Der Lehrer im Fegefeuer

Es gibt Bilder, die registriert man unbewusst, mit der Präzision eines Fotoapparats, und später dann, wenn man sie im Gedächtnis wiederfindet, zerbricht man sich den Kopf, wo man sie eigentlich gesehen hat.

Maigret tat es nach so vielen Jahren, ohne nachzudenken, doch wenn er ankam, immer leicht außer Atem, ganz oben im steilen und staubigen Treppenhaus der Kriminalpolizei, machte er kurz halt, und sein Blick suchte den Glaskäfig, der als Warteraum diente und der von manchen Aquarium genannt wurde, von anderen Fegefeuer. Vielleicht machten das alle so, und es war inzwischen bereits ein beruflicher Tick?

An diesem Morgen strahlte eine klare und leichte Sonne mit der Heiterkeit von Maiglöckchen über Paris und die rötlichen Schlote der Kamine auf den Dächern, doch im Fegefeuer brannte den ganzen Tag lang eine Lampe, denn dort gab es kein Fenster, und Licht kam nur von dem endlosen Korridor.

Aus irgendeinem rätselhaften Grund hingen gerade hier in zwei schwarzen Rahmen mit Goldleiste die Fotografien von im Dienst getöteten Polizisten.

Noch andere Gestalten mussten durchs Fegefeuer, Männer und Frauen »von Welt«, wie man so sagt, und diese Sorte blieb zunächst immer stehen, als werde man sie jeden Augenblick rufen, von einer Minute zur anderen, als wären sie hier nur für einen ganz bedeutungslosen Besuch. Nach einer gewissen, mehr oder weniger langen Zeit sah man sie langsam zu einem Stuhl gehen, am Ende nahmen sie dort Platz, und nicht selten fand man sie drei Stunden später zusammengesackt, mit trübem Blick, und nun hatten sie keinerlei Sinn mehr für ihren gesellschaftlichen Rang.

An diesem Morgen war nur ein einziger Mann im Fegefeuer, und Maigret fiel auf, dass er zu einem besonderen Typus zählte, den nannte man gewöhnlich »Mausgesicht«. Er war ziemlich mager. Die fliehende, kahle Stirn war gekrönt von einem

Überall, seit Schulzeiten, trifft man Individuen dieser Sorte, und Gott weiß warum, man neigt dazu, sie niemals ernst zu nehmen.

Maigret meinte kaum auf ihn geachtet zu haben, und hätte man ihn beim Öffnen der Bürotür gefragt, wer da draußen saß im Warteraum, er hätte vielleicht keine Antwort gewusst. Es war fünf vor neun. Das Fenster stand weit offen, und ein leichter, blau-gold schimmernder Dunst kam von der Seine. Zum ersten Mal im Jahr trug er seinen Übergangsmantel, aber die Luft war noch frisch, eine Luft, die man am liebsten trinken wollte wie einfachen Weißwein, und sie spannte einem die Haut.

Als er seinen Hut weglegte, warf er einen Blick auf die Visitenkarte, gut sichtbar auf seiner Schreibunterlage. Die Schrift war blass. Joseph Gastin, Lehrer. Unten rechts in der Ecke, in kleineren Buchstaben, sodass man sich vorbeugen musste: Saint-André-sur-Mer.

Er stellte keine Verbindung her zwischen der Karte und dem Mann mit dem Mausgesicht, fragte sich nur, wo kürzlich die Rede gewesen war von Saint-André-sur-Mer. Die Klingel im Flur rief zum Rapport. Er zog seinen Mantel aus, griff nach der Akte, die er am Vorabend bereitgelegt hatte, und

»Jetzt ist wirklich Frühling!«

»Scheint so.«

»Wird ein herrlicher Tag.«

Die großen Fenster im Büro des Direktors leuchteten vom Sonnenlicht wie die einer Dorfkirche, und die Tauben gurrten auf dem steinernen Sims.

