Für Jürgen

INHALT

Einleitung Ein tiefer Graben. Der Journalismus und sein Publikum

»Ich bin John Doe.« Warum Journalismus und Demokratie zusammengehören

Hier spricht das Publikum. Das große Misstrauen

»Dreh das mal weiter!« Ein Blick in den Redaktionsalltag

»Da machst du halt Abwärtsmanagement.« Was die Medienbranche bedroht

Spielgeld für die Medien. Wie Google, Facebook & Co. den Journalismus prägen

Kollege Roboter. Wie künstliche Intelligenz den Journalismus verändern könnte

Gegen den Lärm. Wie sich der Journalismus wandeln muss

Danksagung

Anmerkungen

Zum Buch

Autorenvita

EINLEITUNG
EIN TIEFER GRABEN. DER JOURNALISMUS UND SEIN PUBLIKUM

Um 18.20 Uhr war der erste Alarm eingegangen, um 19 Uhr stand der Dachstuhl in Flammen. Als um 19.56 Uhr der Turm von Notre-Dame einstürzte, waren nicht nur Hunderte von Feuerwehrleuten in Paris im Einsatz. Rund um die Welt hatten Redaktionen am Abend des 15. April 2019 die Maschinerie angeworfen, die den Journalismus in Großlagen so stark macht. Live-Blogs wurden abgesetzt, Videos gepostet, Zahlen, Daten und Fakten über die weltberühmte, zum UNESCO-Kulturerbe gehörende Kirche zusammengetragen.

In den frühen Morgenstunden des folgenden Tages war der Brand gelöscht, doch inzwischen hatten sich die Kommentatoren, Feuilletonisten und Korrespondenten warmgelaufen. Kaum ein Medium, das an diesem und am nächsten Tag nicht überquoll von Berichten, Analysen, Bildern, Videos, Podcasts und 3-D-Animationen. Reporter zeichneten die Katastrophe minutiös nach, Leitartikler reflektierten über die Bedeutung von Notre-Dame einst und jetzt, Historiker lieferten Geschichtsunterricht, Infografiker ließen alle, die noch nie in Paris waren, wissen, was sie sich hätten anschauen können.

Schon bald allerdings, nachdem sich der Rauch über der Île de la Cité verzogen hatte, waren auch die Journalisten weitergeeilt. Gesehen, gezeigt, beschrieben, vergessen – so funktionieren weite Teile der Medienwelt. Die Auswahl der Themen, die ein solches Großaufgebot rechtfertigen, richtet sich dabei nicht nach menschlichem Leid. In Paris waren drei Helfer verletzt worden, sonst hatte niemand physischen Schaden erlitten. Es geht um gefühlte Betroffenheit, spektakuläre Bilder, Identifikation und sehr häufig die Angst, die Konkurrenz könnte noch schneller, besser und von »näher dran« berichten als die eigene Redaktion. Ist das der Journalismus, den die Bürgerinnen und Bürger wollen und brauchen?

Die Antwort auf diese Frage ist vielschichtig. Denn die Berichterstattung über solche Großereignisse wirkt ein wenig wie Zuckerzeug im Nahrungsangebot: Die Konsumenten verlangen danach und greifen zu, aber es macht sie nicht satt. So wie der Hunger zurückkehrt, wenn der Blutzuckerspiegel sinkt, bleibt eine Art Leere zurück, wenn Journalisten ihre Erzeugnisse als Massenware dem Publikum vorsetzen, ohne dessen Bedürfnisse ernst zu nehmen: seine begrenzte Zeit, seine wirklichen Sorgen und Fragen, sein Verlangen danach, selbst etwas zur Gesellschaft beizutragen, und sei es noch so bescheiden.

