Über das Buch

Treffen sich Stan Laurel und Thomas von Aquin im Dunkeln … Markus Orths neuer Roman, eine urkomische und todernste Geschichte

Eine unglaubliche, unerhörte Begegnung, die den Bogen spannt über siebenhundert Jahre Weltgeschichte: Zwei Männer treffen sich in vollkommener Finsternis. Sie wollen ans Licht, unbedingt. Sie tasten sich voran, führen irrwitzige Gespräche und teilen die Erinnerungen an zwei haarsträubend unterschiedliche Leben. Die Männer? Stan Laurel und Thomas von Aquin. Der begnadete Komiker trifft auf den großen Denker des Mittelalters. Warum hier? Warum jetzt? Warum gerade sie beide? Genau dies müssen sie herausfinden, um endlich ans Licht zu gelangen. »Picknick im Dunkeln« ist eine aufregende philosophische Reise, eine urkomische und todernste Geschichte über die großen Fragen des Lebens.

Markus Orths

Picknick im Dunkeln

Roman

Carl Hanser Verlag

1

Diese Dunkelheit, diese alles verschlingende, vollkommene Dunkelheit: Wohin er sich wandte, Stanley sah nichts. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und wie er hergekommen war, er kniff die Augen zusammen, als wollte er den Blick scharf stellen, aber alles, was er hätte sehen können, blieb bedeckt von äußerster Schwärze, so lichtlos, dicht und undurchdringlich, dass er das Gefühl hatte, er atme sie ein, die Finsternis, sie sickere allmählich von außen nach innen. Stanley streckte die Arme aus und hoffte, gegen etwas zu stoßen, das ihm Halt gab und Richtung wies, aber da war nichts, die Finger ragten wie verzweifelte Fühler ins Leere. Er sank auf die Knie, wischte mit den Händen über den Boden: ein flacher, künstlich wirkender, ebener Untergrund, glatt und kalt wie aus geschwärztem Stahl, Stanley suchte nach Steinchen, Dreck, Flusen oder Staub, aber spürte nur die gespenstische Makellosigkeit dieser wie mit einer Wasserwaage gezogenen, glatt gestrichenen, nackten Ebene. Er stand wieder auf und klopfte seinen Körper ab: Anscheinend trug er einen groben Anzug, vielleicht seinen braunen Filmanzug, dazu Hemd, Weste, Schuhe, Strümpfe sowie eine Fliege und — die Melone. Obwohl sein Filmpartner Oliver Hardy schon vor Jahren gestorben war und Stanley genau wusste, dass Ollie ihm nicht würde antworten können, nie mehr, spürte Stanley ein Bedürfnis, den Namen seines Freundes zu rufen. Er folgte diesem Impuls sofort, rief: »Ollie! Ollie!«, und es klang wie ein Krähen, seltsam dumpf und trocken. Er lauschte seiner eigenen Stimme, in der bizarren Hoffnung, eine Antwort zu erhalten, eine von jenen Antworten, die er so oft gehört hatte in ihren Filmen, sei es ein aufgeregt gezischeltes »Sssst! Sssst!« oder Ollies Lieblingssatz: »In welchen Schlamassel hast du uns jetzt schon wieder gebracht?« Nein, Stanley wusste nicht, in welchem Schlamassel er gerade steckte, doch als seine Stimme unaufgefangen und unbeantwortet zu ihm zurückkehrte, da war ihm klar: Er steckte allein in diesem Schlamassel, menschenseelenallein.

Je länger er weilte, umso schwerer lastete die Dunkelheit, und Stanley ahnte, die Schwärze würde nicht schwinden, wenn er bliebe: Er musste, er wollte fort von hier. Der erste Schritt fühlte sich wackelig an. Stanley ruderte mit den Armen und wankte, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Boden unter den Sohlen. Die Ungewissheit, wohin er seine Füße setzte, schnürte ihm leise den Atem ab. Obwohl Stanley nur äußerst langsam vorankam, schien ihm, sein Denken hinke noch hinterher, er spürte eine seltsame Kissenhaftigkeit hinter der Stirn, ganz so, als läge alles im Kopf unter Daunen begraben: Die Fragen, die ihn bedrängten, konnte er ausblenden, und auch die Idee, sich zur Seite zu wenden, kam ihm erst spät. Ruckartig drehte er sich nach links. Fünf Schritte später berührten seine Finger eine Wand, und die Wand war ebenso glatt wie der Grund unter seinen Füßen. Stanley fuhr eine Weile mit den Händen die Wand entlang, zu den Seiten, nach unten, nach oben: Sie wölbte sich leicht über seinem Kopf. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte aber an keine Decke reichen. Auch nicht, als er mit ausgestreckten Armen hochsprang.

»Hallo?«, rief er jetzt und trommelte mit den Fäusten gegen die Wand, zuerst sacht, dann immer stärker, doch die Schläge waren kaum zu hören.

»Ist da jemand?«

Keine Antwort.

