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Katrin Koppold, Katharina Herzog

Marzipanküsse





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Titelseite

Marzipanküsse

Katharina Herzog

Inhalt

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Danksagung

Liebe Leserinnen und Leser

Über die Autorin

Kapitel 1

1

„Siehst du den komischen Kerl, der bei dem Kartenständer steht?“, wisperte ich meiner Kollegin Elke zu.

Elke, die gerade dabei war, kleine Weihnachtsengel auf dem Tisch mit den Kinderbüchern zu verteilen, nickte. „Ja, er beobachtet mich die ganze Zeit.“ Ihre Wangen waren vor Aufregung leicht gerötet. „Sieht ein bisschen aus wie Prinz Harry, findest du nicht? Ich kann immer noch nicht fassen, dass diese Schauspielerin ihn mir weggeschnappt hat.“ Beim Wort Schauspielerin verzog sie den Mund, als hätte sie in etwas wirklich Ekliges gebissen.

Ich verkniff mir, ihr zu sagen, dass sie vermutlich auch ohne das Auftauchen Meghan Markles eher weniger Chancen gehabt hätte, bei Sexy-Harry zu landen. Wegen ihrer Flugangst wäre Elke ohnehin niemals nach England gekommen, und außerdem konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass Frauen mit selbst gestrickten Weihnachtsbaum-Ohrringen in sein Beuteschema passten. Ich schaute zu dem Mann mit den vollen roten Haaren und dem ebenso dichten Vollbart hinüber. In seines passten sie aber sicherlich auch nicht. Er war zu groß, zu muskulös, zu lässig gekleidet mit seinen zerrissenen Jeans, den Schnürboots und der rot karierten Flanelljacke.

Misstrauisch beäugte ich ihn. Gerade zog er eine Karte aus einem Fach und musterte sie intensiv.

„Ich glaube ja, dass er was klauen will“, sagte ich zu Elke. „Der Typ lungert nun schon ewig hier im Laden herum. Bereits als ich dem netten älteren Herrn ein Buch für seine Frau empfohlen habe, hat er sich hier rumgedrückt. Das ist bestimmt zehn Minuten her.“

„Quatsch!“ Elkes Blick lag immer noch schwärmerisch auf dem Highlander. „Der wirkt doch total harmlos.“

„Das hast du von dem Opa mit der Beinprothese auch gesagt, bevor er mit dem Daniela-Katzenberger-Kalender auf und davon ist.“ Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass jemand, der augenscheinlich über achtzig war und nur ein Bein hatte, so schnell rennen konnte. „Außerdem sind rothaarige Männer mit Vollbart niemals harmlos. Meine Großmutter hat mich von klein auf vor ihnen gewarnt.“

Elkes ungezupfte Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Wieso das denn?“

„Weil sie unserer Familie seit Generationen nichts als Unglück bringen. Egal, was uns jemals zugestoßen ist, es war immer ein rothaariger Mann mit Vollbart daran schuld. Sie haben geraubt, gemordet, Ehen zerstört.“ Letzteres erschien mir besonders brisant, denn in drei Tagen würde ich heiraten. Kai-Uwe, den tollsten Mann der Welt.

„In deiner Familie wurde jemand ermordet?“ Elkes Augen funkelten.

„Ja, im vierzehnten Jahrhundert. Ein Kaufmann. Er handelte mit Gewürzen. Sein Schiff wurde von Piraten überfallen, und der Anführer, der ihm den Säbel in seine Eingeweide rammte …“

„… war rothaarig und hatte einen Vollbart?“

„Genau. Die Liste würde sich endlos fortsetzen lassen. Seitdem sehen wir zu, dass wir immer einen großen Bogen um solche Männer machen.“ Dass der Lkw-Fahrer, der den Unfall verschuldet hatte, bei dem meine Eltern gestorben waren, ebenfalls rote Haare und einen Vollbart gehabt hatte, erwähnte ich nicht. Denn Trauer machte Falten. Es war besser, sie einfach zu ignorieren.

Jetzt, da der Kerl bemerkte, dass auch ich ihn anstarrte, erwiderte er meinen Blick nicht nur, sondern zwinkerte mir auch noch zu. Ich schnaubte und rückte einem kleinkindgroßen Schneemann den Hut gerade.

Kleckern, nicht klotzen, war zur Weihnachtszeit die Devise von Elisa, meiner Freundin – und Chefin. In Lizzies Bücherträume, dem Buchladen, in dem ich neben meiner Arbeit in einem Kinderbuchverlag stundenweise aushalf, befand sich langsam mehr Dekokram als Bücher.

