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Die selbstbewusste Kerze ist gerade noch ein Kind. Sie lebt in einem kleinen, von Wald und Feldern umgebenen Dorf, das nur noch wenige Bewohner hat. Doch Kerze verteidigt ihr Dorf gegen den Schwund, sie ist hier fest verwurzelt. Eines Tages geht Power verloren, der Hund einer Nachbarin. Die Hitschke ist verzweifelt – seit ihr Mann nicht mehr da ist, lebt sie allein. Kerze macht sich auf die Suche nach Power und verspricht, den Hund zurückzubringen. Koste es, was es wolle. Denn Kerze hält, was sie verspricht. Immer! Sie geht methodisch vor, durchstreift das Dorf und die Felder, tastet sich immer näher an Power heran. Beobachtet wird sie dabei von den Kindern des Dorfes, die sich ihr nach und nach anschließen. Ein ganzes Rudel bildet sich, das bellend und auf allen vieren Powers Fährte aufnimmt. Als klar wird, dass sie ihn nur außerhalb der Dorfgemeinschaft finden können, verlassen die Kinder das Dorf und ziehen in den Wald.

Mit außergewöhnlicher Sprachmacht, Scharfsinn und mit enormem Einfühlungsvermögen erzählt Verena Güntner davon, was mit einer Gemeinschaft geschieht, die den Kontakt zu ihren Kindern verliert. ›Power‹ führt hinein in den Schmerz derer, die zurückbleiben, und zeigt mit großer Kraft, was es braucht, um durchzuhalten, weiterzumachen und Sinn zu finden in einer haltlos gewordenen Welt.

Autor

© Stefan Klüter

Verena Güntner, 1978 in Ulm geboren, spielte nach ihrem Schauspielstudium viele Jahre am Theater. Ihr Romandebüt ›Es bringen‹ (2014) wurde für die Bühne adaptiert und mit dem deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Verena Güntner erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. den Kelag-Preis beim Bachmann-Wettbewerb und das Berliner Senatsstipendium. Sie lebt in Berlin.

VERENA
GÜNTNER

POWER

Roman

The rocks in our hands
preparing for flight

 
Peter Broderick

 

KERZE STEHT BARFUSS am Eingang des großen Kaufhauses. Sie hört das Rauschen der Lüftungsanlage über ihrem Kopf, sieht, wie die Leute an ihr vorbeiziehen und die großen Glastüren aufstoßen, sich in Gängen verlieren, hinter Regalen mit Parfüm und mit Cremes verschwinden. Immer wieder kehrt Kerzes Spiegelbild in der auf und zu schwingenden Tür als ruhender Pol zurück. Sie steht ganz still. Die blonden, dünnen Haare hängen in verklebten Strähnen über ihre Schultern. Paulis Pullover ist ihr zu groß, aus den Ärmeln schauen nur die Fingerspitzen heraus, und die kurzen Hosen, die bei Henne weit oberhalb des Knies enden, reichen ihr bis zu den Waden. Schmutzig sind die Waden, schmutzig und verdreckt, wie ihr Gesicht, ihre Hände und Füße. Die Leute machen einen Bogen um Kerze, weichen ihr aus, in der Scheibe ist das deutlich zu sehen, wie auch die Taube deutlich zu sehen ist, die vor dem Kaufhauseingang auf und ab läuft, den vielen Schuhen auszuweichen versucht, manchmal nervös die Flügel spreizt und ein paar Zentimeter über den Boden flattert. Kerze folgt ihr mit dem Blick, die Taube humpelt leicht, ein Fuß hat sich in einer Plastikschnur verfangen. Fest ist die Schnur um den Fuß, um die Krallen gezurrt. Da ist keiner, der ihr das abmacht, denkt Kerze, keiner, dem die Taube wichtig genug ist, also verkrüppelt ihr Fuß, und sein Wuchs beugt sich der Schnur. Sie wartet darauf, dass die Taube ein Schlupfloch findet, ihren sinnlosen Slalom beendet, und greift, als alles Warten nichts nützt, hinter sich nach ihrem Schwanz, wickelt ihn dreimal um die rechte Hand, bis die Zweige tief ins Fleisch schneiden, und schlägt ihn seitlich mit großer Kraft auf den Boden. Die zusammengebundenen Weidenzweige knallen auf das Marmorimitat, das bis zum Eingang des Kaufhauses reicht. Die Taube, davon aufgescheucht, hopst flatternd hin und her, und Kerze schlägt so lange, bis sie trudelnd nach oben fliegt, es über die Köpfe der Passanten schafft, mit geducktem Köpfchen knapp unter dem Vordach hindurchgleitet und sich jäh in den Himmel erhebt. Kerze schaut ihr nach, löst gerade die Hand von ihrem Schwanz, als ein Mann kommt, der Wut in sich trägt und sie im Vorbeigehen rammt. Kerze, die die Stadt und Kaufhäuser hasst, stürzt einer Glastür entgegen, fällt hinein ins laute, ins grelle Bling Bling.

ERSTER TEIL

EINS

»Kerze«, ruft jemand, und sie dreht sich nicht um. Lässt die Person aufschließen, denn sie kommt keinem entgegen, nicht mal mit einem Kopfdrehen.

»Kerze«, ruft wieder jemand, und dann merkt sie, dass es die Stimme von der Hitschke ist, und sie bleibt stehen und wartet, denn die Hitschke hat einen schlechten Fuß, ein bisschen fußbehindert ist die, und dafür kann sie ja nun mal nichts.

