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Tim Frühling hat 1994 direkt nach dem Abitur als Moderator beim Lokalradio angefangen. Mittlerweile arbeitet er seit über zwanzig Jahren beim Hessischen Rundfunk, seit 2017 für die Radiowelle hr1, außerdem als Wetterpräsentator im hr-Fernsehen und der ARD.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: picture alliance/Swen Pförtner/dpa

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-613-5

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch

die Agentur Brauer, München.

 

Ruhm ist ein Gift, das der Mensch
nur in kleinen Dosen verträgt.

Honoré de Balzac

Handelnde Personen

Kriminaloberkommissar Daniel Rohde, wirkt leicht verändert

Kriminalkommissarin Brigitte Schilling, ist an Rohdes Veränderung nicht ganz unschuldig

Jacqueline Gölz, Gerhard Behrendt, Michi und Matze, Kollegen in der Polizeidirektion Bad Hersfeld

Roland Burns, Dienststellenleiter, schätzt manche Dinge falsch ein

Benita Manthey (31), Kronberger Burgenkönigin, ehrgeizig und boshaft

Özlem Yeşilçay (27), Ockstädter Kirschenkönigin, hübsch und loyal

Yvonne Herold (26), Ahle-Wurscht-Königin, kumpelhaft und gemütlich

Samira Spindler (30), Hanauer Grimm-Prinzessin, einfach und urhessisch

Ursel Bohl (26), Fritzlarer Sauerkrautkönigin, farblos und ruhig

Johanna Kühne (23), Mittelhessische Apfelweinkönigin, klug und entspannt

Glenn Greenwood, Fitnesscoach mit amerikanischen Wurzeln

Jytte, Franka, Gesche und Liane, Marburger Feministinnen

Stephan Goldhagen, Bürgermeister der Stadt Bad Hersfeld

Viktor Portzig, Eventbeauftragter der Hessischen Staatskanzlei

Und der hessische Ministerpräsident

Schon vor dem großen Finale war abzusehen, dass der Hessentag in Bad Hersfeld ein voller Erfolg werden würde. Die prognostizierte Besucherzahl von siebenhunderttausend war bereits vor dem letzten Tag übertroffen, trotz mancher Eskapaden des Wetters waren die Besucher scharenweise in die Kur- und Festspielstadt gekommen. Konzerte mit ZZ Top, Silbermond, Roland Kaiser und der Kelly Family hatten Bewohner wie Gäste gleichermaßen begeistert und der osthessischen Kreisstadt die Lebendigkeit beschert, die sie im Slogan vorab vollmundig versprochen hatte.

Der traditionelle Höhepunkt der zehntägigen Feierlichkeiten war auch in diesem Jahr der große Umzug am letzten Tag des Landesfests. Mehr als dreitausend Teilnehmer hatten sich angemeldet, um den Besuchern Trachten, Brauchtum, Musik und Tradition zu präsentieren. Die Route des Festzugs über den Stadtring war zwar nicht gerade mit touristischen Highlights gespickt, ließ sich mit den Motivwagen aber leichter befahren als die engen Gassen in der Altstadt.

Die größte Zuschauertribüne hatten die Veranstalter an der Dippelstraße vor dem Schilde-Gelände aufbauen lassen. Dort stand in der ersten Reihe der Ministerpräsident, der vier Stunden lang mit gleichbleibender Begeisterung jede Fußgruppe, jeden Wagen und alle Teilnehmer begrüßte und bei jedem noch so absurden Geschenk aufrichtige Freude vortäuschte. Hinter der blickdichten Tribünenbegrenzung hatte der Landesvater schon einen beachtlichen Berg an Tassen, Püppchen, Schnäpschen, Würsten und Marmeladen angehäuft, meist wurden die Gaben bei der Weihnachtsfeier oder beim Schrottwichteln verlost, je nachdem.

Hinter dem unaufhörlich winkenden Ministerpräsidenten hatte sich Viktor Portzig platziert, Eventbeauftragter in der Hessischen Staatskanzlei. Seine Behörde war zusammen mit der jeweiligen Ausrichterstadt für das Landesfest verantwortlich, und wenn alles so gut gelaufen war wie hier in Bad Hersfeld, konnte man sich dem obersten Dienstherrn schon mal aus nächster Nähe präsentieren. Außerdem kam gleich der große Moment für Portzigs neuesten Einfall. Darauf musste er den Landeschef unbedingt hinweisen, auch wenn dieser gerade einer Gruppe seilspringender Mädchen applaudierte.

Portzig legte seine Hand auf die Schulter des Ministerpräsidenten und raunte ihm schräg von hinten ins Ohr: »Gleich kommt die Königinnensänfte. Das ist ganz neu dieses Mal, eine der sechs Bewerberinnen wird Hessen ein Jahr lang repräsentieren. Lauter hübsche Frauen. War meine Idee.«

Der Ministerpräsident sagte nur »Aha« und musste sich einem Stadtimker widmen, der ihm ein Glas Honig vom Dach der Gesamtschule Obersberg überreichte.

Hinter der Fußgruppe mit etwa fünfundzwanzig verkleideten Bienen rollte eine himmelblaue Wolke heran, auf der sechs Frauen in ihren Kostümen über die Straße zu schweben schienen. Das Teil musste entweder aus Pappmaché oder Styropor gefertigt worden sein, jedenfalls sah es edel und recht teuer aus.

