Über Michael Connelly

Michael Connelly, 1956 in Philadelphia geboren, entdeckte während seiner Studienzeit Raymond Chandlers Romane und beschloss, Schriftsteller zu werden. Er arbeitete zunächst für verschiedene Tageszeitungen in Florida, bis er 1986 zusammen mit zwei Kollegen eine Reportage über ein großes Flugzeugunglück in Fort Lauderdale schrieb und für den Pulitzer-Preis nominiert wurde. Danach wechselte er zur Los Angeles Times und arbeitete dort auf dem Gebiet der Kriminalreportage. Für seinen ersten Roman Schwarzes Echo, 1992 erschienen, wurde Connelly mit dem Edgar Award, dem renommiertesten amerikanischen Krimipreis, ausgezeichnet. Heute ist er einer der erfolgreichsten amerikanischen Krimiautoren, auch im deutschsprachigen Raum, wo mehr als 1,5 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft wurden. Seine Romane Das zweite Herz und Der Mandant wurden mit Clint Eastwood und Matthew McConaughey in den Hauptrollen verfilmt, seit 2014 produziert Amazon außerdem die Serie Bosch, die auf den Fällen seines legendären Ermittlers Hieronymus »Harry« Bosch basiert. 2018 erhielt er den Diamond Dagger, den wichtigsten britischen Krimipreis. Michael Connelly lebt in Florida.

Ballard und Jenkins rückten kurz vor Mitternacht in der El Centro Avenue an. Es war der erste Einsatz der Schicht. Am Straßenrand stand bereits ein Streifenwagen, Ballard kannte die zwei Polizisten, die mit einer grauhaarigen Frau in einem Bademantel auf der Veranda des Bungalows standen. Es waren John Stanley, der »Street Boss«, und sein Partner Jacob Ross.

»Ich glaube, da bist du gefragt«, sagte Jenkins.

Im Lauf ihrer zweijährigen Partnerschaft hatte sich gezeigt, dass Ballard mit weiblichen Opfern besser umgehen konnte. Nicht dass Jenkins ein Unmensch war, aber Ballard konnte sich besser in weibliche Opfer hineinversetzen. Wenn sie es mit einem männlichen Opfer zu tun hatten, war es umgekehrt.

»Alles klar«, sagte Ballard.

Sie stiegen aus und gingen auf die beleuchtete Veranda zu. Ballard hielt ihr Funkgerät in der Hand. Als sie die drei Stufen hinaufstiegen, stellte Stanley die beiden Neuankömmlinge der Frau vor. Sie hieß Leslie Ann Lantana und war 77 Jahre alt. Ballard vermutete, dass es hier nicht viel für sie zu tun gäbe. Bei Einbrüchen lief es meistens darauf hinaus, dass sie den Fall aufnahmen, und wenn sie Glück hatten und auf Anzeichen stießen, dass der Einbrecher glatte Oberflächen berührt und Fingerabdrücke darauf hinterlassen hatte, wurde vielleicht noch ein Fingerabdruckwagen angefordert.

»Aber dieser Jemand waren allem Anschein nach nicht Sie«, sagte Ballard zu Mrs. Lantana.

»Nein, es wurde von einer Karte abgebucht, die ich nur für Notfälle habe und die ich im Internet nie verwende«, sagte Lantana. »Deshalb habe ich bei dem Kauf sofort eine Warnmeldung erhalten. Bei Amazon bezahle ich immer mit einer anderen Karte.«

»Okay«, sagte Ballard. »Haben Sie schon bei der Kreditkartengesellschaft angerufen?«

»Zuerst habe ich nachgesehen, ob ich die Karte vielleicht verloren habe, und da habe ich gemerkt, dass meine Geldbörse nicht in meiner Handtasche war. Sie muss mir gestohlen worden sein.«

»Haben Sie eine Idee, wo oder wann das war?«

»Gestern war ich im Ralphs einkaufen. Deshalb weiß ich, dass ich da meine Geldbörse noch hatte. Danach bin ich nach Hause gekommen und seitdem nicht mehr weggegangen.«

»Haben Sie im Supermarkt mit Karte bezahlt?«

»Nein, bar. Im Ralphs zahle ich immer bar. Aber um meine Punkte zu bekommen, habe ich meine Ralphs-Karte vorgelegt.«

»Halten Sie es für möglich, dass Sie Ihre Geldbörse im Ralphs vergessen haben? Als Sie an der Kasse die Karte rausgenommen haben vielleicht?«

»Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich passe sehr gut auf meine Sachen auf. Auf meine Geldbörse und auf meine Handtasche. Und ich bin nicht senil.«

»Das wollte ich damit nicht sagen, Ma’am. Ich stelle nur Fragen.«

Ballard versuchte es noch einmal anders, auch wenn sie nicht überzeugt war, dass Lantana ihre Geldbörse nicht im

»Wohnt hier außer Ihnen noch jemand, Ma’am?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Lantana. »Ich lebe allein hier. Bis auf Cosmo. Das ist mein Hund.«

»Hat jemand bei Ihnen geklingelt, oder war vielleicht sogar jemand hier, seit Sie gestern vom Einkaufen zurückgekommen sind?«

»Nein, niemand.«

»Auch keine Freunde oder Verwandte?«

»Nein, aber sie hätten meine Geldbörse auch nicht genommen.«

»Natürlich. Das wollte ich damit auch keineswegs andeuten. Ich versuche mir nur einen Eindruck zu verschaffen, wer bei Ihnen ein und aus gegangen ist. Sie sagen also, Sie waren die ganze Zeit zu Hause?«

»Ja, ich war die ganze Zeit zu Hause.«

»Und Cosmo? Gehen Sie mit Cosmo raus?«

»Natürlich, zweimal am Tag. Aber ich schließe die Tür ab, wenn ich mit ihm rausgehe, und ich gehe nie weit. Er ist schon ziemlich alt, und ich werde auch nicht jünger.«

Ballard lächelte verständnisvoll.

»Gehen Sie jeden Tag um die gleiche Zeit mit ihm Gassi?«

»Ja, wir haben einen festen Zeitplan. Das ist besser für den Hund.«

»Wie lange gehen Sie etwa mit ihm raus?«

»Am Morgen dreißig Minuten und am Nachmittag normalerweise etwas länger. Je nachdem, wie es uns geht.«

Ballard nickte. Sie wusste, ein Einbrecher, der in der Gegend südlich des Santa Monica Boulevard unterwegs war und die Frau mit ihrem Hund sah, brauchte nichts weiter zu tun, als ihr nach Hause zu folgen und das Haus zu beobachten. Und wenn sich herausstellte, dass sie allein lebte, kam er einen Tag später zur gleichen Zeit wieder her. Den meisten

»Haben Sie nachgesehen, ob sonst etwas fehlt, Ma’am?«, fragte Ballard.

»Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen«, sagte Lantana. »Sobald ich gemerkt habe, dass meine Geldbörse weg ist, habe ich die Polizei angerufen.«

»Dann würde ich vorschlagen, wir gehen mal rein und sehen nach, ob sonst noch etwas fehlt«, sagte Ballard.

Während sich Ballard von Lantana durchs Haus führen ließ, ging Jenkins nach hinten und sah nach, ob sich jemand an der Hintertür zu schaffen gemacht hatte. Im Schlafzimmer lag ein Hund auf einem Kissen. Er war ein Boxermischling, und sein Gesicht war fast weiß, so alt war er. Seine feucht schimmernden Augen folgten Ballard überallhin, aber er stand nicht auf. Er war zu alt. Er gab ein tiefes Knurren von sich.

»Alles okay, Cosmo«, beruhigte ihn Lantana.

»Ist er ein Boxer?«, fragte Ballard. »Und was noch?«

»Ein Ridgeback«, sagte Lantana, »vermuten wir.«

Ballard war nicht sicher, ob mit »wir« Lantana und der Hund gemeint waren oder jemand anders. Vielleicht Lantana und ihr Tierarzt.

Die alte Frau beendete den Rundgang durch das Haus mit einem Blick in die Schublade, in der sie ihren Schmuck aufbewahrte, und erklärte, dass außer der Geldbörse nichts zu fehlen schien. Also doch im Supermarkt, dachte Ballard. Aber vielleicht hatte der Einbrecher auch geglaubt, weniger Zeit zu haben, sich im Haus umzusehen, als er tatsächlich gehabt hatte.

Jenkins stieß zu ihnen und sagte, dass es nicht danach aussah, als hätte jemand sich an Vorder- oder Hintertür zu schaffen gemacht.

»Nein«, sagte Lantana.

»Gibt es irgendwo in der Nähe eine Baustelle? Irgendwelche Arbeiter?«

»Nein.«

Ballard bat Lantana, ihr die E-Mail zu zeigen, die sie von der Kreditkartengesellschaft erhalten hatte. Sie gingen zu einer Nische in der Küche, in der ein Laptop, ein Drucker und Ablagekörbe voller Umschläge standen. Es war offensichtlich ihr Büro, in dem sie Rechnungen bezahlte und Internetbestellungen vornahm. Lantana setzte sich und rief die E-Mail auf. Ballard beugte sich über ihre Schulter, um sie zu lesen. Dann bat sie Lantana, die Kreditkartengesellschaft noch einmal anzurufen.

Lantana tat dies von einem Wandapparat, dessen lange Schnur bis in die Nische reichte. Schließlich reichte sie das Telefon Ballard, die mit Jenkins auf den Flur hinausging und dabei die Schnur bis zum Anschlag dehnte. Sie hatte einen Spezialisten für Betrugswarnungen dran, der einen indischen Akzent hatte. Ballard gab sich als Detective des Los Angeles Police Department zu erkennen und fragte nach der Versandadresse, die bei dem Kreditkartenkauf angegeben worden war. Der Sachbearbeiter sagte, diese Information dürfe er ohne einen entsprechenden richterlichen Beschluss nicht herausgeben.

»Wie soll ich das verstehen?«, sagte Ballard. »Sie sind doch für Betrugswarnungen zuständig. Hier handelt es sich um einen Betrugsfall, und wenn Sie mir die Adresse geben, kann ich möglicherweise etwas in der Sache unternehmen.«

»Tut mir leid«, sagte der Sachbearbeiter. »Das darf ich nicht. Dazu müsste ich von unserer Rechtsabteilung ausdrücklich ermächtigt werden, was aber nicht der Fall ist.«

»Da ist jetzt niemand. Mittags haben sie immer geschlossen.«

»Dann geben Sie mir Ihren Vorgesetzten.«

Ballard sah Jenkins an und schüttelte frustriert den Kopf.

»Das landet doch morgen sowieso bei Einbrüche«, sagte Jenkins. »Sollen die sich darum kümmern.«

»Bloß werden sie sich nicht darum kümmern«, sagte Ballard. »Es wird in dem anderen Kram untergehen. Sie werden der Sache nicht nachgehen, und das wäre ihr gegenüber nicht fair.«

Sie deutete mit dem Kopf in Richtung Küche, wo das Opfer saß und verloren vor sich hin blickte.

»Seit wann ist das Leben fair?«, sagte Jenkins. »So ist es halt.«

Nach fünf Minuten kam der Supervisor ans Telefon. Ballard erklärte ihm, dass eine schwammige Situation vorlag und dass sie rasch etwas unternehmen mussten, um die Person zu fassen, die Mrs. Lantanas Kreditkarte gestohlen hatte. Der Supervisor erklärte ihr, dass die versuchte Verwendung der Kreditkarte verhindert worden sei und das Warnsystem folglich funktioniert habe.

»Es besteht keine Notwendigkeit, wegen dieser ›schwammigen Situation‹, wie Sie es nennen, etwas zu unternehmen«, sagte der Mann.

»Das System funktioniert nur, wenn wir den Kerl fassen«, sagte Ballard. »Verstehen Sie denn nicht? Zu verhindern, dass die Karte verwendet wird, ist nur ein Teil des Ganzen. Es schützt die Firma, für die Sie tätig sind. Aber Mrs. Lantana, in deren Haus jemand eingedrungen ist, schützt es nicht.«

»Tut mir leid«, sagte der Mann. »Ohne einen entsprechenden richterlichen Beschluss kann ich Ihnen nicht helfen. So lauten unsere Vorschriften.«

»Wie heißen Sie?«

»Wo sind Sie, Irfan?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sind Sie in Mumbai? Delhi? Wo?«

»Ich bin in Mumbai, ja.«

»Und deshalb ist Ihnen alles scheißegal. Weil dieser Typ nie in Ihr Haus in Mumbai einbrechen und Ihre Geldbörse stehlen wird. Haben Sie vielen Dank.«

Sie ging in die Küche zurück und hängte den Hörer auf, bevor der nutzlose Supervisor antworten konnte. Sie wandte sich wieder ihrem Partner zu.