»Kerze!« Sie ist außer Atem. »Kerze, hast du Power gesehen?«

Kerze schüttelt den Kopf: »Warum?«

»Power ist weg.«

Die Hitschke ist um Kerze herumgelaufen, steht jetzt vor ihr und stützt die Arme in die Seiten. Ihr Gesicht ist rot wie ein Hühnerarsch oder wie Haut, auf die lange jemand mit der flachen Hand eingeschlagen hat.

»Seit gestern ist Power weg, und ich weiß nicht, wo er ist.« Sie fängt an zu heulen.

Kerze streckt einen Arm aus und stoppt sie mit der Hand. Heulen geht nicht für Kerze, die Hitschke weiß das ganz genau, und sie hört sofort auf.

»Hitschke«, sagt Kerze, »wenn Power seit gestern wirklich weg ist, dann werd ich ihn jetzt suchen. Das geht nicht, dass Power weg ist, wir beide wissen, dass das nicht geht.«

Die Hitschke nickt heftig. »Heißt das, du nimmst den Auftrag an?«

»Natürlich nehme ich den Auftrag an.«

Die Hitschke lächelt dankbar und wischt sich den Tränenrotz an ihrem Jackenärmel ab. Kerze hebt drohend einen Finger in die Luft.

»Entschuldigung, ich hab kein Taschentuch.«

»Trotzdem. Kein Grund!«

Sie nickt, die Hitschke. »Ich mach’s nie mehr«, flüstert sie, aber ihre Stimme ist schon wieder kurz davor zu brechen.

Kerze fragt sie, wo sie Power zuletzt gesehen hat. Vor dem Edeka. Sie fragt sie, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hat. Um kurz nach zwei. Sie fragt sie auch noch, ob er angeleint war, ja, und ob er sein Jäckchen angehabt hat, auch ja. Dann legt sie den Zeigefinger auf den Mund und sagt: »Hitschke, das reicht, mehr Infos brauche ich nicht. Geh nach Hause, schau was im Fernseher. Stell das Telefon vor dich auf den Couchtisch, ich rufe dich an, sobald ich ihn habe.«

Sieben Wochen lang hat Kerze Power gesucht. Am Ende hat sie ihn gefunden. Natürlich war er tot und von Maden zerfressen. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie ihn gefunden und zurückgebracht hat. Denn das ist das, was Kerze am besten kann: Versprechen halten. Jeder im Dorf weiß das, und deshalb kommen die Leute zu ihr. Beauftragen sie, wenn sie bei einer Sache nicht weiterwissen, trauen ihr zu, dass sie das schafft, dass sie alles schafft, was sie einmal zugesagt hat. Weil sie Kerze ist. Ein Licht in dieser rabenschwarzen Welt.

Erst fragt Kerze natürlich alle Leute im Edeka. Sie fragt die Erika an der Kasse, sie fragt die Frau an der Wurst- und Käsetheke. Sie klingelt an einer Klingel neben dem Flaschenautomaten und sagt: »Ich möchte den Geschäftsführer sprechen.« Der Geschäftsführer hat keine Zeit und keine Ahnung, wer Power ist. Er wohnt nicht hier im Dorf, kommt jeden Morgen aus der Stadt mit einem silbergrauen Honda, mit dem er immer halb auf dem Gehweg parkt. Er schiebt sie zur Seite in den Gang mit den Spirituosen. Sie geht ihm nach, bis er vor dem Kühlregal stehen bleibt und anfängt, Joghurts zu zählen. Sie starrt ihn die ganze Zeit dabei an, denn er erscheint ihr sehr verdächtig, und irgendwann sagt er: »163, passt«, und dreht sich zu Kerze um. »Diesen scheiß Köter hab ich nicht gesehen, und jetzt verzieh dich.« Seine Mundwinkel zucken aggressiv, als er das sagt. Oder vielleicht auch nur, weil er Hunger hat, denkt sich Kerze. Natürlich geht sie nicht, nicht gleich. Sie läuft ihm noch ganze drei Minuten hinterher, bis sie sich sicher ist, dass er Power nicht hat. Denn das kann ja nicht er, das kann nur Kerze entscheiden, ob sie ihm glaubt oder nicht.

Draußen bleibt sie erst mal vor dem Edeka stehen. Sie schaut sich jeden Einzelnen, der hineingeht, ganz genau an. Es kommt die Lisa, die gerade erwachsen geworden ist. Es kommt der Mazur, der einen Hut aufhat, und es kommt ein Kind, das sie nicht kennt, das jünger ist als Kerze und in der Eistruhe wühlt. Kerze steht neben der Tür und geht bei allen einen Schritt vor, damit sie ihr ausweichen und ins Gesicht schauen müssen. Denn dass jemand böse ist und Hunde klaut, kann Kerze daran erkennen, dass die Augen klein sind. »Kleine Augen«, sagte ihre Oma immer, »sind ein Zeichen dafür, dass ein Mensch böse ist.« Und Kerze findet, dass sie damit recht hatte. Sie kennt nämlich den Huber, der böse ist, sie kennt die Kerstin, die böse ist, und kennt die Schillerzwillinge von nebenan, die böse sind, und alle haben winzig kleine Augen. Augen haben die, an die Kerze manchmal kurz vor dem Einschlafen denken muss, an jedes dieser schmal geschlitzten Pärchen muss sie denken und bekommt einen wohligen Schauer, denn das Böse, Kerze weiß nicht genau, warum, das Böse ist auch etwas, das ihr irgendwie gefällt.

