Margrit Sprecher

Irrland

Reportagen

Dörlemann

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© 2020 Dörlemann Verlag AG, Zürich
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
Umschlagbild: takkun/Shutterstock.com
Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-03820-976-8

www.doerlemann.com

Ein Gefängnis namens Gaza

Israelische Panzer schleifen Häuser, Soldaten riegeln Grenzen ab, Kinder sterben im Kugelhagel. Im besetzten Palästina wachsen Hass und Verzweiflung. Reise in ein unheiliges Land.

Nach zwei Kilometern ist die Fahrt schon wieder zu Ende. Mitten in der Steinwüste klettern die Menschen aus ihren Autos; Soldaten hinter Panzern und Stacheldraht richten das Gewehr auf sie. Der Regen klatscht den Frauen das Kopftuch ins Gesicht, den Männern die Hosen ans Bein; Wind zerrt an Plastiktaschen und Bündeln, die die Mütter im Arm halten. Niemand spricht. Nach einer halben Stunde warten sie noch immer. Der Soldat ist mit ihren Ausweisen verschwunden.

Es ist die vierte israelische Straßensperre, die der Notfallarzt Dr. Muhamed Skafi vom palästinensischen Medical Relief Committee heute in Westjordanland passiert. Er ist kein Mann, der sich unnötig aufregt. Solid und verlässlich wie ein menschlicher Bulldozer pflügt er sich durch das Leben. Sein Gesicht verzieht sich nicht, als ihn der Soldat anbrüllt, dass der Speichel fliegt. Wenigstens kippten sie die Medikamentenschachteln nicht auf die Straße. Aber dass seine Ambulanz auch durchsucht wird, wenn er mit Blaulicht unterwegs ist, versteht er nicht: »Sie sehen doch, dass es um Leben und Tod geht. Da muss man doch etwas fühlen.« Offenbar nicht. Seit Israel Ende 2000 die palästinensischen Dörfer voneinander abriegelte, starben an den Checkpoints 28 Palästinenser, und neun Frauen brachten ihr Kind zwischen Stacheldraht und Flutlicht zur Welt; ein zwanzigjähriger Behelmter mochte sie nicht rascher abfertigen.

140 neue Straßensperren zersplittern die Palästinensergebiete, jede hat ihre Besonderheiten. In Ein Arik müssen die Palästinenser durch ein Gestell schlüpfen, das keinen andern Zweck hat, als alle Erwachsenen zu nötigen, ihren Kopf zu beugen. Vor Nablus lässt man sie über einen frisch hingekippten Erdwall klettern. Beliebt auch die Taktik, sie zwischen zwei Schranken zum kilometerlangen Marsch zu zwingen. Im Geschiebe des nie endenden Menschenstroms schwanken die alten Frauen und Männer schwerfällig wie Schiffe im Sturm vorwärts. Der scharfe Wind wirbelt Staub und Plastik auf und treibt leere Flaschen vor sich her.

Da mit dem Auto kein Durchkommen ist, flitzen die gelben Sammeltaxis wie Weberschiffchen zwischen den Sperren hin und her. Wer noch einen Job hat, muss bis viermal das Fahrzeug wechseln, um den Arbeitsplatz zu erreichen. Eine Viertelmillion Palästinenser wurde seit den Sperren arbeitslos. Schulen wurden geschlossen, Lebensmittel und Wasser erreichen die Dörfer nur mit Mühe.

Der psychologische Schaden ist noch größer. Checkpoints, sagt die jüdische Friedensaktivistin Judith Keshet, haben nichts mit Sicherheit und alles mit Machtdemonstration zu tun: »Kein Selbstmordattentäter quält sich mit seiner Bombenladung am Leib durch eine Straßensperre.«

Ihre Frauengruppe, die Checkpoint-Watch, versucht, krasse Übergriffe zu verhindern. Ein Fall gelangte in Israels Presse: Fünf Palästinenser mussten sich bei eisiger Temperatur bis auf die Unterhosen ausziehen, nackt vor den Soldaten defilieren und schließlich ihre Kleider aus einer Pfütze fischen. »An Checkpoints«, sagt Keshet, »nährt jeder junge Palästinenser seinen Hass auf die Israelis. Und jeder junge Israeli lernt, dass er absolute Macht über die Palästinenser hat.«

»Gott wird uns rächen!«

Dr. Mustafa Barghouti sitzt hinter Bergen von Süßigkeiten und Blumen. Unablässig springt er auf, wenn ihm der nächste Besucher mitfühlend die Hand gibt. Pausenlos reicht ihm seine Sekretärin mit bittenden Blicken das Handy. »Schukran, schukran«, bedankt er sich in den Hörer. Barghouti, elegant und groß gewachsen, ist Gründer des palästinensischen Medical Relief Committee und Besitzer einer Auszeichnung der Weltgesundheitsbehörde. Europäische Spenden sorgen dafür, dass seine 20000 meist freiwilligen Helfer und 195 Ärzte in acht mobilen Kliniken auch das entlegenste Dorf in den Palästinensergebieten erreichen. Alle Ärzte haben im Ausland studiert und sprechen fließend Russisch oder Griechisch, Kroatisch oder Rumänisch. Die Hürde der psychologischen Eignungsprüfung, die Israel vor ein Medizinstudium setzt, schafft kein Palästinenser.