Für einen winzigen Augenblick furchte sich eine Sorgenfalte in die Stirn des Ministerpräsidenten. Er schien sich Gedanken zu machen, ob das Gefährt auf Kosten der Staatskanzlei gebaut worden war, denn so was brachte immer Ärger mit dem Bund der Steuerzahler. Aber an den und sein Dauergemäkel an dem kostspieligen Landesfest wollte er jetzt gerade gar nicht denken, sondern sich vielmehr auf die auffallend gut aussehenden Damen auf der Wolke konzentrieren, als sich Portzig ein weiteres Mal erklärend hinterrücks heranwanzte.

»Das sind regionale Hoheiten aus allen Teilen Hessens. So was wie Weinkönigin und Spargelkönigin und so. Die Bürger können noch bis heute Abend abstimmen, welche von ihnen am Schluss die Landeskönigin werden soll. Da sehen Sie auf dem Rand der Wolke die Internetseite: ›www.hessenkoenigin.de‹. Haben wir extra gekauft, die Seite. Gut, oder?«

Der Ministerpräsident nickte und sagte: »Super gemacht«, damit das Gelaber hinter ihm endlich aufhörte. Abgesehen davon wusste er über den Wettbewerb bereits Bescheid, zu Beginn des Hessentags hatte es sogar schon einen gemeinsamen Fototermin mit den Bewerberinnen gegeben. Aber das hatte Portzig offenbar nicht mitbekommen.

Die Wolke hielt jetzt an, der Landesvater ging ein paar Schritte auf den Wagen zu. Wenn die Gewinnerin Hessen repräsentieren sollte, würde es ja sicherlich das ein oder andere Treffen geben – und da konnte man ja noch mal genauer schauen, wer da so zur Auswahl stand.

Fünf strahlende Damen eilten auf die Seite des Spitzenpolitikers, eine reichte ihm einen Bembel, eine andere warf eine kleine Märchenfigur hinunter, von einer dritten gab es ein Tütchen mit eingeschweißtem Sauerkraut. Die sechste Hoheit stand zwar auch zur Tribünenseite auf dem Wagen, krallte sich aber an der Brüstung fest und bewegte sich kaum. Sie war extrem blass, ihre Augen schienen ziellos umherzuirren, und sie schwitzte stark. Offenbar hatten die fünf Konkurrentinnen in der Aufregung gar nicht bemerkt, wie schlecht es ihrer Kollegin ging, nur der Ministerpräsident sah von unten, dass mit dieser Frau etwas definitiv nicht in Ordnung war.

Er drehte sich vom Wagen weg und suchte Portzig auf der Tribüne. Verdammt, wo war er? Vorhin, als ihn keiner brauchte, scharwenzelte er ständig um seinen Chef herum, jetzt war er nicht zu entdecken. Diese Frau da oben brauchte doch offensichtlich Hilfe.

Gab es denn wenigstens Sanitäter in der Nähe? Auf so einem Umzug mussten doch jede Menge Rettungskräfte sein.

Der Ministerpräsident kehrte der Königinnensänfte immer noch den Rücken zu und wollte sich gerade bücken, um die Geschenke abzustellen, als der Fahrer die Wolke etwas zu ruckartig anfuhr. In diesem Augenblick konnte sich die angeschlagene Königin nicht mehr halten, sie rutschte über die Brüstung und landete einen knappen Meter neben dem Politiker auf der Straße.

Sofort entstand auf der Tribüne ein riesiges Durcheinander, manche schrien, andere wollten der Frau zu Hilfe eilen, wurden von der Security aber nicht auf die Straße zum Ministerpräsidenten gelassen. Ein paar zückten ihre Handys und fingen sofort an, die Szene zu filmen.

Von der gegenüberliegenden Seite bahnten sich dann schließlich doch zwei Rettungssanitäter den Weg durch den stockenden Festumzug, warfen ihre Notfallrucksäcke ab und knieten sich neben die bewusstlose Frau und den besorgten Landesvater. Die Männer in den orangefarbenen Jacken fühlten hier und dort hin, tätschelten das Gesicht der Patientin und hoben ihre Augenlider an. Dann tauschten sie einen kurzen Blick und baten den Ministerpräsidenten, sich wieder auf die Tribüne zu begeben.

»Was ist denn mit der Frau?«, wollte er wissen, bevor er sich einfach so wegschicken lassen musste.

»Es ist alles in Ordnung mit ihr, machen sie sich keine Sorgen. Ich vermute, sie hat zu wenig getrunken. Oder ein Hitzschlag.«

Der Himmel hing voller Wolken, das Thermometer zeigte achtzehn Grad, und die Sanitäter forderten eine Krankentrage an. Sie hätten auch gleich einen Sarg bestellen können, aber ganz so eindeutig wollten sie den Abtransport der Toten vor Hunderten von Zuschauern dann doch lieber nicht gestalten.

Prolog

»Welsche Kerbschegreeß hast ’n du?«, grunzte die Stimme am Telefon lüstern.

»75D«, hauchte Charlène zurück.

»Wow, perfeggt! Dann leesch jetzt emal deine Händ druff und fang ganz langsam aa mit kreisförmische Bewegunge!«

»Na klar, mache ich für dich, mein Süßer. Hmmm, das fühlt sich gut an. Hmmm …« Charlène stöhnte mal leiser, mal lauter, das Ekel am anderen Ende der Leitung tat das Gleiche und brauchte eine ganze Weile.

Konnte ihr nur recht sein. Denn die Dienstleistung der Frau am Telefon, die weder Charlène hieß noch Körbchengröße 75D hatte und ihre Brust schon gar nicht kreisförmig massierte, wurde nach Minuten abgerechnet. Deswegen waren ihr die Kandidaten am liebsten, die zur Vervollkommnung der ursprünglichen Anrufabsicht ein wenig mehr Zeit benötigten.