Ereignisse wie der Brand von Notre-Dame lassen Leserschaft und Zuschauer für eine Weile hinschauen. Den Aufwand, den Redaktionen dafür treiben, honorieren sie nicht unbedingt. Selbst treue Zeitungsabonnenten, auf deren Zahlungen die Medienhäuser wegen des – vorsichtig formuliert – rückläufigen Anzeigengeschäfts immer stärker angewiesen sind, klagen darüber, was »die Presse« schon wieder alles falsch gemacht hat. Andere meinen, im Online-Zeitalter gleich ganz auf Journalismus verzichten zu können, zumindest wollen sie keinesfalls dafür bezahlen. Und dann gibt es noch diejenigen, die die Medien als vermeintliche Staatsfeinde identifizieren – vor allem, wenn sie ihnen in die Quere kommen.

Dies ist ein Buch über die vielfältigen Krisen des Journalismus, nicht zuletzt im Verhältnis zu seinem Publikum. Und wer sich jetzt abwenden möchte und mit den Schultern zuckt, weil Krisen nun einmal der Lauf der Dinge seien und die Journalisten sich dann halt umorientieren müssten wie andere auch, der sollte trotzdem noch ein wenig weiterlesen. Denn es geht um mehr als nur um das Schicksal einer Branche: Die Zukunft der Demokratie steht auf dem Spiel.

Die Demokratie braucht starken Journalismus wie der Mensch das tägliche Brot, denn sie baut auf Gewaltenteilung. Ohne diejenigen, die den Schwachen eine Stimme geben und den Mächtigen ihre Grenzen aufzeigen, kann es kein faires Miteinander zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geben – aller Online-Kommunikationsplattformen zum Trotz, die auf Deutsch leicht missverständlich »soziale Netzwerke« genannt werden.

Viele Bürgerinnen und Bürger scheinen das jedoch anders zu sehen. Bereits ein Drittel aller Medienkonsumenten meidet Nachrichten und andere journalistische Produkte ganz bewusst, und der Anteil dieser Abstinenzler steigt. Das ergab der »Digital News Report 2019« vom Reuters Institute for the Study of Journalism an der Universität Oxford, die größte, fortlaufende Untersuchung über den digitalen Medienkonsum weltweit.1 Eine wachsende Anzahl von Menschen fühlt sich von der Informationsflut überwältigt, bekommt davon schlechte Laune, misstraut Inhalten und empfindet angesichts der nachgezeichneten Bedrohungen ein Gefühl der Ohnmacht, dem sie sich nicht länger ausliefern möchte.

Journalisten seien gut darin, aktuelle Ereignisse zu dokumentieren, aber deutlich schlechter, wenn es darum gehe zu erklären, wie die Welt wirklich funktioniere, gaben die Mediennutzer in der Online-Umfrage von 2019 an, in die 75 000 Stimmen aus 38 Ländern eingeflossen sind. Allein durch ihre Teilnahme an der Befragung haben sie gezeigt, dass sie die Medien trotz aller Kritik durchaus noch ernst nehmen. Sonst hätten sie sich vermutlich die Zeit gespart. Andere aber scheren sich entweder überhaupt nicht mehr um den Journalismus, oder, schlimmer noch, sie greifen Journalisten an, wenn ihnen ein Beitrag nicht passt, verbal und sogar physisch. Sie attackieren einzelne Reporterinnen oder Kommentatoren persönlich und für alle sichtbar im Netz, drohen mit Mord, Vergewaltigung oder Angriffen auf die Familie. Berichterstatter werden in der Öffentlichkeit angerempelt, bedrängt oder geschlagen, wenn sie sich mit einer Sache nicht gemein machen wollen oder wenn ihr Medium politisch auf der anderen Seite verortet wird. Das passiert bei Demonstrationen von deutschen AfD-Anhängern ebenso, wie es bei den Protesten der Gelbwesten in Frankreich geschah, die gezielt auf Journalisten Jagd gemacht hatten.2