Stanley legte sein Ohr an die Wand: nichts. Nicht das Geringste. Er durchsuchte seinen Anzug, fand aber nur ein Einstecktüchlein in der äußeren und einen Kugelschreiber in der inneren Herztasche. Mit dem Rücken an die Wand gelehnt dachte Stanley eine ganze Weile nach, ehe er Luft holte und sich langsam von der Wand weg nach vorne tastete. Nach einigen Schritten stießen seine Hände an eine zweite Wand. Er nahm die Melone ab und kratzte seine Kopfhaut. Ein Tunnel also. Vielleicht vier oder fünf Meter breit. Ein flacher Boden. Wahrscheinlich eine Decke über ihm. Er befand sich allem Anschein nach in einer halben, durchgeschnittenen Röhre, und immer noch lag alles wie ersoffen im Finstern, nicht das mindeste Fitzelchen Licht.

Stanley setzte die Melone wieder auf, nestelte an seiner Fliege, zog die Augenbrauen hoch, grinste und breitete die Arme aus in vollkommener Hilf- und Ratlosigkeit, er imitierte die Mimik und Gestik seiner Filmfigur, die er Stan nannte: Ich weiß gar nichts, ich habe nicht den blassesten Schimmer, was hier geschieht, weder in der Lage, in der ich mich gerade befinde, noch im Leben allgemein, aber es ist auch nicht weiter schlimm, denn jede Ungewissheit besänftigt mich immer auch ein wenig.

Er wunderte sich, dass seine Angst nicht größer war: Doch ähnlich wie das Denken schien auch das Fühlen gedämpft, ein Echo, Schatten, Nachgeschmack und nicht mehr die Empfindung selbst in ihrer ganzen Wucht und Wucherung. Eins aber ist sicher, dachte er. Wenn ich weitergehe, muss ich ans Licht gelangen! Wenn ich vorwärtsstrebe, wird sich alles aufklären, früher oder später. Etwas anderes ist undenkbar. Kurz überlegte er, welche Richtung er einschlagen sollte, kniff die Augen zusammen, drehte sich vor und zurück, konnte keinen Unterschied ausmachen, zuckte mit den Schultern, legte die Handfläche an die Wand rechts neben ihm und ging einfach los.

Woher kamen jetzt all diese Erinnerungen? Jäh, ruckartig, ohne Vorwarnung. Innere, silberne Feuerwerke. Stanley atmete sofort auf: Denn die Erinnerungen verschafften ihm Erleichterung, ja, er klammerte sich jetzt regelrecht an diese Erinnerungen, an das samtene Gefühl der Vertrautheit, des Nach-Hause-Kommens, er ließ sich mitreißen von dem, was an seinem inneren Auge vorüberglitt, Bilder, Erlebnisse, Orte, Gedanken und Stimmungen aus fern verwehten Zeiten. Seine lebenslange Leidenschaft, das Grimassenschneiden; dieses tägliche, unermüdliche Üben vor dem Spiegel, aus dem einen und einzigen Grund: die Menschen zum Lachen zu bringen; sein Vorbild Charles Chaplin und dessen liebevoller Tramp, der durch eine aus den Fugen geratene Welt spaziert, aberwitzige Dinge erlebt, die Absurdität des Lebens entlarvt und ihr nichts anderes entgegensetzt als pure Güte. Und wie Stanley als junger Mann Chaplin imitierte, durch England und Amerika tingelte, das Lachen der Menschen erntete, indem er jemanden spielte, der ein anderer war als er selbst, und wie Stanley nach und nach den Chaplin-Kokon abstreifte, endlich selbst vor der Kamera stand, nach einem eigenen Ausdruck suchte, etwas, das ihn unverwechselbar und dadurch ebenso unsterblich machen würde wie Chaplin. Zu gern wäre auch Stanley ein Clown gewesen, über den die Leute schmunzeln, wenn sie ihn nur sehen; zu gern hätte auch Stanley ein Lachen in die Welt gezaubert, das die Menschen aus dem Einerlei ihres Daseins schraubt wie eine Drehung beim Tanz, damit sie, wenn auch nur kurz, die giftigen Splitter vergessen, die im Leben stecken. Aber Stanley fand sie nicht, die Unverwechselbarkeit. Die Figuren, die er spielte, waren zu unterschiedlich. Stanley blieb nicht haften im Gedächtnis der Zuschauer. Sein Gesicht verflüchtigte sich mit dem Abspann wie ein fremder, schwer zu fassender Duft.

Der Misserfolg als Mime setzte ihm zu, das Erschrecken über seine Unfähigkeit mündete ins Ende der Schauspielerei, begleitet von einem schalen Witz des Schwarzweißfilm-Produzenten Hal Roach: »Ihre Augen, Mister Laurel, sind zu blau, als dass man sie filmen könnte.« Und Stanley flüchtete sich in die Arbeit hinter der Kamera. Als Schreiber. Als Witze-Erfinder. War dieses Talent nicht sogar größer? Das Ausdenken lustiger Szenen, sein Gefühl fürs Timing, fürs Zünden von Gags, für allerhand Orte, an denen Menschen im Speedraffer zusammenkrachen können in Tortenschlachten und Tit-for-tat-Orgien, ja, dies bot einen Ausweg: die ordnende Arbeit als Gag-Schreiber und Regisseur.

