabeth?«, schlug er vor.

Tatjana nickte. Sie gingen zurück ins Vestibül und weiter in den hinteren Bereich des Gebäudes, wo die Abteilungen für Technik und Verwaltung lagen.

»Was für ein Prunk«, staunte Tatjana.

Ja, es war erschreckend. Durch die vielen Kronleuchter und Laternen glänzte nicht nur der Marmor in Goldfarben, sondern das gesamte Interieur des Opernhauses. Man bekam den Eindruck, in einem gigantischen Schmuckkästchen zu stehen. Und trotz hunderter Besucher, die mit Fotoapparaten herumliefen, war immer noch so viel Platz. Die offene Bauweise umfasste sowohl die breiten Aufgänge als auch die Balustraden weiter oben, von denen man einen Ausblick auf die Eingangshalle hatte. Wie hatte Garnier es einst treffend formuliert? Die Oper war gebaut worden, um zu sehen und gesehen zu werden.

»Was machen wir nachher, wenn Elisabeth die Auktion beendet hat?«, fragte Tatjana.

»Zuerst einmal aus der Oper abhauen, bevor sie uns mit den anderen Besuchern rauswerfen. Um sechs machen sie hier dicht. Wir könnten auf den Eiffelturm gehen.«

»Und morgen?«

»Das Grab von Jim Morrison auf dem Père-Lachaise besuchen, Sacré-Cœur besichtigen, eine Bootsfahrt auf der Seine unternehmen oder nach Versailles fahren.«

»Oder wenn es regnet eine Vampir- und Geistertour durch die unterirdischen Katakomben von Paris machen und uns das Beinhaus anschauen«, schlug sie vor.

Hogart verzog das Gesicht. Nach diesem Besuch hatte er eigentlich genug von mühsam in Szene gesetzter Mystik. »Oder in ein Antiquariat, eine Tauschbörse oder eine nostalgische Kinovorstellung«, schlug er vor. Schon als Kind hatte er die Schulausflüge immer geschwänzt und stattdessen die Vormittagsvorstellung eines Filmtheaters besucht.

»Wie spannend!« Tatjana hielt ihr Handy hoch, verdrehte jedoch die Augen. »Die Verbindung hier ist zum Kotzen.«

Hogart hob den Blick zur Decke. »Massives Steingebäude.«

»Und wie soll ich bei diesem Funkloch bitte schön online gehen?«

»Gar nicht! Die Vorstellungen sollen ja nicht durch Handys gestört werden.«

»Und das wussten die damals schon, als sie die Oper gebaut haben?«

Hogart schüttelte nur den Kopf. Manche Dinge stellten sich eben erst im Nachhinein als sinnvoll heraus.

»Oh, jetzt geht was«, rief sie. »Haben wir ein Glück, ab morgen wird es schön.«

»Sagt wer? Deine tolle Wetter-App, die gestern schon falschgelegen ist?«

»Apps sind das Werkzeug des modernen Detektivs«, erklärte sie ihm. »Du solltest auch langsam auf ein Computersystem umsteigen.«

»Ich habe eines, das weder abstürzt noch für Viren anfällig ist.«

Sie sah ihn fragend an.

Er bewegte nur die Finger. »Papier und Bleistift.«

»Wie fortschrittlich.«

»Und außerdem arbeite ich hiermit«, er tippte sich an die Stirn, »wie die Detektive in der guten alten Zeit.«

»Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, aber gerade jetzt ist die gute alte Zeit, nach der du dich in zwanzig Jahren zurücksehnen wirst.«

Klar, rede du nur!

Sie waren bis Freitagabend in Paris, ab morgen alle drei nur noch privat. Bloß heute hatte Elisabeth etwas Berufliches zu erledigen, denn an diesem Abend fand in der Opéra Garnier unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Medien eine Auktion statt. Seiner Meinung nach zwar ein eher merkwürdiger Veranstaltungsort, aber er hatte schon mehrere seltsame Dinge im Lauf seines Lebens erlebt, und außerdem ging es ihn ja auch nichts an. Jedenfalls hatte die Oper den Versicherungsriesen Medeen & Lloyd mit der finanziellen Abwicklung beauftragt. Da Elisabeth für Medeen & Lloyd als Gutachterin für Kunstgegenstände arbeitete und zudem staatlich geprüfte Auktionatorin war, leitete sie die Veranstaltung. Mit französischen Wurzeln seitens einer verstorbenen Großmutter und einem exzellenten Fachwissen über französische Antiquitäten war sie wie geschaffen für diesen Job.