All dies geschieht auch, weil wichtige politische Akteure ihre Medienverachtung öffentlich kundtun. Ihre Verbalattacken verschaffen Kritikern und Pöblern Legitimität und damit Rückenwind. Schon die Nazis bedienten sich dieser Strategie, wie die Historikerin Heidi Tworek in ihrem Buch News from Germany darlegt.3 Auf Journalisten zu schimpfen gehört vor allem – wenn auch keineswegs ausschließlich – rechts der politischen Mitte zum guten Ton. Nicht nur US-Präsident Donald Trump macht ganz bewusst Stimmung gegen jenen Teil der Presse, der ihn kritisch begleitet und damit schlicht einem öffentlichen Auftrag nachkommt. Weltweit haben populistische Politiker verschiedener Schattierungen entdeckt, dass sie sich unliebsamer Kritik am effektivsten entledigen können, wenn sie die Presse als Ganzes diskreditieren. In Deutschland wurde zu diesem Zweck das Wort »Lügenpresse« reanimiert, das bereits Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt und von den Nazis eifrig verwendet wurde. Sprachwissenschaftler wählten es 2014 zum Unwort des Jahres.4

Der amerikanische Präsident strapazierte den Begriff »fake news press«.5 Insgesamt 600-mal habe Trump diesen seit seiner Amtsübernahme gebraucht, sagte der Herausgeber der New York Times, A. G. Sulzberger, im September 2019 in einer Rede an der Brown University. Andere täten es ihm gleich, darunter etliche Demokraten. »In den vergangenen Jahren haben mehr als 50 Premierminister, Präsidenten und andere Regierungschefs in fünf Kontinenten den Begriff ›Fake News‹ benutzt, um verschiedene Aktivitäten zu rechtfertigen, die sich gegen die Medien richten«, so Sulzberger in seinem flammenden Appell zur Verteidigung der weltweiten Pressefreiheit.6

Diese Strategie ist perfide, denn die Verbreitung von Lügen und gefälschten Inhalten über das Internet fordert die Demokratie heraus. Diejenigen, die Qualitätsmedien mit Fake News in Verbindung bringen, diskreditieren damit ausgerechnet jene Institution, die der Aufklärung verpflichtet und wie keine andere dazu ausgerüstet ist, gegen Lügen und bewusst missverständlich präsentierte Inhalte vorzugehen.

Und es geht noch härter. International nimmt die staatlich legitimierte Gewalt gegen Medien und ihre Vertreter zu. Staatschefs wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan scheuen sich nicht, sogar Staatsbürger anderer Länder wie den deutschen Journalisten Deniz Yücel einzusperren. Die Zahl der weltweit getöteten Journalisten wächst, und wie die UNESCO feststellte, werden die Täter selten verfolgt.7 Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, der nach allem, was man weiß, im Oktober 2018 den ins Exil geflohenen saudi-arabischen Journalisten und Regimekritiker Jamal Khashoggi ermorden ließ oder dies zumindest tolerierte, wurde danach von internationalen Staatsmännern weiterhin hofiert, als wäre nichts gewesen. Selbst in der EU können sich Reporter ihres Lebens nicht sicher sein. So wurden die maltesische Journalistin und Bloggerin Daphne Caruana Galizia wie auch der slowakische Investigativreporter Ján Kuciak und seine Partnerin Martina Kušnírová offenbar deshalb getötet, weil sie mächtigen Interessen zu nahe gekommen waren.

All das hinterlässt Spuren. Wo einst die Meinungs- und damit verbunden die Pressefreiheit als hohes Gut geachtet wurden, herrscht heute ein großes Misstrauen. Manche Bürger/-innen finden, Journalisten seien zu abgehoben, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu kurzatmig, nur an schlechten Nachrichten interessiert, und politisch kreisten sie in der links-grünen Ecke. Viele Journalisten wiederum verstehen die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr. Rund um die Uhr setzten sie, die Profis, alles daran, sekundenschnell zu informieren, Zusammenhänge zu erklären und den Mächtigen auf die Finger zu schauen, oft unter hohem Einsatz und für wenig Gewinn. Und was ernteten sie dafür? Ärger, Häme und ein Schulterzucken, wenn das Ganze auch noch Geld kosten soll.

