Ella Blix

Wild

Sie hören dich denken

Die Arbeit der Autorinnen am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert.

Hinter dem Pseudonym Ella Blix verbirgt sich das Autorinnenduo Antje Wagner und Tania Witte.

Antje Wagner hat sich mit ihren mehrfach ausgezeichneten Jugendbüchern bereits einen Namen gemacht und steht vor allem für außergewöhnliche Mysteryromane. 2012 wurde sie von der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in den Kanon der 20 besten deutschsprachigen Autoren unter 40 Jahre aufgenommen.

Tania Witte ist Autorin, Journalistin und Spoken-Word-Performerin. Neben diversen internationalen Stipendien erhielt sie 2016 den Felix-Rexhausen-Sonderpreis für ihre journalistische Arbeit und 2017 den Martha-Saalfeld-Förderpreis für Literatur sowie 2019 den Mannheimer Feuergriffel.

Ella Blix ist die Essenz dieser beiden Autorinnen: Realismus trifft auf Mystik, authentische Charaktere auf Spannung und Sprachspiel auf Humor.

Mehr über Ella Blix unter www.ellablix.com

Weitere Bücher von Ella Blix bei Arena:

Der Schein

Weitere Bücher von Tania Witte bei Arena:

Die Stille zwischen den Sekunden

Ella Blix

WILD

Sie hören dich denken

Roman

1. KAPITEL

Das Camp

Noomi

Sie musste fünfmal zuschlagen, bevor das Glas splitterte. Bei Beyoncé hatte das viel einfacher ausgesehen, aber Beyoncé zertrümmerte im Video ja auch eine Autoscheibe und nicht das Hochsicherheitsglas eines Nobeljuweliers.

Sie schloss die Hände fester um den Griff ihres Baseballschlägers, holte tief Luft und schlug erneut zu.

Wieder.

Wieder.

Wieder.

Nach weiteren drei Schlägen hatte sich die glänzende Scheibe in ein undurchsichtiges Netz aus Splittern verwandelt, das auf magische Weise noch immer zusammenhielt.

»Hey, was soll das?«, rief ein Mann von der anderen Straßenseite und seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Was machst du da?«

Wonach sieht’s denn aus?, dachte sie grimmig.

Als sie sich umdrehte, sah sie, wie der Mann sein Handy hervorzog. Sie lächelte ihn an. Er behielt sie fest im Blick, während er tippte.

Ihr Lächeln wurde breiter, dann wandte sie ihm wieder den Rücken zu und rammte den Baseballschläger noch einmal mit aller Kraft gegen die Scheibe, diesmal mit der Spitze zuerst. Das Glassplitternetz wölbte sich leicht nach innen.

Endlich schrillte der Alarm los.

Auch nach der Festnahme funktionierte ihr perfekt durchgeplantes Drehbuch einwandfrei. Sie war fünfzehn, hatte keine Vorstrafen, zeigte Einsicht und Reue, das war das Wichtigste. Doppelplus, dass sie keinen Widerstand geleistet hatte, als die Polizei kam. Der Anwalt betitelte es als Ausrutscher, als einen Moment, in dem sie die Kontrolle verloren habe. Kurzschlussreaktion, wegen des psychischen Stresses des vergangenen Jahres. Die Richterin glaubte dem Anwalt, der wiederum Noomi geglaubt hatte, und ging auf den Vorschlag ein, den sie selbst ihm eingeredet hatte. Für den Schaden musste sie aufkommen, aber das Verfahren wurde eingestellt. Und: Sie schickten sie in das Camp Feel Nature. Damit war sie ihrem Ziel endlich einen Schritt näher gekommen.

Ryan

Die Bäume atmeten.

Das war das Erste, was er wahrnahm, als er die Wagentür zögerlich öffnete und von seinem Sitz nach draußen glitt.

Herr Karl und Frau Plessner vom Jugendamt, die die ganze Autofahrt über ununterbrochen miteinander, aber nie mit ihm geredet hatten, waren bereits ausgestiegen. Auf dem einzigen weiteren Auto, das hier geparkt hatte, einem hellgrünen Transporter, leuchtete ein dunkelgrüner Schriftzug: Feel Nature. Links von Feel und rechts von Nature prangte je eine kleine Tanne. Der perfekte Platz für einen Sonntagsausflug.

Er hielt die Autotür umklammert und blieb so dicht am Wagen stehen, dass er durch die geöffnete Tür die Kühle der Klimaanlage spürte. Er sah seinen beiden Betreuern nach, die – noch immer ohne ihn zu beachten – über den winzigen Sandplatz zu einem Gewirr aus Büschen und Farnen strebten. Die Farne waren riesig. Der größte überragte sogar Herrn Karl, und der war sicher eins achtzig.

Scheinbar unbeeindruckt davon, ließen sie den Blick über das Gelände schweifen, in alle Richtungen, auch in den Wald.