»Also gut«, sagte sie. »Wir fahren zurück zur Station und schreiben es auf, und alles Weitere sollen die vom Einbruch machen.«

Ballard und Jenkins schafften es nicht zurück zur Station, um das Einbruchsprotokoll zu schreiben. Sie wurden vom Schichtleiter ins Hollywood Presbyterian Medical Center geschickt, um eine schwere Körperverletzung aufzunehmen. Ballard parkte auf einem Krankenwagenplatz am Eingang der Notaufnahme und machte die Warnblinkanlage an. Dann ging sie mit Jenkins durch die automatische Tür nach drinnen und notierte sich für das Protokoll, das sie später schreiben würde, die Uhrzeit. Die Uhr über dem Schalterfenster des Wartezimmers zeigte 00:41 an.

Die Haut des jungen Streifenpolizisten, der dort stand, war so weiß wie die eines Vampirs. Als Ballard ihm zunickte, kam er zu ihnen, um sie zu briefen. Er hatte keinen Winkel am Ärmel und war offensichtlich so kurz bei der Polizei, dass sie ihn noch nicht kannte.

»Wir haben sie auf einem Parkplatz am Santa Monica auf Höhe der Highland gefunden«, sagte der Streifenpolizist. »Wie es aussah, hat sie der Täter einfach dort abgeladen. Wahrscheinlich dachte er, sie wäre tot. Aber sie hat noch gelebt und ist kurz zu sich gekommen und war ein paar Minuten halbwegs bei Bewusstsein. Sie wurde ganz schön übel zugerichtet. Einer der Rettungssanitäter meinte, sie könnte eine Schädelfraktur haben. Sie haben sie nach hinten gebracht. Mein Training Officer ist auch hinten.«

Zu der schweren Körperverletzung kam vielleicht auch

»Taylor, ich bin Ballard«, sagte sie, »und das ist Detective Jenkins, ein weiterer Stammgast der Finsternis. Seit wann sind Sie bei Super Six?«

»Das ist mein erster Einsatz«, sagte Taylor.

»Frisch von der Akademie? Na dann, willkommen. Bei der Six wird es bestimmt spannender als irgendwo sonst. Wer ist Ihr Training Officer?«

»Officer Smith, Ma’am.«

»Ich bin nicht Ihre Mutter. Nennen Sie mich nicht Ma’am.«

»Sorry, Ma’am. Das heißt …«

»Bei Smitty sind Sie in guten Händen. Er ist schwer in Ordnung. Haben Sie das Opfer schon identifiziert?«

»Nein, sie hatte keine Handtasche oder sonst was, aber wir haben versucht, mit ihr zu reden, als wir auf die Rettungssanitäter gewartet haben. Sie war immer wieder kurz bei Bewusstsein, hat aber nur wirres Zeug geredet. Ich glaube, sie hat gesagt, sie heißt Ramona.«

»Hat sie sonst was gesagt?«

»Ja, sie hat was von einem kopfstehenden Haus geredet.«

»Von einem ›kopfstehenden Haus‹?«

»Das hat sie gesagt. Officer Smith hat sie gefragt, ob sie den Täter gekannt hat, und das hat sie verneint. Und als er sie gefragt hat, wo sie angegriffen wurde, hat sie ›im kopfstehenden Haus‹ gesagt. Wie gesagt, es hat alles nicht viel Sinn ergeben.«

Ballard nickte und überlegte, was damit gemeint sein könnte.

»Okay. Dann gehen wir mal nach hinten und schauen uns das an.«

Damit nickte sie Jenkins zu und ging zur Tür, die zu den Behandlungsabteilen der Notaufnahme führte. Sie trug einen anthrazitgrauen Van-Heusen-Anzug mit kreideweißen

Die Aufnahmestation bestand aus sechs mit Vorhängen abgetrennten Untersuchungs- und Behandlungsabteilen. An einem Schalter in der Mitte der Station wimmelte es von Ärzten, Schwestern und Technikern. Das organisierte Chaos wirkte wie von unsichtbarer Hand gesteuert, und jeder schien seine Aufgabe zu haben. Es war viel los, aber das war im Hollywood Pres jede Nacht so.

Vor dem Vorhang von Abteil 4 stand ein weiterer Streifenpolizist, und Ballard und Jenkins steuerten auf ihn zu. Er hatte drei Winkel an seinen Ärmeln. Sie standen für fünfzehn Jahre Polizeidienst, und Ballard kannte ihn gut.

»Smitty, ist ein Doc bei ihr drinnen?«, fragte sie.

Officer Melvin Smith blickte von seinem Smartphone auf, auf dem er gerade eine Textnachricht geschrieben hatte.

»Ballard, Jenkins, alles klar?«, sagte Smith. Und dann: »Nein, sie ist allein. Sie wollen sie in den OP raufbringen. Schädelfraktur, Hirnschwellung. Wie es scheint, müssen sie ihr den Schädel öffnen, um etwas Druck abzulassen.«

»Das sollten sie bei mir vielleicht auch mal machen«, sagte Jenkins.

»Sie redet also nicht?«, fragte Ballard.

»Nicht mehr«, sagte Smith. »Sie haben sie sediert. Ich habe gehört, dass sie sie in ein künstliches Koma versetzen wollen, bis die Schwellung zurückgeht. Wie geht’s übrigens Lola, Ballard? Hab sie schon länger nicht mehr gesehen.«

»Lola geht’s gut«, sagte Ballard. »Habt ihr sie zufällig gefunden, oder seid ihr gerufen worden?«

»Haben Sie jemand hingeschickt, um den Tatort zu sichern?«, fragte Ballard.

»Nee, da war nur Blut auf dem Asphalt«, sagte Smith. »Sie ist dort nur abgeladen worden.«

»Das ist doch Mist, Smitty. Wir müssen den Tatort untersuchen. Am besten, Sie machen hier dicht und fahren den Tatort sichern, bis die Spurensicherung anrückt. Sie können ja im Auto sitzen bleiben und Ihren Papierkram erledigen oder sonst was.«

Smith sah Jenkins, den ranghöheren Detective, fragend an.

»Sie hat recht«, sagte Jenkins. »Der Tatort muss gesichert werden.«

»Okay.« Smiths Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er das für Zeitverschwendung hielt.

Ballard ging durch den Vorhang in Abteil 4. Die Frau lag auf einer Liege, ihr malträtierter Körper steckte in einem hellgrünen Krankenhauskittel. An beiden Armen und in der Nase waren Schläuche angebracht. In ihren vierzehn Jahren bei der Polizei hatte Ballard schon jede Menge Opfer von Gewaltverbrechen gesehen, aber von den Fällen, in denen das Opfer noch am Leben gewesen war, war das einer der schlimmsten.