Keiner von denen hier vor dem Edeka hat solche Augen, die Lisa nicht, das unbekannte Kind nicht und der Mazur leider auch nicht. Die drei sind absolut sauber, und auch die nächsten, die kommen, sind sauber, und sogar die über- und die überübernächsten, und nach einer halben Stunde hat Kerze keine Lust mehr und joggt vor zum Brunnen.

»Hey, Kerze!«

Sie nickt kurz.

»Was geht so?«

»Viel. Und bei dir?«

Flori hat sein neues Spiderman-T-Shirt an, seit einer Woche hat er es jeden Tag an. »Ich war Eis essen mit Lara.«

»Und wo ist Lara jetzt?«

»Die ist schon heim.«

»Flori?«

»Ja«, sagt Flori.

»Flori, ich muss dich was Wichtiges fragen.«

»Alles klar. Schieß los.« Flori hängt sich über den Brunnenrand und schwingt einen Arm im Wasser hin und her.

»Flori, bist du bereit?«

»Klar«, sagt er und hängt jetzt auch den zweiten Arm ins Wasser.

»Kannst du mich bitte anschauen dabei, es ist was wirklich Wichtiges«

Flori kommt hoch. Von seinen Armen tropft Brunnenwasser auf den Boden.

»Also«, sie holt Luft, »ich frage dich jetzt: Hast du Power gesehen?«

Floris Gesicht sieht ganz leer aus, er guckt Kerze an wie ein Auto und antwortet nicht, und sie merkt, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellen. Alarmstufe Rot.

»Flori, ich frage dich jetzt noch mal und hoffe, du sagst mir die Wahrheit: Hast du Power gesehen?«

Flori schaut an sich herunter, wischt dann die Arme und Hände an seinen kurzen Hosen ab.

»Power?«

»Ja, den Hund von der Hitschke«, sagt Kerze ungeduldig.

»Ach so.« Er schlägt sich gegen die Stirn. »Der kleine Flauschige?«

»Der, genau. Hast du ihn gesehen?« Sie mustert ihn scharf.

»Nee«, sagt Flori und beugt sich wieder über den Brunnenrand.

»Bist du dir sicher?«

»Ja, klar. Warum?« Er sieht zu ihr rüber.

»Ich such den, der ist weg.«

»Seit wann?«

»Seit gestern.« Sie räuspert sich. »Hast du nicht mal Sarahs Katze geklaut?«

»Was?« Flori richtet sich auf.

Kerze nickt düster.

»Spinnst du? Ich hab die nicht geklaut. Die kam immer zu uns, weil sie Hunger hatte, und müde war sie auch. Nur darum hab ich den Karton für sie in meinen Schrank gestellt, damit sie sich da drin ausruhen kann. Und die Schranktür hab ich deswegen zugemacht, damit sie schön schlafen kann. Das heißt noch lange nicht, dass ich sie geklaut hab.« Er verschränkt die Arme vor der Brust. »Außerdem war ich da vier!« Und weil Kerze immer noch sehr ernst guckt: »Ich hab die Hitschke und ihren blöden Hund schon ewig nicht mehr gesehen.«

Kerze mustert Flori, prüft, ob sie ihm glauben kann oder nicht. Er hat keine roten Ohren bekommen, und das ist Kerzes Ansicht nach immer ein gutes Zeichen. Sie beschließt, Flori zu glauben. Der beugt sich wieder über den Brunnenrand und rutscht noch ein Stückchen weiter mit dem Oberkörper drüber, streckt die Zunge raus und trinkt ein bisschen vom Wasser.

»Flori?«

»Ja«, sagt er und stützt sich jetzt mit beiden Händen auf dem Grund des Brunnens ab, um besser trinken zu können.

»Flori, du bist voll eklig.«

Er stemmt sich hoch und schaut sie an. »Ich weiß«, sagt er grinsend, und das Wasser läuft ihm dabei aus dem Mund und übers Kinn und färbt Spidermans leuchtend weiße Augen dunkel, und wäre Kerze nicht Kerze, würde ihr der finstere Blick von Spiderman jetzt Angst machen. Aber sie ist ja zum Glück Kerze. Und Kerze hat keine Angst.

Im Wald fällt Nachmittagssonnenlicht zwischen Baumkronen hindurch auf Laub und Moos am Boden. Kerze kennt die Wege, ihr ganzes Leben hat sie im Wald verbracht. Für sie ist der Wald kein Ungeheuer, der Wald ist ihr Freund. »Power«, ruft sie und schleudert Stöckchen vor sich zwischen die Bäume, wartet, ob er von hinten angeflitzt kommt, um sich eines der Stöckchen zu schnappen. Aber kein Power. Im Wald nicht und auf den Feldern um den Wald, auf denen auch nicht. Ein Schaf, vier Kühe, ganz weit vorn eine Katze. Das ist alles an Tier.

Sie geht querfeldein über den Acker bis zur Landstraße, von dort am Straßenrand entlang zurück ins Dorf. Lässt den Kirchturm nicht aus den Augen, denn auch wenn sie Gott hasst, die Kirche mag sie.