Und Stanley wäre wohl für alle Zeiten als Hintergrundname in den Abspannen seiner Filmchen versunken, wenn nicht etwas Unerhörtes geschehen wäre. Sein Freund Oliver Hardy hatte so oft davon erzählt, dass es Stanley lebhaft vor Augen stand und längst zu seiner eigenen Erinnerung geworden war: Oliver Hardys Ehefrau kletterte ausgerechnet durch den Laurel Canyon in den Bergen Santa Monicas, sie sah plötzlich eine Klapperschlange, floh Hals über Kopf und stürzte einige Male auf dem steilen Weg, riss sich die Bänder ihres rechten Beins, wodurch sie für einige Zeit ans Bett und an Krücken gefesselt war, was dazu führte, dass Oliver Hardy die Arbeiten im Haushalt übernehmen musste und eines Abends eine Lammkeule briet, die knusprige Keule aus der Röhre holte und dabei ausrutschte, in grotesker Vorwegnahme späterer Slapstick-Auftritte, und das heiß knisternde Öl verbrühte seine durch die Topflappen ungeschützten Daumen, denn das Öl war tatsächlich heißes Öl und nicht, wie im Film, kaltes, fettaugiges Wasser, weshalb Ollie unfähig war, zu den kurz darauf beginnenden Dreharbeiten des nächsten Films zu erscheinen.

Und dadurch änderte sich alles.

2

Stanley blieb stehen. Ihm war, als hätte er ein Geräusch gehört. Er lauschte, nein, nichts, alles still. Das Schwarz besaß keine Nuancen, das Schwarz war nichts, woran sich seine Augen hätten gewöhnen können, es war keines, das nach einer Weile irgendwie auch nur eine Spur heller wurde, nein, das Schwarz blieb ein undurchdringliches Schwarz. Erst jetzt streifte ihn der Gedanke, er könnte erblindet sein. Stanley führte seine Finger dicht vor die Augen, bis die Handfläche seine Nase berührte, doch es gab keinen Unterschied, keine lichteren, keine dunkleren Schemen, nein, ein Blinder vernähme Lichtreflexe hinter den Lidern, Schattenspiele und Sonnenblitze, doch Stanley sah rein gar nichts: Diese Dunkelheit, diese alles verschlingende, vollkommene Dunkelheit, sie kam nicht von innen, sie kam von außen. Jetzt zuckten seine Hände hoch, fast wie von selbst: Die Finger legten sich an die Stirn und mit seinen Daumen schloss er die Gehörgänge. Stanley nahm jetzt gar nichts mehr wahr, weder mit den Augen noch mit den Ohren, er zuckte zusammen, löste die Daumen rasch wieder, klatschte in die Hände und atmete auf: seltsam erleichtert über den stumpfen Klang, den er hörte.

Und die Erinnerungen? Hatte er sich ablenken wollen? Vom Weg, der vor ihm lag? Von der Ungewissheit? Von der Finsternis? Von der Frage: Wie er überhaupt hergekommen war? In diesen blickdichten Raum? Was zum Teufel geschah hier eigentlich?

Er musste nachdenken. Sich Zeit nehmen. Wie in County Hospital, als seine Filmfigur Stan das Krankenhauszimmer betrat, in dem ein Nachthemd-Ollie im Bett lag, das Gipsbein mittels grotesker Apparatur in die Luft gestreckt.

Stan: Ich habe dir hartgekochte Eier und Nüsse mitgebracht.

Ollie: Du weißt doch, dass ich keine hartgekochten Eier mag! Und auch keine Nüsse!

Stan zog seine Brauen hoch, jeder Gedanke schien wie weggefegt, und weil er nicht wusste, was er jetzt tun sollte, weil es nichts gab, einfach gar nichts, worüber er und sein Freund würden sprechen können, griff Stan selbst zu einem der Eier in der braunen Papiertüte, setzte sich und nahm sich Zeit, schälte und salzte und verspeiste das Ei und tat sonst nichts. Fast zwei Minuten nur diese quälende Langsamkeit des Ei-Schälens und Ei-Verspeisens, und Stanley sagte dem Regisseur, die Komik des Alltäglichen entfalte sich in der Ruhe, man müsse die Situation auskosten. Der Regisseur schüttelte den Kopf und nannte Stanley einen Melker und Ausbeuter. Nein, sagte Stanley, man brauche die Langsamkeit, um irgendwann wieder den Rhythmus zu wechseln ins Rasante des Slapsticks hinein: Ein Slapstick sei ein Schlagstock, der Knüppel des Narren im Kasperltheater. »Kein Narr haut immer nur drauf, er muss auch mal Luft holen zwischendurch, verstehen Sie?«

Doch je länger Stanley in der Dunkelheit verharrte und sich Zeit nahm, umso mehr verlor er das Gefühl für sich selbst. Im Stillstand näherte sich die Dunkelheit von allen Seiten und umzingelte, umzüngelte ihn, nein, Stillstand tat nicht gut hier, und Stanley gab sich ein paar Ohrfeigen, hieb mit der Faust auf den Oberschenkel, nur um sich selbst zu spüren, sich zu vergewissern, dass er noch da war und die Finsternis ihn nicht vollends verschluckt hatte, nein, alles, nur nicht stehen bleiben, das Stehenbleiben bekam mit der Zeit etwas Sumpfiges, ganz so, als würde er langsam eingesaugt, lautlos, von moorwarmen Mündern.

