Es war ein außergewöhnlicher Mai, wie man ihn nur zwei- oder dreimal im Leben erlebt, der strahlt, schmeckt und duftet wie Kindheitserinnerungen. Maigret nannte ihn einen Mai des Lobgesangs, denn er ließ ihn zugleich an seine erste Kommunion und an seinen ersten Pariser Frühling denken, als alles neu und wundervoll für ihn war.

Einige Male musste er auf der Straße, im Bus, in seinem Büro plötzlich stocken, weil ein ferner Klang, ein warmer Hauch, ein heller Fleck auf einer Bluse ihn überraschte und in die Zeit vor zwanzig oder dreißig Jahren zurückversetzte.

Als sie am Vortag zum Abendessen mit den Pardons aufbrechen wollten, hatte ihn seine Frau fast errötend gefragt:

»Wirke ich nicht lächerlich, in meinem Alter mit einem geblümten Kleid?«

Ihre Freunde, die Pardons, hatten an diesem Abend etwas Neues ausprobiert. Statt die Maigrets zu sich einzuladen, hatten sie sie in ein kleines Restaurant am Boulevard du Montparnasse gebeten, wo sie alle vier auf der Terrasse gesessen hatten.

»Gibt es Lammragout?«

Die Besitzer hatten gewechselt, aber Lammragout stand immer noch auf der Karte. Wie damals wackelten die Lampen auf den Tischen, gab es Kübel mit Grünpflanzen und Chavignol aus der Karaffe.

Sie waren alle vier in bester Stimmung gewesen. Beim Kaffee hatte Pardon eine Zeitschrift mit weißem Titelblatt aus seiner Tasche gezogen.

»Übrigens, Maigret, im Lancet ist von Ihnen die Rede.«

Der Kommissar hatte den Namen dieser berühmten und seriösen medizinischen Fachzeitschrift aus England schon gehört und die Stirn gerunzelt.

»Ich meine, man spricht von Ihrem Beruf im Allgemeinen. Der Artikel ist von einem gewissen Doktor Richard Fox, ich übersetze sinngemäß die Stelle, die Sie interessieren könnte:

Ein erfahrener Psychiater, der sich auf seine wissenschaftlichen Kenntnisse und seine Berufserfahrung stützt, ist durchaus in der Lage, die Menschen zu verstehen. Dennoch ist es möglich, vor allem, wenn er sich von einer Theorie

Sie hatten sich darüber eine Weile unterhalten, erst scherzend, später in ernsterem Ton. Dann waren die Maigrets zu Fuß durch die stillen Straßen nach Hause gegangen.

Der Kommissar ahnte da noch nicht, dass ihm die Worte des Londoner Arztes in den nächsten Tagen mehrmals wieder einfallen sollten. Die Erinnerungen, die dieser vollkommene Mai in ihm aufrührte, würden ihm dann beinahe wie eine Vorahnung erscheinen.

Am nächsten Tag im Bus zum Châtelet betrachtete er die Gesichter mit der gleichen Neugier wie damals, als er noch ganz neu in der Hauptstadt war.

Und es erschien ihm seltsam, als Hauptkommissar die Treppe der Kriminalpolizei hinaufzusteigen und respektvoll gegrüßt zu werden. War es schon so lange her, dass er dieses Haus ganz aufgeregt betreten hatte, dessen Chefs ihm damals wie lebende Legenden vorgekommen waren?

Er fühlte sich leicht und melancholisch zugleich. Bei offenem Fenster sah er seine Post durch und rief den jungen Lapointe, um ihm Instruktionen zu geben.

In fünfundzwanzig Jahren hatte sich die Seine

In kurzen Zügen seine Pfeife rauchend, machte er gerade seine »Hausarbeit«, wie er es nannte, räumte Aktenstapel weg und schloss unwichtige Fälle ab, als das Telefon klingelte.

»Können Sie einen Augenblick zu mir kommen, Maigret?«, fragte der Leiter der Kriminalpolizei.

Ohne Eile begab sich der Kommissar in das Büro des Chefs und blieb dort am Fenster stehen.

