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KOSMOS

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Anna-Lena Kühler

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© 2020, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

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ISBN 978-3-440-50179-5

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für meine Mutter

Elfenzauber und Brokkoli

„Sieh nur, Larina, es ist schlimmer, als wir dachten. Der Rubin hat schon fast seine ganze Farbe verloren!“, sagt Caitlinn entsetzt und streckt der anderen Elfe ihre schlanke Hand entgegen.

Larina wirft ihr schwarzes Haar zurück, um den Edelstein am Finger der Elfenkönigin genauer betrachten zu können. „Du hast recht, bald wirst du gar nicht mehr mit ihm zaubern können. Wir müssen den Ring schnell zu Lillysande bringen. Sie ist die Einzige, die ihn jetzt noch retten kann!“

Caitlinn nickt. Wie zwei leuchtende Silberstreifen fliegen die beiden Elfen durch den Wald, bis sie den Zauberbaum am Seeufer erreichen.

„Lillysande!“, ruft Larina und sieht sich um. „Wo ist sie nur?“

„Aber hier bin ich doch“, ertönt da eine helle Stimme hinter ihnen. Die blonde Elfe ist so leise hinter dem Baum hervorgeflogen, dass die beiden anderen sie nicht gehört haben.

„Lillysande“, seufzt Caitlinn erleichtert. „Du musst unbedingt mit uns komm…“

„Genau. Das Abendessen ist nämlich fertig“, sagte eine tiefe Stimme hinter Lilly.

Lilly ließ die Elfenfiguren sinken und drehte sich um. Ihr Opa Kurt stand in der Tür und lächelte sie an. „Henni hat dich schon fünfmal gerufen. Hast du das nicht gehört?“

„Schon?“, fragte Lilly und drehte sich mit glühenden Wangen zu ihm um. „Ich bin hier noch gar nicht fertig.“

Lilly saß auf dem Teppichboden in ihrem Zimmer und blickte auf ihr Elfenreich, das sie um sich herum aufgebaut hatte. Sie besaß vierzehn Elfenfiguren, sechs Einhörner, zwei Paläste und jede Menge anderes Zubehör, das sich noch in der Spielzeugkiste befand. Lilly hatte noch viele andere Hobbies. Sie las gern – am liebsten Märchenbücher –, sie liebte Tiere und sie mochte jede Art von Quizspielen. Dabei gewann sie nämlich ziemlich oft. Aber am liebsten waren ihr ihre Elfenfiguren. Wenn sie mit Lillysande und ihren Freundinnen unterwegs war, konnte sie alles um sich herum vergessen. „Hast du denn keinen Hunger?“, fragte Kurt.

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Lilly verzog das Gesicht. „Doch, schon“, antwortete sie. „Aber nicht auf das, was Mama kocht. Bestimmt gibt’s wieder so einen Gemüsepamps.“

Kurt musste grinsen. „Ein Punkt für dich. Es gibt Wildreis mit Möhren und Brokkoli.“

Lilly seufzte. Sie hasste Brokkoli.

„Also, sooo übel schmeckt das gar nicht, finde ich“, sagte Kurt. Lillys Opa hatte leicht reden. Der würde bestimmt noch eine ganze Tüte Chips futtern, wenn er später in seinem Sessel saß und seine geliebten Krimihörspiele hörte. Lilly wusste genau, dass ihre Mutter Henni nur ihretwegen kalorienarm kochte. Das heißt, sie bereitete das Essen so zu, dass Lilly davon nicht weiter zunahm, sondern an Gewicht verlor. Lilly war nämlich zu dick oder hatte Übergewicht, wie der Arzt es nannte. Henni hatte ihr sogar ihr geliebtes Erdbeereis verboten. Nur einmal in der Woche erlaubte sie Lilly noch eine Portion …

„Nun komm schon. Deine Mutter hat auch die Käsesoße dazu gemacht, die du so gern isst.“ Kurt zwinkerte Lilly aufmunternd zu.

Schon kehrte Lillys gute Laune zurück. „Na, dann los“, rief sie, rappelte sich auf und folgte Kurt nach unten.

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Das Haus, in dem Lilly mit ihrer Mutter und ihrem Opa wohnte, war ein gemütliches altes Bauernhaus mit Fachwerk und rosafarbenen Rosen am Eingang. Durch eine Tür war es mit dem Ausflugslokal, das ebenfalls ihrem Opa gehörte, verbunden. Es hieß „Glückseiche“ und bestand aus einer Gaststätte mit Biergarten, einer Konditorei, in der auch Eis verkauft wurde, einer Badestelle und einem Tretbootverleih. Die „Glückseiche“ lag nämlich direkt an einem hübschen Badesee.