In die Telefonsex-Szene war sie vor anderthalb Jahren eingestiegen. An zwei Abenden pro Woche war sie über eine sündhaft teure 0190er-Nummer zu erreichen und verdiente sich damit ein mehr als gutes Taschengeld. Davor hatte sie schon ein paar entsprechende Filmchen synchronisiert, bei denen allerdings gesprochene Dialoge, die den Begriff »synchronisieren« rechtfertigen würden, keine große Rolle spielten. Überwiegend wurde gehechelt, gekeucht und geächzt, sie wusste das Timbre ihrer leicht rauchigen Stimme effektvoll einzusetzen.

Der Produzent hatte ihr irgendwann vorgeschlagen, ähnliche Geräusche am Telefon zu machen. Zunächst fand sie den Gedanken widerlich, musste dann aber feststellen, dass die Vorteile überwogen. Die Bezahlung war besser, sie musste nicht ins Studio fahren – und durfte das Gespräch beenden, falls ein Kunde ausfallend oder pervers wurde. Abgesehen davon war es möglich, in der Arbeitszeit die eine oder andere Tätigkeit zu verrichten, manchmal lackierte sie sich während eines Telefonats die Nägel, gelegentlich kämpfte sie mit leichtem Hanteltraining gegen die nachlassende Straffheit der Oberarme an, einmal hatte sie sogar sehr leise die komplette Geschirrspülmaschine ausgeräumt.

Die anfängliche Abscheu gegen ihre Tätigkeit hatte sich bald gegeben. Sie führte sich vor Augen, dass sie ihre Kunden weder sehen noch berühren musste, und redete sich ein, fast so etwas wie einen sozialen Dienst zu leisten. Wer seine Erregtheit bei ihr am Telefon ablud, so sah sie das, lief schon nicht ins Bordell, wo die Frauen unter wer weiß welchen Bedingungen arbeiten mussten. Aus dem anfänglichen Ekel vor den Anrufern wurde oft Mitleid für die armen Seelen, die keinen anderen Weg fanden, als sich von einer stark kostenpflichtigen Dienstleisterin routiniert zum Höhepunkt bringen zu lassen.

Auch die Geheimniskrämerei, weswegen sie an zwei Abenden pro Woche keine Zeit für ihre Freunde hatte, stellte sie bald ein. Zumindest ihre zwei besten Freundinnen waren über ihren Nebenjob informiert und kicherten mit ihr darüber, dass »Charlène« dienstags und freitags wieder stöhnen musste. Gut, dass auf die beiden Verlass war, denn in ihrer anderen Welt durfte absolut niemand erfahren, auf welche Weise sie den schnellen Euro verdiente.

***

Dichte Wolken verschatteten den Mond und sorgten für eine stockdunkle Nacht. Völlige Ruhe lag über dem landwirtschaftlichen Anwesen mit den großen Stallanlagen, das sich fernab der nächsten Ortschaft befand. Nur hier und da durchbrach das Geräusch eines Huhns oder der kehlige Ruf eines Truthahns die Stille.

Auf den betonierten Hof des Mastbetriebs fiel der Lichtschein eines beleuchteten Zimmers im ersten Stock. Dort saß Berthold Lindemann an seinem Schreibtisch über den Rechnungen, wie immer am liebsten nachts, wenn ihn keiner der Angestellten bei der Buchführung störte.

Hin und wieder schüttelte der feiste Bauer seinen Kopf und verzog den Mund zu einem abschätzigen Grinsen. Es war einfach unglaublich, wie viele Trottel sich in der Politik herumtrieben, die dem Druck der Lobby-Verbände immer wieder nachgaben. Besonders gut gefiel Lindemann bis heute, dass es gerade eine grüne Ministerin war, die die EU-Ökoverordnung einführte, auf der sein so erfolgreiches wie kriminelles Geschäftsmodell basierte. Denn erst seit Inkrafttreten dieser Vorschrift war es erlaubt, auf ein und demselben Hof gleichzeitig biologisch und konventionell zu wirtschaften. Natürlich in getrennten Ställen und selbstverständlich kontrolliert.

Lindemann hatte seinerzeit für die zusätzliche ökologische Aufzucht drei fußballplatzgroße Mastställe errichten lassen, in denen Tausende Hühner und Truthähne zur Schlachtreife heranwuchsen. Von außen waren die Gebäude mit fröhlichen Küken und Sonnenblumen bemalt, verkauft wurde das Fleisch in Biogeschäften unter dem schönen Produktnamen »Glückliches Gegacker«.

Bei den Bedingungen im Stall ließ sich zu Lindemanns Bedauern leider nicht tricksen, obwohl er hier richtig viel Geld hätte sparen können. Aber die Kriterien waren in den Auflagen für die ökologische Landwirtschaft ziemlich eindeutig, Verstöße würden den Kontrolleuren schnell auffallen. Ungefährlicher war es, beim Futter die Vorschriften ein wenig großzügiger auszulegen. Als Betrieb, der auf beiden Grundlagen wirtschaftete, war es völlig normal, dass er bei Raiffeisen auch konventionelles Futter orderte.

Damit die großen Mengen an nicht biologischer Tiernahrung nicht auffielen, gingen die Bestellungen an Genossenschaftsverbände aus verschiedenen Bundesländern. Dabei kam Lindemann sein Standort im Dreiländereck zugute, niemand in Heiligenstadt oder Göttingen wurde skeptisch, wenn sich ein Hof von dort aus Futtermittel ins nahe Hessen liefern ließ.