»Gerade habe ich einen merkwürdigen Anruf vom Quai d’Orsay erhalten, nicht vom Außenminister persönlich, aber von seinem Kabinettschef. Man bittet mich, sofort jemanden hinzuschicken, jemanden in verantwortungsvoller Position. Das waren seine Worte.

›Einen Inspektor?‹, habe ich gefragt.

›Lieber einen höheren Beamten. Es handelt sich wahrscheinlich um ein Verbrechen.‹«

Die beiden Männer sahen sich etwas spöttisch an, denn keiner von ihnen schätzte die Ministerien besonders, und schon gar nicht ein so hochgestochenes wie das Außenministerium.

»Ich dachte, Sie wollen vielleicht selbst hinfahren …«

»Das wird das Beste sein.«

»Sie sollen nach einem gewissen Cromières fragen. Er erwartet Sie.«

»Ist das der Kabinettschef?«

»Nein. Es ist der Mann, der sich um den Fall kümmert.«

»Soll ich einen Inspektor mitnehmen?«

»Ich weiß nicht mehr als das, was ich Ihnen eben gesagt habe. Diese Leute tun gern geheimnisvoll.«

Am Ende entschied sich Maigret, Janvier mitzunehmen, und sie fuhren mit einem Taxi zum Quai d’Orsay. Man schickte sie nicht in Richtung der großen Treppe, sondern zu einer schmalen, nicht gerade einladenden am Ende des Hofs, als wollte man sie über die Hinterbühne oder den Dienstboteneingang hereinlassen. Sie irrten eine ganze Weile durch die Flure, bis sie einen Wartesaal und einen eleganten Amtsdiener entdeckten, dem Maigrets Name nichts sagte und der ihn einen Anmeldezettel ausfüllen ließ.

Schließlich führte man sie in ein Büro, in dem ein sehr junger, geschniegelter Beamter stumm und reglos einer alten Frau gegenübersaß, die ebenso zu Stein erstarrt schien wie er. Offenbar warteten sie schon lange so, wahrscheinlich seitdem die Kriminalpolizei angerufen worden war.

»Kommissar Maigret?«

»Da ich nicht wusste, worum es geht, bin ich zur Sicherheit in Begleitung eines meiner Inspektoren gekommen.«

»Setzen Sie sich.«

Cromières war ganz darauf bedacht, wichtig zu wirken, und seine Art zu sprechen hatte etwas Herablassendes, typisch für das Außenministerium.

»Wenn der Quai sich unmittelbar an die Kriminalpolizei gewandt hat …«

Er sprach das Wort »Quai« aus, als handelte es sich um eine sakrosankte Institution.

»… dann, Herr Kommissar, weil wir uns einem sehr besonderen Fall gegenübersehen.«

Maigret beobachtete ihn und zugleich die alte Frau. Sie schien auf einem Ohr taub zu sein, denn sie legte den Kopf schief und reckte den Hals, um besser zu verstehen, dazu folgte sie den Lippenbewegungen.

»Mademoiselle …«

Cromières schaute auf ein Formular auf seinem Schreibtisch.

»Mademoiselle Larrieu ist Zimmermädchen oder Haushälterin bei einem unserer distinguiertesten ehemaligen Botschafter, Comte de Saint-Hilaire, von dem Sie sicher schon gehört haben.«

»Seit seiner Pensionierung vor zwölf Jahren lebte der Comte de Saint-Hilaire in Paris in seiner Wohnung in der Rue Saint-Dominique. Heute Morgen hat sich Mademoiselle Larrieu um halb neun hier eingefunden und musste eine ganze Zeit warten, bis man sie zu einem höheren Beamten geführt hat.«

Maigret malte sich die leeren Büros um halb neun Uhr morgens aus, die alte Frau, reglos im Vorzimmer, den Blick starr auf die Tür gerichtet.

»Mademoiselle Larrieu steht seit über vierzig Jahren im Dienst des Comte de Saint-Hilaire.«

»Sechsundvierzig«, verbesserte sie.