Hogart hatte sie begleitet und in einem Anfall von onkelhaftem Großmut Tatjana mitgenommen. Immerhin war seine Nichte im Sommer neunzehn geworden, wollte schon immer mal Paris sehen, lernte neben ihrer Ausbildung an der Polizeischule in einem Abendkurs an der Volkshochschule Französisch und hatte diese Woche noch Ferien. Ausschlaggebend war für Hogart aber gewesen, dass sie dieses Mal auf einem reinen Urlaubstrip waren und seine kleine Hobby-Detektivin keine Gelegenheit haben würde, ihn wieder mit ihrem kriminalistischen »Wissen« zu beglücken.

»Was wird eigentlich versteigert?«, fragte Tatjana.

»Keine Ahnung, bin privat hier.«

Was glatt gelogen war, denn er wusste ganz genau, was heute unter den Hammer kam: ein etwa achtzehn Zentimeter großes, aus Elfenbein geschnitztes Exponat des französischen Künstlers Bíro aus dem 12. Jahrhundert, das den charmanten Namen Die Knochennadel trug und extrem hässlich war. Der Rufpreis lag bei 950 000 Euro, und bis gestern war die Knochennadel einen Monat lang im Louvre ausgestellt gewesen, um interessierte Käufer zu informieren. Aber das sollte Tatjana ohne ihn herausfinden. Sie war schließlich die Superdetektivin. Außerdem war er froh, sich einmal nicht den Kopf über Kunstquatsch zerbrechen zu müssen.

Sie gingen einen langen Korridor entlang und kamen in die Nähe des kleinen Auktionssaals, wo eine zwischen zwei goldverzierten Ständern gespannte Kordel den Zutritt versperrte.

Ein großer Mann in schwarzer Uniform mit rotem Bürstenhaarschnitt und vorspringendem Kinn hielt Hogart und Tatjana mit einer dezenten Handbewegung auf. Neben ihm stand eine ebenso hochgewachsene Dame in der gleichen Montur, die ihn musterte.

»L’Auction«, sagte Hogart knapp, obwohl er wusste, dass das nicht gerade sehr französisch klang, was er da von sich gab. Daher nickte er zum Auktionssaal und wedelte mit einem Flyer, auf dem die Knochennadel abgebildet war.

»Du wusstest es also doch!«, zischte Tatjana.

»Klar.«

Der Flyer reichte, damit der riesenhafte Kerl die Kordel abnahm und sie durchließ.

950 000 Euro, und die Sicherheitsvorkehrungen sind der reinste Witz!

Jeder, der rein wollte, kam auch rein.

2. Kapitel

Vor dem eigentlichen Eingang des Saals trafen sie auf Elisabeth, die in ein Gespräch mit einer älteren Dame vertieft war. Elisabeth trug ihren dunkelblauen Hosenanzug zusammen mit dem roten Schal und den roten Stöckelschuhen. Auf ihrem Blazer steckte ein Schild. Elisabeth Domenik – commissaire-priseur. Sie sah zwar noch sehr jung, aber unglaublich kompetent und hinreißend aus. Selbst in einem Kartoffelsack wäre sie eine Augenweide gewesen, mit ihren blonden gewellten Haaren und dem atemberaubenden Lächeln.

»Ah, hallo …« Sie bemerkte Hogart und gab ihm einen Kuss. »… mein grauer Wolf«, flüsterte sie. Eine kleine Anspielung auf sein Alter. Dann wandte sie sich an ihre Gesprächspartnerin. »Mein Lebensgefährte, Peter Hogart, und seine Nichte Tatjana«, stellte Elisabeth sie beide vor.

Hogart und Elisabeth kannten sich zwar schon seit zweieinhalb Jahren, waren aber erst seit drei Monaten ein Paar. Auch wenn es noch ein wenig früh schien, hatten sie vereinbart, einander gegenüber anderen als Lebensgefährten vorzustellen, weil Freund und Freundin so dämlich klang und sie, Anfang dreißig, und er mit seinen knapp fünfundvierzig Jahren schon lange über dieses Alter hinaus waren.

Hogart musste jedes Mal schmunzeln, wenn er an ihren ersten gemeinsamen romantischen Abend in ihrem Lieblingssteakhouse dachte, an dem sie ihn mit einer Rose und den Worten überrascht hatte, dass er das allein ja doch nie hinbekommen würde.