Jeder, der hereinkam, sagte dasselbe und rieb sich dabei die Hände:

»Frühling!«

Sie alle waren gut über fünfundvierzig; die Fälle, die sie jetzt besprechen mussten, gehörten samt und sonders ins ernsthafte, zuweilen makabre Fach, aber trotzdem freuten sie sich wie Kinder über die plötzlich so laue Luft und vor allem über dieses Licht, denn es überflutete die Stadt und verwandelte jede Straßenecke, die Fassaden, Dächer, Autos, die über den Pont Saint-Michel rollten, in ein neues Gemälde, und das hätte man sich gerne an die Wand gehängt.

»Haben Sie den stellvertretenden Direktor aus der Filiale Rue de Rivoli getroffen, Maigret?«

»Ich hab eine Verabredung, in einer halben Stunde.«

Ein bedeutungsloser Fall. In dieser Woche war

Maigret stopfte seine Pfeife, am Fenster stehend, und währenddessen diskutierte sein Kollege vom Nachrichtendienst einen anderen Fall, es ging um die Tochter eines Senators, die in eine zweideutige Situation geraten war.

Zurück in seinem Büro, traf er Lucas, der ihn erwartete, den Hut schon auf dem Kopf, er sollte nämlich mitkommen zur Rue de Rivoli.

»Gehn wir zu Fuß?«

Es war ganz nah. Maigret dachte nicht mehr an die Visitenkarte. Als er am Fegefeuer vorbeiging, sah er wieder das Mausgesicht und noch zwei oder drei weitere Kunden, darunter erkannte er den Pächter eines Nachtclubs, der wegen der Tochter des Senators hier war.

Die beiden kamen zum Pont-Neuf, Maigret machte große Schritte, Lucas mit seinen kurzen Beinen musste fast rennen, wenn er mithalten wollte. Später hätten sie nicht mehr sagen können, worüber sie sich unterhielten. Vielleicht hatten sie auch einfach nur herumgeschaut. In der Rue de Rivoli lag ein starker Geruch von Obst und Gemüse in der Luft, und die Lastwagen waren beladen mit Kiepen und Körben.

Es gab keine Beweise, drum stellte man ihm jetzt eine Falle. Sie besprachen die Einzelheiten, gaben sich die Hand. Maigret und Lucas waren bald wieder draußen, und die Luft war so lau, dass beide ihre Mäntel über den Arm nahmen, und dabei verspürten sie einen Hauch von Ferien.

»Einen auf die Schnelle?«

Es war noch nicht Zeit für den Aperitif, doch beide hatten den Eindruck, der Geschmack von Pernod würde aufs Wunderbarste harmonieren mit dieser Frühlingsatmosphäre, und sie traten durch die Tür der Brasserie Dauphine.

»Zwei Pernods, rasch, im Stehen!«

»Kennst du eigentlich Saint-André-sur-Mer?«

»Ich glaube, das ist irgendwo in den Charentes.«

Es erinnerte Maigret an den sonnigen Strand bei Fouras, an die Austern, die er gegessen hatte, genau um diese Uhrzeit, auf der Terrasse eines kleinen Bistros, begleitet von einer Flasche Weißwein aus der Gegend, die hatte einen leichten, sandigen Bodensatz.

»Glaubst du, der Angestellte trickst?«

»Der Direktor ist davon überzeugt, scheint’s.«

»Sieht aus wie ein armer Hund.«

Sie gingen über den Quai des Orfèvres, nahmen die große Treppe, und wieder machte Maigret kurz halt. Mausgesicht war immer noch da, vorgebeugt, die langen, knochigen Hände gefaltet im Schoß. Er hob die Augen zum Kommissar, und der fand darin so etwas wie einen Vorwurf.

In seinem Büro sah er die Visitenkarte, dort, wo er sie hingelegt hatte, und er klingelte nach dem Bürodiener.

»Ist er noch da?«

»Seit früh um acht. Ist schon vor mir gekommen. Er sagt immer, er muss mit Ihnen persönlich sprechen.«

Jede Menge Leute, vor allem Verrückte und Halbverrückte, wollten unbedingt den Direktor persönlich sprechen, oder den Kommissar, denn sie kannten seinen Namen aus der Zeitung. Sie lehnten es ab, dass ein Inspektor sie empfing, und manch einer wartete den lieben langen Tag, kam am nächsten Morgen wieder, erhob sich jedes Mal, wenn er den Kommissar vorbeigehen sah, setze sich hin und wartete weiter.