»Also sechsundvierzig. Sie hat ihn auf seine verschiedenen Posten begleitet und sich um seinen Haushalt gekümmert. In den letzten zwölf Jahren lebte sie mit dem Botschafter allein in der Wohnung in der Rue Saint-Dominique. Nachdem sie heute Morgen das Schlafzimmer leer vorgefunden hatte, in das sie ihrem Herrn das Frühstück zu bringen pflegte, entdeckte sie ihn tot in seinem Arbeitszimmer.«

Die alte Frau sah sie alle nacheinander an, scharf, prüfend und misstrauisch.

»Ihrer Aussage nach ist Saint-Hilaire von einer oder mehreren Kugeln getroffen worden.«

Der blonde junge Mann setzte eine süffisante Miene auf.

»Ich verstehe Ihr Erstaunen. Bedenken Sie aber, dass Mademoiselle Larrieu einen großen Teil ihres Lebens in der diplomatischen Welt verbracht hat. Auch wenn der Comte pensioniert war, hat sie geglaubt, die im diplomatischen Dienst erforderliche Diskretion wahren zu müssen.«

Maigret zwinkerte Janvier zu.

»Und auf die Idee, einen Arzt zu rufen, ist sie auch nicht gekommen?«

»An seinem Tod scheint kein Zweifel zu bestehen.«

»Wer ist im Augenblick in der Rue Saint-Dominique?«

»Niemand. Mademoiselle Larrieu ist direkt hierhergekommen. Um Missverständnisse zu vermeiden und damit wir keine Zeit verlieren, bin ich ermächtigt, Ihnen zu sagen, dass der Comte de Saint-Hilaire nicht im Besitz irgendeines Staatsgeheimnisses war und dass folglich ein politischer Grund für seinen Tod ausscheidet. Äußerste Vorsicht ist trotzdem geboten. Da es sich um einen prominenten Diplomaten handelt, werden die Zeitungen die Sache nur allzu gern aufbauschen und die unwahrscheinlichsten Hypothesen aufstellen.«

Der junge Mann erhob sich.

»Sie auch?«, fragte Maigret in unschuldigem Ton.

»Keine Sorge! Ich werde mich nicht in Ihre Ermittlungen einmischen. Ich begleite Sie nur, um sicherzugehen, dass dort nichts ist, was uns in eine peinliche Situation bringen könnte.«

Die alte Frau hatte sich ebenfalls erhoben. Alle vier gingen die Treppe hinunter.

»Wir nehmen besser ein Taxi. Das fällt weniger auf als eine Limousine vom Quai.«

Die Strecke war lächerlich kurz. Das Auto hielt vor einem imposanten Haus aus dem späten 18. Jahrhundert. Keine Menschenansammlung, nicht einen Schaulustigen gab es dort. Sie fuhren durch die Toreinfahrt, ein kühles Gewölbe. In der Loge, die eher einem Salon ähnelte, war ein Concierge in Uniform zu sehen, ebenso ehrfurchtgebietend wie der Amtsdiener im Ministerium.

Sie gingen links vier Stufen hinauf. Der Fahrstuhl in der Halle aus dunklem Marmor stand still. Die alte Frau zog einen Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete eine Tür aus Nussbaumholz.

»Hier entlang …«

Sie führte sie durch einen Flur in ein Zimmer, das zum Hof hin liegen musste, doch die Fensterläden und Vorhänge waren geschlossen. Mademoiselle Larrieu bediente den Lichtschalter, und sie sahen

Die drei Männer zogen mit der gleichen Geste die Hüte, während die alte Haushälterin sie beinahe herausfordernd anschaute.

»Was habe ich Ihnen gesagt?«, schien sie zu murmeln.

Man brauchte sich tatsächlich nicht über den Leichnam zu beugen, um festzustellen, dass der Comte de Saint-Hilaire tot war. Eine Kugel war durch das rechte Auge eingedrungen und hatte die Schädeldecke zerschmettert. Risse in dem schwarzsamtenen Morgenmantel und Blutflecken ließen darauf schließen, dass der Körper an mehreren Stellen noch von anderen Kugeln getroffen worden war.

Monsieur Cromières trat als Erster an den Schreibtisch.