»Grins nicht so blöd«, zischte Elisabeth ihm zu, dann stellte sie ihr Gegenüber vor. »Frau Dr. Meyer-Lanski.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Die ältere Dame, die genauso groß war wie Elisabeth, hatte schulterlanges graues Haar und trug ein schwarzes Kostüm. Sie sprach fast akzentfreies Hochdeutsch mit leichtem Berliner Dialekt. Außerdem hatte sie einen festen Händedruck und funkelnde eisblaue Augen, mit deren Blick sie Hogart nun regelrecht sezierte.

»Die kulturelle Leiterin des Opernhauses«, erklärte Elisabeth.

Dachte mir schon, dass das keine normale Besucherin ist. »Angenehm.« Hogart lächelte. Bei diesem Drachen spurte das Personal vor Ort sicherlich ohne Mätzchen.

Hogart fiel auf, dass sie Tatjana etwas länger als nötig betrachtete, vor allem die wilde Mähne mit den schwarzen Rastalocken, die Doc Martens und die alte Lederjacke, die aussah, als hätte sie schon Hogarts Großvater in den 50er Jahren beim Motorradfahren getragen. Mit den Dreadlocks war Tatjana anscheinend nicht nur auf der Polizeischule ein obskurer Anblick.

Sind wir hier im Zoo, schien deren irritierter Blick jetzt zu sagen. Zum Glück blieb Meyer-Lanski Tatjanas Spinnen-Tattoo auf der Schulter verborgen.

»Wir wollten nicht stören, bloß Hallo sagen.« Hogart wollte sich schon wieder abwenden.

»Kein Problem, wir haben bereits alles besprochen.« Elisabeth klappte ihre rote Mappe zu und klemmte den Medeen & Lloyd-Kugelschreiber an die Hülle. »Wie war eure Führung?«

»Riesig.« Tatjana strahlte. »Die Bühne ist der Hammer!«

»Habt ihr auch den unterirdischen See gesehen?«, fragte Elisabeth.

»Wanne«, korrigierte Hogart.

»Leider nur durch ein Gitter.«

»Und die Loge des Phantoms?«, wollte Elisabeth wissen.

»Du meinst die Loge mit dem Schild? Ja, die haben wir auch gesehen«, raunte Hogart.

Tatjana stieß ihm den Ellbogen hart in die Seite. »Ja, auch die ist toll!«

Dr. Meyer-Lanski schob sich die Brille auf die Nasenspitze und blickte über den Rand. »Womöglich hat es das Phantom tatsächlich gegeben …«

Jetzt ging das wieder los!

»Siehst du«, rief Tatjana.

»Von mir aus«, gab Hogart sich geschlagen. Er hatte keine Lust, mehr Energie als nötig auf dieses Thema zu verschwenden.

»Sie glauben nicht daran?«, fragte Meyer-Lanski herausfordernd.

»Ich glaube an eine gut funktionierende Werbekampagne für Touristen.« Er dachte an die vielen Masken, Poster und Fähnchen zum Thema Phantom im Souvenirshop.

»Möglicherweise basiert Gaston Leroux’ Roman ja auf wahren Begebenheiten«, bemerkte sie augenzwinkernd.

Oh, schau an, sie konnte sogar kokett sein.

»Sie meinen so wie Dracula, Frankenstein und Jekyll & Hyde?«, entgegnete er.

Sie seufzte. »Wären Sie nicht Elisabeth Domeniks Lebensgefährte, würde ich keine Minute an Ihre kulturelle Bildung verschwenden, doch in Ihrem Fall mache ich gern eine Ausnahme. Jetzt schließt das erste Untergeschoss leider schon bald, aber wenn Sie morgen die Sonderausstellung der Oper besuchen, werden Sie dort den Briefwechsel zwischen Gaston Leroux und Lon Chaney finden.«

Hogart horchte auf. »Der Lon Chaney?«, entfuhr es ihm. »Der im Stummfilm von 1925 das Phantom gespielt hat?«

Nun hob Meyer-Lanski überrascht die Augenbrauen. »Sie sind ja doch nicht so unwissend, wie Sie vorgeben.«

»Der Schein trügt. Mein Onkel liebt nur alte Schwarz-Weiß-Filme und sammelt Autogramme und Filmplakate«, erklärte Tatjana.

Hogart ignorierte den Seitenhieb. Lon Chaney! Das klang ja nun wirklich interessant. »Und wie sind Sie an diese Briefe gekommen?«, fragte Hogart skeptisch.

