Die junge Dame vom Square d’Anvers

Das Huhn stand auf dem Herd, mit einer schönen roten Mohrrübe, einer dicken Zwiebel und einem Bund Petersilie, dessen Stiele über den Topfrand hinausragten. Madame Maigret beugte sich über die schwach züngelnde Gasflamme, um sich zu vergewissern, dass sie nicht erlöschen würde. Dann schloss sie alle Fenster, bis auf das im Schlafzimmer, überlegte, ob sie auch nichts vergessen hatte, warf einen Blick in den Spiegel und verließ zufrieden die Wohnung. Sie schloss die Tür ab und steckte den Schlüssel in ihre Handtasche.

Es war ein Vormittag im März, kurz nach zehn Uhr. Die Luft war frisch und kühl, und über Paris glitzerte die Sonne. Wäre sie bis zur Place de la République gegangen, hätte sie von dort einen Bus zum Boulevard Barbès nehmen und pünktlich zu ihrem Termin um elf an der Place d’Anvers sein können. Aber wegen der jungen Dame ging sie an der Metrostation Richard Lenoir, ganz in der Nähe ihrer Wohnung, die Treppe hinunter, nahm

Maigret hatte sie aufgezogen, doch nur beiläufig, denn seit drei Wochen plagten ihn andere Sorgen.

»Glaubst du wirklich, dass es keinen guten Zahnarzt in der Nähe gibt?«

Madame Maigret hatte sich noch nie behandeln lassen müssen. Aber nun hatte ihr Madame Roblin, die Dame mit dem Hund aus dem vierten Stock, so viel von Doktor Floresco erzählt, dass sie sich entschloss, ihn aufzusuchen.

»Er hat Pianistenhände. Sie spüren nicht das Geringste. Und wenn Sie auf meine Empfehlung kommen, stellt er Ihnen nur halb so viel in Rechnung.«

Doktor Floresco war Rumäne. Seine Praxis befand sich im dritten Stock eines Hauses an der Rue Turgot, Ecke Avenue Trudaine, genau gegenüber dem Square d’Anvers. War es nun das siebte oder achte Mal, dass Madame Maigret zu ihm ging? Inzwischen war ihr der Elf-Uhr-Termin zur Routine geworden.

Wegen ihrer krankhaften Angst, jemanden warten zu lassen, war sie beim ersten Mal eine gute Viertelstunde zu früh eingetroffen. Beklommen hatte sie in dem von einem Gasofen überheizten Wartezimmer gesessen. Auch bei ihrem zweiten Besuch hatte sie warten müssen. Beide Male war sie

Als sie zum dritten Mal kam, schien die Sonne freundlich, und der Platz gegenüber war von Vogelgezwitscher erfüllt, weshalb sie beschloss, sich für die Zwischenzeit dort auf eine Bank zu setzen. So hatte sie die Bekanntschaft der Dame mit dem kleinen Jungen gemacht.

Mittlerweile war es ihr so zur Gewohnheit geworden, dass sie sich früher als nötig auf den Weg machte und die Metro nahm, um Zeit zu sparen.

Es war angenehm, über den grünen Rasen zu blicken und die halb aufgebrochenen Knospen an den Zweigen der Bäume zu betrachten, die über die Mauer des Gymnasiums ragten. Von dem Sonnenplatz auf der Bank aus ließ sich das Treiben auf dem Boulevard Rochechouart verfolgen: die grün-weißen Busse, die wie riesige Tiere wirkten, und die Taxis, die sich geschickt an ihnen vorbeischlängelten.

Dort saß die Dame, wie an den anderen Vormittagen in ihrem blauen Kostüm, den kleinen weißen Hut auf dem Kopf, der ihr so gut stand und zum Frühling passte. Sie rückte ein wenig, um Madame Maigret Platz zu machen. Diese hatte dem Jungen einen Schokoladenriegel mitgebracht, den sie jetzt hervorholte.

»Sei brav und bedank dich, Charles.«

»Für mich ist der März immer noch der schönste Monat in Paris, trotz der vielen Schauer«, sagte Madame Maigret. »Andere ziehen den Mai oder Juni vor, aber nur im März ist es so angenehm frisch.«

Sie blickte hin und wieder zu den Fenstern der Zahnarztpraxis hinauf, denn von ihrem Platz aus konnte sie den Kopf des Patienten sehen, der gewöhnlich vor ihr behandelt wurde. Es war ein ziemlich mürrisch wirkender Mann um die fünfzig, dem nach und nach alle Zähne gezogen werden mussten. Ihn hatte sie ebenfalls kennengelernt. Er stammte aus Dünkirchen und lebte in diesem Viertel bei seiner verheirateten Tochter. Seinen Schwiegersohn konnte er nicht leiden.

Der kleine Junge spielte an diesem Morgen mit einem kleinen roten Eimer und einer Schaufel im Kies. Er war immer sehr gepflegt und artig.

»Ich werde wohl nur noch zwei Mal

Die Dame hörte ihr lächelnd zu. Sie sprach ein ausgezeichnetes Französisch, dem ihr leichter Akzent einen besonderen Charme verlieh. Um sechs oder sieben Minuten vor elf lächelte sie noch immer und blickte auf ihr Kind, das sich zu seiner eigenen Verwunderung eine Ladung Staub ins Gesicht geschleudert hatte. Dann aber schien es, als ob sie in der Avenue Trudaine plötzlich etwas bemerkt hätte. Sie zögerte einen Augenblick, erhob sich schließlich und sagte eilig:

»Würden Sie bitte einen Augenblick auf ihn aufpassen? Ich bin gleich wieder da.«

Im ersten Moment war Madame Maigret gar nicht sonderlich überrascht. Sie hatte lediglich ihren Termin im Sinn und hoffte, dass die Mutter rechtzeitig zurück wäre. Taktvoll, wie sie war, hatte sie sich nicht einmal umgedreht, um ihr nachzublicken.