Vor drei Tagen benötigte Barghouti selbst die Hilfe seiner Ärzte. Distanziert, als handle es sich um eine fremde Krankengeschichte, rapportiert er seine Verhaftung wegen illegaler Anwesenheit in Jerusalem. »Irrtum«, sagt er. »Erstens dürfen sich alle Palästinenser in Jerusalem aufhalten. Zweitens kann ich mich als Arzt frei bewegen und drittens bin ich in Jerusalem geboren.« Das Verhör auf dem Polizeiposten dauerte vier Stunden, dann wollte man ihn fotografieren. »Da muss ich aber erst meine Krawatte richten«, scherzte er. Die Antwort waren Blutergüsse an Armen und Beinen und eine kaputte Kniescheibe.

In Westjordanland mögen der Glanz berühmter Moscheen und Touristenorte wie Bethlehem das Gefühl des Eingesperrtseins mildern. Im besetzten Gaza dagegen gibt es nichts als Beton und Blech. Die Läden scheinen ihre Türen eher aus Höflichkeit denn in Erwartung eines Kunden eine Handbreit geöffnet zu haben. Und die Grenzen sind seit der zweiten Intifada hermetisch um die 1,1 Millionen Palästinenser geschlossen. 800000 davon sind registrierte Flüchtlinge.

Nicht einmal das Meer bietet in Gaza Trost. Kalt, grau und gleichgültig wirft es seine Wellen ans Ufer. Plastikfetzen knattern im Sturm um schiefe Holzbauten. Kein Boot weit und breit. Das Fischen lohnt sich nicht mehr, seit Israel die Fischereizone auf 500 Meter beschränkt hat und das Fischen nur erlaubt, wenn es keine Fische gibt. Jetzt kommen die Fische aus Israel. In Gaza sitzen die Menschen im Mantel hinter ihren Schreibtischen, Kerzenflammen widerspiegeln sich in den schwarzen Bildschirmen. Nur stundenweise fließen Strom und Wasser, beides von Israel kontrolliert.

Mutter Aisha, das Gesicht streng ins Kopftuch eingepackt, kauert auf dem Betonboden und martert sich einmal mehr: Warum hat ihr Jousef an jenem Tag so oft die Hände geküsst? Warum konnte er sich kaum von seinem Vater trennen? Warum hat sie ihn überhaupt aus dem Haus gehen lassen? Aber er wollte unbedingt einen Nagel suchen, um seine Medaille als bester Fußballer der Schule aufzuhängen. Als er die Panzer ins Dschebalia-Flüchtlingslager rollen hörte, versteckte er sich hinter einer Mauer. Als die Panzer näher kamen, rief eine Stimme: »Los von hier!« Jousef rannte. Drei Sekunden später trennte ein Geschoss seinen Kopf vom Körper.

Jousefs Geschwister schleppen seine Besitztümer an. Da ist sein Rucksack, da sein nie getragener Anzug mit Krawatte für Ramadan. Da sind seine Schulbücher; er wollte Polizist werden. Und da ist er selbst, messinggerahmt: eben 12 Jahre alt geworden und voller Zuversicht in die Welt schauend. »Gott wird uns rächen«, sagt die Mutter. Tags zuvor hatte eine junge Witwe gesagt, »Gott hat es gewollt, aber wir werden es nie vergessen. Sie haben keinen Respekt für niemanden.« Ihre beiden Söhne hatten stumm auf ihre Schuhe geblickt. Ihr Vater war erschossen worden, als er den Heimweg über die Hügel wählte, um das Warten am demütigenden Checkpoint zu vermeiden. Salopp gerundet, da die Zahlen täglich schwanken, starben bis heute während der zweiten Intifada 1000 Palästinenser und 260 Israelis. In die ausländische Presse gelangen meist nur die israelischen Opfer. Für ungeübte Augen ist es schwierig, zwischen Flüchtlingslager und gewöhnlichen Häusern zu unterscheiden. Fast alle aus Israel Vertriebenen haben im Laufe der Jahrzehnte aus ihrem Betoncontainer eine Art Heim gemacht. Ein Teppich liegt auf dem Beton, und der Fernseher steckt in prunkvollem Rahmen. Es dauerte lange, bis die Flüchtlinge die Hoffnung auf eine Rückkehr aufgaben. Zu viele Staaten und politische Gruppen schürten diese Hoffnung noch: Am Pulverfass Palästina sollte Israel in die Luft gehen. So wurden im Lauf der Jahre in den Erzählungen der Väter die Weiden der alten Heimat immer grüner, die Bäume höher und die Bäche rauschender. Vor 1987, als die Palästinenser noch nach Israel reisen durften, gelang es dem einen oder andern gar, die Stätte zu besichtigen. Jamal, damals 12, erinnert sich: »Endlich standen wir vor unserem Haus. Da war unsere Mauer, da waren unsere Zypressen, da war unser Brunnen. Doch statt anzuklopfen, versteckte sich mein Vater auf der Straße. Nie habe ich mich so geschämt.«