Stanley tastete sich voran. Die Wand an seiner Seite gab ihm Halt und Gespür für den Raum. Ihm kam die Idee, Schuhe und Strümpfe auszuziehen, um den Boden barfüßig zu erspüren, aber wer wusste schon, welch spitzlichen Dinge dort lauerten auf dunklem Pfad, nein, Stanley behielt die Schuhe an und schüttelte den Kopf über diese seltsamen Gedanken. Dann pfiff er irgendwas, das ihm in den Sinn kam, eine läppische Melodie, ein Kinderlied in der Nacht. Das alles beruhigte ihn ein wenig: das Pfeifen, das Schaben der Sohlen, die Hand an der Wand, das Schlenkern des linken Arms an der Seite. Von Schritt zu Schritt wuchsen Mut und Trotz, dieser Dunkelheit hier die Stirn zu bieten. Was bliebe ihm auch übrig? Er musste gehen, immer weitergehen und hoffen, an einen Ausgang zu gelangen.

Vielleicht, dachte er plötzlich, wäre es — auch jetzt — ganz gut, den Rhythmus zu wechseln, vom Langsamen ins Rasche hinein, bisschen was riskieren, why not? Wenn ich laufe, dachte er, werde ich auf jeden Fall schneller nach draußen kommen, ans Licht. Kurz schüttelte er sich, schon lief er los. Stanley sprintete nicht, er trabte nicht, er rannte in ein und derselben Geschwindigkeit und hörte seine keuchenden Schritte. Obwohl er beim Laufen eine Hand an der Wand ließ und die andere zum Schutz vor möglichen Hindernissen nach vorn streckte, bekam die neue Rasanz etwas Unaufhaltsames: Stanley stürzte einfach so ins Schwarze hinein. Die Augen gewöhnten sich nicht im Mindesten an die Dunkelheit, wohl aber gewöhnte sich Stanley, je länger er lief, an seine Lage, und bald hatte er die anfängliche Sorge verloren, im Laufen über irgendwas zu stolpern, das im Weg stehen könnte.

Nur plötzlich geschah genau dies: Stanley stolperte.

Sein Knie stieß gegen etwas Hartes, Großes, Kolosshaftes, dort, auf dem Boden, vor ihm, dicht an der Wand. Stanley blieb hängen und purzelte Kopf voran über das Ding, federte sich mit den Händen ab und rollte über die Schulter auf den Rücken: Genau so hatten die Stuntmen ihm das richtige Fallen beigebracht. Jetzt lag er dort. Die Melone hatte er verloren. Stanley tastete nach ihr, fand sie rasch, setzte sie auf. Weder Knie noch Handflächen schmerzten. Im Sitzen strich er Staub aus dem Anzug, Staub, den es gar nicht gab.

»Hallo?«, sagte er zu dem Ding, über das er gestolpert war, weil er ahnte, dass es sich bei diesem Ding um einen Menschen handelte. Stanley bekam keine Antwort. Er hörte Atemzüge.

Auf allen vieren näherte sich Stanley, nein, auf allen dreien, denn seine Linke hob er tastend in die Luft, während er kroch. Endlich fand seine Hand ihr Ziel. Stanley berührte ein Bein, ein gestrecktes Knie unter einer Art Nachthemd. Also kauerte dort tatsächlich: ein Mensch. Stanley zuckte zurück.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

Keine Antwort.

Der andere saß dort, an die Wand des Tunnels gelehnt, leise schnaufend. Stanley konnte nichts dagegen tun: Er hatte keine Angst, sondern fühlte sich unfassbar hingezogen zu einem möglichen Menschen. Einer, der sein Schicksal teilte, einer, der gemeinsam mit ihm hier drinnen steckte, einer, der dafür sorgte, dass er, Stanley, nicht mehr allein war, einer, mit dem er würde reden können und der ihm, wer weiß, vielleicht verriete, wo sie sich befanden und was hier vor sich ging.

Stanley setzte sich neben den Koloss, dicht an seine Seite, er konnte förmlich fühlen, dass der Mensch fett war. Merkwürdig, bei jemandem zu hocken, ohne ihn zu sehen. Das Geräusch des Atmens änderte sich ein wenig. Vielleicht drehte der andere den Kopf in seine Richtung? Stanley lauschte, und sein eigener Atem passte sich dem Atem des anderen an, eine Weile schöpften beide im Gleichtakt Luft, atmeten ein, atmeten aus, seltsam synchron.