»Hol ihn rein.«

Er nahm Platz, stopfte zwei, drei Pfeifen, wies, als man den Mann hereinführte, auf den Stuhl gegenüber. Dann fragte er, die Visitenkarte in der Hand:

»Sind Sie das?«

Anstatt die Frage zu beantworten, murmelte er und warf dabei auf den Kommissar einen so ängstlichen wie resignierten Blick:

»Wissen Sie Bescheid?«

»Über was?«

Er schien überrascht, verwirrt, vielleicht sogar enttäuscht.

»Ich dachte, es ist schon bekannt. Ich bin gestern Abend weggefahren aus Saint-André, und da war schon ein Reporter. Ich habe den Nachtzug genommen. Ich bin gleich hierhergekommen.«

»Wieso?«

Er wirkte intelligent, war aber offenbar ziemlich durcheinander und wusste nicht, wie er beginnen sollte mit seiner Geschichte. Maigret hatte ihn eingeschüchtert. Man merkte es ihm an, er kannte schon lange seinen Ruf, und wie viele andere sah er in ihm fast eine Art Gottvater.

Aus der Entfernung war es ihm leicht erschienen. Jetzt hatte er vor sich einen Mann aus Fleisch und Blut, der in kurzen Zügen seine Pfeife rauchte und ihn dabei anschaute, aus großen, fast gleichgültigen Augen.

»Die denken da natürlich, ich bin geflüchtet«, stieß er hervor, nervös und mit bitterem Lächeln. »Wenn ich schuldig wäre, und davon sind die ja überzeugt, wenn ich wirklich flüchten wollte, dann säße ich jetzt nicht hier, oder?«

»Ich kann die Frage schlecht beantworten, solange ich nichts weiß«, murmelte Maigret. »Was wirft man Ihnen denn vor?«

»Dass ich Léonie Birard umgebracht habe.«

»Wer beschuldigt Sie?«

»Das ganze Dorf, mehr oder weniger offen. Der Gendarmerieleutnant hat sich nicht getraut, mich zu verhaften. Er hat keine Beweise, das gibt er sogar zu, aber er hat gewollt, dass ich den Ort nicht verlasse.«

»Sie sind trotzdem losgefahren?«

»Ja.«

»Warum?«

Der Besucher, viel zu angespannt, um lange dazusitzen, sprang auf mit einem Ruck und stammelte:

»Erlauben Sie?«

Er wusste nicht, wohin mit sich.

»Manchmal frag ich mich, wo mir der Kopf steht.«

Er zog ein schmuddeliges Taschentuch hervor, wischte sich die Stirn. Es roch wohl nach Eisenbahn und auch nach Schweiß.

»Nein. Ich wollte schnell hierher. Und ich wollte nicht, dass man mich vorher verhaftet, verstehen Sie?«

Wie sollte Maigret das verstehen?

»Warum genau sind Sie hergekommen?«

»Weil ich Vertrauen habe in Sie. Ich weiß, wenn Sie wollen, kriegen Sie die Wahrheit raus.«

»Wann ist diese Dame … Was haben Sie gesagt, wie heißt sie?«

»Léonie Birard. Unsere alte Postfrau.«

»Wann ist sie gestorben?«

»Dienstagvormittag, da hat man sie umgebracht. Vorgestern. Vormittags kurz nach zehn.«

»Hat einer Sie wegen der Tat beschuldigt?«

»Sie kommen vom Land, das stand in einer Illustrierten. Sie sind da auch die längste Zeit geblieben, in Ihrer Jugend. Sie wissen, wie das zugeht in so einem kleinen Ort. Saint-André hat grade mal dreihundertzwanzig Einwohner.«

»Augenblick. Die Tat, von der Sie reden, die ist in den Charentes passiert?«

»Ja. Fünfzehn Kilometer von La Rochelle, Richtung Nordwest, nicht weit von der Pointe de l’Aiguillon. Sagt Ihnen das was?«

»Ein bisschen. Aber ich gehöre zur Kriminalpolizei Paris, ich habe keinerlei Befugnisse in den Charentes.«

»In dem Fall …«

Der Mann trug seinen besten Anzug, etwas zerknittert; der Hemdkragen abgewetzt. Er stand mitten im Büro, senkte den Kopf und starrte auf den Teppich.