Ihr Turm bedeutet Zuhause, wenn man von weit her über eine Wiese stapft und Richtung Dorf sieht.

ZWEI

Im Haus von der Hitschke sind alle Lichter an. Obwohl es noch gar nicht ganz dunkel ist, sind alle Lichter an.

»Hitschke, warum hast du denn alle Lichter an?«, fragt Kerze, als sie die Tür öffnet.

»Weil ich Angst habe im Dunkeln, weil ich Angst habe, wenn Power nicht da ist und das Haus so leer.«

»Verstehe.«

»Hast du ihn denn gefunden?«

Kerze zieht die Augenbrauen hoch und beugt sich zur Hitschke hinüber.

»Jetzt denk mal nach, denk mal ganz scharf nach«, sagt sie, »dann kommst du sicher drauf.«

Die Hitschke überlegt, und die Haut auf ihrer Stirn schiebt sich zu winzigen schmalen Röllchen zusammen. Hinter ihr im Flur hängt ordentlich ein Mantel an der Garderobe, ein Anorak und ein Regenschirm, daneben ein großes gerahmtes Bild von Power. Er trägt sein selbst gestricktes Jäckchen und hat die Vorderpfoten auf einen kleinen rosa Plastikhocker gestellt. Wie immer sieht er aus, als würde er ein bisschen lächeln, und generell sieht er auf dem Foto gar nicht aus wie ein Hund, eher wie ein Mensch, und, denkt Kerze, das ist er ja auch irgendwie für die Hitschke, das ist der, den sie hat im Leben, und was zählt es, ob er ein Außerirdischer ist oder ein Terrier.

»Du hast ihn nicht gefunden«, sagt die Hitschke matt und zieht Rotz die Nase hoch. »Du hast ihn nicht gefunden, denn …« Ihr Unterkiefer zittert, und weil Kerze sie streng ansieht, schließt sie kurz die Augen, damit das Zittern aufhört. »… wenn du ihn gefunden hättest, dann hättest du ihn jetzt dabei.«

Kerze nickt langsam, sie lächelt milde. »So ist es, Hitschke, so ist es. Gut, dass du noch mal nachgedacht hast.«

Die Hitschke faltet die Hände, wirft ihren Kopf in den Nacken und schaut in den Abendhimmel.

»Gott, lieber Gott«, sagt sie, »bitte gib mir meinen Power zurück.«

Kerze ruft: »Gott nicht, aber ich werd ihn dir zurückgeben. Merk dir das! Du kannst mich auch Gott nennen, wenn dir das hilft. Also wenn das hilft, werd ich der Gott sein, der dir Power zurückbringt.« Sie fixiert die Hitschke. »Du kannst dich ganz auf mich verlassen.«

Die Hitschke nickt stumm.

»Das weißt du doch, oder?«

Nicken.

»Und warum weißt du das?«

»Weil du«, beginnt die Hitschke den Satz, dann sprechen beide im Chor weiter, »immer deine Versprechen hältst.«

»Sehr richtig«, sagt Kerze. »Und jetzt gibst du mir noch das Foto da hinten.«

Die Hitschke dreht sich um. »Das von Power?«

Kerze runzelt die Stirn. »Siehst du ein anderes Foto als das von Power?«

»Nein«, schnieft die Hitschke, und ihre Augen füllen sich schon wieder mit Tränen.

»Und selbst wenn da ein anderes Foto wäre, sagen wir eins von dir, warum sollte ich das haben wollen? Erinnere dich, worum es hier geht, wer hier verschwunden und wer hier nicht verschwunden ist.«

Die Hitschke lässt schuldbewusst den Kopf hängen.

»Ich weiß und ziehe das auch ab, was dein Insgesamt-Verhalten angeht, dass du heute ganz schön durch den Wind bist, aber mitarbeiten, gedanklich mitarbeiten, das musst du schon ein bisschen, wenn du Power wiederhaben willst.«

Vorsichtig nimmt die Hitschke das Bild von der Wand. Zärtlich streichelt sie über das Glas, bevor sie, den Kopf leicht abgewendet, das Bild in Kerzes Hände legt. Kerze will gehen, aber die Hitschke ruft: »Halt!«, und läuft in die Küche. Der Mantel, der Anorak, der Regenschirm haben alle die gleiche Farbe: Beige.

Sie kommt zurück.

»Hand auf«, sagt sie, und Kerze tut es, streckt ihr eine entgegen. Schokorosinen rieseln hinein, leicht geschmolzene Schokorosinen, denn die Hitschke hat immer warme, leicht schwitzige Hände.

Kerze bedankt sich, bleibt aber noch kurz stehen. »Hitschke«, fragt sie, »was ist deine Lieblingsfarbe?«

»Rot«, antwortet die und leckt die Finger der Hand ab, in der sie die Schokorosinen hatte.

»Und was soll dann das?« Kerze zeigt auf die Garderobe.

Die Hitschke zuckt die Schultern, und Kerze schüttelt den Kopf.

»Denk mal drüber nach: Lass Farbe in dein Leben. Bis morgen.« Kerze spricht jetzt etwas leiser. »Ich komme, sobald ich Power gefunden habe. Wenn ich ihn nicht finde, komme ich am Abend und sage dir, dass ich ihn noch nicht gefunden habe.«

Die Hitschke nickt. »Danke«, ruft sie ihr hinterher.