Was suchten sie? War das der »Treffpunkt«, von dem sie im Auto gesprochen hatten? Und wenn ja, wo war dann dieser Jorek von Feel Nature, mit dem sie verabredet waren?

Seine Finger spannten sich fester um die Autotür. Er lehnte den Hinterkopf an das Autodach, reckte das Gesicht in die heiße Spätjunisonne, schloss die Augen. Griff nach dem Medaillon um seinen Hals, hielt es fest, versuchte, an nichts zu denken. Doch die Stimme seiner Klassenlehrerin drängte sich in seinen Kopf.

Warum sagst du nicht die Wahrheit? Wir wissen doch beide, dass du etwas verschweigst. Diese schreckliche Sache mit dem JugendclubDas sieht dir gar nicht ähnlich. Du warst doch niegewalttätig.

Sie hatte mehr zu sich selbst als zu ihm gesprochen, wie Erwachsene eben waren. Ihm gegenüber waren.

Ryan! Sprich mit mir. Es ist noch nicht zu spät. Du bist erst vierzehn.

Sekundenkurz hatte er sich vorgestellt, ihr alles zu erzählen, aber sie lag einfach falsch: Es war zu spät. Und zwar nicht erst seit der Sache mit dem Jugendclub. Schon viel, viel länger.

Wenn du mit mir redest, können wir das bestimmt noch geradebiegen. Dann musst du vielleicht gar nicht in dieses Camp.

Aber ich will dahin.

Er hatte es nicht laut ausgesprochen, doch es war die Wahrheit. Er wollte in das Camp. Ein Arbeitscamp für kriminelle Jugendliche, mitten in der waldreichen Felslandschaft des Elbsandsteingebirges. Er wollte diese sechs Wochen zwischen Tälern und Schluchten, egal, wie viel er dort schuften musste. Ganz einfach, weil er nicht mehr in seine Schule zurückkonnte, wo alle ihn für asozial hielten, monströs und stinkend.

Im Camp würde er jemand anders sein können als zu Hause – weg von allem: von den Mitschülern, seiner Mutter und der Wohnung, die eine Gruft geworden war. Weg auch von den Erinnerungen, die dort in jeder Ecke lauerten.

Mit aller Macht verbannte er die Stimme der Lehrerin aus seinem Kopf, öffnete die Augen und bemerkte in der Ferne die Sandsteinplatten, Tafelberge, die alles überragten. Selbst von Weitem wirkten sie rau und unzugänglich und strahlten doch eine unerschütterliche Ruhe aus. Versprachen Sicherheit. Das war genau, was er jetzt brauchte.

Erneut konzentrierte er sich auf das Medaillon in seiner Hand, bis da nichts mehr war als die Sonne auf seiner Haut. Das Rauschen in den Baumkronen. Das Hämmern eines Spechts. Und irgendwo in der Ferne das Summen der Straße, von der sie gekommen waren.

Er ließ das Medaillon los.

Herr Karl und Frau Plessner standen noch immer neben dem Riesenfarn und schienen zu beratschlagen, was zu tun war. Warum starrten sie so konzentriert in den Wald? Erwarteten sie, dass dieser Jorek aus dem Gebüsch brechen würde wie ein Tier?

Ryan löste sich von dem Auto, drückte die Tür vorsichtig zu und nahm zwischen den Stämmen am Waldrand eine Bewegung wahr. Etwas … Rotes. Ein Eichhörnchen! Es schaute sich um, maß den Platz mit flinkem Blick, dann huschte es darüber hinweg, geradewegs auf die Eiche an der gegenüberliegenden Seite zu. Hinter ihm staubte der Sand hoch.

Wie schnell es war, wie leicht es wirkte! Beinahe schwerelos schien es über den Boden zu sausen, erklomm den Eichenstamm, als bräuchte es dafür nur Geisteskraft und keine Krallen und Muskeln. Jetzt verharrte es. Er konnte nicht viele Bäume unterscheiden: Eichen, Kastanien und Birken, das bekam er hin, darüber hinaus wurde es schwierig. Aber er hatte es gemocht, wenn seine Eltern mit Brianna und ihm in die S-Bahn gestiegen und ins Umland gefahren waren. Damals, als alles noch gut gewesen, als ihre Welt noch nicht zusammengestürzt war. Sie waren auf laubbedeckten Pfaden durch den Grunewald gelaufen und seine Mutter hatte ihm etwas über die Pflanzen ringsum erzählt. Ihre Augen hatten geleuchtet, wenn sie ihm die Blattformen erklärt hatte, die Strukturen der Rinden und warum Moos immer an der Nordseite der Stämme wuchs. Sie hatte die Natur geliebt. Er wünschte, er hätte ihr besser zugehört, solange sie noch gesprochen hatte.

Behutsam tastete er nach dem Handy in seiner Hosentasche, doch gerade als er es hervorzog, dröhnte ein Motor heran. Das Eichhörnchen schien ihn ebenfalls zu hören, das Köpfchen zuckte herum, dann machte es einen Satz und verschwand in der Krone.