»Ich bin Arthur Stanley Jefferson«, sagte Stanley endlich. »Besser bekannt als Stan Laurel.«

Nichts.

»Ich bin erst seit ein paar Minuten hier.«

Keine Antwort.

»Glaube ich jedenfalls.«

Schweigen.

»Das heißt: Es fühlt sich so an.«

Stille.

»Verstehen Sie mich?«

Als immer noch nichts kam, hielt Stanley die Luft an, streckte eine Hand aus und tastete wieder nach dem Körper des anderen, fand eine mächtige Schulter, bedeckt von etwas Mantelartigem, dort der Kopf mit einer glatten, bis an die Ohren gezogenen Kappe, und das Gesicht war breit und pfannkuchenrund, stichelige Bartstoppeln (also ein Mann!), und Stanley rückte noch näher, fuhr jetzt über den Brustkorb des anderen und erfasste die immense Leibesfülle dieses Körpers. Da packte ihn eine Hand des Mannes am Unterarm, der Griff war fest und stark, Stanley rührte sich nicht, bis der Druck nachließ und die Finger sich lösten, er spürte den Blick des anderen auf sich ruhen in der Dunkelheit.

Stanley zog sich ein Stückchen zurück.

Der andere regte sich nicht mehr.

»Ollie?«, fragte Stanley. »Bist du das, Ollie? … Wo sind wir? … Warum sagst du nichts? … Du kannst es nicht sein, Ollie … Es tut mir leid … Ich konnte nicht kommen … Zu deiner Beerdigung … Ich war krank damals … Ich weiß nicht, warum ich an dich denke … Gerade jetzt … Gerade hier.«

Nein, dachte Stanley im Stillen, wieder klarer im Kopf: Dieser Mann neben ihm, das konnte nicht Ollie sein, das durfte nicht Ollie sein, auf keinen Fall, nein, es musste jemand anderes sein, irgendwer, nur nicht Ollie. Denn wenn tatsächlich Oliver Hardy neben ihm säße, würde Stanley im selben Schlamassel stecken wie sein Freund, und dieser Schlamassel wäre nichts anderes als das, was man gemeinhin mit dem Wort Tod umschrieb, und darauf hatte Stanley keine Lust, darauf konnte er verzichten, sehr gut sogar.

Es geschah nichts weiter. Der andere blieb stumm. Auch Stanley schwieg. Hockte dort. Durch die Stille wehten Erinnerungen. Sanfte, helle Schleier im Innern.

3

»Oliver Hardy hat sich die Flossen verbrüht!« Ein Anruf von Hal Roach. Der Produzent brüllte regelrecht ins Telefon. »Er fällt aus! Katastrophe!« Und in Windeseile musste Stanley, der Gag-Schreiber, Hardys Rolle um- und sich selbst an dessen Stelle in den Film hineinschreiben. Obwohl er den Glauben an sich als Komödianten längst aufgegeben hatte. Doch als Hal Roach den fertigen Film sah, pfiff er durch die Zähne: »Formidabel ist das, blendend, Mister Laurel, Sie sind großartig! Ich bestehe darauf: Sie müssen weiterspielen!«

»Und meine Augen?«, fragte Stanley.

»Was soll damit sein?«

»Sie sagten mal, meine Augen seien zu blau, um gefilmt zu werden. Was für ein gemeiner Witz! Finden Sie nicht?«

Doch Stanley erfuhr, dass es gar kein Witz gewesen war: Das alte Nitrat-Filmmaterial hatte damals helle Blautöne schlecht einfangen können und Stanley mit seinem himmelblassen Blick mitunter wie ein Blinder gewirkt. »Mittlerweile drehen wir panchromatisch«, sagte Hal Roach. »Das Blau Ihrer Augen stört nicht weiter.«

Nur: Bei den Dreharbeiten zum nächsten Film war Oliver Hardy wieder einsatzbereit und wedelte mit seinem Vertrag. Stanley musste sich selbst an Ollies Seite in den Film hineinschreiben, und so standen die beiden plötzlich zu zweit vor der Kamera. Und das war der Beginn. Obwohl es noch ein paar Filmchen dauern würde, ehe sie als echtes Paar auftraten und Stanley begriff, dass es genau dieses Mitspielers und Gegenparts bedurfte, um zu erreichen, wovon er zeit seines Lebens geträumt hatte: Er allein hätte es niemals geschafft, zu zweit aber, da waren sie unschlagbar.

Meine Erinnerungen, dachte Stanley, sie tun mir unsagbar gut. Der Mensch ist nicht geschaffen für die Finsternis. Der Mensch ist ein lichtes Tier, ein dunkelscheues Wesen. In der Nacht fliehen wir in Träume: Filme gegen das Schwarz. Hier, im dunklen Tunnel, bleibt ein anderer Trost: Wir erinnern uns, wir sehen mit inneren Augen.

Stanley wunderte sich, woher ihm diese fremden, großspurigen Gedanken so plötzlich kamen, und er schüttelte den Kopf. Er saß dort, im Finstern, neben dem Mann, der sich immer noch nicht regte, hörbar nur das Heben und Senken des Atmens.