»Sehen Sie. Er war offenbar dabei, Druckfahnen zu korrigieren.«

»Hat er ein Buch geschrieben?«

»Seine Memoiren. Zwei Bände sind schon erschienen. Es wäre lächerlich, darin den Grund für seinen Tod zu suchen, denn Saint-Hilaire war äußerst diskret, und seine Memoiren waren eher literarisch und pittoresk als politisch.«

Cromières drosch Phrasen und hörte sich anscheinend gern reden. Maigret ging das allmählich

»Ich denke«, brummte der Kommissar nicht ohne Ironie, »man sollte es trotzdem der Staatsanwaltschaft melden.«

Auf dem Schreibtisch stand ein Telefon, aber das rührte er lieber nicht an.

»Janvier, ruf mal von der Loge aus an. Benachrichtige die Staatsanwaltschaft und den Kommissar des Viertels.«

Die Alte blickte sie einen nach dem anderen an, als wäre es ihre Mission, sie zu überwachen. Sie hatte einen harten Blick, ohne Mitgefühl, ohne menschliche Wärme.

»Was machen Sie da?«, fragte Maigret, als er den Mann vom Quai d’Orsay die Türen eines Bücherschranks öffnen sah.

»Ich werfe nur einen Blick hinein.«

Mit einer bei einem jungen Mann seines Alters unangenehmen Selbstsicherheit fügte er hinzu:

»Ich muss mich trotz allem vergewissern, dass sich hier keine Papiere befinden, von denen die Öffentlichkeit besser nichts erfährt …«

War er so jung, wie er wirkte? Welcher Abteilung gehörte er eigentlich an? Ohne auf die

Währenddessen ging Maigret ungeduldig und schlecht gelaunt im Zimmer auf und ab.

Cromières machte sich dann an anderen Möbeln zu schaffen, wühlte in Schubladen, während die alte Frau immer noch mit dem Hut auf dem Kopf und der Tasche in der Hand an der Tür stand.

»Würden Sie mich in sein Schlafzimmer führen?«

Sie ging dem Mann vom Quai voraus. Maigret blieb im Arbeitszimmer, wohin Janvier kurz darauf zurückkehrte.

»Wo sind sie?«

»Im Schlafzimmer.«

»Was tun wir?«

»Im Augenblick nichts. Monsieur räumt hoffentlich bald das Feld.«

Nicht nur er reizte den Kommissar. Es war auch die ganze Art, wie sich die Sache anließ, und vielleicht vor allem das ihm wenig vertraute Milieu, in das er sich plötzlich hineingeworfen fühlte.

»Der Polizeikommissar wird gleich hier sein.«

»Hast du ihm gesagt, worum es geht?«

»Ich habe ihn nur gebeten, einen Arzt mitzubringen.«

»Hast du den Erkennungsdienst angerufen?«

»Und die Staatsanwaltschaft?«

»Auch.«

Das Arbeitszimmer war geräumig und wohnlich. Es hatte nichts Feierliches, aber eine spürbare Vornehmheit, die dem Kommissar gleich beim Eintreten aufgefallen war. Jedes Möbelstück, jeder Gegenstand war für sich genommen geschmackvoll. Selbst der am Boden liegende Alte mit dem fast herausgerissenen Schädel bewahrte in dieser Umgebung die Haltung eines bedeutenden Mannes.

Cromières kam mit der alten Haushälterin zurück.

»Ich denke, ich habe hier nichts mehr zu tun. Aber noch einmal empfehle ich Ihnen Vorsicht und Diskretion. Selbstmord war es sicher nicht, da sich hier keine Waffe befindet. Darüber sind wir uns doch wohl einig? Ich überlasse es Ihnen, herauszufinden, ob etwas gestohlen wurde. Jedenfalls wäre es unangenehm, wenn die Presse den Fall an die große Glocke hängen würde.«

Maigret blickte ihn stumm an.

»Wenn es Ihnen recht ist, rufe ich Sie an, um den Stand der Dinge zu erfahren«, fuhr der junge Mann fort. »Falls Sie Auskünfte brauchen, können Sie sich jederzeit an mich wenden.«

»Danke.«

Er ging nur ungern.