Die Frau war klein und wog maximal 50 Kilo. Beide Augen waren vollständig zugeschwollen, die Augenhöhle des rechten unter der Haut erkennbar gebrochen. Außerdem war ihr Gesicht durch eine Schwellung der gesamten rechten Seite, die überall aufgescheuert war, stark deformiert. Offensichtlich war sie brutal geschlagen und – wahrscheinlich auf dem Parkplatz – mit dem Gesicht über einen rauen Untergrund geschleift worden. Ballard beugte sich über die Liege,

»Meine Güte«, sagte Ballard.

Sie zog das Telefon von ihrem Gürtel und öffnete die Kamera-App. Als Erstes fotografierte sie das Gesicht, dann machte sie von den einzelnen Gesichtsverletzungen Nahaufnahmen. Jenkins beobachtete sie kommentarlos. Er wusste, wie sie bei so etwas vorging.

Um die Brust des Opfers nach Verletzungen abzusuchen, knöpfte Ballard den oberen Teil des Krankenhauskittels auf. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf die linke Seite des Oberkörpers gelenkt, wo sich mehrere gerade verlaufende tiefe Striemen abzeichneten, die eher von einem Gegenstand als von einer menschlichen Hand herzurühren schienen.

»Sieh dir das mal an«, sagte Ballard. »Ein Schlagring?«

Jenkins beugte sich über das Opfer.

»Sieht ganz so aus. Durchaus möglich.«

Angewidert von dem Anblick, richtete er sich wieder auf. John Jenkins war 25 Jahre bei der Polizei, und Ballard wusste, dass seine Empathiereserven schon lange aufgebraucht waren. Er war ein guter Ermittler – wenn er wollte. Aber er war wie viele Männer, die schon zu lang dabei waren. Er wollte nur noch in Ruhe seinen Job machen. Das Polizeipräsidium Downtown hieß PAB, kurz für Police Administration Building. Typen wie Jenkins fanden, dass PAB für Politics and Bureaucracy oder Politics and Bullshit stand.

Zur Spätschicht wurden üblicherweise nur die verdonnert, die sich auf politischer Ebene mit dem Polizeiapparat angelegt hatten. Jenkins war einer der wenigen, die sich freiwillig für die Schicht von elf bis sieben gemeldet hatten. Seine Frau hatte Krebs, und er arbeitete am liebsten in der Zeit, in der sie

Ballard machte weitere Fotos. Auch die Brüste des Opfers waren von Verletzungen und Blutergüssen überzogen, die rechte Brustwarze war wie die Oberlippe brutal zerbissen. Die linke Brust war rund und voll, die rechte kleiner und flach. Implantate, von denen eines unter der Haut geplatzt war. Ballard ahnte, wie viel Kraft dafür nötig gewesen sein musste. Bisher hatte sie so etwas nur bei einem Opfer erlebt, und das war tot gewesen.

Behutsam knöpfte sie den Kittel wieder zu und untersuchte die Hände nach Abwehrverletzungen. Die Fingernägel waren abgebrochen und blutig. Dunkelviolette Verfärbungen und Abschürfungen umgaben die Handgelenke und deuteten darauf hin, dass das Opfer lange gefesselt und gefangen gehalten worden war. Ballard vermutete Stunden, nicht Minuten. Vielleicht sogar Tage.

Als sie weitere Fotos machte, fielen ihr die Länge der Finger des Opfers und der weite Abstand zwischen den Knöcheln auf. Santa Monica und Highland – eigentlich hätte sie es sich gleich denken können. Sie hob den Saum des Kittels. Das Opfer war biologisch ein Mann.

»Scheiße, auf den Anblick hätte ich verzichten können«, sagte Jenkins.

»Wenn Smitty das gewusst hat und es uns nicht gesagt hat, ist er ein Riesenarschloch«, sagte Ballard. »Damit sieht die Sache gleich ganz anders aus.«

Sie erstickte ihren Ärger im Keim und konzentrierte sich wieder auf das Wesentliche.

»Hast du jemanden von der Sitte gesehen, bevor wir heute losgefahren sind?«, fragte sie.

»Äh, ja, bei denen steht irgendwas an«, sagte Jenkins. »Aber was genau, weiß ich nicht. Ich habe Pistol Pete im Aufenthaltsraum Kaffee machen sehen.«

Kennst du ihn? Ramona? Santa-Monica-Strich?

Mendez war bei Six legendär – aus vielen Gründen. Den größten Teil seiner Zeit beim LAPD hatte er als verdeckter Ermittler der Sitte gearbeitet, und als junger Officer hatte er sich oft als Strichjunge ausgeben müssen. Bei diesen Lockvogeleinsätzen war er verkabelt gewesen. Audioaufnahmen waren für eine Verurteilung oft entscheidend, weil sie den Angeklagten dazu brachten, sich der Anklagepunkte schuldig zu bekennen. Die Aufnahme einer von Mendez’ Begegnungen wurde auf Abschiedsfeiern und Partys im Kollegenkreis immer noch abgespielt. Mendez hatte am Santa Monica Boulevard gestanden, als ein Freier vorfuhr. Bevor dieser sich bereit erklärte, für die in Aussicht gestellten Dienste zu bezahlen, wollte er jedoch von Mendez noch Verschiedenes wissen und erkundigte sich unter anderem, wenn auch mit ganz anderen Worten, nach der Länge seines erigierten Penis.

»Ungefähr fünfzehn Zentimeter«, antwortete Mendez.

Damit konnte er bei dem Freier keinen Eindruck machen, weshalb dieser wortlos weiterfuhr. Kurz darauf verließ ein Sergeant von der Sitte seinen Beobachtungsposten und hielt neben Mendez am Straßenrand. Auch dieser Wortwechsel war auf Band festgehalten.

»Mendez, wir sind hier, um Festnahmen zu machen«, stauchte ihn der Sergeant zusammen. »Wenn dich also nächstes Mal ein Typ fragt, wie lang dein Schwanz ist, dann übertreibe gefälligst, ja?«

Ballard zog den Vorhang zurück, um zu sehen, ob Smith noch da war, aber er und Taylor waren bereits gegangen. Sie steuerte auf den Schalter in der Mitte der Notaufnahme zu, um mit einer der Schwestern zu sprechen. Jenkins folgte ihr.