Ein SUV rollte auf den Parkplatz, Kienäpfel knackten unter seinen Reifen, als er auf der anderen Seite des Feel-Nature-Trans-porters zum Stehen kam.

Die vorderen Wagentüren öffneten sich und ein Mann und eine Frau stiegen aus. Sie schauten sich um, sahen ihn an, dann glitten ihre Blicke an ihm ab, als wäre er unsichtbar, und wanderten zu Herrn Karl und Frau Plessner. Die wandten sich erwartungsvoll dem Auto zu. Einen Augenblick lang geschah nichts, dann wurde die hintere Tür aufgedrückt.

Ein Mädchen, etwas älter als er selbst, sprang heraus. Sie trug ein umgedrehtes Basecap und dazu ein senfgelbes T-Shirt, auf dem rote Buchstaben verkündeten: Cereal Killer – Vegan & happy. Quer über dem Schriftzug verlief der Gurt einer zimtbraunen Bauchtasche, die sie so umgehängt hatte, dass sie unter ihrem Arm hing. Instinktiv duckte er sich – ein Reflex, der ihn selbst überraschte.

Aus der Deckung heraus beobachtete er, wie sie die Kofferraumklappe öffnete und mit finsterem Gesicht ein Gepäckstück nach dem anderen herauszerrte. Der Mann schaute ihr ein wenig hilflos dabei zu, die Frau hingegen steuerte geradewegs seine Betreuer an.

»Guten Tag«, rief sie mit piepsiger Stimme, als sie den halben Weg zurückgelegt hatte. »Sie sind bestimmt von Feel Nature? Wir bringen Olympe.«

Er glaubte, sich verhört zu haben. Olympe? Was war denn das für ein Name?

Unter dem Basecap lugten ein paar kurze kupferfarbene Haarsträhnen hervor. Selbst ihre offenkundig schlechte Laune konnte nicht verbergen, dass sie Lachgrübchen hatte. Wieso musste die wohl ins Camp? Kriminell wirkte sie nicht gerade.

Auf ihrer Stupsnase saß eine große, runde, goldgerahmte Brille und sie trug an jedem Finger einen Ring. Nicht nur unten, wo Ringe hingehörten, sondern auch oberhalb des ersten Knöchels. Wenn sie sich bewegte – und sie bewegte sich viel -, glitzerte sie.

»Nein, wir sind nicht von Feel Nature. Wir sind vom Jugendamt«, antwortete Frau Plessner. »Wir warten auch noch.«

Als wäre das ein Stichwort gewesen, tauchte zwischen den Bäumen ein weiteres Mädchen auf. Tarnfarbene Shorts und ein tarnfarbenes T-Shirt. Sie winkte Herrn Karl zu.

Ryan tauchte zurück hinter das Auto. Wer war das jetzt schon wieder? Seine Erleichterung darüber, hier im Camp sein zu dürfen, verflog, als ihm dämmerte, vor wie vielen fremden Leuten er sich würde behaupten müssen. All die Fragen, die Blicke. Das Abgecheckt- und Eingeordnetwerden. Trotz der Hitze wurde ihm kalt. Vielleicht würde er total versagen.

Nein, das hier ist deine Chance, ermahnte er sich. Die Chance, die er an seiner Schule nicht mehr hatte. Da sahen alle in ihm den stinkenden Spinner. Sobald er den Klassenraum betrat, rümpften sie die Nase und rissen demonstrativ die Fenster auf.

Er war aus der Schublade nicht mehr herausgekommen, egal, was er versucht hatte.

Das hier war der Ausweg. Ein Neubeginn. Keiner kannte ihn. Sie wussten nichts. Er würde endlich er selbst sein können.

Unruhig blickte er sich um. Wo blieb dieser Jorek?

Wenn der sie vergessen hätte, müsste er wieder zurück. Zurück in die Schule, in die Schublade. Und zurück nach Hause, zu seiner Mutter, in die düstere Wohnung, deren Schatten nach allem schnappten, was noch am Leben war …

»Ryan, kommst du?«, rief da Frau Plessner.

Er straffte sich, trat hinter dem Auto hervor und ging auf die kleine Gruppe zu.

»Hey, guten Tag. Ich leite das Camp.« Das tarnfarbene Mädchen streckte ihm die Hand entgegen. Das ist gar kein Mädchen, stellte er verblüfft fest, sondern eine erwachsene Frau. »Ich bin Sophia Jorek.«

Camp-Leitung: S. Jorek hatte im Schreiben des Jugendamts gestanden. S wie Simon, Sükan, Sebastian. Ein Mann, natürlich (S wie Superman), mit der Figur eines Schrankes (S wie Schrank), schließlich musste er ein Camp voller Krimineller leiten.

Aber S wie Sophia?