Siedler haben Vorfahrt

Shihata, 52, ist ein wuchtiger Mann in Militärjacke und mit einem Gesicht, das wie mit dem Spachtel zurechtgeklatscht scheint. Aber er steht nicht als General auf einem Feldherrenhügel; er steht als Geschlagener auf den Trümmern seines Hauses. Kühlschrankblech und Vorhangfetzen sind auszumachen, ein Schuh und zerbrochenes Geschirr. Vier Stunden brauchten die israelischen Bulldozer, um seinen Besitz zu zermalmen. »100000 Dollar. Alles, was ich besaß.«

Shihata kümmert sich nicht um Politik: »Ich bin Bauer.« Doch sein Haus lag eben nur eine Schussweite von der israelischen Siedlung entfernt und diente palästinensischen Scharfschützen als ideale Deckung. Jetzt ist Shihatas Haus eines der 4000 Wohnhäuser, die Israel im vergangenen Jahr auf Palästinensergebiet zerstörte.

Auch das Nachbarhaus wird bald dran glauben müssen. Jede Nacht schießen die Siedler herüber. »Meist von der Spielzeugfabrik aus«, sagt der Nachbar. Erbittert zieht er uns die Treppe hinauf. Fenster und Wände seiner Vorderzimmer sind durchlöchert und leer bis auf eine Waschmaschine. Die Familie hat sich in die rückwärtigen Räume zurückgezogen. Auch dort kann längst niemand mehr schlafen. Nur eine Frage der Zeit, dass die Familie von allein das Feld räumt.

Shihatas Orangenhain strotzt vor reifen Früchten. Zwanzig Tonnen erntet er jährlich. Früher kamen die Händler aus Israel. Seit Gazas Grenzen geschlossen sind, muss er die Früchte im eigenen Land zu Schleuderpreisen loswerden. »Hundert Dollar pro Tonne. Macht 2000 Dollar Jahresverdienst für die ganze Familie.« Noch ist nicht sicher, ob er die Früchte überhaupt ernten kann. »Sie zielen auf jeden Schatten, der sich zwischen den Bäumen bewegt. Sogar meinen Hund haben sie erschossen.«

Die israelischen Siedler, allesamt nach internationalen Gesetzen illegal, bleiben im Alltag so unsichtbar wie die Soldaten, die sie beschützen. Doch wenn man lange genug hinaufschaut zu den Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen ihrer Dörfer, gehen auch bei hellem Sonnenschein die Scheinwerfer an. Früher, in den guten Zeiten, war das anders. Mit guten Zeiten bezeichnen die Palästinenser die Zeit vor September 2000, bevor der damalige Außenminister Ariel Scharon, begleitet von tausend Polizisten, zur Al-Aqsa-Moschee hinaufspazierte und damit die zweite Intifada provozierte. Einst kamen die Siedler hin und wieder in die Dörfer, um ihre Autos reparieren zu lassen. Das war billiger als in Israel. Sie schlenderten durch die Dorfstraßen, wo halbgehäutete Schafe an Haken hängen, und kauften jene Früchte, die so perfekt glänzen, als wären sie Plastik-Schauware. Damals arbeiteten viele Palästinenser in ihren Siedlungen. Für zehn Dollar am Tag wässerten sie die Rasen, bauten neue Häuser, obwohl die Hälfte der Siedlung leer stand. Jetzt betrachten die Siedler die palästinensischen Arbeiter als Sicherheitsrisiko. Nirgendwo mehr kreuzen sich die israelischen und palästinensischen Wege. Das ist wörtlich zu verstehen. Die Siedler haben ihre eigenen Straßen. Die nehmen sich neben den Schotterwegen des Landes wie Flugzeugpisten aus und verbinden die Siedlungen mit Israel. Kreuzen sie eine Straße wie in Abu Holi, haben die Siedler Vortritt.

Der letzte Wald im Land

Jamal drückt aufs Bremspedal, dass sein Auto bockt. »Die Ampeln hier besitzen nur zwei Farben«, erklärt er fröhlich. »Rot und Rot.« Bald stauen sich die Palästinenserautos auf Gazas einziger Nord-Süd-Verbindung hüben und drüben zur langen Schlange: Auf der Straße für die Siedler tut sich nichts. Jamal nutzt die Zeit und zeichnet die Karte seiner Heimat. Mit so viel Druck zieht er drei dicke Striche quer durchs Land, dass das Papier zerreißt. Es sind die Stellen, an denen Israel Gaza jederzeit schließen kann.