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Lilly war erst vor zwei Wochen, zum Beginn der Sommerferien, mit ihrer Mutter aus der Stadt hergezogen. Das heißt, so richtig hergezogen mit Möbeln und allem Drum und Dran waren sie noch nicht. Denn Henni wollte die sechs Ferienwochen nutzen, um herauszufinden, ob sie dauerhaft hierblieben. Bisher hatte sie als Buchhalterin für eine Supermarktkette gearbeitet, aber schon immer davon geträumt, mit Lilly ins Grüne zu ziehen. Und was lag da näher, als ihren Vater Kurt bei der Arbeit in der „Glückseiche“ zu unterstützen? Doch weil Henni ein sehr vorsichtiger und gewissenhafter Mensch war, wollte sie nichts überstürzen und hatte Job und Mietwohnung in der Stadt fürs Erste behalten. Sie wollte sicher sein, dass ein Umzug auch wirklich die richtige Entscheidung war.

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Lilly hoffte sehr, dass sie für immer blieben, denn sie liebte die „Glückseiche“. Sie liebte ihr Zimmer im Bauernhaus, das direkt über der Konditorei lag. Sie liebte das gemütliche Wohnzimmer, in dem sie mit Henni und Opa Kurt abends Quizsendungen guckte. Sie liebte den riesigen Garten, der sich bis zum See hinunter erstreckte. Sie liebte die gestreifte Katze Tinka und die Kaninchen, die in ihrem Stall hinter dem Haus lebten. Sie liebte das Gewächshaus, in dem ihre Oma Thesi früher Rosen gezüchtet hatte. Und natürlich liebte sie das hausgemachte Erdbeereis.

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Früher war sie jeden Sommer mit ihren Eltern im Urlaub hier gewesen. Sie war mit ihrem Papa – damals hatten ihre Eltern noch zusammengelebt – Tretboot gefahren, hatte der alten Köchin Anneliese geholfen, und vor allem hatte sie ihrer Oma gelauscht, wenn diese ihr von den Elfen erzählte. Von der weisen Elfenkönigin Caitlinn, ihrer hitzigen Schwester Larina, dem ehrwürdigen Fürsten Lenetor und all den anderen Elfen. Stundenlang hatte Lilly am Tresen gesessen und gebannt zugehört, während Thesi erzählte und erzählte und dabei mühelos Bier zapfte, Limonade einschenkte und die Tabletts befüllte, die die Kellner dann zu den Gästen an die Tische brachten.

Heute lebte Lillys Papa mit seiner neuen Familie in einer anderen Stadt. Und Thesi war vor zwei Jahren an einer Krankheit gestorben, deren Namen Lilly nicht aussprechen konnte. Seitdem war ihr Opa Kurt oft traurig. Und seitdem kamen auch nicht mehr so viele Gäste aus der Stadt in die „Glückseiche“, um sich einen schönen Tag zu machen. Die Gaststätte und der Biergarten waren oft leer, auch wenn die Sonne schien. Warum das so war, wusste Lilly nicht. Vielleicht lag es an dem Freizeitpark, der vor einer Weile in der Nähe geöffnet hatte? Oder daran, dass die Farbe inzwischen von der Eingangstür abblätterte, die Sonnenschirme schmutzig und von den Tretbooten nur noch drei in Schuss waren?

Als Lilly die Gaststätte betrat, sah sie, dass auch heute nur wenige Gäste gekommen waren. Sie ging zu dem großen, runden Tisch in der Nähe des Tresens, an dem die Familie meistens zu Abend aß, damit Kurt und Henni schnell aufstehen konnten, wenn sie gebraucht wurden. Denn seit so wenige Gäste kamen, war auch kaum noch Personal da. Nur die alte Anneliese und der Kellner Fritz, der als Student nur stundenweise aushalf, waren übrig geblieben.

„Da bist du ja“, stellte Henni lächelnd fest. „Dann mal guten Appetit.“

Lilly blickte seufzend auf den dampfenden Reis. Wie gern hätte sie stattdessen ein Erdbeereis! Da fiel ihr ein, was Kurt gesagt hatte. Sie griff zu der roten Schüssel mit der Käsesahnesoße und kippte sie großzügig darüber.