Er fühlte sich … betrogen. Schnell, um sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, schüttelte er ihre Hand.

»Ryan, nehme ich an?« Immer noch stumm nickte er. Sie wandte sich an das Cereal-Killer-Mädchen. »Und du bist also Olympe?«

»Ja, hi«, antwortete diese Olympe. Und dann sprudelte sie los: »Ganz schön heiß. Puh. Und wir hätten’s fast nicht pünktlich geschafft, weil’s da diesen Megastau auf der A13 kurz vor Dresden gab. Aber dann ging’s glücklicherweise doch noch weiter. Zumindest bis …«

»Jetzt bist du ja da.« Sophia Jorek drehte dem Wasserfall rigoros den Hahn zu.

Je länger Ryan die Campleiterin beobachtete, desto mehr wunderte er sich, wie er sie für ein Mädchen hatte halten können. Sie wirkte nur von Weitem jung; von Nahem erkannte er, dass sie im Alter seiner Mutter sein musste. Oder doch nicht? Gerade warf sie einen zufriedenen Blick auf seinen Rucksack und schaute dann – missbilligend – auf Olympes Gepäckberg. Schließlich seufzte sie, wühlte eine große Plane aus ihrem Rucksack und breitete sie auf dem Boden aus.

»Okay, Taschencheck. Auch die Hosentaschen bitte.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte sie seine sieben Duschgels, die Rosenlotion und die Deos, sagte aber nichts. Dafür kassierte sie sein Handy ein. Er hatte keine Kraft, sie dafür zu hassen. Im Gegensatz zu Olympe, die beinah durchdrehte, als sie ihr Arsenal an elektronischen Geräten abgeben musste. Hatte sie in den Infopapieren nicht gelesen, dass Geräte aller Art im Camp verboten waren? Und dass sie nur eine Tasche und ein Handgepäckstück mitnehmen durften?

Statt Olympes Schimpfen zu lauschen, die das wenige, was sie mitnehmen durfte, in eine einzige Tasche umpackte und einen hippen Rucksack mit Büchern vollstopfte, legte er den Kopf in den Nacken. Er verlor sich im Kachelblau des Himmels, über das harte weiße Wolken hinwegzogen, und blendete alles andere aus.

Olympe

Nicht aufregen, beschwor sie sich, durchatmen. Du hast schon ganz andere Sachen geschafft! Aber ganz ehrlich: Die Campleiterin hatte sie doch nicht mehr alle!

Es war halb drei, unter ihr glühte der Sandplatz, über ihr der Himmel. In den Bäumen ringsum schien eine komplette Vogelarmee zu hausen; ihre Schreie zerstachen die Luft.

Nach der Klimaanlage im Auto war die Luft draußen fast unerträglich. Über vier Stunden hatten sie von Berlin bis hierher gebraucht. Sie waren zu den Reggae-Rhythmen aus den Boxen gefahren, die Stefan auf dem Lenkrad mitklopfte – offenbar hatte er eine Olympe-Aufheiterungs-Playlist zusammengestellt. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Marie sie auf ein Schild am Straßenrand hingewiesen: Sächsische Schweiz – Willkommen im Land der Zauberfelsen.

Ab da war die Straße schmaler geworden, hatte sich zwischen Felsen hindurchgewunden, rechts und links Bäume aller Sorten und Größen. Die Spitzen der zerklüfteten Berge, die zwischen den Baumkronen aufragten, imponierten ihr. Diese Felsen wirkten wie riesige Urtiere, die, vor Jahrtausenden versteinert, jetzt ihrem Blick trotzten – Ehrfurcht gebietend und stumm.

Doch bevor sie sich intensiver auf das Gefühl einlassen konnte, das die geriffelten Sandsteinkolosse in ihr auslösten, hatte Marie sich zu ihr umgedreht: »Wenn irgendwas ist, ruf uns einfach an, ja?« Zwei Reggae-Titel später: »Deine Allergietabletten sind in dem roten Koffer, vergiss nicht, ein paar in deine Bauchtasche zu stecken, du solltest sie immer bei dir haben.« Zwei weitere Songs später: »Dass sie dich deshalb so behandeln … Als hättest du jemanden umgebracht! Also, ganz ehrlich … das ist doch total übertrieben, oder, Stefan?«

Ihr Onkel trommelte und murmelte Zustimmung.

Die Situation machte ihrer Tante so sehr zu schaffen, dass Olympe sich zum wiederholten Mal dafür verfluchte, ihre große Klappe nicht gehalten zu haben. Denn hätte sie das getan, müsste sie jetzt nicht hier sein! In diesem zugewucherten Nirgendwo.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie sanft zu Marie. »Es sind nur sechs Wochen. Ich … ich krieg das schon hin.«

Der Rest der Fahrt war ruhig verlaufen. No Women, No Cry aus den Boxen, dann Silly Games. Darüber Maries Stimme, die sie mit Wikipedia-Infos zu ihrem Gefängnis abzulenken versucht hatte. Als hätte sie nicht selbst schon hundertmal gegoogelt und sich Fotos angeschaut. Know your enemy.