Diese Stille, Stanley mochte sie nicht. Die Möglichkeit eines Gesprächs schien greifbar und weit entfernt zugleich. Seine inneren Bilder stauten sich hinter der Stirn, sie wollten, sie mussten an die Luft, ja, sie mündeten zwangsläufig in den Drang, geteilt zu werden, mit einem anderen Menschen, und dieser andere Mensch saß jetzt da, neben ihm, und auch wenn er bislang noch nichts gesagt hatte, so würde er immerhin zuhören können. Wie von selbst formten sich nun Wörter und Sätze, Stanley sprach einfach drauflos, ein einziger unbeantworteter Monolog gegen die stumme Schwärze des Menschen an seiner Seite.

Kaum einer, sagte Stanley, trenne zwischen ihm selbst als lebender Person (des besseren Verständnisses halber sage er: Stanley) und seiner Filmfigur (die er Stan nennen wolle). Oft halte man ihn im echten Leben für einen ebensolchen Einfaltspinsel wie seine Filmfigur. Nur wenige wüssten, wie viele Ideen, Dialoge und Gags aus seinem, aus Stanleys Kopf stammten, ganz zu schweigen vom Timing und den Improvisationen. Er (Stanley) sei die treibende Kraft hinter den Filmen gewesen und habe nach Drehschluss noch ewig in den Schneideräumen gesessen, während Ollie schon auf dem Golfplatz an seinem Handicap gearbeitet habe. Außerdem sei er, Stanley, im wahren Leben ein ganz und gar anderer Mensch als seine Filmfigur. Ein absolut anderer! Kaum jemand aber sei in der Lage, Rolle und Mensch auseinanderzuhalten: Immerzu sehe er in grinsende Gesichter: Leute, die dächten, er, Stanley, sei identisch mit ihm, Stan … »Es tut mir leid«, rief Stanley und unterbrach sich selbst. »Sie müssen mich für egozentrisch halten. Ich weiß nicht, warum ich die ganze Zeit über mich selbst reden muss! Das ist sonst nicht meine Art. Glauben Sie mir. Aber hier drinnen, da gibt es etwas, das mich irgendwie dazu … zwingt. Wissen Sie, was ich meine? Geht es Ihnen genauso?«

Schweigen.

»Anscheinend nicht.«

Stille.

»Verstehen Sie mich überhaupt?«

Keine Antwort.

»Sprechen Sie Englisch?«

Schweigen.

»Ich bitte Sie! Reden Sie mit mir!«

Nichts.

»Das ist doch kein Stummfilm!«

Stille.

»Die Zeit der Stummfilme ist längst vorbei.«

Keine Regung.

»Wir haben unsere ersten Tonfilme«, seufzte Stanley, als der andere immer noch schwieg, »in verschiedenen Sprachen gedreht. Jede Szene. Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch. Wir haben die fremden Sätze von Plakaten abgelesen. Die wurden neben der Kamera hochgehalten. Lautschrift, verstehen Sie? Wir haben die Sätze so deutlich wie möglich aufgesagt. 1930 gab es noch keine Synchronisation … Schluss jetzt!«, rief Stanley, den eigenen Sprachschwall abrupt unterbrechend. »Reden Sie bitte! Ich bin froh, Sie getroffen zu haben, aber traurig über Ihr Schweigen.«

Als der andere immer noch nicht reagierte, sagte Stanley: »Gut. Sie wollen nicht reden? Dann gehe ich weiter.«

Stanley stand auf. Er zögerte. Und wartete. Dachte nach. Wollte er das wirklich? Allein zurück in die Finsternis?

»Mit dem Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm«, fuhr er fort, während er unentschlossen an der Wand lehnte, »hatten viele Kollegen Probleme. Wir nicht. Uns hat der Ton noch geholfen! Die Geräusche haben den Witz der Filme verstärkt: Wenn Ollie Stan eins überbrät, hört man den Schlag auf einen Amboss. Dann die Dialoge, der Dialogwitz, das hat mir viel Spaß gemacht. Und Ollies Dixieland-Ton und Stans britischer Einschlag. Ollies Säuseln und Stans …«

Da erklang eine Stimme aus der Dunkelheit: »Stan?«

Stanley zuckte zusammen. Nein, die Stimme klang ganz anders als Ollies Stimme, viel tiefer, sonorer, brummender.

Der Koloss schien aufzustehen, ein wenig ächzend, dann sagte er: »Ich fürchte mich nicht!«, und er sagte es mit einem schrägen Akzent, den Stanley nicht recht einordnen konnte.

Stanley wusste nicht, ob er die Worte richtig verstanden hatte, und fragte: »Wieso sollten Sie sich fürchten? Sie kennen mich! Sie kennen doch Stan und Ollie! Jeder Mensch kennt Stan und Ollie! Sie glauben mir nicht, dass ich wirklich Stan Laurel bin? Das kann ich verstehen. Aber warum sollte ich lügen?«

»Also sind Sie ein Mensch?«, fragte der andere.