»Ich zähle auf Sie …«

Die alte Larrieu folgte ihm, um die Tür hinter ihm zu schließen, und tauchte kurz darauf ohne Hut und Handtasche wieder auf. Sie kam aber nicht, um dem Kommissar Hilfe anzubieten, sondern um die beiden Männer zu überwachen.

»Schlafen Sie hier in der Wohnung?«

Als Maigret sie ansprach, sah sie ihn nicht an und schien ihn nicht verstanden zu haben. Er wiederholte seine Frage lauter. Diesmal beugte sie den Kopf und hielt ihm ihr gesundes Ohr hin.

»Ja. Ich habe ein kleines Zimmer hinter der Küche.«

»Weitere Dienstboten gibt es nicht?«

»Nicht hier, nein.«

»Sie alleine machen den Haushalt und kochen?«

»Ja.«

»Wie alt sind Sie?«

»Dreiundsiebzig.«

»Und der Comte de Saint-Hilaire?«

»Siebenundsiebzig.«

»Wann haben Sie ihn gestern Abend verlassen?«

»War er da in seinem Arbeitszimmer?«

»Ja.«

»Erwartete er jemanden?«

»Er hat mir nichts gesagt.«

»Bekam er manchmal abends Besuch?«

»Von seinem Neffen.«

»Wo wohnt der Neffe?«

»In der Rue Jacob. Er ist Antiquitätenhändler.«

»Heißt er auch Saint-Hilaire?«

»Nein. Er ist der Sohn von Monsieurs Schwester. Er heißt Mazeron.«

»Notierst du dir das, Janvier?«

»Heute Morgen, als Sie die Leiche entdeckt haben … Sie haben sie doch heute Morgen entdeckt, oder?«

»Ja. Um acht Uhr.«

»Ist Ihnen da nicht der Gedanke gekommen, Monsieur Mazeron anzurufen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

Sie antwortete nicht. Ihr Blick war starr wie der mancher Vögel, und genau wie diese blieb sie manchmal auf einem Bein stehen.

»Sie mögen ihn nicht?«

»Wen?«

»Monsieur Mazeron.«

»Das geht mich nichts an.«

»Was geht Sie nichts an?«

»Die Familienangelegenheiten.«

»Kam der Neffe mit seinem Onkel nicht zurecht?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Haben sie sich gut verstanden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was taten Sie gestern, um zehn Uhr abends?«

»Ich bin schlafen gegangen.«

»Wann sind Sie aufgestanden?«

»Um sechs Uhr, wie immer.«

»Und Sie haben dieses Zimmer nicht betreten?«

»Ich hatte hier nichts zu tun.«

»War die Tür geschlossen?«

»Wenn sie offen gewesen wäre, hätte ich sofort gemerkt, dass etwas passiert ist.«

»Warum?«

»Weil das Licht noch brannte.«

»Wie jetzt?«

»Nein. Die Deckenlampe war nicht an, nur die auf dem Schreibtisch und die Stehlampe dort in der Ecke.«

»Was taten Sie um sechs Uhr?«

»Zuerst habe ich mich angezogen.«

»Und dann?«

»Habe ich meine Küche sauber gemacht und bin Croissants holen gegangen.«

»Wie jeden Morgen.«

»Und dann?«

»Ich habe Kaffee gemacht, gefrühstückt und bin dann mit dem Tablett ins Schlafzimmer gegangen.«

»War das Bett zerwühlt?«

»Nein.«

»War es unordentlich?«

»Nein.«

»Hatte der Comte, als Sie ihn gestern Abend zum letzten Mal sahen, diesen schwarzsamtenen Morgenmantel an?«

»Wie jeden Abend, wenn er nicht ausging.«

»Ging er oft aus?«

»Er ging sehr gern ins Kino.«

»Besuchten ihn Freunde?«

»Fast nie. Hin und wieder aß er in der Stadt zu Mittag.«

»Kennen Sie die Namen der Leute, mit denen er sich traf?«

»Das geht mich nichts an.«

An der Tür klingelte es. Es war der Kommissar des Viertels, in Begleitung seines Sekretärs. Er sah erstaunt um sich, dann zu der Alten und schließlich zu Maigret, dem er die Hand schüttelte.