»Natürlich …«, seufzte er.

»Was meinen Sie damit?«

»Es war ein Fehler. Ich weiß nicht mehr. Ich dachte, es ist ganz einfach.«

»Was?«

»Hierherkommen, unter Ihren Schutz.«

»Unter meinen Schutz?«, wiederholte Maigret überrascht.

Gastin schaute ihn nun doch endlich an, mit dem Ausdruck eines Mannes, der sich fragt, wie es um ihn steht.

»Sogar wenn sie mich nicht verhaften, ich muss wohl auf das Schlimmste gefasst sein.«

»Die mögen Sie nicht?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Erstens weil ich Lehrer bin und Gemeindesekretär.«

»Verstehe ich nicht.«

»Sie, Sie sind lange weg vom Land. Die da haben alle Geld. Das sind Bauern und Muschelzüchter. Kennen Sie die Muschelzäune?«

»Ja. Wir sind mittendrin, im Land der Austern und Muschelbänke. Jeder besitzt mindestens ein Eckchen. Das bringt was ein. Die sind reich. Fast alle haben ein Auto oder einen Lieferwagen. Aber wissen Sie, wie viele da Steuern zahlen auf ihr Einkommen?«

»Nicht sehr viele, oder?«

»Kein Einziger! Im Dorf sind das nur der Doktor und ich. Aber klar, ich bin’s, mich nennen sie einen Faulpelz. Die bilden sich ein, dass sie es sind, die mich bezahlen. Wenn ich mich beschwere, weil die Kinder schwänzen, krieg ich zur Antwort, kümmern Sie sich um Ihren Kram. Und wenn ich verlange, dass die Kinder mich auf der Straße grüßen, meinen sie, ich halte mich für den Präfekt.«

»Erzählen Sie mir von dem Fall Léonie Birard.«

»Wirklich?«

Durch diesen Hoffnungsstrahl gewann sein Blick an Festigkeit. Er bezwang sich und nahm Platz, sprach betont ruhig, konnte aber nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte vor kaum beherrschter Erregung.

»Sie müssten das Dorf kennen, die Örtlichkeiten. Von hier aus erklärt man das nur schwer. Die Schule ist hinterm Rathaus, wie fast überall. Ich wohne da auch, auf der anderen Seite vom Schulhof, und ich habe einen kleinen Gemüsegarten. Vorgestern,

»Ist das wichtig?«

»Bei Niedrigwasser, also wenn die Ebbe sehr niedrig ist, da sammelt keiner Muscheln, auch keine Austern. Verstehen Sie?«

»Ja.«

»Jenseits vom Schulhof sind Gärten und dahinter ein paar Häuser, auch das Haus von Léonie Birard.«

»Wie alt war die Frau?«

»Sechsundsechzig. Als Gemeindesekretär weiß ich das Alter von allen.«

»Na sicher.«

»Seit acht Jahren ist sie in Rente und inzwischen ganz schön gebrechlich. Sie bleibt immer zu Hause, geht am Stock. Sie ist bösartig, die Frau.«

»Wieso bösartig?«

»Sie hasst alle und jeden.«

»Warum?«

»Weiß ich nicht. Sie war nie verheiratet. Ihre Nichte hat lange bei ihr gewohnt, dann hat sie Julien geheiratet, den Klempner, der ist gleichzeitig Feldhüter.«

An einem anderen Tag hätten diese Geschichten Maigret vielleicht gelangweilt. An diesem Vormittag, mit der Sonne, die durchs Fenster schien und Frühlingswärme brachte, mit seiner Pfeife, die ganz neu schmeckte, folgte er, ein leichtes Lächeln auf den

»Die beiden Frauen sehen sich nicht mehr, Léonie hat nicht gewollt, dass ihre Nichte heiratet. Doktor Bresselles sieht sie auch nicht mehr, sie beschuldigt ihn, dass er sie vergiften will mit seiner Medizin.«

»Er hat versucht, sie zu vergiften?«

»Nein, natürlich nicht. Ich will Ihnen nur zeigen, was das ist für eine Sorte Frau, besser gesagt: war. Als sie noch am Schalter saß, in der Post, hat sie die Telefongespräche mitgehört, die Postkarten gelesen, sie kannte die Geheimnisse von jedem. Da war es nicht schwer, und sie hat alle gegeneinander aufgehetzt. Die meisten Streitereien zwischen Familien oder mit Nachbarn gingen auf ihr Konto.«

»Und keiner konnte sie leiden.«

»Natürlich nicht.«

»Na dann …«

Maigret schien sagen zu wollen, dann ist ja alles ganz einfach, wenn alle Welt eine Frau hasst, und sie ist tot, dann sind doch alle froh.