„Jetzt, wo du es sagst: Der Typ hat etwas von einem Piraten. Wir müssen ihn auf frischer Tat ertappen.“ Elke reckte das Kinn. Von ihrer Schwärmerei war nichts mehr zu spüren.

„Und wie sollen wir das deiner Meinung nach anstellen?“

„Wir nehmen uns zwei Bücher und tun so, als wären wir ganz darin vertieft. Und wenn er versucht, etwas mitgehen zu lassen … Zack! Dann schnappe ich ihn!“

„Glaubst du, dass das so einfach ist? Er hat ziemlich breite Schultern und ist verdammt muskulös.“

„Kein Problem. Ich habe jahrelang Capoeira gemacht.“

„Das ist doch dieser Tanz-Kampf, bei dem man sich nicht berühren darf.“

„Genau.“

„Und was genau willst du tun, um ihn zu stellen? Ihn mit Saltos und Radschlägen in eine Ecke drängen und dort festhalten, bis die Polizei kommt?“

„Mach dich nur lustig. Meine Fußschläge waren berüchtigt. Ich bin deswegen bei mehreren Wettkämpfen disqualifiziert worden. Los jetzt!“ Elke drückte mir eines der Kinderbücher in die Hand, die sie gerade auf dem Tisch arrangiert hatte.

„Mein schönstes Weihnachts-Wimmelbuch. Ernsthaft?“

„Wir können gerne tauschen, und du nimmst Lotti und der Weihnachtskobold.“

„Das Wimmelbuch spricht mich dann noch etwas mehr an.“ Während ich mir eine Weihnachtsmarkt-Szene anschaute und zählte, wie viele Menschen darauf zu sehen waren, linste ich immer wieder zu dem Mann hinüber. Jetzt zog er eine Glückwunschkarte aus dem Kartenständer und schaute sich um.

„Es ist so weit!“, zischte Elke.

Mein Pulsschlag beschleunigte sich. Ich war zwar kein ängstlicher Typ, aber mit der Warnung meiner Oma im Kopf war ich mir nicht sicher, ob es angemessen war, wegen einer Glückwunschkarte ein solches Risiko einzugehen.

Die Hand des Mannes wanderte zu der Tasche seiner Jacke. Ich hielt den Atem an. Gleich würde er die Karte darin verschwinden lassen. Doch zu meiner Überraschung nahm er etwas heraus. Mit seiner Geldbörse in der Hand kam er auf uns zu.

„Ich möchte die Damen ja nur ungern bei ihrer anregenden Lektüre stören. Aber wäre eine von euch so freundlich, diese Karte abzukassieren?“ Sein breites Grinsen zeugte von einem gesegneten Selbstbewusstsein und offenbarte eine Reihe makellos weißer Zähne. Wie lange er als Jugendlicher wohl eine Zahnspange getragen hatte? Ich hatte für ein weniger perfektes Ergebnis sogar ein halbes Jahr mit einem Außenbogen herumlaufen müssen.

„Selbstverständlich.“ Ich klappte das Wimmelbuch zu. Mein Gesicht musste so rot wie eine Nikolausmütze sein, und am liebsten hätte ich mir eine solche jetzt übergestülpt, um mich darunter zu verstecken. Der Typ hatte bei der Auswahl seiner Karte einfach nur ein wenig länger gebraucht, und ich hatte mich aufgeführt wie Miss Marple. Nur wegen seiner Haare!

Er legte eine Hochzeitskarte neben die Kasse. Typisch Mann, hatte er sich für ein schlichtes Modell entschieden. Zur Hochzeit die allerbesten Wünsche stand unter zwei goldgeprägten Eheringen. Ich hielt es in dieser Hinsicht ja eher mit Elisa und ihrem Mehr ist mehr.

„Sie gehen also auf eine Hochzeit“, sagte ich und ärgerte mich im nächsten Moment darüber. Wie scharfsinnig! Und wieso verwickelte ich ihn überhaupt in ein Gespräch, anstatt ihm einfach nur das Wechselgeld herauszugeben? Dieser Mann hatte etwas an sich, was mich wahnsinnig verunsicherte. Nicht nur wegen der unheilvollen Farbe seiner Kopf- und Gesichtsbehaarung, sondern auch, weil er mich so ungeniert musterte. Kannten wir uns vielleicht von irgendwoher?

„Ja, am Wochenende ist es schon so weit“, antwortete er.

„Ach!“ Ich horchte auf. „Ich heirate auch am Wochenende.“

„Dein Zukünftiger ist ein Glückspilz.“ Er lächelte charmant und ließ die Hochzeitskarte in seiner Jackentasche verschwinden. „Man sieht sich!“, sagte er noch, bevor er sich in Richtung Ausgang begab.