»Ich bitte Sie! Wenn jemand davon Kenntnis hat, dann wohl ich«, sagte sie ein wenig echauffiert. »Und als kulturelle Leiterin der Oper habe ich meine Methoden.«

»Und was schreibt Leroux? Dass er das Phantom mit eigenen Augen gesehen hat?«

Meyer-Lanski kniff die Augen zusammen, als fühlte sie sich ein klein wenig veräppelt. »Lesen Sie sich morgen die Briefe durch.«

»Garantiert.« Tatjanas Augen leuchteten.

Und diesmal konnte er ihr nur aus vollem Herzen zustimmen. Schon allein Lon Chaneys Signatur zu sehen wäre einen neuerlichen Opernbesuch wert.

In diesem Moment gingen einige auffällig gut gekleidete Damen und Herren an ihnen vorbei und reichten einem Angestellten eine Karte. Der öffnete die Tür zum Auktionssaal, und Hogart erhaschte einen Blick hinein. Der Raum bot für etwa siebzig Personen Platz, war aber nur zu zwei Drittel gefüllt. Seitlich gab es eine kleine Videowand. Hogart konnte auf dem Monitor die Silhouette eines Mannes erkennen. Offenbar wurde sogar ein Interessent per Videostream live dazugeschaltet, der gegenüber den anderen Mitbietern anonym bleiben wollte.

»In wenigen Minuten geht es los«, sagte Elisabeth. »Es sind schon fast alle da.«

Fast alle?

Hogart blickte noch einmal in den Raum. »Einen Monat im Louvre ausgestellt, und dann sind nur so wenige an der Auktion interessiert?«, flüsterte er.

Elisabeth wollte etwas sagen, doch Meyer-Lanski übernahm die Antwort. »Als die Knochennadel vor einem halben Jahr überraschend aufgetaucht ist, hat das natürlich Wellen geschlagen. Dennoch ist es eine Insider-Versteigerung ohne öffentlichen Zutritt, nur mit vorheriger Anmeldung, und bei der Höhe dieses Rufpreises sind nur noch wenige renommierte Antiquitätenhändler an dem Exponat interessiert. Qualität statt Quantität. Sie entschuldigen mich. Ah, Monsieur Bonnet …« Sie ging zur Seite und begrüßte einen älteren, kleinen Mann mit sympathischem Blick, der mit einem deutlichen Hinken soeben den Raum betreten wollte.

»Du hättest ruhig ein wenig freundlicher zu ihr sein können!«, tadelte Elisabeth ihn.

Na klar, ich bin ja auch Mutter Teresa. »Hattest du schon öfter mit ihr zu tun?«

»Ja, warum?«, fragte Elisabeth. »Sie ist doch nett, oder?«

Hogart verzog das Gesicht. »Ich hoffe, sie hat alles im Griff.«

Elisabeth kniff die Augenbrauen zusammen. »Wie meinst du das?«

»Ach, nichts.«

»Was heißt, ach nichts? Diesen Blick kenne ich nur zu gut. Los, sag schon!«

»Warum muss die Auktion ausgerechnet in einer Oper stattfinden?«, presste er schließlich hervor. »Warum in keinem Museum oder Auktionshaus?«

Sie zuckte die Achseln. »Meyer-Lanski hat Erfahrung in solchen Dingen, und die Oper macht solche Veranstaltungen nicht zum ersten Mal. Hier kamen schon einige äußerst bedeutende Kunstgegenstände unter den Hammer.«

»Auch so wertvolle?«, fragte er.

Sie runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

Hogart biss sich auf die Lippe.

»Die Sicherheitsvorkehrungen erinnern nicht gerade an Fort Knox«, antwortete Tatjana schließlich an Hogarts Stelle.

Na bitte, sogar diesem Dreikäsehoch ist es aufgefallen.

»Ach?« Elisabeth klemmte sich die Mappe vor die Brust und verschränkte die Arme. »Machen sich Detektiv Auguste Dupin und seine Assistentin etwa Sorgen?«, fragte sie spitz, aber immer noch amüsiert.

»Ich finde das nicht zum Lachen«, entgegnete Hogart ernst. »Jeder kann hier einfach so hereinmarschieren!« Er nickte zu dem Kerl mit dem roten Bürstenhaarschnitt im Gang. »Und dieser Bergtroll und seine Kollegin überprüfen nicht einmal die Personalausweise oder machen einen Securitycheck.«

»Den gab es schon, als du die Oper betreten hast.«

»Richtig, aber die zwei Eingänge bei den Seitenpavillons sind nicht bewacht.« Er deutete zur Decke. »Hier gibt es keine Überwachungskameras, der Zutritt zu den Toiletten ist nicht abgesperrt, ebenso wenig wie der Aufgang in die nächste Etage, zu den Balkonen und seitlich zu den Logen. Und der Schätzwert des Exponats ist mindestens doppelt so hoch wie der Rufpreis. Wenn es jemand klaut, dann heute und hier

Elisabeth beugte sich zu Hogart und senkte die Stimme. »Wir werden es sogar für über drei Millionen Euro versteigern.«

Tatjana riss die Augen auf.