Der heikelste Teil des Betrugs war die Disponierung der Tiernahrung direkt im Betrieb. Denn hier sprangen jede Menge Angestellte herum, die vom Mischungsverhältnis des Futters für den Biobereich besser nichts erfuhren. Die richtige Mixtur aus dreißig Prozent Ökofutter und siebzig Prozent konventionellem Mastgut herzustellen oblag Volker, einem loyalen Neffen Lindemanns mit einer leichten geistigen Einschränkung, den der Geflügelzüchter für seine Tätigkeit erstaunlich gut bezahlte. Volker war außer seinem Chef der Einzige auf dem Hof, der das Mischungsverhältnis kannte und bei der Zuteilung der Nahrung aus den riesigen Silos peinlich genau beachtete. Bei einem Betrieb in der Größe von Lindemanns Hofgut brachte die Methode, vermeintliches Biogeflügel überwiegend mit konventionellem Futter satt zu machen, schnell ein paar Tausender zusätzlich im Monat.

Natürlich gab es hin und wieder Kontrollen bei Höfen, die unter dem Ökosiegel produzierten. Aber auch hier kam Lindemann zugute, dass er einer der ganz großen Player seiner Branche war. Denn im Gegensatz zu kleinen Familienbetrieben kündigten sich die Kontrolleure bei Anlagen industriellen Ausmaßes vorher an. Etwa einmal im Jahr wurden die Tester vorstellig, und in diesen Fällen waren Volkers Handgriffe fast schon routiniert. Innerhalb einer knappen Stunde konnte er die Rohrleitungen von den Silos zu den Ställen so zurückbauen, dass im Biobereich vorübergehend tatsächlich das richtige Futter landete – und dass der Konstruktion niemand ihre illegale Funktionsweise an den anderen dreihundertvierundsechzig Tagen des Jahres ansah.

Abgesehen davon war der Prüfer ein guter Freund von Lindemanns Schwager und Mitglied in derselben Partei wie der Geflügelzüchter. Es bestand also keinerlei Veranlassung zur Sorge, dass der gewinnbringende Trick auf dem einsamen Hof irgendwann einmal auffliegen würde.

***

Ruth Kühne hasste diese einsamen Abende. Dabei war sie grundsätzlich gern allein. Sie wusste sich zu beschäftigen. Sie stickte zum Beispiel viel. Überall im Haus waren kleine Wandbehänge verteilt, auf denen sie im Kreuzstich Jahreszeiten und christliche Feste pries, Eulen und Rehe hatte sie auf Kissen gezaubert und immer wieder Sinnsprüche, die die Gemütlichkeit des eigenen Heims feierten. Oft war sie auch im Garten zugange, pflegte die Beete, schnitt Rosen, setzte Kompott aus den eigenen Früchten an und zauberte herrliche Marmeladen mit großen Fruchtstücken. Im Augenblick legte sie eine Patience.

Was sie in diesen Momenten des Alleinseins so verärgerte, war nicht die Abwesenheit ihres Mannes, sondern der Grund dafür. Und dass er sie offenbar für dumm genug hielt, sein außereheliches Vergnügen nicht zu bemerken.

Dass Ruth an einigen Abenden auf ihren Mann würde verzichten müssen, war ihr nach seiner Wahl zum Bürgermeister schon klar. Aber dass er sein Amt missbrauchen würde, um sich während angeblich ehrenamtlicher Termine mit dieser Schlampe zu treffen, traf sie ins Herz.

Ironischerweise war sie genau drei Tage nach ihrer Silberhochzeit zum ersten Mal skeptisch geworden. Die Kühnes hatten die Eheleute Fassbinder zu Gast gehabt, mit denen sie schon seit vielen Jahren eng befreundet waren. Herbert Fassbinder saß im Gemeinderat und unterstützte mit seiner Fraktion Bürgermeister Joachim Kühne. Deswegen war Ruths Frage, ob sich der Bauausschuss vorgestern Abend auf die Grundschulrenovierung geeinigt habe, völlig normal.

Herbert hatte kurz gestutzt und geantwortet: »Der Bauausschuss vorgestern Abend? Der ist doch ausgefallen, weil die Vorsitzende krank geworden war. Die Entscheidung fällt erst in der nächsten Sitzung.«

Es breitete sich ein kurzer Moment der Stille am Esstisch aus. Alle schauten Joachim an. Der hob abwehrend die Hände.

»Jaja, ja, das stimmt, was Herbert sagt. Aber ich habe trotzdem mit dem Bauamtsleiter zusammengesessen, wir sind dann alle Pläne noch mal durchgegangen.«

»Bis um halb zwölf?« Ruth versuchte, ihr plötzliches Misstrauen durch ein gekünsteltes, nachgeschobenes Lachen zu überdecken.

»Ja, wie gesagt, alle Pläne«, antwortete ihr Mann eine Spur zu unwirsch.

Er hatte schnell das Thema gewechselt, die Unterhaltung hatte wieder an Fahrt aufgenommen, und der Bürgermeister war davon ausgegangen, dass seiner Frau diese Antwort schon genügen würde. Stattdessen hatte der Dialog im Kopf von Ruth Kühne eine kleine Flamme des Argwohns entfacht, die in den Tagen darauf einfach nicht gelöscht werden konnte. So seltsam hatte Joachim noch nie reagiert. Und wie er danach das Gespräch an sich gerissen hatte, kam ihr bei jedem neuen Überdenken der kurzen Szene verdächtiger vor.