„Hey, die ist nicht nur für dich!“, mahnte Henni. „Das reicht. Nimm lieber mehr Gemüse.“ Damit schaufelte sie Lilly ein paar Löffel Möhren und Brokkoli auf den Teller.

„Och nö“, widersprach Lilly.

Doch ihre Mutter ging nicht darauf ein. Sie wandte sich an Kurt: „Du, Papa, heute früh wollte ich mal anfangen, mir einen Überblick über die Einnahmen der ‚Glückseiche‘ zu verschaffen. Dabei ist mir aufgefallen, dass in den Ordnern ziemlich viele Unterlagen fehlen.“

„Hmhm“, erwiderte Kurt, während er kaute.

Lilly fiel auf, dass ihre Mutter ihre Brille nach oben schob, so wie sie es immer machte, wenn ihr etwas unangenehm war.

„Und anscheinend hast du auch ein paar Rechnungen nicht bezahlt“, fuhr Henni fort. „Heute waren drei Mahnungen in der Post und gestern zwei.“

„Hmhm“, machte Kurt erneut, ohne von seinem Teller hochzusehen. Dann schluckte er und brummte: „Kann sein, dass ich da nicht so drauf geachtet habe.“

Henni seufzte. „Ach, Papa, ich verstehe ja, dass es für dich in den letzten beiden Jahren nicht einfach war. Aber warum rufst du mich denn nicht an, wenn du Hilfe brauchst? Du weißt doch, dass ich mich mit Zahlen auskenne.“

Kurt nahm sich noch mehr Reis. Er schien keine Lust zu haben, über dieses Thema zu sprechen. „Es war ja immer so viel anderes zu tun“, erwiderte er schließlich.

Henni atmete tief durch. „Schon“, sagte sie. „Aber du weißt doch, wie wichtig das ist. Gerade jetzt, wo die ‚Glückseiche‘ nicht so gut läuft …“

„Ach, das wird schon“, meinte Kurt. „Beim Sommerfest machen wir das wieder wett. Da haben wir doch immer richtig viel Geld eingenommen.“

In wenigen Wochen sollte das große jährliche Sommerfest in der „Glückseiche“ stattfinden.

„Hoffentlich“, sagte Henni. „Aber auch das ist in den letzten Jahren nicht mehr so gut gelaufen.“

Lilly hatte den Reis auf ihrem Teller inzwischen aufgegessen. Und die gesamte Käsesoße. Jetzt guckte sie unwillig auf den Brokkoli. Kurt schob ihr unauffällig die rote Schüssel hin. „Kannst meine auch haben“, flüsterte er.

Lilly lächelte ihm dankbar zu und griff danach.

„Hallo?“, meldete sich da Henni angestrengt zu Wort. „Hört mir hier eigentlich irgendjemand zu? Ich habe gesagt, genug Soße!“ Sie nahm Lilly die Schüssel ab.

„Das ist unfair“, rief Lilly. „Opa hat sie mir geschenkt. Die gehört mir!“

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„Lilly, so geht das nicht“, widersprach Henni und fuhr sich gestresst durch die kurzen, braunen Haare. „Du hattest deinen Teil.“

„Nun lass ihr doch das bisschen Soße“, schaltete sich Kurt ein. „Das Kind ist doch ganz in Ordnung so, wie es ist. Und ab und zu muss man doch auch mal über die Stränge schlagen dürfen. Sonst macht das Leben ja gar keinen Spaß!“

Henni atmete erneut tief durch. „Papa, halt dich da bitte raus“, sagte sie etwas gepresst zu Kurt, dann wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu. „Lilly, das haben wir schon besprochen. Es geht um deine Gesundheit. Du kannst nicht einfach das essen, worauf du …“

„Schon klar“, unterbrach Lilly sie heftig. „Ich darf gar nichts essen, was schmeckt! Darf ich dann wenigstens runter zum See?“

Henni seufzte. „Natürlich. Aber wenn es dunkel wird, bist du wieder da, ja?“

Lilly stapfte aus dem Gastraum. Hinter sich hörte sie noch, wie ihre Mutter zu Kurt sagte: „Also wirklich, Papa. Manchmal bist du echt nicht hilfreich …“

Draußen blieb Lilly stehen.

Das war so ungerecht! Immer meckerte Henni nur an ihr herum! Sie durfte keine Limo trinken, sondern nur Wasser. Sie sollte nicht den ganzen Tag herumsitzen, sondern sich bewegen. Und jetzt durfte sie nicht mal mehr so viel Soße essen, wie sie wollte?