Nach zwanzig Minuten tuckert ein Siedlerauto über die Straße. Nach weiteren zehn Minuten wechselt die Ampel auf Grün. Manchmal wartet man stundenlang, manchmal wird die Kreuzung ganz geschlossen. Jamal ist Schauspieler, und auf seinem Gesicht zuckt jede Seelenregung mit. Er deutet nach links: eine der 21 zerstörten Schulen. Die Israelis beanspruchten das Gemäuer als Militärgarage. Er deutet nach rechts: Hier stand letztes Jahr der einzige Wald von Gaza. Jetzt starren nur mehr schwarze Äste aus dem gelben Lehm. Vor dem gefährlich schillernden See voll brauner Schmutzinseln kurbelt er das Fenster zu. Die israelische Siedlung, die weiß wie eine Schaumkrone auf einer Düne thront, nutzt den See für Abwasser und Kehricht. Protestschreiben der Anwohner blieben unbeantwortet.

Jamal münzt, sagt er, die täglichen Demütigungen in Lebenswillen um. Jamal macht auch Theater für und mit verhaltensgestörten Kindern, um ihre Ängste und Aggressionen abzubauen. Fast alle leiden darunter. Sogar sein eigener Sohn hantierte gestern mit einer Spielzeugpistole: »Ich will den Soldaten in die Augen schießen, wenn sie unsere Wohnung kaputtmachen.« Jamal schlägt ungläubig aufs Steuerrad: »Er ist doch erst sechs Jahre alt!«

Der Sturm pfeift durchs Blechdach, es tropft aus allen Ritzen. Die Gesichter der Männer glühen im Widerschein der Glut stark und braun, die kleinen Buben drehen und wenden ihre Hände und Finger vor der Wärme des Feuers, als übten sie für eine biblische Filmszene. Seit dem 3. Oktober 2001 wohnt die Familie in dieser Werkstatt für Treibhausprofile. Eine vergilbte Zeitung dokumentiert das Geschehen: Ihre Erdbeeren, berühmt bis nach Europa, hatten sich unter dem Plastik eben gerötet, die Orangen standen kurz vor der Ernte. Da fuhren Bulldozer auf und pflügten alles unter den Boden. Am Tag danach fanden sie auch ihr Haus in Trümmern und den Zugang mit Stacheldraht versperrt: Es störte die Rundsicht einer israelischen Siedlung. »Sie mögen es eben ringsherum leer«, sagt Ali Ahmed. Den Gang zum Gericht kann er sich ersparen. Die Antwort besteht aus einem Wort: »Militärzone.« Damit rechtfertigte Israel auch das Entwurzeln von 35000 Oliven- und Obstbäumen und das Verbrennen von vier Millionen Quadratmeter Ackerland. Hass? »Nein«, sagt der älteste Mann in der Werkstätte, »das Gefühl des Schwachen.« Und nach einer Weile: »Wir sind doch alles Menschen. Worin unterscheiden sie sich denn von uns?« Die Antwort ist einfach: Israel hat die mächtigeren Freunde. Tag für Tag pumpen die Vereinigten Staaten 15 Millionen Dollar ins Land.

50 der 200 palästinensischen Kinder, die laut Unesco während der zweiten Intifada umkamen, starben in Khan Yunis, dort, wo die Straße in aufgewühltes Erdreich und die Trümmerfelder der zerbombten Häuser übergeht. Der Ort zieht sie magisch an, das Herausfordern der israelischen Soldaten hoch oben auf ihrem Wachposten ist ihr einziger Zeitvertreib. Fotograf Abed war zweimal Augenzeuge. »Der eine Bub bückte sich nach einem Stein, nicht größer als ein Kiesel. Zwei Sekunden später war er tot. Der andere winkte mit den Händen zum Wachposten hinauf und machte huhu. Es war seine letzte Bewegung.« Als er den kleinen Körper fotografierte, streifte ein weiterer Schuss seine Wange. »Hier«, sagt er und klopft auf seine vier neuen, blendend weißen Schneidezähne. »Sie mögen nicht, wenn man darüber berichtet.« Mehr als siebzig Fotografen und Journalisten wurden seit Beginn des neuen Aufstands verletzt, einer getötet.

Kinderhorden treiben mit blitzenden Augen mal ins ungeschützte Freie, dann wieder in den Schutz der Häuser zurück. »Viele Jugendliche«, sagt Abed, »wollen sterben.« Im offenen Sarg als Märtyrer durch die Straßen getragen zu werden, ist die einzige Zukunft, die ihnen lohnenswert scheint. Danach kleben ihre Fotografien an Haustüren, steht ihr Name auf Spruchbändern über der Straße. Denn in einem Land, das unter dem Druck der Demütigung zu explodieren droht, ist jeder Mensch, der an seiner Stelle explodiert, ein Held.

Läuft in Khan Yunis zu wenig, sorgen die Wachposten für Abwechslung. »Ihr Hunde!«, hörte sie der New York Times-Korrespondent Chris Hedges im Sommer 2001 auf Arabisch durch ein Megafon brüllen. »Wo bleiben all die Arschlöcher von Khan Yunis!« Die Kinder rannten: Action! Sekunden später lag der 11-jährige Ali Murad tot am Boden.