Eigentlich war Ruth keine eifersüchtige Person. Mehr als fünfundzwanzig Jahre lang hatte sie aber auch nie den Eindruck gehabt, dass Joachim ihr dafür einen Anlass gegeben hätte. Klar, als sie frisch zusammen gewesen waren, hatte sie schon genau hingeschaut, ob die anderen Frauen ihrem Freund schöne Augen machten. Manche taten das, aber damals freute sie sich sogar darüber. Sprach doch nur für ihre Auswahl, wenn andere Mädels den jungen Mann gut fanden, der auf dem Weg zum Fachanwalt für Verwaltungsrecht war.

Aber irgendwie hatte sie der Abend mit den Fassbinders nicht losgelassen, und sie schmiedete einen Plan: Beim nächsten Termin, der nicht eindeutig im Sitzungsplan stand, wollte sie ihm hinterherfahren. Ruth redete sich ein, dass sie wahrscheinlich gar nichts entdecken würde und dass die geplante Spionageaktion ja nur ein Beweis dafür sei, dass sie in ihren Mann auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert immer noch verliebt sei.

Gut zwei Wochen nach Ruths erstem Verdacht hatte Joachim angekündigt, dass er am kommenden Abend nach Gießen müsse, um einen Investor für das neue Gewerbegebiet zu treffen. Dieser Termin klang für die Bürgermeistergattin geeignet, um die Treue ihres Mannes auf die Probe zu stellen. Kaum hatte er sich verabschiedet und seinen Dienst-Mercedes aus der Garage gelenkt, sprang sie in ihr Auto und fuhr ihm mit dem nötigen Abstand hinterher.

Eine erste kleine Erleichterung stellte sich ein, als Ruth sah, wie der Wagen ihres Mannes auf der Hauptstraße von Winnen tatsächlich Richtung Gießen abbog, aber schon an der nächsten Kreuzung in Nordeck war sie irritiert. Wenn Joachim wirklich in die Stadt gewollt hätte, wäre er doch jetzt rechts nach Allendorf gefahren. Stattdessen blieb der dunkle Wagen auf der Straße nach Rabenau, und Ruths Magen fing an, sich zu verkrampfen.

Unten im Lumdatal angekommen, fuhr ihre letzte Hoffnung dahin, dass Joachim nur einen kleinen, unerklärlichen Umweg gefahren sein könnte. Er blinkte nach links und setzte seine Fahrt Richtung Autobahnauffahrt Grünberg fort. Ein anderer Wagen schob sich zwischen die Autos der Eheleute, Ruth war das ganz recht, denn mittlerweile sprach vieles dafür, dass ihr Mann diese Beschattung besser nicht mitbekommen sollte.

Aus irgendeinem Grund war sie froh gewesen, dass Joachim ein paar Kilometer weiter nicht auf die A 5 gefahren, sondern auf der Landstraße Richtung Grünberg geblieben war. Es konnte ja sein, dass der Investor den Termin dorthin verlegt hatte. Oder dass sie sich schlicht vertan hatte und Gießen mit Grünberg verwechselte.

Während die Landschaft an ihr vorbeizog, fand sie zwar immer wieder Argumente, die einfach nur für einen Irrtum oder ein Missverständnis sprachen, aber dass sich ihr Magen mit jedem Kilometer, den sie sich mehr von Gießen entfernten, immer mehr zusammenzog, konnte Ruth auch nicht verleugnen.

In Grünberg bog Joachim vor dem großen Rewe rechts ab, kurz darauf ging es links in die Altstadt. In der Rabegasse fand er eine Parklücke, stieg aus und lief auf den Marktplatz zu.

Ruth stellte ihren Fiesta einfach in eine Hauseinfahrt, sie durfte ihren Mann jetzt nicht aus den Augen verlieren. Direkt hinter dem Rathaus betrat er ein gediegenes griechisches Restaurant. Ruth schlich hinter einen Springbrunnen und sah durch die großen Scheiben des Lokals, wie ihr Mann auf eine attraktive, deutlich zu junge und deutlich zu blonde Frau zusteuerte. Er strahlte, umarmte die Frau und gab ihr einen Kuss auf den Mund.

Ruth war sich sicher, dass Joachim Investoren anders zu begrüßen pflegte, löste sich von dem Brunnen und ließ sich ein paar Meter weiter auf einen Stuhl der bereits geschlossenen Außengastronomie eines kleinen Bioladens fallen.

Dort war sie regungslos sitzen geblieben und hatte versucht, irgendwie mit dem Gedanken klarzukommen, dass sie jetzt also auch zu den Frauen gehörte, deren Ehe durch die verdammte Midlife-Crisis eines hormongetriebenen Stelzbocks in die Brüche gehen könnte.

Aber statt mit irgendjemandem darüber zu sprechen, mit ihren Freundinnen oder ihrer Tochter, fraß Ruth die Wut in sich hinein, stickte niedliche Eulen und Rehe und sann auf Rache.