Letzteres ist vor allem deshalb so dramatisch, weil sich schon diejenigen abgewendet haben, die mehr als 100 Jahre lang das finanzielle Rückgrat der Medienbranche gebildet haben: Kunden, die Anzeigen schalten. Das sind einerseits die Markenartikler, die ihr Publikum zunehmend direkt über Internetplattformen ansprechen, andererseits Auftraggeber von Kleinanzeigen. Job- und Immobiliensuche oder der Autoverkauf, früher eine sichere Einnahmequelle für Zeitungen, funktionieren schon lange viel effektiver über Plattformen im Netz. Als Folge davon erodieren die Geschäftsmodelle traditioneller Medien, die sich noch bis zur Jahrtausendwende überwiegend von Anzeigenerlösen und nur zum geringeren Teil über ihre Leser finanziert haben. Zeitungshäuser dampfen ihre Redaktionen ein oder schließen gleich ganz.

Insbesondere in den USA, wo der Kapitalismus bekanntlich gnadenloser wirken kann als anderswo, sind viele Gemeinden und sogar Städte bereits gänzlich ohne journalistische Versorgung, so dass regelrechte »Nachrichtenwüsten« entstehen. Öffentliche Institutionen und Personen können dort ihren Geschäften nachgehen, ohne dass ihnen irgendjemand auf die Finger schaut und sie mit Fragen behelligt. Die demokratische Kontrolle ist ausgehebelt.

Gleichzeitig geraten Radio- und Fernsehsender unter Druck. Junge Zuschauer und Hörer mögen sich keine festen Sendezeiten mehr diktieren lassen. Sie streamen Serien oder hören Podcasts. Unter anderem deshalb können sich mittlerweile auch die öffentlich-rechtlichen Sender ihrer Erlöse nicht mehr sicher sein. Denn wer möchte noch Steuern und Abgaben für Produkte zahlen, die er überhaupt nicht konsumiert?

Hinzu kommt, dass Medien zunehmend fremdbestimmt sind. Waren sie früher stolz auf ihre findigen Reporter und stilsicheren Redakteure, ihre hochgerüsteten Druckhäuser oder Sendeanlagen, geben heute mächtige Internetkonzerne aus dem Silicon Valley oder verstärkt aus China den Kurs vor. Das geschieht direkt und indirekt. Facebook und Google bauen die Plattformen, über die Nutzer vermehrt ihre Informationen beziehen. Sie programmieren die Algorithmen, die journalistische Inhalte nach Relevanz sortieren, horten Unmengen an Daten und mischen sich kräftig ein, wenn es um die Entwicklung neuer Technologien für Redaktionen geht – gerne auch nach Gutsherrenart mit großzügigen Finanzspritzen. Für Medienhäuser wird es immer schwerer, unabhängig zu agieren. Deshalb legen sie Titel zusammen, verschmelzen oder werden von mächtigen Verlagskonzernen wie dem Imperium von Rupert Murdoch geschluckt, das sich über Großbritannien, die USA und Australien erstreckt. Sein Konzern News Corp macht mit 28 000 Mitarbeitern rund 9 Milliarden US-Dollar Umsatz im Jahr und besitzt Fernsehstationen wie den Informationskanal der amerikanischen Rechten, Fox News, Zeitungen wie die britische The Times und The Sun oder das amerikanische Wall Street Journal. Die Vielfalt der Stimmen verschwindet.

Der Journalismus kämpft also mit einem ganzen Bündel an Krisen und Gefährdungen. Zunächst ist da eine Vertrauenskrise, wie sie die meisten traditionellen Institutionen ergriffen hat. Das hat auch etwas mit dem digitalen Zeitalter zu tun, aber dazu später mehr. Hinzu kommt die Krise der Geschäftsmodelle, die die Existenz nicht nur traditioneller, sondern auch junger digitaler Medien bedroht. Der Journalismus steckt außerdem in einer Identitätskrise. Im Zeitalter der Überinformation, in dem die Aufmerksamkeit des Publikums die zentrale Währung ist, muss er seinen Platz im gesellschaftlichen Leben und Diskurs neu finden.8