Sanktionen haben die Soldaten keine zu befürchten, höchstens eine Rüge für die »schlechte Entscheidung«. So wie im Dezember 2001, als in Khan Yunis eine auf dem Schulweg platzierte Mine fünf Kinder der gleichen Familie in Stücke riss. Die israelischen Siedlungen schnüren Khan Yunis immer wirkungsvoller ein. Eben haben hier die Panzer ein paar neue Häuser demoliert; noch immer suchen die Bewohner in den frischen Trümmern nach ihrem Hab und Gut, schieben mit dem Fuß hier eine Balkonbrüstung, dort eine halbe Schublade weg. Und schon ist, über Nacht, die hohe Wand um die jüdische Siedlung näher gerückt. Wieder zehntausend Quadratmeter gewonnen in der Schlacht um das Land. Heute besetzen die 19 jüdischen Siedlungen mit ihren 6000 Bewohnern ein Fünftel von Gaza. Mehr als eine Million Palästinenser drängen sich auf den restlichen 360 km2 und machen Gaza zum dichtest bevölkerten Land der Welt.

Sie kannten mich, sie kannten meine Frau

Matt leuchten die Lichter des Gaza-Flughafens im Nebel. Jamal ist einer der wenigen, die in den paar Monaten seines Betriebes hier einmal abhoben. »Es war hübsch, mit der eigenen Airline vom eigenen Flugplatz wegzufliegen …« Der Traum von der großen Welt dauerte nur ein paar Monate, dann bombardierte Israel alle technischen Einrichtungen und zwei der drei Flugzeuge. Jetzt hat Arafat angekündigt, Gazas Stolz für 18 Millionen Dollar wieder aufbauen zu wollen. Eine Woche später ließ Israel zum zweiten Mal Bomben fallen. Lande- und Startpisten sind kraterübersät, vom Tower steht nur noch ein rührender arabischer Spitzbogen. Es gibt kaum mehr Wege aus dem Gefängnis Gaza. In Erez, im Norden, stellten sich früher im Morgengrauen täglich Zehntausende von Palästinensern an, um nach zweistündiger Kontrolle rechtzeitig am Arbeitsplatz in Israel zu sein. Nach der Grenzschließung gleicht Erez einem gigantisch leeren Betonstadion. Die Arbeitslosigkeit in Gaza ist auf achtzig Prozent gestiegen. Auch Ibrahim verlor vor einem Jahr seinen Job in Tel Aviv. Und vor zwei Wochen auch sein Haus. Es war dreistöckig, denn Ibrahim verdiente nicht nur als Gastarbeiter in Abu Dhabi gut, sondern auch als Dreher in Israel. Zettel um Zettel zieht er aus seiner Brieftasche. Hier, der Grundstück-Kaufvertrag von 1981, hier die Arbeits- und Schlaferlaubnis in Israel, hier eine Unbedenklichkeitserklärung, die ihn als vertrauenswürdig auswies.

Er ahnte das Unglück, als ihm die Israelis befahlen, seine Haustüre so zu verlegen, dass der Wachposten jederzeit kontrollieren konnte, wer kam und wer ging. Jede Nacht horchte er auf das Kommen der Panzer: »Entweder vom Meer oder vom Flugplatz.« Doch wirklich glauben konnte er an die Zerstörung nicht. »Sie kannten mich, sie kannten meine Frau und meine Kinder. Und nie habe ich Fremden den Zutritt erlaubt.« Die Wucht der Explosion schleuderte einen Mann ins Nachbarhaus. Dort wurde er mit abgerissenen Händen und aufgerissenem Brustkorb gefunden.

Jetzt lebt Ibrahim mit seinen acht Kindern in einer Notunterkunft. Elektronisches Spielzeug piepst in allen Tonlagen. Es war das Einzige, was die Kinder retteten. Tagsüber zappt Ibrahim von einem arabischen Kanal zum nächsten, »ohne zu sehen, was ich sehe«. Nachts kann er nicht schlafen. »Wie soll ich meine Familie beschützen und ernähren?« Von den palästinensischen Behörden ist keine Hilfe zu erwarten. Er will auch keine. »Ich will Arbeit«, sagt er. »Warum haben sie mir nicht gesagt: Dein Haus muss weg. Wir geben dir vier Monate Zeit, es zu räumen?« Auf der Heimfahrt sagt Jamal bedrückt: »Ibrahim ist alt geworden. Er sieht besiegt aus.«

In Rafah, Heimat der Hamas und ihrer Selbstmordattentäter, stehen Flüchtlingszelte auf einem Platz; rot gefrorene Bubengesichter lachen aus dem Eingang. Am nächsten Tag wird Israel hier aus Rache 56 Häuser bombardieren und weitere 600 Menschen obdachlos machen. Jamal drückt aufs Gaspedal, schlingert auf zwei Rädern um die Überflutungen. Um zehn Uhr werden die Checkpoints geschlossen. Dann legt er zur Aufheiterung eine Kassette mit palästinensischer Volksmusik ein. Eine Männerstimme, vibrierend vor Kraft, peitscht die Melodie vorwärts. Lied und Stimme scheinen einem andern Volk zu gehören.