»Es sind nicht nur Galeristen und private Sammler daran interessiert«, erklärte Elisabeth, »sondern auch internationale Museen.«

»Drei Millionen! Und das beunruhigt dich nicht?«, zischte Hogart. »Ich fasse es nicht. Du hast doch selber ständig mit Versicherungsbetrug zu tun. Normalerweise bist du viel …«

Elisabeth schmunzelte. »Ich habe alles unter Kontrolle.«

»Bin ich denn der Einzige hier, der sich Sorgen macht?« Nun war Hogart ungewollt laut geworden, sodass sogar Dr. Meyer-Lanski und Monsieur Bonnet zu ihnen herüberblickten.

»Kommt mit, ich zeige euch etwas.« Elisabeth packte Hogart am Arm und führte ihn in eine abseits gelegene Nische. Tatjana folgte ihnen neugierig.

Nachdem sich Elisabeth umgesehen hatte, ob sie auch niemand beobachtete, zog sie ein etwa zwanzig Zentimeter langes schwarzes Etui aus der Innentasche ihres Blazers und klappte es auf. In dunkelroten Samt eingebettet lag eine aus blankem Elfenbein geschnitzte und mit vielen Hohlräumen, kreisrunden Vertiefungen und filigranen Verzierungen versehene achtzehn Zentimeter lange Nadel. Hogart berührte sie. Ein wenig sah sie aus wie ein Miniaturschwert, jedenfalls hatte die Klinge die scharfe Schneide eines Messers.

»Dieses hässliche Ding ist drei Millionen wert?«, entfuhr es Tatjana mit gepresster Stimme, woraufhin sie sich sofort die Hand über den Mund schlug. »Und wem gehört das?«, wisperte sie. »Dem Louvre?«

»Nein, dort war die Nadel nur ausgestellt. Sie ist Eigentum einer privaten Sammlerin, die sich jetzt von ihr trennt.« Elisabeth setzte sich ihre Lesebrille auf, die in ihren Haaren gesteckt hatte. »Hier, unter dieser Vorwölbung erkennst du eine winzige eingravierte Prägung«, erklärte sie.

»Made in Taiwan?«, witzelte Hogart, doch im nächsten Augenblick verschlug es ihm die Sprache. Dort war tatsächlich ein Produktionshinweis, so klein, dass man ihn kaum erkennen konnte. Neben dem Wort »Duplikat« stand die UID-Nr. einer Firma. »Was soll das? Das stammt doch niemals aus dem zwölften Jahrhundert.«

»Richtig, es ist ein Duplikat aus Keramik im historischen Look, das auf meine Empfehlung hin extra für diese Auktion bis ins kleinste Detail exakt gleich angefertigt worden ist – aus Sicherheitsgründen«, flüsterte Elisabeth.

»Und im Louvre?«, wisperte Tatjana.

»Stand das Original – aber jetzt kommt diese Kopie unter einem Glassturz auf den Versteigerungstisch.«

Hogart entspannte sich ein wenig. »Wer weiß davon?«

»Nur Frau Dr. Meyer-Lanski, Helmut Rast, ich … und jetzt ihr.«

Medeen & Lloyd war keine gewöhnliche Versicherung, bei der man normale Haushaltspolicen abschloss. Im Gegenteil, dort wurden Millionenwerte versichert: Rennpferde, Diamanten, Oldtimer, barocke Gemälde, Güterzüge, Fluglinien und ganze Öltankerflotten. Die Liste der zusätzlichen Serviceleistungen war länger als das Pariser Branchenverzeichnis. Mit weltweit über zweihundertfünfzig Büros und drei Milliarden Euro Jahresumsatz zählte Medeen & Lloyd zu den Branchenriesen. Jetzt wurde Hogart klar, warum Helmut Rast, der Vorstandsdirektor und Geschäftsführer der Wiener Zweigstelle, ausgerechnet Elisabeth für diesen Job nach Paris geschickt hatte. Sie dachte an alles. »Und die echte Knochennadel?«

Elisabeths Augen leuchteten voller Faszination auf. »Befindet sich während der Auktion sicher in einem Raum hinter dem Saal in einem Tresor der Oper und wird mir erst nach der Versteigerung in einem tragbaren Safe übergeben.«

Hogart sah sie skeptisch an.