Wütend stampfte Lilly mit dem Fuß auf. Da hatte sie plötzlich eine Idee. Sie blickte sich kurz um, dann schlich sie statt geradeaus zum See links um die Gaststätte herum zur Konditorei.

Die Konditorei bestand aus einem freundlich gestalteten Verkaufsraum mit einem Eingang zur Straße hin. Früher hatte es hier manchmal richtig Gedränge gegeben, weil so viele Leute Oma Thesis berühmten Apfelkuchen und das hausgemachte Eis kaufen wollten. Jetzt stammte der Großteil der Kuchen und Torten aus der Tiefkühltruhe im Supermarkt und statt der zehn Eissorten gab es nur noch drei.

Hinter dem Verkaufsraum lag ein Arbeitsraum, zu dem nur das Personal Zutritt hatte. Hier standen auch die Gefriertruhen und Kühlschränke, in denen das Eis, der Kuchen und die Getränke für die Gaststätte gelagert wurden. Durch eine Tür konnte man direkt in den Gastraum gelangen.

Draußen vor dem kleinen Fenster blieb Lilly stehen und linste hinein. Fritz war gerade dabei, zwei Teller mit Schokoladenkuchen zu beladen. Dabei sang er laut und furchtbar schief vor sich hin. Lilly verzog das Gesicht, während sie beobachtete, wie Fritz noch Sahne auf den Kuchen türmte und dann mit den Tellern in die Gaststätte ging.

Jetzt hieß es schnell sein. Durch den Seiteneingang schlüpfte Lilly in die Konditorei und schlich zur Eisvitrine. Sie schob den Glasdeckel auf, griff nach einer Waffel und häufte zwei große Kugeln Erdbeereis hinein. Noch ein Blick in den Flur zur Gaststätte – niemand hatte sie gesehen –, dann verließ Lilly die Konditorei und lief den verschlungenen Weg entlang, der an der Grenze zum Nachbargrundstück entlang hinunter zum See führte.

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„Hallo, Moppeline!“, rief da eine helle Stimme auf der anderen Seite des Zauns.

Lilly zuckte zusammen.

Oh nein. Clara Gräuerling!

Clara war die Enkelin von Herbert Gräuerling, dem Nachbarn der Liebigs. Wie Lilly war sie neun Jahre alt und besuchte in den Sommerferien oft ihren Opa. Manchmal kam ihr Bruder Max mit. Den mochte Lilly ganz gern, doch diesmal schien Clara allein da zu sein. Clara war blond, hübsch und stets sehr modisch angezogen. Und immer, wenn sie Lilly sah, machte sie eine gemeine Bemerkung. Lilly konnte sie nicht ausstehen.

„Na, schon wieder am Futtern?“, stichelte Clara.

Lilly blickte starr nach vorn. Normalerweise war sie ein fröhliches Mädchen. Aber in Momenten wie diesem fühlte sie sich wie ein Luftballon, in den man mit einer Nadel gestochen hatte. Ssst – strömte all ihre gute Laune aus ihr heraus. Gleich würde sie wie ein Luftballonrest traurig am Boden liegen …

Aber nein, das durfte sie nicht zulassen! Lilly dachte an Lillysande, die starke Elfe, die immer wusste, was zu tun war. Was würde sie jetzt machen?

Lillysande dreht sich um, hält der doofen Clara ihren Zauberring entgegen. Der Edelstein darauf glüht rot auf und verwandelt sie in eine ekelige Kröte!

Lilly drehte sich um.

Aber leider war sie nicht Lillysande. Sie hatte keinen Zauberring. Als Clara sie erwartungsvoll ansah, konnte sie ihren Blick nicht halten. Stattdessen lief sie, so schnell sie konnte, am Gewächshaus vorbei zum See hinunter. Clara kicherte hinter ihr her.

Obwohl es bereits dämmerte, flirrte die Luft noch heiß über dem Wasser. Die Tretboote waren schon alle festgebunden, der Steg und die Badestelle menschenleer. Mit ihrem Eis in der Hand lief Lilly den Uferweg entlang, bis sie die Bäume erreichte, die direkt am Wasser standen. Fast jeden Abend kam sie hierher. Denn in einem dieser alten Baumriesen lebten die Elfen. Das hatte Oma Thesi ihr zumindest erzählt. Bisher hatte Lilly noch nie eine Elfe gesehen, doch sie war fest entschlossen, nicht aufzugeben.