»Ballard, Jenkins, LAPD«, stellte sie sich vor. »Ich müsste mit dem Arzt sprechen, der das Opfer in Abteil 4 behandelt.«

»Er ist gerade in 2«, sagte die Schwester. »Sobald er dort fertig ist.«

»Wann wird der Patient operiert?«

»Sobald ein OP frei ist.«

»Haben Sie schon den Vergewaltigungstest gemacht? Analabstriche? Außerdem brauchen wir Fingernagelproben. Wer kann uns dabei helfen?«

»Sie haben ihm erst mal das Leben zu retten versucht – das hatte Priorität. Über alles Weitere können Sie mit dem Arzt reden.«

»Darum habe ich doch gebeten. Ich möchte mit …«

Das Telefon in Ballards Hand vibrierte, und sie wandte sich von der Schwester ab. Auf dem Display erschien Mendez’ Antwort. Sie las sie Jenkins laut vor:

»›Ramona Ramone, Dragon. Richtiger Name Ramón Gutierrez. Hatte ihn erst vor zwei Wochen hier. Vorstrafenregister länger als sein Schwanz vor der OP.‹ So kann man es auch ausdrücken …«

»Der muss gerade reden«, sagte Jenkins. »Bei seiner Schwanzlänge …«

Dragqueens, Transvestiten und Transgender wurden bei der Sitte üblicherweise als Dragons bezeichnet. Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Kategorien wurden nicht getroffen. Es war nicht nett, aber man nahm es hin. Ballard war selbst zwei Jahre lang in einem Lockvogelteam gewesen. Sie kannte die Szene, und sie kannte den Slang. Der

Sie sah Jenkins an. Bevor sie dazu kam, etwas zu sagen, tat er das.

»Nein.«

»Was, nein?«, fragte sie.

»Ich weiß, was du sagen willst. Du wirst sagen, du möchtest diesen behalten.«

»Es ist ein Vampirfall – er muss nachts bearbeitet werden. Wenn wir ihn an Sexualdelikte weiterleiten, passiert das Gleiche wie mit dem Einbruch eben – er landet in einem Papierstapel. Sie nehmen ihn sich zwischen neun und fünf vor, und es kommt nichts dabei heraus.«

»Trotzdem nein. Es ist nicht unsere Aufgabe.«

Es war der Hauptstreitpunkt in ihrer Partnerschaft. Sie hatten die Spätschicht, die Late Show, und wurden an jeden Tatort gerufen, an dem ein Detective erforderlich war. Das hieß, dass sie von einem Fall zum nächsten fuhren und erste Protokolle aufnahmen oder Selbstmorde absegneten, aber keine Fälle behielten. Sie schrieben die ersten Berichte und übergaben die Fälle am Morgen an die jeweils zuständige Einheit. Raubüberfälle, Sexualdelikte, Einbruch, Autodiebstahl und so weiter. Manchmal hätte Ballard einen Fall gern von Anfang bis Ende durchgezogen. Aber das war nicht ihr Auftrag, und Jenkins war nicht bereit, auch nur einen Finger zu rühren, wenn etwas darüber hinausging. Auch in der Nachtschicht machte er stur Dienst nach Vorschrift. Er hatte eine kranke Frau zu Hause und wollte jeden Morgen da sein, wenn sie wach wurde. Er hatte kein Interesse an Überstunden – weder ein finanzielles noch ein arbeitsbedingtes.

»Ach komm, was sollen wir denn sonst tun?«, versuchte Ballard, ihn umzustimmen.

»Wir sehen uns den Tatort an«, sagte Jenkins, »und schauen, ob es überhaupt einen Tatort gibt. Dann fahren wir zurück

Er machte sich ans Gehen, aber Ballard folgte ihm nicht. Er drehte sich um und kam zu ihr zurück.

»Was jetzt?«

»Wer das getan hat, ist ein echtes Monster, Jenks«, sagte sie. »Das weißt du ganz genau.«

»Fang bloß nicht wieder damit an. So was hatten wir schon zur Genüge. Irgendein Typ geht auf Brautschau, kennt sich nicht aus im Viertel, sieht ein Mädchen an der Straße stehen und hält an. Er wird sich mit ihr einig, nimmt sie auf den nächsten Parkplatz mit und kommt sich verarscht vor, als er unter dem Minirock was rumbaumeln sieht. Er verdrischt den Typen und fährt weiter.«

Ballard schüttelte schon den Kopf, bevor Jenkins mit seiner Zusammenfassung des Falls fertig war.

»Nicht bei solchen Bissspuren«, sagte sie. »Nicht, wenn er einen Schlagring hatte. Das zeugt von einem Plan, von Vorsatz. Sie war lang gefesselt. Das war ein echtes Monster, und deshalb möchte ich den Fall behalten und zur Abwechslung mal was ausrichten.«

Rein technisch gesehen war Jenkins der ranghöhere Partner. Er war derjenige, der in solchen Fällen zu entscheiden hatte. In der Station konnte sich Ballard zur Not an den Lieutenant wenden, aber Partner machten so etwas untereinander aus.

»Ich fahre jetzt beim Tatort vorbei und dann zurück aufs Revier und fange mit der Schreiberei an«, sagte Jenkins. »Der Einbruch kommt auf den Einbruchstisch, und das hier, das kriegt der CAP-Tisch, wenn nicht sogar die Mordkommission. Besonders gut sieht der Junge da drinnen nämlich nicht aus. Aber damit hat es sich!«

Nachdem das geklärt war, wandte er sich erneut zum

Ballard wollte Jenkins schon nach draußen folgen, als ihr etwas einfiel. Sie ging zurück zu der Schwester am Schalter.

»Wo sind die Kleider des Opfers?«, fragte sie.

»Wir haben sie in eine Tüte getan«, sagte sie. »Augenblick.«

Jenkins war an der Tür stehen geblieben und schaute zu ihr zurück. Ballard hielt einen Finger hoch, damit er wartete. Die Schwester zog eine durchsichtige Plastiktüte aus einer Schublade. Die Tüte enthielt alles, was am Opfer gefunden worden war. Viel war es nicht. Ein bisschen billiger Schmuck und paillettenbesetzte Kleidungsstücke. An einem Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln hing ein kleiner Behälter mit Pfefferspray. Keine Geldbörse, kein Bargeld, kein Handy. Sie reichte die Tüte Ballard.

Ballard gab der Schwester ihre Visitenkarte und bat sie, dem Arzt auszurichten, sie anzurufen. Dann folgte sie ihrem Partner durch die automatische Tür der Sicherheitsschleuse. In diesem Moment begann ihr Handy zu summen. Sie schaute auf das Display. Es war der Schichtleiter, Lieutenant Munroe.

»L.T.«

»Ballard, sind Sie und Jenkins noch im Hollywood Pres?«

Ihr entging die Dringlichkeit in seiner Stimme nicht. Es musste irgendetwas Größeres passiert sein. Sie blieb stehen und winkte Jenkins zu sich.

»Wir wollten gerade gehen. Warum?«

»Stellen Sie es auf laut.«

Das tat sie.