Die Sächsische Schweiz lag südöstlich von Dresden – gigantische 60.913,3 Hektar Wald, umgerechnet etwa 85.000 Fußballfelder und damit noch immer jenseits ihrer Vorstellungskraft. Groß eben. Sehr groß. Voller uralter Festungen, die aus Gestein herauswuchsen, und gespickt mit bizarren Felsformationen, die Winterberg oder Lilienstein hießen. Das besondere Klima ließ angeblich Pflanzen wachsen, die man sonst nur im Hochgebirge fand, und es gab Wanderwege mit wenig vertrauenerweckenden Namen wie Höllenschlund und Wolfsschlucht. In der Wolfsschlucht spielte sogar eine berühmte Opernszene, stand bei Wiki. Die Oper hieß Der Freischütz. Olympe hatte keinen Schimmer von Opern, aber beeindruckend war das alles trotzdem.

Jetzt stand sie mittendrin, in diesem mysteriösen Land, das eher nach Märchen klang. Mit fremden Leuten, bei mindestens dreißig Grad, in einer unendlichen Waldwüste. Es roch nach Staub und Tannen und sie sah fassungslos dabei zu, wie die Campleiterin Marie und Stefan ihr gesamtes elektronisches Survivalset in die Hand drückte.

Bis eben hatte sie die Geräteregel im Infobrief so wenig ernst genommen wie einen drohend erhobenen Zeigefinger, aber Sophia Joreks schroffer Tonfall machte unmissverständlich klar, wie naiv das gewesen war.

»Nicht mal das Handy?«, japste Marie. »Wie soll sie uns dann …?«

Sie sprang ihrer Tante bei: »Gar keine Geräte? Das ist doch vorsint…«

»Gar keine.« Sophia Jorek war offensichtlich eine Frau der klaren Worte. »Keine Ablenkung. Das Motto der nächsten Wochen lautet: Arbeit, Betreuung, Natur.«

Willkommen im Land der Zauberfelsen, dachte Olympe und war, was so gut wie nie vorkam, sprachlos. So sprachlos, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als die Betreuerin anzustrahlen.

Das war ihr persönlicher Trick 17: Wenn du jemanden finster anschaust, schaut der genauso finster zurück. Automatisch. Das liegt an den Spiegelneuronen, hatte ihr Marie erklärt und Marie klang zwar piepsig, aber sie wusste viel, vor allem über Menschen, weil sie nämlich Therapeutin war. Spiegelneuronen sorgten dafür, dass man das, was man am Gegenüber sah, unbewusst imitierte. Was bedeutete: Wenn du jemanden angrinst, kann der gar nicht anders, als zurückzugrinsen. Und sofort hebt sich die Stimmung. Auf beiden Seiten.

Ein Zaubertrick. Normalerweise.

Sophia Jorek grinste nicht. Sie warf einen Blick auf Olympes Bücherrucksack und sagte: »Du weißt schon, dass du das alles durch den Wald tragen musst?«

Ihr Tausend-Volt-Strahlen bröckelte. Verunsichert suchte sie Maries Blick. Das konnte doch nicht wahr sein! Besaß diese Frau keine Spiegelneuronen?

»Dein Kollege kommt sogar mit einem Gepäckstück aus!«

Kollege? Sie sah auf den Jungen, der neben ihr stand und nach oben in den Himmel starrte, als wäre er nicht ganz dicht. Wie hieß der noch mal? Ryan? Was für ein bekloppter Name.

Sie überlegte gerade, ob sie auf eins der Bücher verzichten könnte, als ein weiterer Wagen auf den Parkplatz fuhr. Frau Jorek sah auf die Uhr. »Das wird Noomi Goldstein sein. Es wird Zeit! Um vier sollten wir im Camp sein. Wir kommen zu spät.«

Überrascht linste Olympe auf ihr eigenes Handgelenk. Die Uhr! Sophia Jorek hatte tatsächlich die Smartwatch übersehen. Galt die nicht als Gerät? Unauffällig öffnete sie das Armband, tat, als müsste sie sich die Schuhe zuschnüren und stopfte die Uhr in ihre linke Socke. Wenigstens etwas, dachte sie.

Flix

Der Geruch ging gar nicht. Kaum dass er die Tür geöffnet hatte, hielt er die Luft an. Erst nach einer Weile atmete er vorsichtig wieder ein. Obwohl die Hütten erst im letzten Sommer renoviert worden waren, roch es nach jahrzehntelang ungelüftetem Keller, nach ganz hinten im Kühlschrank vergessenem Joghurt und feuchter Traurigkeit. Es roch nach organisierten Jugendfreizeiten und Heimweh. Diese Hütte hatte eindeutig zu viel erlebt und zu wenig davon verarbeitet.