Tag 1

Eine kleine Gruppe von etwa zehn Frauen hatte sich vor der Stadthalle im Bad Hersfelder Kurpark eingefunden, um lautstark kundzutun, was sie von der Veranstaltung im Inneren des Gebäudes hielten. Zwei Demonstrantinnen hielten ein Banner in die Höhe mit der Aufschrift: »Für einen Chauvinismus-freien Hessentag«. »Unser Gemotze gegen euer Geglotze«, hieß es auf einem anderen, ein junges Mädchen reckte ein Pappschild in die Luft, auf dem mit dickem Filzstift geschrieben stand: »Ich bin so wütend, ich habe sogar ein Plakat dabei!«

»Ach Gott, ach Gott«, sagte Portzig abfällig, der mit Bürgermeister Goldhagen den Protest aus einem der großen Fenster im Foyer der Halle beobachtete. »Haben die ihre Ankündigung also wirklich wahr gemacht.«

»Na ja, von diesen paar Hanseln da unten lassen wir uns die schöne Idee aber nicht kaputtmachen«, entgegnete das Stadtoberhaupt. »Nur weil es gerade Mode ist, gegen alles und jeden zu demonstrieren. Und die Mädels haben sich schließlich alle freiwillig beworben.«

Mit den »Mädels« meinte Goldhagen sechs Frauen, die sich für einen Wettbewerb meldeten, den der Bürgermeister mit dem Eventbeauftragten der Staatskanzlei, Viktor Portzig, für den Hessentag in Bad Hersfeld ausgeheckt hatte.

»Kommen Sie, wir müssen rein, sonst verpassen wir den Anfang.« Goldhagen patschte im Losgehen Portzig kumpelhaft auf die Schulter, wohl auch, um noch mal nonverbal klarzumachen, dass beide hier gerade das Richtige taten.

Die Bühnenränder der Stadthalle waren üppig mit Blumen geschmückt worden, auf den noch geschlossenen Vorhang projizierte ein Beamer eine goldene Krone. Goldhagen schritt die Treppe im Zuschauerraum hinab, schüttelte hier und da eine Hand und stellte den Gast aus Wiesbaden vor. In der ersten Reihe nahmen die Männer schließlich auf reservierten Stühlen Platz.

Kurz darauf fuhr der Vorhang beiseite, und zum Sound einer feierlichen Fanfare stürmte ein junger Mann dynamisch auf die Bühne. Der Moderator im grünen Polohemd gehörte zum größten Privatsender des Landes, der die Wahl zur Hessenkönigin im Radioprogramm und online als Medienpartner begleitete.

»Wow! Hi, Bad Hersfeld!«, schrie der smarte Jungpräsentator übermotiviert in die Halle und machte eine kleine Pause, in der er offenbar direkt den ersten Applaus erwartete. Da sich im Publikum nichts regte, sprach er schnell weiter. »Ja, also, ein herzliches Willkommen von mir, ich bin der Jonas vom Hitradio, aber hey, um mich geht’s heute ja gar nicht!« Hier hatte Jonas offenbar die erste Soll-Lach-Stelle in seiner Moderation verortet; weil aber wiederum alles ruhig blieb, setzte er flott fort. »Hier hinten«, er zeigte auf die Rückwand der Bühne, »hier stehen sechs Frauen. Eine schöner als die andere, aber ehrlich, Leute, eine auch nervöser als die andere. Und eigentlich sind sie ja alle schon Königin oder Prinzessin. Sie repräsentieren die unterschiedlichsten Regionen des schönsten Bundeslands der Welt – aber sie haben noch ein größeres Ziel: Sie alle wollen Königin von Hessen werden!«

Jetzt endlich gab es einen Applaus von den etwa hundertfünfzig Besuchern in der Stadthalle, und Jonas grinste zufrieden. Dann ging es mit seiner Erklärung weiter.

»Alle sechs Kandidatinnen sind die ganzen zehn Tage lang auf dem Hessentag unterwegs. Sie nehmen an Veranstaltungen teil, kommen mit den Bürgern ins Gespräch und sind Königinnen zum Anfassen.« Er machte eine kleine Pause und zwinkerte schelmisch. »Aber nehmen Sie das nicht zu wörtlich, meine Herren!« Vereinzelte Lacher. »Der Höhepunkt aber wird der Umzug am übernächsten Sonntag sein. Dann schweben unsere sechs Damen auf der Königinnensänfte durch die Straßen von Bad Hersfeld. Und am Ende des Festzugs wird verkündet, wer zur Hessenkönigin gewählt wird. Diese neue Hoheit steht übrigens nicht in Konkurrenz zum Hessentagspaar. Das sind dieses Jahr Katharina und Dennis, die wir auch herzlich willkommen heißen …«

Der Moderator hielt einen Moment inne, die Angesprochenen standen in der ersten Reihe kurz auf und winkten ins Publikum.

»Das Hessentagspaar macht ja immer Werbung für die nächste Ausrichterstadt. Die neue Hessenkönigin wiederum ist in ganz Deutschland unterwegs, um Touristen und Investoren in unser schönes Bundesland zu locken.«

Jonas, der bisher frei gesprochen hatte, zog nun ein paar kleine Karteikarten aus seiner Sakkotasche. Bei dieser wichtigen Passage wollte er keine Fehler machen.

»Direkt nach unserer Präsentation wird das Voting-Tool auf der Homepage vom Hessentag und vom Hitradio freigeschaltet. Sie können dann zehn Tage lang abstimmen, welche der sechs Schönheiten unser Land bei allen wichtigen Messen, Empfängen und Events vertreten wird. Natürlich muss sich jeder Nutzer registrieren, bevor er online abstimmen kann, dadurch verhindern wir Missbrauch bei der Stimmabgabe. Die Sektkellerei Schenkell aus Wiesbaden übernimmt als Hauptsponsor von HessenTourist das Jahresgehalt in Höhe von hundertfünfundzwanzigtausend Euro. Außerdem gibt es für die Siegerin einen nigelnagelneuen Mini Cabrio, den sie nach dem Ende ihrer Amtszeit behalten darf. Sie sehen: Es geht nicht nur um die Ehre und um einen tollen Job, sondern auch um viel, viel Geld!«

Es folgten ein längerer Applaus und ein kurzer Moment der Unruhe, weil plötzlich ein gutes Dutzend Hostessen durch die Eingänge in den Saal strömte, sie balancierten auf Silbertabletts in Pyramidenform aufgebaute Sektkelche der erwähnten Marke und verteilten sie an die Besucher.