Ein Unglück kommt nie allein

Einer ist immer schuld, einer muss immer bezahlen: Ein Arbeitswochenende mit Ed Fagan, dem gefürchtetsten Sammelkläger der Welt.

Vor elf Uhr morgens muss niemand etwas von ihm wollen. Matt sitzt er am Frühstückstisch, im Glas schäumt ein Alka-Seltzer. Matt blättert er die Zeitung durch. Erst als er auf sein eigenes Bild stößt, belebt er sich. »Zu klein«, sagt er. Und schon nach kurzer Lektüre klopft er so gebieterisch auf das Blatt, dass das Geschirr hüpft: »Wenn ich mit Kaprun fertig bin, nagle ich diesen Mann an die Wand.« Ein Blick in die Runde: »Der ist tatsächlich so dumm, wie seine Frau behauptet.« Seine Begleiter nicken befriedigt. So mögen sie ihren Ed Fagan.

Nicht alle in Fagans Tross sind den Luxus des Salzburger »Sheraton« so gewohnt wie er selbst. Manche wirken, als hätte sie ein Ausflugsbus aus Versehen unter die Kronleuchter gekippt. Da spannen sich Strickwesten über stramme Bäuche; da zwängen sich rot geschwollene Finger durch die Tassenhenkel. Egal. Ed Fagan macht im Nu alle zu VIPs und das Fünfsternehaus zum Verschwörercamp. Bald besetzen seine Klienten Lobby und Bar so energisch, als hätten sie das Hotel gekauft. »Beim ersten Treffen mit Ed«, sagt Ursula Geiger, deren Sohn im Bleisarg aus Kaprun zurückkam, »habe ich geglaubt, ich sei im Film.«

Beim ersten Treffen waren viele Opferangehörige misstrauisch gewesen. »Wollt ihr den Tod eures Kindes vermarkten?«, hatten sich Freunde empört. Die Hilfe eines Mannes annehmen, den seine Ex-Klienten »Ratte« und »Halsabschneider« nannten? Der Gerichtstermine und Eingabefristen verschlampt, weder Briefe noch Telefonanrufe seiner Mandanten beantwortet, sobald größere Beute lockt? Überhaupt: Sammelkläger nähren sich vom Unglück anderer Menschen und sind wie Schmeißfliegen überall zur Stelle, wo Blut fließt – egal ob Concorde, Cavalese oder Crossair. Oder eben Kaprun, wo, am 11. November 2000, 155 meist junge Sportler in der Gletscherbahn erstickten und verbrannten.

»Ich bin Ed Fagan, nicht der Teufel«

Die Arme blieben abweisend verschränkt, als sich Ed Fagan mit den Worten vorstellte: »Ich bin Ed Fagan. Ich bin nicht der Teufel.« Nach einer Stunde war sein Kragen schweißnass und das Publikum aufgewühlt. »Die Behörden behandeln euch wie Dreck! Sie lügen euch an! Eure Kinder, Frauen und Männer starben wegen Schlamperei und Profitgier! Dafür muss jemand bezahlen!«

Schließlich unterschrieben 112 der Anwesenden die Sammelklage.

Beim zweiten Treffen in Salzburg gibt sich Ed Fagan familiär. Er nennt seine Klienten beim Vornamen, trägt Weekendpullover statt Businessanzug und schlendert so locker in den Hotel-Konferenzsaal, als wär’s ein Tenniscourt. Kurz mustert er das riesige U der Tische. Dann rückt er das Referentenpult entschlossen in die leere Mitte. Und fortan steht er wie ein Fels in der Brandung im Rund der erwartungsvollen Gesichter; Hoffnungen fluten an ihm hoch; alles Flüstern ist verstummt. So muss sich jeder junge Anwalt seinen zukünftigen Beruf erträumen. Ed Fagan lächelt.

Noch immer ist vielen Trauernden nicht klar, warum sich das ferne Amerika ihrer Leiden annehmen soll. Ed Fagan erklärt es geduldig und in einfachem Englisch. »In Europa kann man nur Individuen einklagen, nicht aber Firmen, o.k.?« Die Runde nickt. »In Amerika dagegen müssen Firmen für die erlittenen Schäden aufkommen.« Nicken. »Viele der Firmen, die an der Gletscherbahn Kaprun mitgearbeitet haben, besitzen in Amerika eine Niederlassung, Bosch beispielsweise oder Siemens, o.k.?« O.k. »Die müssen stellvertretend euren Schaden gutmachen. Denn Geld ist die einzige Sprache, die die Mächtigen verstehen. Bezahlen ist das Einzige, was ihnen wehtut. Und jetzt wisst ihr, warum wir zu sagen pflegen: God bless America!«