Darüber hinaus zeichnet sich bereits eine Talentkrise ab. Die Krisenmeldungen aus der Branche halten junge, begabte Absolventen zunehmend davon ab, sich für den Beruf zu begeistern. Außerdem verlassen viele versierte Profis ein Schiff, auf dem ihnen die Reise inmitten all der steigenden Belastungen keine Freude mehr macht. Sie spüren die heftige Schlagseite und wollen von Bord gegangen sein, bevor das Gefährt untergeht. Sind die Journalisten die Bergleute des 21. Jahrhunderts, also ein vom Aussterben bedrohter Berufsstand? Manch einer sieht das so.9

Aber auch das Publikum steckt, wenn man so will, in einer Krise. Während die einen von neuen Informationen gar nicht genug bekommen können und sich zu ständig empfangsbereiten Nachrichtenjunkies entwickeln, äußern die anderen zunehmend Unbehagen über eine Welt, in der man – um das Bild erneut zu bemühen – jederzeit Zucker bekommt, aber nicht immer die richtigen Nährstoffe. In Anlehnung an das Buch des Medienwissenschaftlers Neil Postman aus dem Jahr 1985 könnte man eine Facette davon mit »Wir informieren uns zu Tode« umschreiben.10 Postman stellte damals die These auf, das Informationszeitalter werde eher die Entwicklung aus Aldous Huxleys Roman Schöne neue Welt nehmen, bei der die Bürger ihrer Sucht nach Unterhaltung zum Opfer fielen und eben nicht einem totalitären Staat, wie ihn George Orwell in 1984 skizziert hatte. Es ist übrigens interessant, dass China sich derzeit an einer Kombination beider Modelle versucht: Der Staat macht seine Bürger gläsern, indem er jede Handlung digital erfasst, ermuntert sie aber zugleich massiv zu Unterhaltung und Konsum.

Die Informationsflut und die ständigen Aufforderungen, etwas zu liken, zu bewerten, sich zu beteiligen, führen rund um die Welt allerdings auch zu Überdruss. Immer mehr Menschen fühlen sich überfordert von den ständigen Verlockungen ihrer aufblinkenden Social-Media-Feeds und E-Mail-Accounts. Sie verordnen sich Sperrzeiten für Apps oder gehen sogar auf »Digital Detox«, also digitalen Entzug. Die Medien haben mit ihren Push-Mitteilungen ordentlich zu dieser Entwicklung beigetragen. In dieser Kakofonie der Reize sucht das Publikum zunehmend nach Orientierung. Es greift zu Newslettern, die das Überangebot nach bestimmten Kriterien filtern, und bestellt sie wieder ab, wenn sie das Mail-Postfach verstopfen. Oder es macht gleich einen Bogen um Nachrichten.

Außerdem wächst die Skepsis gegenüber allem, was die digitalen Plattformen vorschlagen, umso mehr, je aufdringlicher und personalisierter die Angebote sind. Als Nutzer schätzt man es zwar, wenn eine Information die eigenen Interessen trifft, findet es aber gleichzeitig beunruhigend, wie durchschaubar man geworden ist – als leichte Beute für kommerzielle Interessen. Wenn sich die Medien ihren Kunden auf ähnliche Weise zu sehr anbiedern oder aufdrängen, wirken sie nur noch wie all die vielen anderen Anbieter, die etwas verkaufen wollen. Ihre eigentliche Mission wird dann gar nicht mehr wahrgenommen.

Eine weitere Facette des Unbehagens betrifft die Inhalte: Viele Bürger finden sich darin nicht wieder. Vor allem die Redaktionen der großen und prestigeträchtigen Häuser, die sich im digitalen Wandel am besten behaupten, sind nach wie vor sehr homogen zusammengesetzt. »Pale, male and posh« – hellhäutig, männlich, privilegiert –, beschrieb das eine Kolumnistin des Guardian. Und auch wenn das Adjektiv »posh« mehr auf die britische Variante der Spezies Journalist zutrifft und »hellhäutig« je nach lokalem Kontext variiert, ist an dieser Beschreibung einiges dran.11 Wie Redaktionen zusammengesetzt sind, beeinflusst die Auswahl der Themen und die politische Perspektive, mit der Journalisten sich Geschichten nähern.