»Was denn sonst?«

»Ich fürchte mich nicht«, sagte der fremde, fette Mann ein zweites Mal und schob sich zu Stanley, berührte ihn, legte ihm die Hand an die Schulter, fuhr mit der Rechten über Kinn und Gesicht, tastete sich zur Melone, klopfte mit dem Knöchel auf den Hut, holte tief Luft, hob die Melone hoch, strich Stanley mit der freien Hand kurz über den Schopf und setzte ihm die Melone wieder auf. Stanley ließ alles geschehen. Und wie sonderbar: Es fühlte sich gut an. Diese Wärme einer Hand, diese Nähe eines Menschen, dieser Hauch eines Atems, der ihn streifte. Der Mann neben ihm war nicht nur voluminös, sondern schien auch groß zu sein, bestimmt einen halben Kopf größer als Stanley. Jetzt, da er so dicht bei ihm stand, konnte Stanley es förmlich spüren.

»So sei es«, sagte der andere. »Sie sind ein Mensch. Und ich bin ein Mensch. Wir haben einander hier getroffen. Es wird einen tieferen Sinn dafür geben, den ich jetzt nicht durchschaue, aber an den ich glaube. Folglich gehe ich mit Ihnen!«

»Das klingt gut«, sagte Stanley.

»Und sehen Sie etwas?«, fragte der Mann.

»Nicht die Spur.«

»Und waren Sie vorher in der Lage, etwas zu sehen?«

»Was meinen Sie mit vorher

»Ehe Sie die Dunkelheit betraten? Konnten Sie da sehen?«

»Ja, natürlich.«

»Also«, sagte der Mann, »kommt die Dunkelheit von außen. Dass wir beide gleichzeitig erblindet sind, ist unwahrscheinlich.«

»Klingt logisch«, sagte Stanley.

»Darf ich mich einhaken?«

»Ja«, sagte Stanley, einerseits mit hellem Herzen und erleichtert, nicht mehr allein zu sein, andererseits verwirrt durch die seltsamen Worte und den undefinierbaren Akzent und auch ein wenig eingeengt durch die Masse des anderen Mannes, von dem er nicht wusste, wer das war und ob er ihm Gutes oder Böses wollte. »Ja«, sagte Stanley dennoch, weil die Erleichterung überwog. »Gerne. Haken Sie sich ein. Dann können wir uns nicht verlieren.«

Der andere schob seinen Arm in Stanleys Armbeuge.

»Bleiben wir an dieser Wand?«, fragte Stanley.

»Gibt es denn eine andere?«

»Ich denke, wir befinden uns in einer Art Tunnel. Und jeder Tunnel hat einen Ausweg. Wollen wir?«

Der andere schwieg.

»Nur zu Ihrer Information«, sagte Stanley. »Wenn Sie nicken oder den Kopf schütteln, dann sehe ich das nicht.«

Statt einer Antwort schob der andere den Fuß vor. Einander untergehakt gingen sie los.

4

Es gab jetzt jemanden, der mit Stanley teilte, was geschah, die Dunkelheit um ihn her wurde zwar nicht heller, aber Stanley sah sie mit den Augen eines Menschen, der gefunden worden war und seine Einsamkeit langsam abstreifte. Stanley brütete still vor sich hin und bemühte sich, Schritt zu halten. Er hätte den Schweiß des anderen eigentlich riechen müssen, so dick, wie er war, aber auch wenn Stanley seine Nase in Richtung des Mannes drehte, er roch nichts. Warum aber schlug der andere ein solches Tempo an? Als hätte er etwas vor. Als wüsste er, wohin es gehen würde, voll Zuversicht, ohne die geringste Sorge, schien es.

»Könnten wir etwas langsamer gehen?«, fragte Stanley.

»Entschuldigen Sie«, sagte der Mann und drosselte sofort seinen Schritt. »Wenn ich schnell gehe, kann ich gut denken. Das ist meine Natur.«

»Danke«, sagte Stanley, und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Das heißt, Sie denken gerade?«

»Ich denke immer«, sagte der andere.

Und dann stellte Stanley die Frage, die ihn am meisten umtrieb: »Wissen Sie, wo wir hier sind?«

Der andere sagte: »Nein.« Es verstrich einige Zeit, ehe der Dicke ergänzte: »Ich habe aber eine Vermutung.«

»Welche Vermutung?«, fragte Stanley, ganz leise, aus Furcht, die Stimme des anderen zu verscheuchen, denn diese Stimme tönte sanft, zugewandt, irgendwie tröstlich, sie beruhigte ihn sehr, und Stanley legte sich in den Klang dieser Stimme hinein, keine Violine, ein Cello, leicht vibrierend.

»Ich sinne noch.«

»Sie sinnen?«

»Ich sinne.«

»Auch wenn wir jetzt langsamer gehen?«

»Der Mensch lebt nicht allein.«

»Wie lautet Ihr Name?«, fragte Stanley, ein wenig verwirrt von dieser Antwort.