An der nächsten Ecke schaut sich Kerze um. Die Hitschke steht am Küchenfenster und sieht ihr nach. Kerze schaut so lange, bis sie aus der Küche verschwindet, das Licht löscht sie nicht.

In der Korngasse bleibt Kerze vor einem großen Gebüsch stehen und öffnet die Hand. Die Schokolade ist jetzt ganz geschmolzen, und sie nimmt die Rosinen und klebt sie an die dünnen Zweige des Gebüschs, eine nach der anderen. Sie hebt den Blick, sucht den Abendhimmel nach Vögeln ab. Als sie in der Ferne einen Schwarm Schwalben erkennt, formt sie die Hände um ihren Mund zu einem Trichter und ruft: »Sind für euch!« Dann bückt sie sich, wischt die Schokolade ins Gras und flüstert den Regenwürmern zu, die durch tiefer liegende Erdschichten kriechen: »Und das für euch.«

Zu Hause liegt Kerzes Mutter auf dem Sofa. Sie schaut die Wiederholung einer Show mit Stefan Raab und lacht.

»Warum lachst du über den?« Kerze setzt sich vor dem Sofa auf den Boden.

»Weil er lustig ist.«

»Der ist nicht lustig, Mama.«

»Doch, für mich schon.«

»Du kannst nicht wissen, was lustig ist«, sagt Kerze und legt sich der Länge nach auf den Teppich vor den Fernseher.

»Was ist denn lustig?«

»Nichts. Das Leben ist eine sehr ernste Sache, und ich hoffe, dass du das im Blick hast, Mama.«

Sie schauen Stefan Raab zu Ende und sagen sich Gute Nacht.

In ihrem Zimmer öffnet Kerze das Fenster. Sie öffnet nachts immer das Fenster, egal, ob es schneit oder regnet, kalt ist oder stürmt. Sie macht das, weil sich sonst die Geister in ihrem Zimmer versammeln. An ihrem fünften Geburtstag sind sie das erste Mal aufgetaucht und kommen seitdem immer wieder. Sie tun Kerze nichts, stehen nur stumm um ihr Bett herum und schauen sie an. Aber Kerze kann nicht schlafen, wenn die Geister sie anschauen. Wenn sie wach sind, sie selbst aber schlafen soll. Und weil es nichts bringt, ihnen zu sagen, jetzt guckt halt mal woandershin, macht sie jeden Abend das Fenster auf und sie fliegen hinaus. Denn Kerze weiß: Geister mögen keinen Luftzug, weil ihnen das ihr Gespenstertuch durcheinanderbringt und sie in sich zusammenfallen, sie dann aussehen wie ganz normale Bettlaken, vor denen sich nichts und niemand fürchtet. Im Winter friert Kerze natürlich, wenn das Fenster offen steht, und am Anfang, im ersten Geisterjahr, hat sie immer Ärger deswegen mit Mama bekommen. Aber als die gemerkt hat, dass das Schimpfen nichts bringt, dass Kerze es trotzdem jeden Abend aufmacht, sobald sie aus der Tür ist, hat sie aufgegeben und eine besonders dicke Wolldecke gekauft, ohne weiter nachzufragen.

Kerze weiß nicht, was die Geister von ihr wollen. Sie haben es ihr all die Jahre nicht gesagt, obwohl sie oft gefragt hat. Seid ihr gute oder böse Geister?, war eine Frage und: Was wollt ihr denn von mir? Irgendwann hat sie damit aufgehört und sich an sie gewöhnt, hat sich an das Gefühl gewöhnt, nicht allein zu sein.

Als die Geister hinausgeflogen sind, holt Kerze Powers Foto hervor und entfernt es aus dem Bilderrahmen. Sie hebt ihr Kopfkissen an und schiebt es darunter, weil sie hofft, dass Power ihr im Traum sagt, wo er ist. Sie legt sich ins Bett, zieht die Decke bis unter ihr Kinn und betet.

»Lieber Keingott.

Ich schlafe jetzt, und morgen wache ich wieder auf.

Gute Nacht, Keingott.«

Aber sie schläft noch nicht gleich ein, denn sie muss an Power denken und daran, wie es ihm gerade wohl geht. Gestern Morgen war er noch da. Gestern Morgen hat die Hitschke seinen Fressnapf mit Hundefutter gefüllt, und er hat es aufgefressen und den Napf sauber geleckt, wie jeden Tag. Heute hat die Hitschke vor einem leeren Fressnapf gestanden, morgens, und abends auch noch mal. Dass Power weg ist, dass dieses Wegsein jetzt das Einzige ist, was noch da ist von ihm, wird Kerze nicht akzeptieren. Sie wird dagegen kämpfen. Sie wird tun, was notwendig ist, damit am Ende wieder alles wird, wie es immer war.

In dieser Nacht träumt sie nicht von Power, sie träumt von anderen Dingen, einem Schwarm Bienen unter anderem, der ihren Kopf umkreist wie eine lebendige Krone.