Es kostete ihn Überwindung, einzutreten und die Tür loszulassen, die sich sofort knarrend hinter ihm schloss. Er ließ den Rucksack fallen und verschränkte die Finger ineinander, drehte die Handflächen nach vorne und drückte, bis es knackte.

Draußen auf der Lichtung brannte die Sonne und alles badete im Licht. Hier drinnen war es dunkel. Reflexartig tastete er nach dem Lichtschalter, und als er keinen fand, fiel es ihm wieder ein: In den Schlafhütten gibt es keinen Strom. Das hatte im Infobrief gestanden.

Nur durch das Fenster gleich neben der Tür drang etwas Licht nach drinnen – und durch ein weiteres helles Viereck gegenüber der Tür. Ein weiteres winziges helles Viereck. Mit wenigen Schritten durchmaß er den Raum und riss das Fenster auf, das eine uneingeschränkte Aussicht auf … den Wald bot. Kurz sah er hinaus, dann lehnte er sich enttäuscht an die Wand neben dem Fenster. Was hatte er erwartet? Seeblick?

Als seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, inspizierte er den Rest des Raumes. Direkt neben ihm gab es eine weitere, kleinere Tür, die höchstwahrscheinlich zum Klo führte. Er wollte sie noch nicht öffnen, noch nicht herausfinden, was genau das Wort Komposttoilette, das Frau Jorek stolz und gleich mehrfach benutzt hatte, eigentlich bedeutete. Es klang nach einem riesigen Misthaufen.

Okay, weiter.

Drei Betten. Schön verteilt an drei Wänden. Über jedem hing ein Regal, am Fußende stand eine Art Hocker Schrägstrich Nachttisch Schrägstrich Keine-Ahnung-Was.

Es dauerte einen Moment, ehe er begriff, dass die Zimmerwand, an der er gerade lehnte, eine exakte Kopie derer war, auf die er schaute. Ein Bausatz, dachte er hämisch. Hausbau für Anfänger. Anfangswand: Tür links, Fenster rechts, zwei Seitenwände, Endwand: Tür links, Fenster rechts. Dach drauf. Klokabuff außen dran. Fertig.

»Richte dich schon mal ein«, hatte Frau Jorek gesagt, nachdem sie ihn nach einer ewigen Wanderung hier abgestellt hatte. »Ich muss die anderen holen.«

Die anderen. Die musste sie wahrscheinlich nicht am Bahnhof einsammeln, die wurden bestimmt von ihren Eltern gebracht. Als Flix seinen Vater gefragt hatte, ob er ihn fahren würde, hatte der die Zeitung gesenkt und gelacht. »Als ob ich dafür Zeit hätte!« Und, während er die papierne Buchstabenmauer wieder zwischen ihnen errichtete: »Du hast dir das eingebrockt, mein Sohn, jetzt sieh zu, wie du dich da wieder rauslavierst.«

Sein Vater benutzte dauernd solche Worte. Evaluieren, präferieren, rauslavieren. Hauptsache, es klang wichtig.

Richte dich schon mal ein.

Als könnte man sich in diesem Klonding einrichten.

Er sah erneut aus dem Fenster. Bäume, Bäume, Bäume, so weit das Auge reichte, und hier drinnen – offenbar damit man keine Sekunde lang vergaß, wo man war – bestand auch alles aus Baum. Die Betten: aus Baum. Der Tisch: aus Baum. Die komischen Stühle, die eher Stämme mit Lehne waren und so wuchtig aussahen, dass sie sich garantiert keinen Millimeter verschieben ließen: Baum. Und nicht zu vergessen: die Baukastenwände. Er legte den Kopf schief. Wie viele Bäume ergaben eine Wand, wenn man sie übereinanderstapelte und an den Ecken miteinander verzahnte?

Sechs Wochen. Hier!

Allein der Name des Camps: Feel Nature. Pseudo-Wellness-Psycho-Mist!

Er sog die warme Waldluft ein, die durch das Fenster neben ihm hereinströmte. Ja gut, das roch nicht schlecht, nach Gras und so, trotzdem hätte er viel dafür gegeben, jetzt Smog zu riechen. In Berlin zu sein, an seinem eigenen Fenster zu stehen, das acht Meter höher lag als dieses hier, unter sich die pulsierende Leipziger Straße, das Rauschen der Autos, das Kreischen der Alarme. Stattdessen das hier.

Feel Nature.

Natur brauchte er nicht, sie machte seinen Kopf zu voll – all das Grün und Braun und die Vögel hinderten ihn am Denken. Und fühlen wollte er sie erst recht nicht. Vor allem nicht in Form von muffigen Holzhütten und schon gar nicht in Form von Insekten.

Er hasste Insekten. Spinnen besonders, auch die durchsichtigen mit den killerlangen Beinen, wie die, die über dem Bett neben der Eingangstür lauerte.