»Wie kommt es, dass Sie schon vor uns hier waren? Hat sie Sie angerufen?«

»Das ist der ehemalige Botschafter, nicht wahr? Ich kenne ihn dem Namen nach und vom Sehen. Er ging jeden Morgen hier im Viertel spazieren. Wer hat das getan?«

»Wir wissen noch nichts. Ich warte auf die Staatsanwaltschaft.«

»Der Arzt kommt jeden Moment.«

Niemand rührte die Möbel oder sonstige Gegenstände an. Alle fühlten sich seltsam unwohl und waren erleichtert, als der Arzt eintraf, der einen leisen Pfiff ausstieß, als er sich über die Leiche beugte.

»Ich darf ihn wohl nicht umdrehen, bevor die Fotografen kommen?«

»Rühren Sie ihn nicht an … Haben Sie eine ungefähre Idee, wann er gestorben ist?«

»Schon vor einer ganzen Weile. Auf den ersten Blick würde ich sagen, vor zehn Stunden. Seltsam …«

»Was ist seltsam?«

»Er hat anscheinend mindestens vier Kugeln abgekriegt. Eine hier. Eine weitere dort …«

Auf den Knien untersuchte er die Leiche von Nahem.

»Ich weiß nicht, was der Gerichtsmediziner sagen wird. Ich jedenfalls wäre nicht überrascht, wenn schon die erste Kugel ihn getötet hätte,

In weniger als fünf Minuten füllte sich die Wohnung. Zuerst erschien die Staatsanwaltschaft, vertreten durch den Staatsanwalt Pasquier und einen Untersuchungsrichter, den Maigret kaum kannte und der Urbain de Chézaud hieß.

Doktor Pauls Nachfolger, Doktor Tudelle, begleitete sie. Fast sofort danach fielen die Spezialisten vom Erkennungsdienst mit ihren sperrigen Apparaten ein.

»Wer hat die Leiche entdeckt?«

»Die Haushälterin.«

Maigret deutete auf die alte Frau, die, ohne irgendein Zeichen der Erregung, weiter das Tun und Lassen jedes Einzelnen überwachte.

»Haben Sie sie verhört?«

»Noch nicht. Ich habe nur ein paar Worte mit ihr gewechselt.«

»Weiß sie etwas?«

»Wenn ja, wird es nicht leicht, sie zum Sprechen zu bringen.«

Er erzählte die Geschichte vom Außenministerium.

»Ist etwas gestohlen worden?«

»Auf den ersten Blick, nein. Ich warte, bevor ich das überprüfe, bis die Herren vom Erkennungsdienst mit ihrer Arbeit fertig sind.«

»Einen Neffen.«

»Wurde er benachrichtigt?«

»Noch nicht. Ich gehe nachher, wenn meine Männer arbeiten, selbst hin und informiere ihn. Er wohnt hier ganz in der Nähe, in der Rue Jacob.«

Maigret hätte den Antiquitätenhändler anrufen und ihn bitten können, zu kommen, aber er wollte ihm lieber in seinen vier Wänden begegnen.

»Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, gehe ich jetzt gleich. Janvier, du bleibst hier.«

Er war erleichtert, das Tageslicht wiederzusehen, die Sonnenflecke unter den Bäumen des Boulevards Saint-Germain. Die Luft war mild, die Frauen hell gekleidet, und ein städtisches Reinigungsfahrzeug bespritzte langsam eine Hälfte der Straße.

Mühelos fand er in der Rue Jacob den Antiquitätenladen, wo in einem der Schaufenster nur alte Waffen ausgestellt waren, hauptsächlich Säbel. Er stieß die Tür auf, wodurch er eine kleine Glocke in Gang setzte, und es vergingen zwei oder drei Minuten, bis ein Mann aus dem Dunkel auftauchte.

Da der Onkel siebenundsiebzig Jahre war, erwartete Maigret keinen jungen Mann als seinen Neffen, war aber trotzdem überrascht, als er einem ziemlich betagten Herrn gegenüberstand.

»Sie wünschen?«