Goldhagen schlug Sitznachbar Portzig anerkennend auf den Oberschenkel: »Das gefällt mir alles richtig gut!«

»Und jeeeetzt geht er los, der Kampf um den Thron!«, kreischte Jonas von der Bühne herunter. »Ich habe die ehrenvolle Aufgabe, ihnen nun die sechs regionalen Kandidatinnen für das Amt der Hessenkönigin vorzustellen. Jede wird mit einem kleinen Zweizeiler den Wahlkampf eröffnen – und dann liegt es in Ihrer Hand, liebes Publikum, wer unser Land die nächsten zwölf Monate vertritt. Hiiiiier kommt die erste Bewerberin, begrüßen Sie mit mir die Mittelhessische Apfelweinkönigin Johanna I. aus Heuchelheim!«

Eine schwarzhaarige Mittzwanzigerin in einem dunkelgrünen Schlauchkleid betrat strahlend die Bühne, in den Händen hielt sie Bembel und Geripptes, mit dem Glas prostete sie den Besuchern in der Stadthalle zu. Vor einem Mikrofonständer blieb sie stehen und rief in den Saal: »Ich steh fürs Nationalgetränk und wart auf euer Stimm-Geschenk!«

Die Zuschauer klatschten artig, man merkte dem Applaus an, dass sich die Gäste in puncto Enthusiasmus noch Luft nach oben lassen wollten.

Johanna nahm auf einem halbkreisförmigen Sofa Platz, während Jonas schon die Nächste ankündigte.

»Aus Kronberg im Taunus kommt zu uns jetzt Burgenkönigin Benita I.«

Die zweite Kandidatin war auf den ersten Blick etwas älter, trug ein rotes Samtkleid und hatte sich ein funkelndes Diadem in die blonden Haare gesteckt, denen man ansah, dass sie vor dem Auftritt viele Stunden lang bearbeitet worden waren. Sie hatte keine Utensilien dabei, verteilte stattdessen beim Gang ans Mikrofon Kusshände. Benita machte einen sehr selbstsicheren Eindruck und bewarb sich mit dem Satz: »Ich liebe unser Hessenland, drum legt das Amt in meine Hand.«

An dritter Stelle folgte Yvonne, eine leicht dralle Brünette aus Eschwege, die mit ihrem Königinnenamt Werbung für die Ahle Wurscht machte. Sie hatte ein Tablett mit großzügig abgeschnittenen Dauerwurststückchen dabei. Die hineingepikten Zahnstocher sprachen dafür, dass sie den kleinen Snack später unter den Gästen verteilen wollte. Ihr Bewerbungssprüchlein lautete: »Mit Würze und mit Fleischeslust vertreibe ich euch jeden Frust«, der kesse Satz kam beim Publikum bisher am besten an.

»Oh, là, là, jetzt wird es süß. Begrüßen Sie mit mir die Ockstädter Kirschenkönigin Özlem!«

In einer Art Trachtenkleid, das mit dem entsprechenden Obst bestickt war, enterte eine bildschöne Südländerin die Bühne. Sie entblößte beim Lächeln gefühlte zweiundsiebzig kirschblütenweiße Zähne und groovte mit bauchtanzartigen Bewegungen zum Mikrofon. Besonders der männliche Teil des Publikums sorgte für den bislang längsten Applaus, den Özlem strahlend mit einer Verbeugung entgegennahm. Als schließlich Ruhe einkehrte, feuerte sie ihren Zweizeiler ab: »Fürs höchste Amt die beste Frau – halb Orient, halb Wetterau!«

Der Saal stand kopf, in der ersten Reihe stupste Portzig Bürgermeister Goldhagen an und zischelte: »Läuft super, ne?«

Bewerberin Nummer fünf war die Hanauer Grimm-Prinzessin namens Samira. Sie trug eine Art Patchwork-Umhang, auf die einzelnen Stoffteile waren Motive aus den bekannten Märchen genäht. Die roten Overknees, möglicherweise eine Reminiszenz an den gestiefelten Kater, bissen sich mit der violetten Kurzhaarfrisur, verdeckten aber immerhin die Tätowierung, Motiv »Rosenstrauch«, die sich von Samiras Fußspann über die Wade bis zum Oberschenkel rankte. Sie machte grundsätzlich einen etwas einfachen Eindruck, der sich noch verstärkte, als sie ihren Satz ins Mikrofon hesselte: »Wählt misch für das nächste Jahr, dann wird mein Märschentraum endlisch wahr.«

Das versemmelte Versmaß fiel Wolli Angerstein nicht auf, weil er gar nicht wusste, worauf er sich konzentrieren sollte. Einerseits versuchte der Lokalreporter der »Osthessischen Landeszeitung« von seinem Platz in der ersten Reihe aus, die Märchen auf dem unruhigen Quilt zu erkennen, andererseits störte ihn dabei das Gefunkel, das ein kleines Brillant-Piercing über Samiras Oberlippe im Scheinwerferlicht verursachte.

Von allen bisherigen Kandidatinnen fand Wolli Samira am billigsten, seine Mutter hätte an dieser Stelle wahrscheinlich das vornehmere Wort »gewöhnlich« verwendet. Benita kam ihm ziemlich blasiert vor, Yvonne mochte er allein schon für ihre nordhessische Herkunft, Johanna wirkte halbwegs bodenständig und Özlem war einfach zu schön für ein objektives Urteil.