Dieses Bett wäre seine erste Wahl gewesen, es stand in perfekter Position, um schnell abhauen zu können. Wer wusste schon, mit was für Schlägertypen sie ihn hier einquartierten. Aber gut. Eher würde er sich den Weg notfalls freiprügeln, als unter einer Spinne schlafen. Er entschied sich für das Bett an der rechten Wand, dessen Kopfende gleich unter dem zweiten Fenster lag.

Mit dem Fuß kickte er seine Sporttasche mit allem, was die Inspektion durch Frau Jorek überstanden hatte, in Richtung Bett, lief hinterher und ließ sich auf die Matratze fallen. Die war überraschend bequem und schien, immerhin, neu zu sein. Na, nicht ganz neu. Aber da er erst in der zweiten Gruppe war, die dieses bescheuerte Resozialisierungsprojekt aufgedrückt bekommen hatte, war die Chance groß, dass die Matratze noch nicht durchsuppt war von Schweiß und Gestank und anderen Dingen, über die er nicht näher nachdenken wollte.

Er stopfte sich das noch unbezogene Kissen unter den Kopf und betrachtete das Regalbrett direkt über sich (auch aus Baum, klar, ein grobes Brett im Grunde nur, man sah die Astlöcher). Vermutlich sollte das Teil als Schrankersatz dienen, denn Schränke gab es nicht. Immer schön transparent bleiben und bloß keine Privatsphäre aufkommen lassen.

Er zog die beiden Zettel, die Frau Jorek ihm in die Hand gedrückt hatte, hervor, und faltete den ersten auf.

Willkommen bei Feel Nature!

Auch wenn du nicht freiwillig hier bist – wir freuen uns auf die Zeit mit dir.

Heute, am Tag eins deines Aufenthalts, gehen wir es langsam an:

Komm an, richte dich ein und lern die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennen.

Um 16: 30 Uhr gibt es eine Kennenlernrunde vorm Haupthaus, um 18 Uhr essen wir zu Abend.

Bis nachher!

Sophia Jorek, Gunnar Wildner und Lara Uhlich

Sophia Jorek hatte er sofort erkannt, als sie ihn am Bahnhof abgeholt hatte. Er hatte ihr Bild schon auf der Website des Camps gesehen. Pädagogische Leitung stand darunter. Allerdings wirkte sie jünger als auf dem Foto. Sie hatte, was er schön fand, weit auseinanderstehende Augen. Wie Juliane.

Er dachte an Julianes Gesicht, ihre Haare, daran, wie sie sich bewegte, und sofort stürmte Sehnsucht seinen Körper, jede einzelne Zelle. Er dachte an ihren Blick, als er ihr beichtete, was er getan hatte. Er schmerzte ihn immer noch, dieser Blick. Er war so ein Idiot gewesen. Und jetzt saß er hier, in der Pampa, ohne Kontakt zu ihr. Er hasste sich.

Flix ließ das Blatt sinken und suchte die Decke nach weiteren Spinnen ab, bis er wieder normal atmete. Gunnar Wildner – von dem hatte er auch ein Bild gesehen. Der war nicht nur Sozialarbeiter, sondern auch Zimmermann und betreute den »handwerklichen Teil« des Projekts. Er war ungefähr so alt wie sein Vater. Allerdings sah er im Gegensatz zu seinem Vater freundlich aus, mit vielen Falten und einem Lächeln, das echt wirkte. An eine Lara Uhlich konnte er sich nicht erinnern.

Dafür an die vielen Fotos auf der »Historie«-Seite des Camps. Von früher, als es noch nicht diesen albernen Namen trug, sondern schlicht FDGB-Heim Sächsische Schweiz geheißen hatte. Sie stammten aus einer Zeit, lange bevor Flix geboren war, und endeten kurz nach der Wende, als das Heim dichtgemacht hatte.

Es gab sicher zwanzig Schwarz-Weiß-Fotos von Bäumen und schroffen Felsen und auch von Bäumen, die aus diesen Felsen herauswuchsen. Genauso wie von Familien mit Kindern, die durch den Wald marschierten, Stockbrote über einem Lagerfeuer verkohlen ließen und in extrem uncoolen Badehosen von einem Steg in eine Art Waldsee sprangen.

An dem Gewässer waren sie auf dem Weg hierher vorbeigekommen. Allerdings hatte es weniger verlockend ausgesehen als auf den Fotos, kein Badesee, eher eine Art Sumpfloch. Auf dem schlammbraunen Wasser hatte Laub geschwommen und es hatte bestialisch gestunken. Er hatte sein Shirt über die Nase gezogen, ohne Erfolg. Führte da ein Abflussrohr rein? Von dem kleinen Steg waren nur noch die Pfosten übrig. Frau Jorek musste seinen Ekel bemerkt haben, denn sie hatte gelächelt und gesagt: »Ich schwimm fast jeden Tag drin.« Mit Mühe hatte er sich ein Würgen verkniffen. »Ist ein Quelltümpel, daher auch der Geruch. Mineralien. Sehr gesund. Ist herrlich, wart mal ab!«

Na danke.