Darauf setzt sich mancher aufrechter hin, ein Ehepaar lächelt sich zu. Alle Opferfamilien haben ein im Schmerz verdämmertes Jahr hinter sich. Oft wussten sie nicht mehr, »war es April oder Juni«, wie eine Mutter sagt. Ein Vater »muss nicht mehr in die Hölle kommen, ich bin schon mittendrin«. Ein Friseur sah sich von seinen Kunden gemieden, weil die nicht wussten, wie ihm nach dem Verlust seiner Frau begegnen. Ursula Geiger, die den Sportshop ihres Sohnes weiterführte, ertrug den Anblick anderer junger Rennläufer nicht mehr. Und plötzlich stürmte in dieses versteinerte Dasein Ed Fagan wie ein junger Hund und zerrte sie hinaus an die frische Luft und ins Leben. »Wenn er kommt, tut sich endlich was«, sagt Ursula Geiger. »Das ist ein richtiges Glücksgefühl.« Auch jetzt bringt Fagan neue Kunde: »Die Menschen im Zug sind nicht erstickt. Sie haben aufrecht wie die Fackeln gestanden und sind verbrannt!« Dafür kann Fagan leicht das Doppelte der geplanten zehn Millionen Dollar pro Todesfall verlangen. Zwar war es tatsächlich die Heizplatte, die den Brand auslöste. Doch erklären lässt sich die alle Wagen überspringende Flammenhölle nur mit dem Explodieren der Brennstoffbehälter, die verbotenerweise mit befördert wurden. Seine These stützt Fagan auf die Fotos amerikanischer Militärexperten. Sie sind spurlos aus dem Untersuchungsbericht verschwunden. Wohlweislich, sagt Ed Fagan.

Todessekunden in Dollar

Niemand mag den Notizblock benutzen, den das Hotel vor jeden Platz gelegt hat. Ein Vater, aus Erbitterung zu allem entschlossen, offeriert die Exhumierung seines Sohnes. Vielleicht lassen sich Brennstoffspuren an der Leiche feststellen. Das Angebot schockt keinen. Längst sind die Angehörigen zu Experten in Sachen Sammelklagen geworden. Unbeschönigt wie Fagan nennen sie sich Kunden statt Klienten. Sie wissen, was Opferdiscount bedeutet und dass sich in Amerika nicht nur die Todesart, sondern auch die Dauer der Todesangst in Dollars ummünzen lässt. Oder dass man zu den Todesqualen das eigene seelische Leid addieren darf. »Ein Kind«, erklärt in der Pause ein Vater aus dem Oberbayrischen, »ist in Europa nichts wert. In Amerika bringt es so viel wie ein erwerbstätiger Erwachsener.« Fagan, der von Gruppe zu Gruppe irrlichtert, nickt bestätigend. Dann schnappt er sich eines der sparsam belegten Hotelbrötchen, hebt es anklagend in die Luft und sagt: »Dafür trage ich keine Verantwortung. Da hilft nicht einmal Ketchup.«

Bei der Pressekonferenz in der Hotelhalle umstehen ihn seine Klienten wie ein Fanklub. Eigenhändig hatte er vorher den Hotelpianisten zum Schweigen gebracht: »Er ist kein Elton John. Nicht einmal Liberace.« Sobald die Scheinwerfer des Fernsehteams aufleuchten, verwandelt sich sein Gesicht zur Maske eines Mannes, der kein Pardon kennt. Die Brille blitzt, der Mund wirkt wie mit dem Messer geschlitzt. »Wir werden den Ruf von Österreichs Bergbahnen in der Welt zermalmen!«, ruft er in die Kamera des ORF, dass man es schon krachen hört. »Das Schwert des amerikanischen Gesetzes wird mit voller Härte die Schuldigen treffen!« Besonders in den Händen der schneidigen New Yorker Richterin, die den Kaprun-Fall unter sich hat: »Die macht kurzen Prozess!« Solche Drohungen dienen nicht nur der Pflege seines Rufs, sie sind auch Zermürbungstaktik. Sobald sich Fagan als erbarmungsloser Sammelkläger outet, sinkt der Aktienkurs der beklagten Firma ebenso rapid, wie die Bereitschaft steigt, Tür und Tresor für einen raschen Vergleich zu öffnen.