»Okay, was gibt’s?«, sagte sie.

»Wie ist die genaue Adresse?«, fragte Jenkins.

»Das Dancers drüben beim Hollywood Athletic Club«, sagte Munroe. »Kennen Sie das?«

»Alles klar«, sagte Ballard.

»Gut. Dann fahren Sie schon mal hin, Jenkins. Und Ballard, Sie kommen nach, sobald Sie mit dem fünften Opfer fertig sind.«

»L.T.«, sagte Ballard. »Wir müssen in Zusammenhang mit dieser Körperverletzung einen Tatort sichern. Wir haben Smitty und …«

»Nicht heute Nacht«, sagte Munroe. »Für die Dancers-Geschichte werden alle Einsatzkräfte benötigt. Jedes verfügbare Spurensicherungsteam kommt dorthin.«

»Dann lassen wir den anderen Tatort also einfach sausen?«, fragte Ballard.

»Überlassen Sie das der Frühschicht, Ballard«, sagte Munroe. »Sollen die sich morgen damit herumschlagen. Ich muss jetzt Schluss machen. Sie wissen, was Sie zu tun haben.«

Munroe legte ohne ein weiteres Wort auf. Jenkins bedachte Ballard mit einem Hab-ich-dir’s-nicht-gesagt-Blick, und

»Bis dann im Dancers«, sagte Jenkins.

»Bis dann«, sagte Ballard.

Die Sirene verstummte, als der Streifenwagen die Zufahrt zur Sicherheitsschleuse herunterkam. Jenkins zwängte sich auf den Rücksitz, und der SUV fuhr sofort wieder los. Ballard blieb mit der Plastiktüte in der Hand an der Schleuse zurück.

Inzwischen konnte sie in der Ferne eine zweite Sirene hören. Der Krankenwagen, der das fünfte Opfer brachte. Ballard schaute hinter sich durch die Glastür und auf die Uhr über dem Notaufnahmeschalter. Es war 1:17 Uhr, und ihre Schicht hatte gerade mal vor zwei Stunden begonnen.

Die Sirene verstummte, als der Rettungswagen die Rampe zur Sicherheitsschleuse herunterkam. Ballard wartete und schaute. Die Flügeltüren am Heck des Krankenwagens gingen auf, und die Rettungssanitäter hievten das fünfte Opfer auf einer Fahrtrage heraus. Die Frau hing bereits an einem Beatmungsgerät.

Ballard hörte, wie die Sanitäter den wartenden Ärzten mitteilten, dass das Opfer im Krankenwagen einen Herzstillstand gehabt hatte und dass sie es reanimiert und stabilisiert, aber kurz vor der Ankunft im Krankenhaus erneut verloren hatten. Das Team von der Notaufnahme kam nach draußen und übernahm die Fahrtrage. Sie schoben sie rasch nach drinnen und direkt zu einem Lift, der sie zu den OPs brachte. Ballard folgte ihnen und schaffte es gerade noch in den Aufzug, bevor die Türen zugingen. Sie stand in der Ecke, während die vier Mitglieder des Teams in ihren hellblauen Kasacks die Frau auf der Trage am Leben zu erhalten versuchten.

Während der Lift ruckelnd nach oben fuhr, nahm Ballard das Opfer genauer in Augenschein. Die Frau trug abgeschnittene Jeans, hohe Converses und ein schwarzes Trägerhemdchen, das von Blut durchtränkt war. In einer Tasche ihrer Jeans steckten vier Stifte. Daraus schloss Ballard, dass das Opfer eine Bedienung aus dem Club war, in dem die Schießerei stattgefunden hatte.

Sie war mitten in die Brust getroffen worden. Ihr Gesicht

»Wer sind Sie?«

Ballard blickte von der Patientin auf, konnte aber nicht sagen, wer sie angesprochen hatte, weil alle Mundschutz trugen. Es war eine Männerstimme gewesen, aber drei der vier Umstehenden waren Männer.

»Ballard, LAPD«, sagte sie.

Sie zog die Dienstmarke von ihrem Gürtel und hielt sie hoch.

»Legen Sie einen Mundschutz an. Wir gehen in den OP

Eine Frau zog einen Mundschutz aus einem Spender an der Wand der Liftkabine und reichte ihn ihr. Ballard legte ihn sofort an.

»Und kommen Sie uns nicht in die Quere.«

Die Tür ging auf. Ballard ging rasch nach draußen und trat zur Seite. Die Fahrtrage rollte aus dem Lift und direkt in einen OP mit einem gläsernen Beobachtungsfenster in der Tür. Ballard blieb davor stehen und sah durch die Glasscheibe zu. Das Ärzteteam versuchte alles, um die junge Frau zu reanimieren und für die Operation vorzubereiten, aber nach fünfzehn Minuten gaben sie auf und erklärten sie für tot. Es war 1:34 Uhr. Ballard notierte sich den Zeitpunkt.

Nachdem das medizinische Personal den OP verlassen hatte, um sich anderen Aufgaben zuzuwenden, blieb Ballard allein zurück. Die Leiche würde bestimmt bald in einen anderen Raum gebracht und dann von einem Wagen der Rechtsmedizin abgeholt. Aber bis dahin hatte Ballard noch etwas Zeit. Sie betrat den OP und betrachtete die Tote. Das Trägerhemd war aufgeschnitten worden, und die Brust war entblößt.

Ballard holte ihr Handy heraus und machte ein Foto von

Ballard bemerkte ein Stück Schnur um den Hals der Toten. Es war keine Kette, nur ein simpler Bindfaden. Falls ein Anhänger daran befestigt war, konnte sie ihn nicht sehen, weil der Bindfaden unter dem blutverklebten Haar der Toten verschwand. Ballard schaute kurz zur Tür des OP, dann wandte sie sich wieder dem Opfer zu und zog die Schnur unter dem Haar hervor. Es war ein kleiner Schlüssel daran befestigt. Auf einem Tablett mit chirurgischen Instrumenten lag ein Skalpell. Sie griff danach und durchtrennte die Schnur. Dann fischte sie einen Gummihandschuh aus der Tasche ihres Jacketts und ließ Schlüssel und Schnur in Ermangelung einer Beweismitteltüte hineingleiten.