In der Schule bekommt Kerze am nächsten Vormittag nichts mit, so sehr ist sie mit ihren Gedanken bei Power. In der letzten Stunde, in Erdkunde, löst sie fein säuberlich die vollgeschriebenen Seiten aus ihrem Heft. Langsam macht sie das, damit das Geräusch, das die Blätter beim Herausreißen erzeugen, nicht so laut ist und die Lehrerin nichts merkt. Dann legt sie das Quadrat, das sie aus der letzten, nur halb beschriebenen Seite herausgetrennt hat, vorne auf das Deckblatt des Hefts, zieht ihren Klebestift aus dem Mäppchen, fährt einmal damit an den Kanten entlang und dreht es um. Mit der flachen Hand streicht sie sorgfältig darüber, streicht die Erhebungen, die dabei entstehen, zu den Seiten aus, bis alles ganz glatt ist. Sie zieht das Mäppchen zu sich heran und schaut ernst hinein. Sie überlegt, sie grübelt über die Farbwahl und entscheidet sich schließlich für Schwarz. Hoch konzentriert schreibt sie in Großbuchstaben AUFTRAG, macht einen Doppelpunkt und notiert POWER SUCHEN UND FINDEN dahinter. Sie drückt den Stift fest aufs Papier, so fest, dass an einer Stelle ein kleines Loch entsteht, worüber sie sich ärgert. Aber sie hat keine Zeit sich zu ärgern, die Stunde ist bald um, und als Nächstes entscheidet sie sich für Rot und schreibt ihren Namen. Kerze schreibt sie, aber diesmal in Schreibschrift und ohne den Stift zu fest anzudrücken. Als Letztes zieht sie den braunen Stift aus seiner Lasche. Sie beugt sich tief über das Heft, die Nasenspitze berührt fast das Deckblatt, und als sie fertig ist, lehnt sie sich zurück und betrachtet ihr Werk. Er könnte es sein, es könnte aber auch ein anderer Hund sein. Die Pfoten sind am schwierigsten zu malen, genauso wie Hände und Füße bei Menschen, das bekommt sie nie so richtig gut hin. Mit Schwarz zeichnet sie einen kleinen Punkt als Auge und einen lachenden Mund in den Hundekopf hinein. Dann steckt sie alle Stifte zurück in die Laschen und zieht ihren Füller heraus. Sie schlägt das Heft auf und beginnt zu schreiben, schreibt alles von gestern auf, die Hitschkebegegnung, die Suche in und vor dem Edeka, das Gespräch mit Flori am Brunnen, das Stöckchenwerfen im Wald und schließlich das zweite Treffen vor dem Haus der Hitschke. Dann macht sie noch einen Steckbrief zu Power mit Fellfarbe, ungefährer Größe und fertigt eine detaillierte Zeichnung seines Jäckchens an. Drei ganze DIN-A5-Seiten hat sie vollgeschrieben, und auf die dritte setzt sie noch schnell das Datum von heute, dann sinkt sie erschöpft im Stuhl zurück.

Das Läuten der Schulglocke lässt sie zusammenzucken.

Als sie aus dem Haupteingang in den Hof tritt, stehen überall kleine Grüppchen von Kindern herum. Sie quatschen, manche halten ihre Handys in die Runde und spielen Musik ab. Kerze zieht die Trageriemen ihres Schulranzens enger und geht schnell in Richtung Fahrradständer.

Im Fahrtwind auf dem Weg nach Hause meint sie mehrfach Hundegebell zu hören. Sie hält jedes Mal an und schaut sich um. Aber kein Power weit und breit, auch kein anderer Hund. »Hört auf«, sagt Kerze und meint die Geister, denn die müssen es ja gewesen sein, die an Powers Stelle gebellt haben, da ist sie sich sicher. Dann tritt sie in die Pedale und ist zu Hause, noch bevor ihre Mutter den Kartoffelbrei von gestern aufgewärmt hat.

Nach dem Essen fragt Mama: »Wo gehst du hin?«, und Kerze dreht sich langsam zu ihr um. Das Heft mit dem Auftrag hat sie links in die Innentasche ihrer Jacke gesteckt, ihr Herz schlägt dagegen, und sie spürt deutlich, wie es sich beim Atmen hebt und senkt.

»Das kann ich dir nicht sagen.«

Mama lehnt sich in der Küchenbank zurück und schaut ihr tief in die Augen. Kerze erwidert den Blick, sie ist ihn gewöhnt, kennt ihn auswendig, weiß über seine Dauer, seine Intensität Bescheid und auch, wie man beidem entkommt.

»Tschüss«, sagt sie, als Mamas Augen sie loslassen.

»Sei bis zum Abendessen zurück.«

»Das werde ich nicht schaffen.«

»Hast du einen Auftrag?«

Kerze nickt.

»Gut. Dann pass auf dich auf.«

Mit langsamen Schritten geht sie die Dorfstraßen ab, schaut in Hauseingänge, über Gartenzäune, lugt in eine halb offene Garage. Jeden, der ihr begegnet, fragt sie nach Power. »Hast du ihn gesehen oder du vielleicht?« Aber die Leute schütteln die Köpfe und wollen schnell weiter.

Im Wald entscheidet sich Kerze für größere und längere Stöcke als beim letzten Mal. Sie schleudert sie ins Unterholz, ruft immer wieder Powers Namen. Als sie zur Schonung kommt, setzt sie sich auf einen Baumstumpf am Rand. Sie streift die Schuhe ab und gräbt die Zehen ins Moos, zieht das Heft aus der Jacke und schreibt hinein: Nicht im Wald. Sie steckt es zurück und betrachtet die Tannen. Die meisten sind jetzt halb so groß wie sie selbst, die Zweige beladen mit hellgrünen, duftenden Nadeln. Sie schaut den Bäumen beim Wachsen zu, seit sie leben. Einmal, manchmal zweimal die Woche kommt sie her, das ganze Jahr über. Sie lernt etwas beim Zuschauen. Dass man Geduld haben muss, dass nichts einfach so passiert. Ein weiterer Zentimeter in die Höhe, das kostet etwas. Die kleinen Tannen wissen das, und Kerze, die weiß es auch. Und wenn sie gleich aufstehen, das Schweizer Taschenmesser aus ihrer Hosentasche ziehen und damit einen Ritz in den alten Ahorn machen wird, nur wenige Millimeter über dem letzten Ritz von vor zwei Monaten, weiß sie, was ihr Körper geleistet hat in diesen Wochen, um es bis dorthin zu schaffen.