»Nur können die mich auch nicht leiden.«

»Aus dem Grund, den Sie gesagt haben?«

»Deshalb und auch sonst. Ich bin nicht aus der Gegend. Ich komme aus Paris, Rue Caulaincourt,

»Ihre Frau wohnt auch in Saint-André?«

»Wir leben zusammen, mit unserem Sohn, er ist dreizehn.«

»Geht er bei Ihnen zur Schule?«

»Es gibt keine andere.«

»Wird er von seinen Kameraden drangsaliert, als Sohn vom Lehrer?«

Auch das kannte Maigret. Es erinnerte ihn an die eigene Kindheit. Die Söhne der Pächter hatten ihn drangsaliert, denn er war der Sohn des Verwalters, und der machte mit ihren Vätern die Abrechnungen.

»Ich ziehe ihn nicht vor, ich schwör’s Ihnen. Ich habe sogar den Verdacht, er ist absichtlich nicht so gut, wie er sein könnte.«

Langsam hatte er sich beruhigt. In seinen Augen stand nicht mehr die gleiche Angst. Er war kein Verrückter, der eine Geschichte erfindet, um sich wichtigzumachen.

»Für Léonie Birard war ich das schwarze Schaf.«

»Ohne Grund?«

»Sie hat behauptet, dass ich die Kinder gegen sie aufhetze. Ich sage ganz ausdrücklich, Herr Kommissar, das stimmt nicht. Im Gegenteil, ich habe immer Wert drauf gelegt, dass sie sich verhalten wie gut erzogene Kinder. Sie war sehr dick, richtig monströs. Außerdem trug sie wohl eine

Gab es das nicht auch in seinem Dorf, eine solche Alte? Zu seiner Zeit war es die Kurzwarenhändlerin gewesen, die alte Tatin hatte diese Rolle gespielt, und dafür quälten sie ihren Kater.

»Ich langweile Sie vielleicht mit den Einzelheiten, aber die sind wichtig. Es hat schlimmere Sachen gegeben, die Jungs haben der Alten die Scheiben eingeschlagen oder Dreck reingeworfen durchs Fenster. Sie hat sich bei der Gendarmerie beschwert, ich weiß nicht, wie oft. Der Leutnant ist zu mir gekommen, hat nach den Namen der Schuldigen gefragt.«

»Und? Haben Sie welche genannt?«

»Ich habe geantwortet, es hätten mehr oder weniger alle mitgemacht, und wenn sie aufhören würde, die Schreckschraube zu spielen und mit dem Stock rumzufuchteln, dann wär wahrscheinlich schnell wieder Ruhe.«

»Maria, die Polin, die zwei Kinder hat und putzen geht, ist am frühen Nachmittag gegen halb zwei wie jeden Tag hinüber zur alten Birard. Die Fenster standen offen, und von der Schule aus habe ich sie schreien gehört, Worte in ihrer eigenen Sprache, so wie immer, wenn sie sich aufregt. Maria heißt mit vollem Namen Maria Smelker und ist mit sechzehn ins Dorf gekommen, als Bauernmagd, und sie hat nie geheiratet. Ihre Kinder sind von unterschiedlichen Vätern. Die Leute sagen, mindestens zwei sind vom Vizebürgermeister. Der hasst mich auch, aber das ist eine andere Geschichte. Die erzähle ich Ihnen später.«

»Dienstag also, gegen halb zwei, da hat Maria um Hilfe gerufen.«

»Ja. Ich bin in der Klasse geblieben, weil ich gehört habe, dass Leute rübergerannt sind zu der Alten. Ein bisschen später habe ich das kleine Auto vom Doktor vorbeifahren sehen.«