Zudem fühlen sich viele Menschen zunehmend durch die Debatte um Fake News verunsichert. Kann man Informationen überhaupt noch trauen, und wenn ja, welchen? Werden Informationsströme von fremden Mächten gelenkt? Sind womöglich »die Russen« involviert, ein Verdacht, der in Deutschland besonders stark an den längst vergangen geglaubten Kalten Krieg erinnert? Nur wenigen ist klar, welchen Einfluss die großen Internetkonzerne und ihre Geschäftsmodelle auf das haben, was sie tagein, tagaus auf ihren Bildschirmen sehen. Einer Studie des Europarats zufolge beschäftigen sich Programme zur Medienbildung nur selten mit den Macht- und Einflussstrukturen in der Informationsbranche.12

Im digitalen Zeitalter ist der Medienkonsum nicht mehr so klar strukturiert wie früher. Damals, als man noch wusste, was man sich mit Axel Springers Bild einkaufte, und die Tagesschau vor Seriosität nur so staubte. In den sozialen Netzwerken mischen sich neue Quellen unter die vertrauten, und Freunde empfehlen einem plötzlich »Experten«, die angeblich immer alles wissen, was – so sagen sie – die etablierte Presse in einer heimlichen Allianz mit »den Mächtigen« zu vertuschen versuche.

Außerdem füttern Plattformkonzerne den persönlichen Nachrichtenstrom über Algorithmen, die sie geheim halten wie die Coca-Cola-Formel. Künstliche Intelligenz wird nicht bloß die Verteilung von Journalismus verändern. Mit künstlicher Intelligenz operierende Programme – sogenannte Bots (kurz für Roboter) – werden auch immer häufiger Inhalte produzieren, ohne dass das eigens gekennzeichnet würde. Das Publikum reagiert jedenfalls mit Misstrauen.

Man kann sagen, das ist gut so. Tatsächlich gehört eine gesunde Skepsis zur Grundausstattung von Bürgerinnen und Bürgern in der Demokratie. Man traut ihnen zu, sich selbst ein Bild zu machen und aus den vielfältigen Quellen, die ihnen zur Verfügung stehen, eine eigene Meinung zu entwickeln. Genau das unterscheidet schließlich die Demokratie vom totalitären Staat: Es gibt nicht die eine richtige Lesart, sondern die Freiheit, anders zu denken als die Regierenden und diesen offen zu widersprechen. Der Journalismus liefert wichtige, wenngleich längst nicht alle Steine für den Bausatz, aus dem sich aufgeklärte Bürger ihr Weltbild konstruieren. Und er hilft beim Bauen. »Demokratie ist ein Gespräch«, sagt der US-amerikanische Journalismus-Professor Jeff Jarvis.13 Und die Aufgabe der Medien ist es, dieses Gespräch in Gang zu bringen und am Laufen zu halten.

Wie also lässt sich der Graben, der zwischen der Journalistenzunft und ihrem Publikum entstanden ist, überbrücken? Was können und sollten Journalisten dafür tun? Was müssen Bürgerinnen und Bürger über die Medien wissen? Und wer beherrscht in der digitalen Welt die Kommunikationsstrukturen? Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit den Bedürfnissen und dem Verhalten des Publikums auf der einen und den Zwängen und Möglichkeiten des Journalismus auf der anderen Seite. Sein wichtigstes Anliegen ist: Beide Seiten sollten sich nicht als Gegner verstehen, sondern als Partner, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Idealerweise jenes, das Leben für den Einzelnen und das Zusammenleben in der Gesellschaft ein kleines bisschen besser zu machen.

Die New York Times gehörte übrigens zu jenen, die das Drama von Notre-Dame nicht gleich wieder vergaßen. Ein paar Monate später veröffentlichte sie eine große Recherche, in der eine Gruppe von Reportern den Brand und dessen Folgen noch einmal ausführlich nachzeichnete.14 Die Grundbotschaft: Fast wäre die Kathedrale eingestürzt, aber dann wurde sie zumindest in ihren Grundfesten gerettet. Gut möglich, dass man das eines Tages auch über den Journalismus sagen wird.