»Thomas«, sagte der andere. »Eigentlich Tommaso.«

»Tommaso? Aus Italien? Daher Ihr Akzent? Zum Glück sprechen Sie … na ja … Englisch.«

»Ich habe vielfältige Briefpartner. Auch in England.«

»Und in Amerika?«

»Was ist Amerika?«

»Das sag ich auch immer«, lächelte Stanley. »Was ist Amerika schon gegenüber dem britischen Empire!«

Der andere schwieg.

»Ich komme ebenfalls aus dem Süden«, sagte Stanley. Und nach einer kurzen, vom rechten Timing auferlegten Pause fügte er hinzu: »Aus dem Süden Londons.«

Der andere lachte nicht.

»Ist ein Witz aus einem meiner Lieblingsfilme. Dabei bin ich selbst in Ulverston geboren.«

»Und wann genau?«

»1890.«

»1890? Und wie alt sind Sie jetzt?«

»Fast 75.«

Thomas schwieg eine kleine Weile, und Stanley hörte nur ihre Schritte auf dem Boden.

»Entschuldigen Sie«, sagte Stanley. »Sie haben wirklich noch nie von Stan und Ollie gehört? Sie haben tatsächlich noch nie einen Film von uns gesehen?«

Thomas sagte nichts.

»Aber«, grinste Stanley, »Sie wissen schon, was ein Film ist?«

Keine Antwort.

Stanley seufzte, merkte aber, dass er unbedingt weitersprechen und die Stille gleich mit der Wurzel ausreißen wollte, denn die Stille war hier drinnen weitaus schwerer zu ertragen als unter freiem Himmel, die Stille fühlte sich an wie eine Verdopplung der Dunkelheit. »Ein Film«, rief Stanley, während er mit Thomas an seiner Seite voranschritt, jetzt in einer angenehmen Gemessenheit, »ein Film ist doch das Gegenteil dessen, worin wir zwei hier gerade stecken. Ein Film wird nur zum Film, wenn man ihn sieht. Ein Film entsteht durch das, was uns fehlt: Belichtung. Ein Film braucht helle Augen. Man schaut anderen dabei zu, wie sie sich verheddern in irgendetwas. Gefühle. Unfälle. Streitereien.«

Thomas schwieg.

»Und unsere eigenen Filme? Stan und Ollie? Passen Sie auf.«

Stanley sprach jetzt davon, wie er die Probevorführungen seiner Filme besucht und dabei einen Klickzähler mitgenommen hatte. Pro Lacher einmal geknipst. Bei zu wenigen Lachern wurde nachgedreht, bei zu vielen Lachern geschnitten. Er sprach von Rhythmus, Aufbau, Eruptionen und von dem, was er am lustigsten fand: jene Dellen in der Wirklichkeit, winzige Realismusrisse: Dinge der Unmöglichkeit. So nannte er sie. Stan konnte in den Filmen nicht nur Ollies Hut essen, er konnte auch mit Ollie über einen Flur schlendern, ein volles Glas Wasser aus der Hosentasche fummeln, und als Ollie ihn genervt anbleckte und raunzte: »Warum tust du kein Eis rein!?«, kramte Stan in aller Seelenruhe aus der Jacketttasche zwei Eiswürfel und ließ sie ins Glas klimpern. Ja, Stan war sogar in der Lage, seinen Daumen zu verwandeln, entweder in eine qualmende Pfeife, an der er babygleich nuckelte, oder in ein Zündholz, indem er den Daumen aus der Faust an die Luft schnipste und die Daumenspitze aufloderte: zur zehn Zentimeter hohen Flamme. Dazu Stans ungerührte Reaktion auf die Dinge der Unmöglichkeit: Er nahm sie als selbstverständlich hin und wunderte sich nie über das Wunderliche.

Thomas schwieg weiter beharrlich.

»Haben Sie Streichhölzer dabei?«, fragte Stanley. »Oder ein Feuerzeug? Ich habe leider mit dem Rauchen aufhören müssen.«

»Ein was?«, fragte Thomas jetzt.

»Feuer. Haben Sie Feuer?«

»Ein kleines Feuer gegen die Finsternis?«

Stanley drehte den Kopf, überrascht von diesen Worten.

»Nein«, sagte Thomas. »Ich bin hier gänzlich ohne Licht.«

5

Sie gingen weiter, und Stanley hatte das Gefühl, langsam anzukommen in dieser engen Weite des Raums, in diesem nicht enden wollenden schwarz atmenden Gang. Die Wand bot ihm Trost und auch der Mensch namens Thomas an seiner Seite. Die anfängliche Dumpfheit seines Denkens ließ — mit dem anderen im Arm — von Schritt zu Schritt nach, ihm war, als wehte ein frischer Wind durch seinen Kopf. Stanley grübelte eine Weile, legte den Kopf in den Nacken, schaute nach oben, schon kam ihm eine Idee. Er blieb stehen und fragte seinen Begleiter: »Sagen Sie, Thomas! Kann ich … Darf ich … Hört sich ein bisschen komisch an, aber: Darf ich auf Ihren Rücken steigen?«

»Auf meinen Rücken?«

»Ja.«

»Aber warum?«