»Ich weiß, was du jetzt denkst.« Das Leuchten in Elisabeths Augen war wieder verschwunden. Sie ließ die schmale Schatulle zuschnappen und in ihrem Blazer verschwinden. »Aber für den Abtransport stehen mir zwei Leute vom Sicherheitspersonal der Oper zur Verfügung. Zufrieden?«

»Und wer sind die?«

»Du bist erst dann beruhigt, wenn du alles weißt, nicht wahr?«

»Ich habe ständig mit Mördern, Dieben und Versicherungsbetrügern zu tun«, rechtfertigte er sich und merkte gerade selbst, dass er nicht einmal im Urlaub abschalten konnte.

»Der Sicherheitsmann heißt Girard, seine Kollegin Isabelle. Sie sind auf sichere Transporte spezialisiert und tragen beide eine Waffe. Er hat außerdem einige Medaillen im Siebenkampf und kennt zwölf verschiedene Möglichkeiten, einen Menschen innerhalb von drei Sekunden mit bloßen Händen zu töten.«

»Du machst Scherze?«

»Glaubst du allen Ernstes, ich würde mir eine so billige Pointe ausdenken?« Sie zog eine Karte aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. »Falls du dir trotzdem Sorgen machst, hier hast du sämtliche Pariser Notfallnummern.«

Hogart blickte auf die Telefonnummern von Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Taxi, Krankenhäusern, der österreichischen Botschaft und von anderen nützlichen Kontakten. Er steckte die Karte ein und atmete tief durch. »Und wo sind diese Superhelden jetzt? Auf der Toilette, ihren Umhang anziehen?«

Elisabeth wies mit einem Kopfnicken den Gang hinunter, wo der Hüne mit dem roten Bürstenhaarschnitt stand. »Es sind der Bergtroll, wie du ihn zuvor bezeichnet hast, und seine Kollegin. Falls Diebe auftauchen, wird er sie kaltmachen.«

3. Kapitel

Nachdem sich die Tür des Auktionssaals geschlossen hatte, damit die Versteigerung pünktlich um 17 Uhr beginnen konnte, gingen Hogart und Tatjana zur Kolonnade. Dieser Gebäudeteil lag im Freien und glich einem riesigen Balkon mit Säulen und Rundbögen, der sich über dem Haupteingang befand. Von hier aus konnte man die breite Avenue kerzengerade bis zur Gebäudefront des Louvre hinunterblicken, hinter der sich die gläserne Pyramide befand. Noch weiter hinten schlängelte sich die Seine durch die Stadt.

Die Wolken, die an diesem Morgen den Pariser Himmel noch grau in grau bedeckt hatten, waren inzwischen verschwunden. Tatjanas App hatte anscheinend recht. Der Abend war sonnig, und ein milder Wind strich über den Balkon. Der September wurde vielleicht noch richtig warm.

Hogart knöpfte sein Sakko auf und lehnte sich an die Marmorbalustrade. Neben ihm zoomte Tatjana den Louvre mit ihrer Handykamera heran und machte ein Foto. Unglaublich, wie gut diese Kameras mittlerweile waren! Man konnte sogar fast die einzelnen Ziegel, Fensterkreuze und Dachschindeln sehen.

In dieser Hinsicht war Hogart wirklich noch alte Schule. Wie eigentlich in fast jeder anderen Hinsicht auch. Er liebte nicht nur Schwarz-Weiß-Klassiker, sondern auch Schallplatten von Muddy Waters, John Lee Hooker, Duke Ellington sowie den Jazz der 30er Jahre und hatte mit moderner Technik nicht viel am Hut. Sein alter Skoda besaß nicht einmal ein Navi. Doch um Versicherungsbetrüger zu überführen, brauchte es zum Glück weder WLAN, Datenbanken noch irgendwelche Apps, sondern lediglich ein scharfes Auge, etwas Grips und Einfühlungsvermögen in die Psyche eines Kriminellen.

Und weil er darin, trotz altmodischen Vorgehens, richtig gut war, hatte Hogart kein Problem, an Aufträge zu kommen. Meist handelte es sich um größere Sachen wie Firmenbrände, außergewöhnliche Personenunfälle oder Diebstähle in großem Rahmen. Versicherungsschwindler glaubten, die perfekte Masche für den absolut glaubwürdigen Betrug gefunden zu haben, doch jeder machte irgendwann einen Fehler. Hogarts Job bestand darin, diesen aufzuspüren, und als Freelancer konnte er ohne Konkurrenzklausel für mehrere Versicherungen gleichzeitig arbeiten.