In der Fotostrecke »Wiederaufbau« gab es Bilder von ihr, wie sie mit Anzugträgern sprach, Papiere unterzeichnete und schließlich, sichtlich stolz und mit einer Schaufel in der Hand, vor dem Schild Feel Nature posierte.

Sie schien also von Anfang an dabei gewesen zu sein, als das Land Sachsen vor zwei Jahren begonnen hatte, die Anlage zu restaurieren. Dann, im letzten Sommer, hatten die ersten »jugendlichen Straftäter« das Camp bezogen. Von denen gab es keine Fotos, Datenschutz, vermutete er, aber wie sich der Ort positiv veränderte, als sie hier zu schuften begonnen hatten, fiel ihm sofort auf. Die mussten extrem rangeklotzt haben in den paar Strafwochen.

Er mochte vielleicht nicht besonders geschickt darin sein, sich von falschen Freunden fernzuhalten, aber zwischen den Zeilen lesen konnte er perfekt. Außerdem gaben sich die Betreiber nicht viel Mühe, ihre Intention (noch so ein Vater-Wort) zu verbergen: Als er auf der Website den Menüpunkt Ziel des Camps angeklickt hatte, war ihm schnell klar geworden, dass das ganze Gerede von »Resozialisierung« oder »Stärkung der sozialen Fähigkeiten« und von dem »Ort für Rückbesinnung und gruppendynamische Projektarbeit« nur eine Ausrede war. Was sie hier brauchten, waren billige Arbeitskräfte.

Resozialisierung. Das Wort hatte die Richterin auch benutzt, mehrfach sogar, als sie ihm seine Strafe – den Platz im Camp – präsentiert hatte wie einen Hummer auf dem Silbertablett. Resozialisierung klang, als wäre er vollkommen asozial, aber es bestünde noch ein Hauch Hoffnung. Flix kannte nur einen in seiner Familie, der asozial war. Nur einen.

Und was die Arbeitsstunden anging – verschleierte Sklavenarbeit war das! Man hatte dem Camp kurzerhand einen esoterischen englischen Namen gegeben und die Jugendlichen durften, statt im Strafvollzug zu sitzen, Blockhütten renovieren. Alles am Arsch der Welt, gleich an der Grenze zu Tschechien, wo es nichts gab als Bäume, Felsen und Gestrüpp.

Dabei war er, wenn er seinem Vater glaubte, mit einer erstaunlich milden Strafe davongekommen. An dessen Einfluss hatte es nicht gelegen, der hatte sich geweigert, seine Kontakte für ihn spielen zu lassen. Warum er als Berliner Jugendlicher also ausgerechnet hier im sächsischen Wald gelandet war statt in Haft, war ihm ein Rätsel.

»Wahrscheinlich ein Sozialexperiment«, hatte sein Vater gemutmaßt. »Sie stecken Delinquenten aus verschiedenen Stadtteilen und Milieus zusammen und schauen, was passiert. Gratuliere, mein Sohn.« In seiner Stimme nichts als Verachtung. Flix schauderte bei der Erinnerung daran.

Auf dem Fensterbrett landete eine Amsel. Sie starrte zu ihm hinein, und als er sich bewegte, zischte sie davon.

Berlin war knapp dreihundert Kilometer entfernt, aber gefühlsmäßig hätte Feel Nature auch auf einem anderen Kontinent liegen können. Weiter weg konnte man sich von der Großstadt nicht fühlen.

»Muss ja«, hatte Diana, seine Stiefmutter, gesagt, »damit sie euch aus euren Strukturen lösen.«

Seine äußere Struktur, das waren die Jungs in der Schule, seine innere war Juliane.

Er hatte Diana von ihr erzählt, niemandem sonst. Am Anfang hatte er sie verachtet, dann bemitleidet. Erst nach seiner »Dummheit« (wie sein Vater es nannte), als er Hausarrest bekam und Diana zu seiner Überwachung abkommandiert wurde, begann er, sie zu mögen. Sie brachte ihn jeden Tag zur Schule und holte ihn wieder ab – nicht ohne sich tausendfach dafür zu entschuldigen. Was hätte sie sonst tun sollen? Seinem Vater, ihrem Mann, nicht zu gehorchen, war keine Option. Sie waren gefangen, beide, wenn auch auf verschiedene Arten.

Eines Tages, als er besonders aufgewühlt aus der Schule kam, hatte er sich ihr anvertraut. Und sie schien es zu genießen, mit ihm gemeinsam ein Geheimnis vor seinem Vater zu haben: Juliane.

X

Endlich!

Ich habe so lange warten müssen, so lange!

Aber als sie aus dem Wald auf die Lichtung treten, weiß ich, dass sich das Warten gelohnt hat.