Mit dem Rücken stellt sie sich an den Stamm und hält das Messer über den Kopf. Flach legt sie es auf den Scheitel, schiebt es Richtung Rinde und drückt die Klinge hinein. Sie dreht sich um: wie immer eine Haaresbreite. Die Ritze, einer dicht über dem anderen, ziehen sich in einer sich schlängelnden Linie den Stamm hinauf. Kerze streckt den Arm aus. Vorsichtig folgt sie der Linie mit dem Finger bis zum ersten Ritz. Er ist jetzt auf Höhe ihrer Schultern. Sechs war sie damals und hatte das Taschenmesser zwei Tage vorher zum Geburtstag bekommen.

Die Ameisen, die, Erdkrümel und Tannennadeln transportierend, an Kerzes Ritzen vorbei den Baumstamm nach oben krabbeln, sind größer und schwärzer als die im Dorf. Sie sehen aus, als müsste man große Angst vor ihnen haben, wäre man selbst winzig klein.

Sie bleibt lange im Wald, geht tief hinein, tiefer als je zuvor, und ruft wieder Powers Namen. Als es dämmert, hält sie an und schaut sich um. Bäume, so weit das Auge reicht, nichts als Bäume. Sie horcht hinein in die Nichtstille des Waldes. Unter dem Laub wuselt es, schafft die Natur an ihren Prozessen. Wie weit sie von zu Hause weg ist, kann sie nicht genau sagen. Dass sie jetzt Angst bekommen könnte, denkt Kerze, und: dass andere Kinder in diesem Moment ganz sicher Angst bekämen. Sie geht einen Schritt vor und wieder einen zurück, sucht den Kipppunkt, an dem die Furcht den Körper ergreifen und vereinnahmen könnte, und stemmt sich mit aller Kraft dagegen. Es ist wie Armdrücken, und Kerze gewinnt. Genug für heute, denkt sie und kehrt um.

Im Dorf sitzen schon alle über den Abendbrottellern. Kerze biegt in die Heilandstraße ein, an deren Ende das Haus der Hitschke verlassen aussieht, obwohl alle Lichter brennen. Es strahlt eine Traurigkeit aus, die sie wegschauen lässt, zum Boden hin und zu einem Käfer, der ab der Körpermitte platt gequetscht auf dem Asphalt klebt. Sie beugt sich hinunter, sieht, wie die Vorderbeinchen sich noch leicht bewegen, wie die Fühler in der Luft nach etwas tasten, das nicht da ist.

Nach dem ersten Klingeln schon reißt die Hitschke die Tür auf. Ihr suchender Blick geht zu Kerzes Beinen, sie lässt enttäuscht die Schultern sinken.

»Es ist der zweite Tag«, sagt Kerze besänftigend.

Die Hitschke nickt, und Kerze zieht ihr Heft hervor. Angestrengt wandert ihr Blick über die Zeilen. Immer wieder schaut sie auf und zur Hitschke hin, runzelt nachdenklich die Stirn, bevor sie umblättert und das Heft schließlich zuschlägt.

»Morgen geht es weiter«, sagt sie und schiebt es unter dem enttäuschten Blick der Hitschke zurück in ihre Jacke.

Sie dreht sich um und zeigt die Straße hinunter.

»Dort auf der Höhe von Beilmanns Tanne liegt ein halb toter Käfer auf dem Gehweg. Da gehst du jetzt hin und schaust ihn dir an, stehst ihm bei, bis er tot ist.«

Die Hitschke sieht sie verwirrt an.

»Warum?«

»Deine Chance, dich auf das Schlimmste vorzubereiten.«

Zu Hause findet Kerze einen Teller mit Pizza auf dem Tisch. Drei große Stücke mit Lücken dazwischen. Sieht aus wie das Zeichen für Radioaktivität. Sie nimmt sich eins und beißt hinein. Es ist kalt, aber sie hat lange nichts gegessen und merkt, wie hungrig sie ist. Danach räumt sie ab und geht sie ins Wohnzimmer, es brennt kein Licht. Auch Mamas Zimmer im ersten Stock ist leer. Auf der Fensterbank steht eine Monstera, die Mama oft vergisst zu gießen und die im Halbdunkel tatsächlich immer aussieht, wie ein vielhändiges, klappriges Ungeheuer. »Du machst mir keine Angst«, sagt sie und streichelt eins der Blätter, streift die Schuhe ab und legt sich in Mamas Bett. Winkt dem Keingott kurz vor dem Schlaf noch zu, für heute muss das reichen.