Doch jetzt hatte er endlich einmal frei, und das galt hoffentlich dann bald auch für Elisabeth. Hogart strich sich über den ergrauten Dreitagebart. Direkt unter der Kolonnade saßen Straßenmusiker auf den Treppen zum Haupteingang und spielten Gitarre, Akkordeon und Synthesizer – eine Mischung aus Chansons und französische Balladen.

»Klasse Musik, oder?«, neckte Hogart seine Nichte.

»Unglaublich.« Sie steckte sich den Finger in den Rachen und tat so, als wollte sie sich übergeben.

Obwohl Tatjana Frankreich und Paris liebte, mochte sie diese Musik überhaupt nicht. Stattdessen spielte sie unter dem Namen Spider – daher das Tattoo – Bass in einer Girls-Punkband, die sich Johnny Depp nannte. Die Mädels waren schon lange dem Status einer reinen Garagenband entwachsen, hatten bereits ihr erstes Album in einem Tonstudio aufgenommen und sogar schon die ersten Auftritte gehabt. Hatten sie früher noch auf Deutsch gesungen, so waren sie jetzt zum Englischen übergegangen und hatten ihr erstes Album völlig unbescheiden Greatest Hits genannt. Dieses befand sich im CD-Player von Hogarts Leihwagen, der vor ihrem Hotel am Montmartre stand. Zwar hatte es wenig mit seinem geliebten Jazz zu tun, aber man konnte es sich anhören, ohne einen Gehörschaden zu bekommen.

»Wie lange dauert so eine Versteigerung?«, fragte Tatjana jetzt, nachdem sie in alle Richtungen fotografiert hatte.

»Bei einem Rufpreis von 950 000 Euro gehen die Sprünge in Fünfundzwanzig-, danach in Fünfzigtausender-Schritten. In nicht mal zehn bis fünfzehn Minuten ist die Sache abgewickelt. Im Grunde genommen ist es ziemlich unspektakulär.«

Tatjana blickte auf die Uhr. »Dann müsste sie doch schon längst fertig sein.«

»Ich habe ihr eine SMS geschickt, dass wir hier sind. Sie wird sich bei uns melden«, beruhigte Hogart sie. »Aber es wird noch eine Weile dauern, bis sie herauskommt.« Falls sie die SMS überhaupt empfängt.

Tatjana spielte an ihrem Lippenpiercing und sah ihn fragend an. »Was passiert danach noch so?«

»Wenn es so ähnlich abläuft wie bei anderen Auktionen, die ich kenne, wird Elisabeth die Echtheit der Knochennadel prüfen und sie anschließend gleich mit einer Police für den Käufer versichern, damit bis zur Übergabe kein Risiko besteht.«

»Und das dauert so lange?«

»Dann wird der Kaufpreis auf das Treuhandkonto eines Notars überwiesen, der für Medeen & Lloyd arbeitet, und Elisabeth muss für den Transport der Nadel in ein Bankschließfach sorgen, wo das Ding bis zur Übergabe an den Käufer verwahrt wird.«

»Und danach?«

Hogart zuckte die Achseln. »Wird es dem Käufer zugestellt – oder er holt es sich selbst ab. Ist nicht wirklich kompliziert«, beruhigte er sie. Aber auf dem Weg zum Banktresor kann vieles schiefgehen.

»Ah, hier sind Sie also!«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Hogart drehte sich um. Frau Dr. Meyer-Lanski stand vor ihnen, blickte mit Sonnenbrille und gerecktem Hals zum Horizont in Richtung Louvre und sah dann Hogart an. »Frau Domenik hat mir gesagt, dass ich Sie hier finden werde.«

»Ist die Auktion zu Ende?«, fragte Hogart.

Meyer-Lanski nickte. »Frau Domenik wickelt noch das Bürokratische ab.«

»Wie vereinbart werden wir sie anschließend auf ihrer Fahrt mit Girard und seiner Kollegin zur Banque de Paris begleiten«, erklärte Hogart. Danach ging es ins Hotel.

»Gut, soviel ich weiß, wartet Mademoiselle Perrin von der Bank bereits dort auf sie.« Meyer-Lanski blickte auf die Armbanduhr, dann lächelte sie ihn an. »Es ist beruhigend, jemanden wie Sie beim Transport dabeizuhaben.«

Sie machte sich definitiv über ihn lustig, doch Hogart entgegnete nichts. Immerhin sparte er sich so das Taxi zum Hotel, das in der Nähe der Bank lag.