Hoffentlich nicht!

Kapitel 2

2

„Hast du gesehen, wie er mir zugezwinkert hat?“, fragte Elke, kaum dass die Eingangstür hinter dem Mann zugefallen war. Ihre Wangen leuchteten nun dunkelrot wie die Blütenblätter des Weihnachtssterns auf dem Verkaufstresen.

Ja, das hatte ich. Genau, wie er es bei mir getan hatte. Der Kerl hielt sich anscheinend für unwiderstehlich. Schlecht sah er ja nicht aus, wenn man auf den Typ Schotte, der im Wald arbeitet stand. Mein Geschmack war das nicht. Ich mochte lieber Männer wie Kai-Uwe: Männer, die sich zu benehmen wussten, die einen Rasierapparat besaßen (und auch benutzten!) und die Anzüge trugen. Nichts ließ sich so erotisch ausziehen wie Hemd und Krawatte. Leider stand Kai-Uwe kurz davor, Partner in der Großkanzlei zu werden, in der er als Wirtschaftsprüfer arbeitete, und hatte deshalb in den letzten Monaten nur selten den Kopf frei gehabt für erotische Abenteuer. Ich hoffte sehr, dass die Hochzeit daran etwas ändern würde. Versprochen hatte er es mir.

Dass wir bisher kein Haus gefunden hatten, das seinen Ansprüchen genügte, kam erschwerend hinzu. Ich wohnte immer noch bei meinen Großeltern, er in einer winzigen Ein-Zimmer-Wohnung im Souterrain der Villa seiner Eltern. Dort schlief ich zwar mehrmals pro Woche, aber auf Dauer war das kein Zustand. Kein Mensch konnte wilden, hemmungslosen Sex haben in dem Wissen, dass direkt über ihm die Schwiegereltern fernsahen.

„Dir hat Prinz Harry auch gefallen, nicht wahr?“ Elke rammte mir ihren Ellenbogen in die Seite.

„Nein! Wie kommst du denn darauf?“

„Du hast ihm nachgeschaut und geseufzt.“

„Ja, vor Erleichterung, dass er endlich weg ist. Was für ein unverschämter Kerl!“

„Ich fand ihn toll.“ Nun seufzte auch Elke. „Bestimmt ist er unglaublich geschickt mit seinen Händen.“

„Du liest zu viel erotische Romane … Streite es nicht ab! Als ich letztens bei dir zu Hause war, standen alle drei Bände von Fifty Shades of Grey auf deinem Nachtschränkchen. Und The Mister.“

„Man muss schließlich wissen, was man den Kunden empfiehlt. Außerdem bist du es, die hier die schmutzige Fantasie hat: Ich wollte nur andeuten, dass ein Mann wie der garantiert das Regal mit den Erstlesebüchern reparieren könnte. Es hängt so schief, dass wir froh sein müssen, dass es noch niemanden erschlagen hat.“

„Wollte Mark das nicht machen?“

„Was ist mit Mark?“ Elisa war aus dem Büro gekommen. Hätte sie ihre dunklen Haare zu einem Dutt am Oberkopf aufgetürmt und würde ein kleines Schwarzes tragen statt eines schmal geschnittenen Bleistiftrocks und eines Rollkragenpullovers, wäre sie mit ihrer zierlichen Figur, den braunen Rehaugen und dem breiten Mund die perfekte Reinkarnation von Audrey Hepburn aus Frühstück bei Tiffany gewesen. Doch man durfte sich von ihrem zarten Aussehen nicht täuschen lassen. Elisa war ziemlich tough, und sie sagte offen ihre Meinung, was ich sehr an ihr schätzte. Wir hatten uns angefreundet, nachdem ich festgestellt hatte, dass meine Teilzeitstelle bei Zauberblume – einem kleinen, aber anspruchsvollen Kinderbuchverlag – nicht ausreichte, um in einer Stadt wie München einigermaßen über die Runden zu kommen.

„Wir haben uns nur gefragt, wann dein Herzblatt endlich das Regal in der Kinderbuchabteilung repariert“, antwortete Elke. „Es hat inzwischen ganz schön Schlagseite.“

„Nächste Woche. Das hat er mir hoch und heilig versprochen. Diese Woche hat er zu viele Termine. Ich frage mich, wieso Heizungen immer im Winter kaputtgehen.“

„Vielleicht weil sie im Sommer ausgeschaltet sind?“ Ich hob die Augenbrauen.