Nachdem sie den Handschuh eingesteckt hatte, studierte sie das Gesicht der Toten. Ihre Augen waren leicht geöffnet, und in ihrem Mund steckte immer noch ein Luftschlauch. Das störte Ballard. Er verzerrte das Gesicht der Frau, und sie glaubte, dass ihr das peinlich gewesen wäre, wenn sie noch gelebt hätte. Ballard wollte den Schlauch entfernen, aber sie wusste, dass es gegen die Vorschriften war. Der Rechtsmediziner sollte die Leiche so erhalten, wie sie zum Zeitpunkt des Todes gewesen war. Diese rote Linie hatte sie jedoch bereits überschritten, als sie den Schlüssel an sich genommen hatte, und sie konnte sich nicht damit abfinden, dass das Gesicht durch den Luftschlauch so stark entstellt wurde. Sie wollte gerade danach greifen, als hinter ihr jemand sagte:

»Detective?«

»Das ist ihre Schürze«, sagte er. »Mit ihren Trinkgeldern.«

Sie nahm sie an sich und hielt sie in Augenhöhe.

»Danke«, sagte Ballard. »Ich werde sie mitnehmen. Konnte die Frau schon identifiziert werden?«

»Ich glaube nicht«, sagte der Sanitäter. »Sie hat in dem Club bedient, deshalb hat sie ihre Sachen wahrscheinlich im Auto oder in einem Schließfach oder sonst wo gelassen.«

»Mhm.«

»Aber sie heißt Cindy.«

»Cindy?«

»Ja, wir haben im Club gefragt. Sie wissen schon, damit wir mit ihr reden können. Hat dann aber nichts mehr geholfen. Sie hatte einen Herzstillstand.«

Er blickte auf die Leiche. Ballard glaubte Traurigkeit in seinen Augen zu sehen.

»Wenn wir ein paar Minuten früher eingetroffen wären«, sagte er, »hätten wir ihr vielleicht noch helfen können. Aber schwer zu sagen.«

»Sie haben alles versucht«, sagte Ballard. »Sie würde sich bei Ihnen bedanken, wenn sie könnte.«

Er sah Ballard an.

»Und jetzt werden Sie alles versuchen, hm?«, sagte er.

»Auf jeden Fall«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass es nicht mehr ihr Fall wäre, sobald ihn die RHD übernahm.

Kurz nachdem der Rettungssanitäter gegangen war, kamen zwei Pfleger herein, um die Leiche wegzubringen, damit der OP sterilisiert und wieder verwendet werden konnte – in dieser Nacht war in der Notaufnahme viel los. Sie deckten die Leiche mit einer Plastikplane zu und schoben die Trage hinaus. Der linke Arm der Toten stand unter der Plane hervor, und Ballard sah wieder das Einhorn auf ihrem

Während sie den Flur hinunterging, schaute sie durch die Fenster der anderen OPs. Sie sah, dass Ramón Gutierrez inzwischen nach oben gebracht worden war und gerade operiert wurde, um den von der Hirnschwellung hervorgerufenen Druck zu reduzieren. Sie schaute kurz zu, bis ihr Handy zu summen begann. Sie las die Textnachricht. Sie war von Lieutenant Munroe, der sich nach dem Zustand des fünften Opfers erkundigte. Ballard tippte die Antwort auf dem Weg zum Lift.

HMAL – komme zum Tatort.

HMAL war ein altes LAPD-Kürzel, das am Ende eines Funkspruchs verwendet wurde. Manche behaupteten, es stand für Halt mich auf dem Laufenden, aber in der Praxis stand es für Ende der Durchsage. Im Lauf der Zeit hatte es dann Schichtende zu bedeuten begonnen oder, wie in diesem Fall, den Tod des Opfers.

Während Ballard in dem langsamen Lift nach unten fuhr, streifte sie sich einen Gummihandschuh über, öffnete die Plastiktüte, die ihr der Sanitäter gegeben hatte, und durchsuchte die Schürzentaschen der Kellnerin. In einer waren ein Packen Geldscheine, eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug, in der anderen ein Notizblock. Ballard war schon im Dancers gewesen und wusste, dass der Name des Clubs auf den großartigen L.A.-Roman Der lange Abschied zurückging. Sie wusste auch, dass sie dort eine ganze Karte für Drinks hatten, die nach Büchern benannt waren, die in L.A. spielten, wie etwa Black Dahlia, Blonde Lightning und Indigo Slam. Da war für eine Bedienung ein Notizblock unerlässlich.

Zurück am Auto, öffnete Ballard den Kofferraum und

Bei Ballards Ankunft im Dancers war der Tatort wie ein Zirkus in drei Manegen unterteilt, die jedoch nicht wie bei Barnum & Bailey nebeneinanderlagen, sondern drei konzentrische Kreise bildeten und der Bedeutung und Komplexität des Falls sowie dem zu erwartenden Medieninteresse geschuldet waren. Der innerste Kreis war der eigentliche Tatort. Das war die rote Zone, in der Ermittler und Spurensicherung zugange waren. Sie war umgeben von einem zweiten Ring, in dem sich der Kommandostab und uniformierte Polizisten aufhielten, die Polizeipräsenz zeigen sollten. Außerdem waren dort die Kommandoposten, die Schaulustige und Medien auf Abstand hielten. Im dritten, äußersten Ring drängten sich Reporter, Kameramänner und Neugierige.

Um Platz für das massive Aufgebot an Polizei- und Medienfahrzeugen zu schaffen, waren bereits alle in östlicher Richtung verlaufenden Fahrspuren des Sunset Boulevard gesperrt. Der Verkehr auf der Gegenseite war schleppend. Weil alle langsamer fuhren, um etwas von den Aktivitäten der Polizei mitzubekommen, hatte sich eine lange Schlange roter Bremslichter gebildet. Eine Straße weiter fand Ballard eine Lücke und parkte. Sie nahm die Dienstmarke von ihrem Gürtel, löste die Schnur, die um den Clip auf ihrer Rückseite gewickelt war, und streifte sie sich über den Kopf, sodass die Dienstmarke gut sichtbar von ihrem Hals hing.

Sobald sie das Dancers erreicht hatte, machte sie sich auf die Suche nach dem Officer mit dem Tatortregister, um sich

»Woody, tragen Sie mich ein«, sagte sie.

»Detective Ballard«, sagte er, als er auf seinem Klemmbrett zu schreiben begann. »Ich dachte, das wäre Sache der RHD

»An sich schon, aber ich komme gerade vom fünften Opfer im Hollywood Pres. Wer leitet die Ermittlungen?«

»Lieutenant Olivas. Aber es steckt auch noch jeder vom Hollywood- und West-Bureau-Kommandostab bis rauf zum Commissioner die Nase mit rein.«

Fast hätte Ballard laut aufgestöhnt. Robert Olivas leitete eins der Spezialteams der RHD, der Robbery-Homicide Division. Sie war vor vier Jahren der Mordeinheit zugeteilt worden, zu deren Leiter Olivas von Major Narcotics, der Abteilung für Drogendelikte, befördert worden war. Ihre Zusammenarbeit war jedoch nicht gut verlaufen und hatte dazu geführt, dass Ballard zur Late Show der Hollywood Division versetzt worden war.