Mein Freund Norbi

Tatsächlich ist Fagans Schlachtgebrüll so gewaltig, dass man das ganze Pentagon dahinter vermutet. Der Eindruck täuscht. Fagan gehört zwar zu den Big Playern im amerikanischen Sammelklagenbusiness. Doch statt im schicken Manhattan arbeitet er im preiswerteren Vorort Livingston und dort als Untermieter in einer andern Anwaltspraxis. Sein Mitarbeiterstab ist bescheiden; auf Europa-Reisen bedient er sich des Personals seines Europa-Vertreters, der Herisauer Firma Gloria International, die für Fagan, gewissermaßen als Subunternehmer, Kunden anwirbt. Die Geschäftsverbindung beruht nicht nur auf finanziellen Interessen, auch die gemeinsamen Feinde binden: Es sind die Schweizer Banken. Gloria-Besitzer Gschwend hatte sich an Fagan gewandt, als er sich von der UBS betrogen und in den Konkurs getrieben fühlte und ihn alle Gerichte hierzulande ins Leere laufen ließen. Inzwischen nennt Fagan Norbert Gschwend Norbi, und Norbi beteuert: »Es ist schön, einen Freund wie Ed zu haben.« Gegenwärtig treibt Norbi für Fagan in Südafrika Opfer des Apartheidregimes auf, für deren Schicksal die Schweizer Großbanken büßen sollen. Schließlich unterstützten UBS und CS noch immer mit Milliarden das Land, als sich der Rest der Welt längst davon distanzierte. 85 Südafrikaner meldeten sich bisher auf Gschwends Zeitungsaufruf. Die Klage wird demnächst in Amerika eingereicht.

Doch Ed Fagan wildert nicht nur in Südafrika, Österreich und der Schweiz. Die 21 Opfer des Cholesterin-Medikaments Lipobay interessieren ihn ebenso wie die 200 Toten des Zugunglücks von Eschede. Und zu Hause bearbeitet er die Sammelklage der Afroamerikaner, die Schmerzensgeld für die Versklavung ihrer Vorfahren fordern. Und es gibt noch viel zu tun … Träumerisch wie ein Kind die Pistole, hält Ed Fagan den Lauf seiner Gelüste mal in diese, mal in jene Weltrichtung. Jetzt müsste man im Namen der sexuell Missbrauchten den Papst einklagen. Oder die amerikanischen Fluglotsen … »Warum reagierte kein Tower, obwohl sich am 11. September die vier Terroristenflugzeuge eine Stunde lang in der Luft hielten?«

Das lohnendste Geschäft freilich – versonnen lässt er das Weinglas kreisen – wäre die Klage der Palästinenser gegen Israel … Nach einer Sekunde der Besinnlichkeit schüttelt er sich energisch aus seinen Träumen: »Ich bin zwar ein Scheißkerl. Aber so ein Scheißkerl bin ich dann doch nicht.« Schließlich hat er als zwanzigjähriger Amerikaner freiwillig im Jom-Kippur-Krieg gekämpft. Das heißt, gekämpft ist übertrieben. Morgens sammelte er in der Wüste Sinai Leichen ein, um sie für das rituelle jüdische Begräbnis herzurichten; abends trat er als Banjo spielender Entertainer auf. Solch farbige Kontraste machen sich in der Biografie eines Sammelklägers ebenso gut wie sein Jugendwunsch, Rabbi zu werden. Kann einer, der Gott sein Leben widmen wollte, tatsächlich so ruchlos sein?

Überhaupt zog es ihn nach dem Studium keineswegs zu den Akten. Ein Reisebüro für Luxus-Tauchferien entsprach eher seinem Geschmack. Denn Fagan liebt die Abwechslung. Jedes fremde Gesicht, das an seinen Tisch tritt, lässt ihn aufblühen. Hilfesuchend schweift sein Blick in die Ferne, wenn ein Gespräch zu lange dauert. Niemals ist ihm eine Reise zu lang. Erst nach der Pleite seines Tauchunternehmens erinnerte er sich an seinen erlernten Beruf und begann als Ambulanzenjäger. Das sind Anwälte, die Polizeifunk hören und sich auf Intensivstationen ihre Klienten suchen, die jedem Unglück hinterherjetten und den Hinterbliebenen mit dem Blumenstrauß auch ihre Visitenkarte zustecken.

Alles oder nichts

Opferanwälte pokern um alles oder nichts. Gewinnen sie einen Fall, gehört ihnen ein Drittel des erwirkten Schadenersatzes plus Unkosten. Verlieren sie den Fall, sind Zeit und Geld dahin. Schlimmer freilich wirkt sich für Fagan der Vertrauensverlust seiner Geldgeber aus. Denn Fagan lässt sich seine Arbeit von Financiers bevorschussen, die auf ihn wetten wie auf ein Rennpferd. Bis jetzt mussten sie ihren Einsatz nicht bereuen. Allein 1998, beim Vergleich der Schweizer Banken mit den jüdischen Sammelklägern, bekamen sie ihre Einlage mit 200 Prozent Zins zurück. Die Idee zur Klage, die die Schweizer Banken 1,25 Milliarden Dollar kostete, hatte eigentlich, sagt Fagan, seine Schwiegermutter. Doch davon mag er nicht mehr reden. Denn die Ehe ist im Eimer. Die Scheidung dauert bereits drei Jahre, kostete ihn bis heute 300000 Dollar und, noch schlimmer, das Sorgerecht für seine beiden Kinder. »Dabei hab ich meine Frau geliebt!«