Elisa ging nicht darauf ein. „Was ist denn mit den Büchern auf der Theke?“ Sie wies auf Lotti und der Weihnachtskobold und das Wimmelbuch, die wir dort abgelegt hatten. „Hat die wieder jemand mit Schokoladenfingern angetatscht? Ihr wisst ja, wie sehr ich Weihnachten liebe, aber allmählich bin ich wirklich froh, wenn der Advent vorbei ist. Erst gestern hat eine Kundin den neuen Renate Bergmann an die Kasse gebracht, um mir zu zeigen, dass eine plattgedrückte Marzipankartoffel auf der Rückseite klebt.“

Oh! Ich biss mir auf die Unterlippe. Da war sie also hin. Ich hatte das köstliche kleine Ding gestern schon schmerzlich vermisst. Für Marzipan hatte ich nämlich eine Schwäche.

„Mit den Büchern ist alles in Ordnung“, erklärte Elke. „Die haben uns nur als Tarnung gedient. Wir hätten nämlich fast einen Dieb auf frischer Tat ertappt.“

Ich nickte. „Elke wollte ihn mit Capoeira in Schach halten, bis die Polizei kommt.“

Elisa runzelte die Stirn. „Habt ihr euch heimlich rausgeschlichen und Glühwein getrunken, während ich im Büro war und Rechnungen geschrieben habe?“

„Nein.“ Elke schüttelte so energisch den Kopf, dass die Häkel-Weihnachtsbäume gegen ihre Wangen klatschten. „Wir haben wirklich gedacht, dass der Mann etwas klauen will.“

„Und was?“

„Eine Hochzeitskarte. Hat er aber nicht. Er hat sie anstandslos bezahlt.“

„Nachdem der einbeinige Opa den Kalender hat mitgehen lassen, wollten wir auf Nummer sicher gehen und haben ihn beschattet“, erklärte ich. „Er hat sich ewig am Kartenständer herumgedrückt. Welcher Mann tut so was? Kai-Uwe jedenfalls nicht.“

Kai-Uwe! Ich schaute auf die Uhr. So spät! Ich hätte schon vor einer Viertelstunde Schluss machen können.

„Ich muss jetzt los!“, sagte ich und schnappte mir meinen Mantel. „Gott, bin ich aufgeregt! Kai-Uwe will mir doch heute Abend seinen Trauzeugen vorstellen. Er ist heute von Schottland rübergeflogen. Jetzt wird es ernst. Nur noch drei Tage!“

„Ja, die Zeit ist ziemlich schnell vergangen.“ Elisas Lächeln fiel irgendwie gequält aus. Auch wenn sie versuchte, es vor mir zu verbergen, wusste ich genau, dass sie keine Lust auf die Hochzeit hatte, und mir war auch klar, warum: Sie würde dort Kai-Uwes Mutter begegnen. Konstanze Hasselbusch war ihre Vorgesetzte gewesen, bis sie ihr den Buchladen vor anderthalb Jahren – mit der finanziellen Unterstützung ihres Ehemannes Mark – abgekauft hatte. Die beiden hatten kein besonders herzliches Verhältnis gehabt. Dabei war meine Schwiegermutter eigentlich ganz in Ordnung. Sie konnte nur manchmal nicht aus ihrer Haut. Genau wie Kai-Uwe.

Jetzt musste ich mich aber wirklich beeilen! Ich schnappte mir meinen Mantel und war im nächsten Augenblick zur Tür hinaus.

Auf dem Weg zur Trambahn wurde ich fast von einem BMW überfahren. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen nur ein paar Meter vor mir zum Stehen, und sein Fahrer, ein junger milchgesichtiger Kerl, schimpfte und zeigte mir einen Vogel. Ich machte eine entschuldigende Geste. Er hatte ja recht. Tief in Gedanken versunken, hatte ich die Straße überquert, ohne nach rechts oder links zu schauen. Mister Roter Vollbart ging mir nicht aus dem Kopf. Hoffentlich war es kein schlechtes Omen, dass er mir ausgerechnet jetzt über den Weg gelaufen war!

Ich spürte, wie ich trotz meines kuschligen Kunstfell-Mantels eine Gänsehaut bekam. Seit fast einem Jahr plante ich nun schon die Hochzeit, und sie musste einfach perfekt werden. Schließlich legten wir mit diesem Tag das Fundament für unsere Zukunft! Ich sah sie ganz deutlich vor mir. Ein süßes Häuschen ein wenig außerhalb von München mit einem kleinen Garten für unsere mindestens zwei Kinder. Wir würden bis an unser Lebensende zusammen glücklich sein. Endlich würde ich wieder eine Familie haben! Eine Familie, die nicht nur aus Opa, Oma und mir bestand. Diesen Plan durfte niemand durchkreuzen!