»Haben Sie Jenkins irgendwo gesehen?«, fragte sie Dunwoody.

Sie überlegte sofort, wie sie es umgehen könnte, Olivas persönlich über das fünfte Opfer Bericht erstatten zu müssen.

»Hab ich«, sagte Dunwoody. »Aber wo war das gleich wieder? Ach ja, sie holen einen Bus für die Zeugen. Um sie alle nach Downtown zu bringen. Und dafür ist, glaube ich, Jenkins zuständig. Sie wissen schon, er soll aufpassen, dass keiner abhaut. Muss wie mit Ratten auf einem sinkenden Schiff gewesen sein, als die ersten Schüsse gefallen sind. Soviel ich gehört habe jedenfalls.«

Ballard trat einen Schritt näher an Dunwoody heran, um vertraulich mit ihm zu sprechen. Ihr Blick wanderte über

»Was haben Sie sonst noch gehört, Woody?«, fragte sie. »Was ist da drinnen passiert? So was wie letztes Jahr in Orlando?«

»Nein, nein, kein Terroranschlag«, antwortete Dunwoody. »Ich habe mitbekommen, dass da vier Typen an einem Tisch waren, und dann hat es Ärger gegeben. Einer eröffnet plötzlich das Feuer und knallt die anderen drei ab. Und dann hat er auf dem Weg nach draußen noch eine Bedienung und einen Türsteher erschossen.«

Ballard nickte. Das war hilfreich.

»Und wo hält Jenkins die Zeugen fest?«

»Im Biergarten nebenan. Wo früher das Cat and Fiddle war.«

»Alles klar. Danke.«

Das Dancers lag neben einem alten Haus im spanischen Kolonialstil, mit einem Innenhof und einem Garten, der als Freisitzfläche des Cat and Fiddle gedient hatte, eines Pubs, das sich bei den Cops der nahen Hollywood Station nach Dienstschluss – und manchmal schon zuvor – großer Beliebtheit erfreut hatte. Es hatte allerdings – ein Opfer der steigenden Mietpreise in Hollywood – schon vor mindestens zwei Jahren dichtgemacht und stand jetzt leer. Im Moment war es zu einem Pferch für die Zeugen umfunktioniert worden.

Vor dem Eingangsbogen des Biergartens war ein Streifenpolizist postiert. Er erteilte Ballard mit einem Nicken grünes Licht, und sie ging durch das schmiedeeiserne Tor hinein. Jenkins saß an einem alten Steintisch und schrieb in ein Notizbuch.

»Jenks«, sagte Ballard.

»Yo, Partner«, sagte Jenkins. »Hab schon gehört, dass es dein Mädchen nicht geschafft hat.«

»Herzstillstand im Krankenwagen. Danach haben sie

»Nicht viel. Die Schlauen haben sich auf den Boden geworfen, als die Schießerei losging. Die Schlaueren sind sofort abgehauen und sitzen jetzt nicht hier. Wie ich die Sache sehe, werden wir hier nicht mehr gebraucht, sobald der Bus für die armen Schweine hier ist. Dann ist die RHD dran.«

»Ich muss jemandem über mein Opfer Bericht erstatten.«

»Also Olivas oder einem seiner Leute. Kann mir aber vorstellen, dass du darauf nicht besonders scharf bist.«

»Habe ich denn eine andere Wahl? Du sitzt ja hier fest.«

»Worauf ich auch nicht gerade scharf bin.«

»Hat von den Leuten hier jemand erzählt, wie die Bedienung niedergeschossen worden ist?«

Jenkins ließ den Blick über die Tische wandern, an denen etwa zwanzig Personen saßen und warteten. Es war eine bunte Mischung aus Hollywood-Hipstern und sonstigen Nachtschwärmern. Jede Menge Tattoos und Piercings.

»Nein, aber ich habe gehört, dass sie an dem Tisch bedient hat, an dem die Schießerei losging«, sagte Jenkins. »Vier Typen in einer Sitznische. Einer zieht eine Knarre und knallt die anderen drei ab, so wie sie da sitzen. Die Leute rennen weg, unter anderem auch der Täter. Deine Bedienung hat er auf dem Weg zum Ausgang erschossen. Und den Türsteher hat er auch umgelegt.«

»Und niemand weiß, worum es dabei ging?«

»Zumindest niemand von denen hier.«

Er deutete auf die Zeugen. Anscheinend fasste einer der Männer an einem anderen Steintisch diese Geste als Einladung auf. Er stand auf und kam auf sie zu. Die Kette seines Geldbeutels, die von einer Gürtelschlaufe zur Gesäßtasche seiner schwarzen Jeans führte, klimperte bei jedem Schritt.

»Wann sind wir hier endlich fertig, Mann?«, sagte er zu Jenkins. »Ich habe nichts gesehen, und ich weiß auch nichts.«

Der bedrohliche und herrische Unterton, mit dem Jenkins das sagte, konterkarierte die Anrede Sir total. Der Mann sah Jenkins kurz finster an, dann kehrte er an seinen Tisch zurück.

»Wissen sie noch gar nicht, dass sie in einen Bus verfrachtet werden?«, fragte Ballard leise.

»Bisher noch nicht«, antwortete Jenkins.

Bevor Ballard etwas erwidern konnte, begann ihr Handy zu summen. Sie holte es heraus und schaute auf das Display. Es war ein unbekannter Anrufer, aber sie ging dran. Höchstwahrscheinlich war es ein Anruf eines Kollegen.

»Ballard.«

»Detective, hier Lieutenant Olivas. Wie ich höre, waren Sie mit meinem fünften Opfer im Presbyterian. Das war nicht unbedingt in meinem Sinn, aber wenn ich das recht verstanden habe, waren Sie bereits dort.«

Ballard antwortete nicht sofort. Ihre Brust schnürte sich zusammen.

»Richtig«, sagte sie schließlich. »Sie hatte einen Herzstillstand, und die Leiche wird demnächst von der Rechtsmedizin abgeholt.«

»Konnten Sie eine Aussage von ihr bekommen?«

»Nein, sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Sie haben sie zu reanimieren versucht. Ohne Erfolg.«

»Verstehe.«

Das sagte er in einem Ton, als ob es ihre Schuld wäre, dass das Opfer gestorben war, bevor es vernommen werden konnte. Ballard antwortete nichts.