Lilly näherte sich einer gewaltigen Eiche, als sie plötzlich einen lieblichen Duft bemerkte. Sie schnupperte. Eindeutig – es roch nach Rosen und Vanille! Lillys Herz schlug höher. Laut Thesi war das ein Zeichen, dass Elfen in der Nähe waren!

Vorsichtig spähte Lilly durch das dichte Blattwerk der Eiche. Da! Was war das hinter den Blättern? Das war doch ein Flügel? Und daneben noch einer! Lilly hielt den Atem an und schob ganz langsam einen Zweig beiseite. Für die Dauer eines Wimpernschlags glaubte sie eine winzig kleine, zarte Gestalt zu sehen, dann war sie – husch – weg. Lilly stand starr da und blickte auf die Stelle, an der die Elfe – denn sie war sicher, dass es eine gewesen war! – eben noch gesessen hatte. Wo war sie jetzt bloß? Lilly spähte nach links und rechts, dann ging sie langsam um den Baum herum. Vorsichtig bog sie mit den Fingern die Zweige auseinander. Doch das Wesen blieb verschwunden. Noch eine ganze Weile suchte Lilly, bis sie merkte, dass die Sonne schon untergegangen war. Es war fast dunkel.

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Mühsam riss Lilly sich los und lief zurück zum Haus. Das heißt, die meiste Zeit hüpfte sie vor Freude. Ein breites Grinsen lag auf Lillys Gesicht. Sie hatte eine Elfe gesehen! Es gab sie also wirklich! Immer wenn Thesi ihr von ihnen erzählt hatte, hatte sie gefühlt, dass sie nicht nur eine Träumerei waren, und jetzt wusste sie es mit Sicherheit! Lilly war schon ein ganzes Stück gelaufen – bis zu den Bäumen, an denen der Uferweg parallel zu Bauer Gräuerlings Grundstück verlief –, da merkte sie, dass sie ihre Eiswaffel noch immer in der Hand hielt. Sie hatte sie ganz vergessen. Ohne nachzudenken, warf sie das tropfende Ding zwischen die Baumstämme ins Gebüsch und rannte weiter.

Lilly fand ihre Mutter an einem Tisch im leeren Gastraum, wo sie konzentriert in einem dicken Ordner las.

„Mama, Mama, ich habe eine Elfe gesehen!“

Henni sah hoch und blickte ihre Tochter an. Ihre Stirn runzelte sich unwillig.

„Wirklich, Mama“, beteuerte Lilly, „Sie saß unten am See in einem Baum – und sah so schön aus!“

Doch Henni schien ihr gar nicht zuzuhören. „Also wirklich, Lilly, das glaub ich jetzt nicht“, sagte sie streng. „Du hast dir schon wieder ein Eis genommen!“

Lilly sah sie verwundert an. Wie konnte ihre Mutter das wissen?

Henni deutete mit dem Finger auf Lillys Bauch.

Lilly blickte an sich hinunter und erschrak: Ihr hellblaues T-Shirt war von oben bis unten voller Erdbeereisflecken.

„Okay“, lenkte sie ein. „Hab ich. Und es tut mir leid! – Aber, Mama, das ist doch jetzt gar nicht wichtig. Ich habe eine Elfe gesehen!“

Henni guckte sie nur ungläubig an, sodass Lilly einfach weiterredete: „Glaub mir doch! All die Geschichten von Oma Thesi waren nicht bloß erfunden, die Elfen unten am See gibt es wirklich!“ Dann fiel ihr etwas ein. „Wo ist Opa? Im Gewächshaus? Ich muss ihm sofort alles erzählen und dann muss ich …“

„Jetzt reicht es aber!“, unterbrach Henni sie scharf. „Du nimmst das anscheinend gar nicht ernst. Du gehst nirgendwohin – außer in dein Zimmer! Da denkst du darüber nach, was du gemacht hast. Und morgen früh unterhalten wir uns!“

„Aber Mama …“, versuchte es Lilly noch einmal.

„Keine Diskussion!“

Ein paar Minuten später saß Lilly tatsächlich in ihrem Zimmer auf dem Bett und dachte nach. Sie hatte ihr bekleckertes Shirt ausgezogen und trug ihr Nachthemd. Aber sie dachte keine Sekunde an das Eis, das sie stibitzt hatte. Sie dachte an die winzige Gestalt, die sie unten am See gesehen hatte. War es wirklich eine Elfe gewesen? Oder hatten ihr die Blätter im Wind einen Streich gespielt? Nein. Sie war sich ganz sicher. Sie hatte eine Elfe gesehen. Eine wirkliche, echte Elfe!