»Und zu welchem Preis wurde die Knochennadel verkauft?«, fragte Tatjana.

Meyer-Lanski sah sich um – die nächsten Touristen standen in einigen Metern Entfernung und fotografierten die Aussicht –, dann senkte sie die Stimme. »Es war spannend.«

Ganz sicher! Hogart unterdrückte ein Gähnen. Er brauchte so bald wie möglich einen starken doppelten Espresso ohne Zucker.

»Bis zuletzt, als alle anderen Interessenten schon lange abgesprungen waren, haben sich vier Händler und ein Geschäftsmann ein langes Bieterduell geliefert«, erklärte Meyer-Lanski.

»Hat sie der skandinavische Geschäftsmann schließlich ersteigert?«, fragte Hogart wie nebenbei.

Tatjana sah ihn überrascht an.

Auch Meyer-Lanski hob die Augenbrauen. »Sie sind erstaunlich gut informiert.«

»Ich habe gehört, dass er bereits im Vorfeld angekündigt hat, das Exponat um jeden Preis besitzen zu wollen«, erklärte Hogart. Tatsächlich hatte niemand etwas zuvor angekündigt – wäre ja auch schön blöd, so etwas öffentlich zu machen. In Wahrheit hatte Hogart im Flugzeug nach Paris einen Blick in Elisabeths rote Mappe geworfen, während sie neben ihm geschlafen hatte. »War das der Bieter, der live dazugeschaltet worden ist?«

»Ja, und er hat die Knochennadel tatsächlich ersteigert«, sagte sie und senkte abermals die Stimme. »Und zwar für 7,3 Millionen Euro.«

Tatjanas Mund klappte auf.

»Gratuliere.« Auch Hogart war für einen Moment baff. Deutlich mehr, als Elisabeth erwartet hatte. Das war ein fetter Deal für Medeen & Lloyd. Gewiss würde Elisabeth von ihrer Provision ein fürstliches Abendessen für sie im Restaurant auf dem Eiffelturm springen lassen.

»Ich muss los. Die Oper schließt bald für die Tagesbesucher. Ich gebe der Le Monde jetzt noch ein Kurzinterview, danach muss ich noch einige Vorbereitungen für die Saisoneröffnung treffen. War nett, Sie kennenzulernen.« Sie gab Hogart und Tatjana die Hand, dann verschwand sie durch die Schwingtür ins Pausenfoyer.

Le Monde, dachte Hogart besorgt. Wenn Meyer-Lanski in ihrer Euphorie rausrutschte, wer die Nadel ersteigert hatte, würden sämtliche Diebe ihr Einbrecherwerkzeug aus dem Keller kramen.

Eine Durchsage erklang über die Lautsprecher, woraufhin sich die Kolonnade innerhalb der nächsten Viertelstunde leerte. Nun blickte auch Hogart auf die Uhr. Mittlerweile dauerte es tatsächlich schon ziemlich lang. Die Versteigerung war seit mindestens einer halben Stunde zu Ende.

»Gehen wir zum Auktionssaal zurück«, sagte er schließlich. Tatjana folgte ihm.

Kurz vor 18 Uhr erreichten sie den Korridor. Die Kordel mit den vergoldeten Stehern war weg. Von Girard und seiner Kollegin war weit und breit keine Spur zu sehen.

Die Tür zum Saal stand offen, darin befand sich kein Mensch. Die Videowand war schwarz, und auf dem Teppichboden lag ein Flyer. Der Glassturz auf dem Versteigerungstisch war leer. Schließlich kam ein kleiner älterer Mann im grauen Anzug mit schief geknoteter Krawatte durch eine Tür aus dem Raum mit dem Tresor. Er hielt einige Dokumente in der Hand.

»Wissen Sie, wo Elisabeth Domenik ist?«, fragte Hogart, doch der Mann sah ihn nur verständnislos an. Erst als Tatjana ins Französische übersetzte, erhellten sich seine Augen und er antwortete wild gestikulierend.

»Die Versteigerung ist schon lange beendet«, erklärte Tatjana. »Elisabeth hat die Knochennadel in dem tragbaren Safe in Empfang genommen. Danach ist sie in Begleitung weggegangen.«

Weggegangen?

Wo zum Teufel sind die hin? Und warum hat sie uns nicht informiert?