»Sie sind nicht nachschauen gegangen?«

»Nein. Und jetzt drehen manche mir draus einen Vorwurf, sie behaupten, ich hätte mir nicht die Mühe gemacht, weil ich sowieso gewusst habe, was es zu sehen gab.«

»Ich nehme an, Sie konnten die Klasse nicht verlassen?«

»Doch, schon. Es kommt vor, dass ich einen

»Sie ist Lehrerin?«

»Sie war es.«

»Auf dem Land?«

»Nein. Wir haben alle beide an der Schule in Courbevoie gearbeitet, da waren wir sieben Jahre. Sie hat gekündigt, als ich beantragt habe, dass man mich aufs Land versetzt.«

»Warum sind Sie weggegangen aus Courbevoie?«

»Wegen der Gesundheit meiner Frau.«

Das Thema war ihm unangenehm. Er antwortete weniger offen.

»Sie haben also Ihre Frau nicht gerufen, wie Sie es sonst manchmal tun, und geblieben sind Sie bei Ihren Schülern.«

»Ja.«

»Wie ging’s dann weiter?«

»Über eine Stunde war ein riesiges Durcheinander. Das Dorf ist normalerweise ganz ruhig. Geräusche hört man sehr weit. Das Hämmern bei Marchandon hat aufgehört, beim Schmied. Die Leute haben sich was zugerufen, über die Hecken zwischen den Gärten hinweg. Sie wissen, wie das ist, wenn so eine Sache passiert. Damit die Schüler nicht immer nervöser werden, bin ich gegangen und habe die Fenster zugemacht.«

»Von einem Fenster aus, ja.«

»Was haben Sie gesehen?«

»Zuerst den Feldhüter, und das hat mich gewundert, denn er hat nie ein Wort gesprochen mit der Tante seiner Frau. Und Théo auch, den Vizebürgermeister, der war sicher schon halb betrunken, das ist er immer morgens ab zehn. Gesehen habe ich auch den Doktor, und ein paar Nachbarn, alle waren im selben Zimmer, ganz aufgeregt, und sie schauten dauernd auf den Boden. Später ist dann der Gendarmerieleutnant aus La Rochelle gekommen, und zwei von seinen Leuten. Das habe ich aber erst gemerkt, als er an die Klassentür geklopft hat, und da hatte er schon Zeit genug gehabt und alle möglichen Personen ausgefragt.«

»Hat er Sie beschuldigt, Sie hätten Léonie Birard umgebracht?«

Gastin schenkte dem Kommissar einen Blick, der so viel besagte wie:

»Sie wissen ganz genau, so läuft das nie.«

Und er erklärte mit fast tonloser Stimme:

»Ich habe sofort gesehen, dass er mich komisch anschaut. Als Erstes hat er mich gefragt:

›Besitzen Sie ein Kleinkalibergewehr, Gastin?‹

Ich habe Nein gesagt, aber mein Sohn, Jean-Paul, der hätte eins. Das ist auch eine komplizierte

Im letzten Herbst, ich weiß nicht wer, aber jemand hat auf einmal ein Gewehr Kaliber .22 und schießt auf Spatzen. Einen Monat später gab es schon ein halbes Dutzend. Mein Sohn hat sich eins zu Weihnachten gewünscht. Ich dachte, ich kann ihm das nicht abschlagen.«

Sogar das Kleinkaliber weckte bei Maigret Erinnerungen, doch mit einem Unterschied, denn seines damals war ein Luftdruckgewehr, und die Bleikugeln zausten den Vögeln gerade mal etwas die Federn.

»Ich habe dem Leutnant gesagt, soweit ich weiß, ist das Gewehr in Jean-Pauls Zimmer. Er hat einen von seinen Männern zum Nachschauen geschickt. Ich hätte meinen Sohn fragen müssen. Ich habe nicht dran gedacht. Das Gewehr war nämlich nicht da, er hatte es im Schuppen vom Gemüsegarten gelassen, wo ich meine Schubkarre habe und das Werkzeug.«

»Léonie Birard wurde mit einem Kleinkalibergewehr erschossen?«

»Das ist wirklich ganz seltsam. Und ist auch nicht

»Sie sind aber rausgegangen?«