Natürlich stand es Wolli nicht zu, in seinem Artikel Partei für eins der Mädchen zu ergreifen, aber eine private Meinung gönnte er sich auch als Journalist.

Er schaute gerade kurz auf seine Unterlagen, wer die letzte Teilnehmerin beim heutigen Schaulaufen war, als Jonas von der Bühne trötete:

»Uuuund jetzt, last, but not least, unsere Kandidatin Nummer sechs! Sie kommt aus Fritzlar! Sie ist die amtierende Sauerkrautkönigin! Hier ist Ursel I.!«

Eine junge Frau mit blassem Gesicht betrat die Bühne und fühlte sich dabei spürbar unwohl. Ihr Kleid bestand aus hellgrünen Schuppen, die bei näherem Hinsehen Kohlblätter aus festem Stoff waren. Ihre dünnen blonden Haare erinnerten in ungünstiger Weise an das von ihr repräsentierte Gemüse.

Ursel winkte unsicher und lief in kleinen Schritten hastig zum Mikrofonständer. Dort sammelte sie sich kurz, reckte die linke Hand zur Faust geballt in die Höhe und sagte: »I say it loud, I say it proud, vote for German Sauerkraut!«

Die Lacher im Saal entlockten auch der schüchternen Ursel ein vorsichtiges Lächeln, sie verbeugte sich erleichtert und lief schon etwas selbstsicherer zum Sofa, wo Jonas mit den anderen Hoheiten auf die letzte Kandidatin wartete. In einer lockeren Interviewrunde durften sich die Bewerberinnen dann noch etwas genauer vorstellen.

Wolli machte sich fleißig Notizen für seinen Artikel und sah sich durch den Talk in seiner ersten Einschätzung der Damen bestätigt: Von überheblich bis unsicher war alles dabei. Er war gespannt, wer das Rennen machen würde – und ob er einen einigermaßen neutralen Artikel über das Sextett hinbekäme.

***

»Na, Leut, die Nummä da drin habbe mer gerockt, oder?«

Samira, offenbar zufrieden mit dem Verlauf der Vorstellungsrunde, zündete sich eine sehr lange und dünne Zigarette an.

Die Frauen warteten am Hintereingang der Stadthalle auf den Shuttlebus, der sie zurück ins Hotel nach Friedewald bringen sollte. Da auf die Feststellung der Hanauer Märchen-Prinzessin niemand konkret antworten wollte, wählte sie für ihren nächsten Versuch, die Konversation in Gang zu bringen, eine direkte Adressatin.

»Hier, Ursel, dein Satz war ja escht de Knallä. Dschömen Sauerkraut, mega. Wie biste denn da druff gekomme?«

Ursel machte das Kompliment etwas verlegen, sie wischte sich eine Strähne aus der Stirn. »Na ja, irgendwie reimen sich nur blöde deutsche Wörter auf Sauerkraut. Braut oder traut. Und da kam mein Mann auf die Idee, es einfach auf Englisch zu machen …«

Yvonne hatte einen Schokoriegel in der Hand und rief: »Ich bin die Braut vom Sauerkraut, wählt mich, wenn ihr euch das traut!«

Alle in der Runde lachten, auch Ursel. Grinsend sagte sie: »Ja, die besten Ideen kommen einem immer hinterher.«

»Ich habe aber auch ewig über diesen blöden Satz nachgedacht«, warf Özlem ein. »Ich meine, das Interview danach, alles kein Problem, aber ein Zweizeiler? Auch voll altmodisch irgendwie.«

»Ehrlich gesagt, mein Reim kam von einer Freundin, mit der ich dafür mindestens zwei Flaschen Rotwein geleert habe«, gab Yvonne zu.

»Beim nächsten Mal bitte Apfelwein!«, verlangte Johanna scherzhaft.

»Boah, wenn isch mir eusch zwei anschau, fällt mir ja jetzt erst uff«, Samira deutete mit dem Kinn auf Johanna und Ursel. »Äppler und Sauerkraut, da krisch isch ja direkt Blähunge!«

Johanna hakte sich bei ihrer Kollegin aus Fritzlar unter und antwortete kess: »Pass auf, Samira, wir treten als Duo an, die First Ladys der Flatulenz, dann hast du keine Chance!«

Und Ursel fügte an: »Ich bin die Braut vom Sauerkraut, die dich bei blöden Sprüchen haut.«

Alle außer Benita gackerten. Die Frotzelei war offenbar unter dem Niveau der Burgenkönigin. Sie wartete ab, bis sich alle wieder beruhigt hatten, und sagte dann: »Also, ich habe den Zweizeiler ja mit meinem Coach geschrieben.«

Nach diesem Satz herrschte für einen Moment Ruhe. Yvonne hatte zwar noch ein Stück von ihrem Riegel im Mund, fand aber als Erste die Worte wieder.

»Du hast einen Coach?«

»Ja, glaubst du, ich gehe völlig unvorbereitet in so einen Wettbewerb? Da ist ganz viel eine Frage der Außenwirkung. Outfit, Mimik, Gestik, Auftreten, Glenn hat mich da echt fit gemacht.«

»Glenn?«

»Ein Amerikaner. Eigentlich Personal Trainer, mehr so für Fitness, aber der macht auch komplettes Life-Coaching, Hairstyling und Make-up. Ihr werdet ihn später eh noch kennenlernen. Der wäre auch was für dich, Ursel.«

»Wieso denn gerade für mich?«