DREI

Am ersten Tag nach Powers Verschwinden macht sich die Hitschke morgens nach dem Frühstück fertig, um hinauszugehen. Im Flur wickelt sie sich den dünnen Schal um den Hals, zieht die Sommerjacke an und schultert die Handtasche mit den Leckerli darin. Sie öffnet die Haustür und bleibt stehen. Sie wird ihre gewohnte Runde drehen, sagt sie sich und macht ein paar Schritte den Weg aufs Gartentor zu, bevor sie erneut anhält. Es ist doch Unsinn, allein zu gehen, denkt sie plötzlich. Die Leute werden sehen, dass sie ohne Power unterwegs ist, und Fragen stellen. Wo haben Sie denn Ihren Hund gelassen, wo ist Power?, werden sie fragen, und sie wird nicht wissen, was sie antworten soll, und alles wäre genauso wie damals beim Karl. »Nein!«, ruft sie, dreht sich energisch um und läuft zurück ins Haus. Sie lässt die Tasche auf den Boden fallen, zerrt am Reißverschluss der Jacke und schmeißt sie mitsamt des Schals auf den Garderobenständer. Dann wird sie eben das Mittagessen zubereiten. Endlich ist dafür mal genug Zeit, und sie muss nicht wie sonst immer so husch, husch nach dem langen Morgenspaziergang im Wald die hastig geschälten Kartoffeln in den Topf werfen, damit um halb zwölf pünktlich das Essen auf dem Tisch steht. Denn sie isst auch weiterhin exakt um diese Zeit; es kommt ihr nicht in den Sinn, an diesem jahrzehntealten Ritual zu rütteln. Sie geht also in die Küche, öffnet den Kühlschrank und sieht hinein, sieht die Marmelade, das Apfelmus, den Frischkäse, die Margarine im obersten Fach liegen, darunter die Eier, den Emmentaler und die Salami am Stück, einen Vanillepudding und je ein großes Glas Naturjoghurt und saure Gurken. Sie zieht auch das Gemüsefach auf und betrachtet das Bund Radieschen, die Salatgurke, den Blumenkohl und die Cherrytomaten, die sie gestern beim Edeka gekauft hat, unmittelbar bevor Power verschwand. Sie überlegt. Die Milchpackung in der Tür erscheint ihr abwegig, ebenso die Tube Senf, der Meerrettich und der Hefewürfel im Fach darüber. Sie hat keine Ahnung, was sie mit all diesen Sachen anstellen soll, und kann doch den Kühlschrank nicht wieder schließen, ohne etwas herausgenommen zu haben. Blindlings greift sie hinein und erwischt das Joghurtglas, stößt die Kühlschranktür zu und knallt es vor sich auf den Tisch. Sie lässt es stehen, läuft ins Wohnzimmer und reißt die Terrassentür auf. Öffnet den obersten Knopf ihrer Bluse und schnappt nach Luft. Der kalte Schweiß dringt ihr aus allen Poren.

»Guten Morgen«, hört sie es rufen und schreckt zusammen.

Die Podoschnik von nebenan steht im Garten und schaut hinüber.

»Guten Morgen«, antwortet sie hastig und wischt sich über die Stirn. »Wie geht es dem Baby?«

»Gut, danke. Und dem Hund?«

»Auch gut.«

Die Podoschnik mustert sie schweigend, und die Hitschke wird nervös. Sie überlegt fieberhaft, was sie sagen, wie sie erklären könnte, dass Power weg ist, und merkt, dass die Scham darüber einen neuen Schweißausbruch bei ihr auslöst. Doch die Podoschnik dreht sich einfach um und geht, ohne sich zu verabschieden, zurück ins Haus.

»Auf Wiedersehen«, ruft die Hitschke ihr schnell noch hinterher und hält sich mit einer Hand am Gartenstuhl fest, wartet, bis ihr Atem gleichmäßig wird, das Herz ihr nicht mehr bis zum Hals schlägt. Vorsichtig, an der Hauswand entlang, geht sie auf wackeligen Beinen zum Briefkasten. Außer dem Wochenblatt ist nichts darin. In der Küche legt sie die Zeitung neben das Joghurtglas auf den Tisch und schaut zur Uhr. Es ist Viertel nach neun. Sie nimmt einen Stuhl und stellt ihn vor das Fenster. Mit einem großen Glas Wasser in der Hand setzt sie sich hin und schaut hinaus. Alle halbe Stunde wird sie einen Schluck nehmen. Dazwischen wird sie sich konzentrieren, damit sie den Moment nicht verpasst, wenn Kerze mit Power um die Ecke biegt.

VIER

Am nächsten Morgen will Kerze einen anderen Weg zur Schule nehmen. Sie ist früher aufgestanden, um genügend Zeit zu haben; Mama ist schon weg, und sie gießt noch schnell die Monstera. Ihr Marmeladenbrot verspeist sie hastig im Stehen, während sie sich Schuhe und Jacke anzieht und den Ranzen aufsetzt. Sie schiebt das Fahrrad aus dem Schuppen und auf die Straße. Der Blick auf die Uhr am Kirchturm stellt sie zufrieden, sie steigt auf und zieht die Basecap tief in die Stirn. Im Dorf sind die Straßen leer, keins der anderen Kinder ist zu sehen. Die kauen noch am Müsli, schlürfen ihre Milch, wissen nichts von Kerze und ihrem Auftrag. Das Heft pulsiert in ihrer Brusttasche, es fordert etwas, stachelt sie an, und der Gedanke an die vielen unbeschriebenen Seiten lässt sie schwer in die Pedale treten.

Für Kerze