Der Kleine hatte gar nichts bemerkt. Es saß auf dem Boden und war vollauf damit beschäftigt, Kieselsteine in seinen roten Eimer zu füllen und ihn wieder auszuleeren.

Madame Maigret hatte keine Uhr bei sich. Schon seit Jahren ging ihre Uhr nicht mehr, und sie vergaß immerzu, sie zum Uhrmacher zu bringen. Ein alter Mann setzte sich zu ihr auf die Bank.

»Wären Sie so freundlich, mir zu sagen, wie spät es ist, Monsieur?«

Er schien ebenfalls keine Uhr zu haben, denn er sagte nur:

»Ungefähr elf.«

Da der Kopf des Patienten am Fenster nicht mehr zu sehen war, wurde Madame Maigret zunehmend unruhig. Es war ihr peinlich, Doktor Floresco warten zu lassen, der so liebenswürdig und höflich war und niemals die Geduld verlor.

Sie ließ ihren Blick über den Platz schweifen, konnte die Dame mit dem weißen Hut aber nirgendwo entdecken. Hatte sie sich plötzlich nicht gut gefühlt? Oder jemanden entdeckt, den sie sprechen musste?

Ein Polizist überquerte den Platz, und Madame Maigret stand auf, um ihn nach der Uhrzeit zu fragen. Es war bereits nach elf.

Die Dame kam nicht wieder, und die Minuten verstrichen. Das Kind hatte zu der Bank aufgeblickt und bemerkt, dass seine Mutter nicht mehr da war, schien aber keine Angst zu haben.

Wenn Madame Maigret den Zahnarzt doch nur benachrichtigen könnte! Sie hätte lediglich die Straße überqueren und in die dritte Etage hinaufgehen müssen. Beinahe hätte sie den alten Herrn

Als sie erneut einen Passanten nach der Zeit fragte, war es bereits zwanzig nach elf. Der alte Herr war gegangen, und sie saß nun wieder allein auf der Bank. Sie hatte gesehen, wie der Patient, der vor ihr an der Reihe war, das Haus an der Ecke verlassen hatte und in die Rue Rochechouart eingebogen war.

Was sollte sie nur tun? Ob der Dame etwas zugestoßen war? Wäre sie von einem Auto überfahren worden, hätte sich sicher eine Menschentraube gebildet, und Leute wären hingeeilt. Vielleicht würde das Kind bald in Panik geraten.

Die Situation war grotesk. Maigret würde sich wieder einmal über sie lustig machen. Sie würde gleich den Zahnarzt anrufen, um sich bei ihm zu entschuldigen. Aber würde sie auch den Grund für ihr Fernbleiben über die Lippen bringen?

Plötzlich wurde ihr heiß. Die Nervosität trieb ihr das Blut in die Wangen.

»Wie heißt du?«, fragte sie das Kind.

Aber der Junge sah sie nur stumm aus seinen dunklen Augen an.

»Weißt du, wo du wohnst?«

Er hörte gar nicht auf ihre Worte. Sie hatte zuvor

»Pardon, Monsieur, könnten Sie mir sagen, wie spät es ist?«

»Zweiundzwanzig Minuten vor zwölf, Madame.«

Die Mutter kehrte nicht zurück. Um zwölf Uhr, als die Sirenen heulten und die Maurer in die nächstgelegene Bar drängten, war sie noch immer nicht wieder da.

Doktor Floresco kam aus dem Haus und setzte sich hinter das Steuer eines kleinen schwarzen Wagens. Doch sie wagte nicht, den Jungen aus den Augen zu lassen, um hinüberzulaufen und sich bei ihm zu entschuldigen.

Was ihr nun außerdem Sorgen bereitete, war das Huhn auf dem Herd. Maigret hatte ihr gesagt, er würde wahrscheinlich gegen ein Uhr zum Essen kommen.

War es nicht das Klügste, die Polizei zu benachrichtigen? Aber auch dazu musste sie sich von dem Platz entfernen. Wenn sie das Kind mitnahm und die Mutter in der Zwischenzeit zurückkehrte, würde die arme Frau verrückt werden vor Angst. Weiß Gott, wohin sie dann laufen würde und wo sie sich schließlich wiederfinden würden! Ebenso wenig konnte sie einen zweijährigen Jungen mitten auf einem Platz zurücklassen, an dem pausenlos Busse und Autos vorbeirasten.

»Halb eins.«

Das Huhn brannte sicher schon an, und Maigret konnte jeden Augenblick zu Hause sein. Zum ersten Mal in ihrer langen Ehe würde er sie dort nicht antreffen.

Ihn anzurufen war unmöglich, denn dafür hätte sie in eine Bar gehen müssen. Wenn sie doch nur noch einmal den Polizisten von vorhin sehen würde, oder irgendeinen anderen! Sie würde ihm sagen, wer sie war, und ihn bitten, ihren Mann zu verständigen. Aber es war wie verhext: kein Polizist weit und breit. Sie schaute sich nach allen Seiten um, setzte sich, stand wieder auf, glaubte immer wieder den weißen Hut zu erkennen, aber es war nie der richtige.

In einer halben Stunde zählte sie mehr als zwanzig Frauen mit weißen Hüten, darunter vier junge Damen, die ein blaues Kostüm trugen.

Um elf Uhr, als Madame Maigret anfing sich ernsthaft zu sorgen, weil sie mitten auf dem Platz ein Kind hüten musste, dessen Namen sie nicht einmal kannte, setzte Maigret seinen Hut auf, verließ sein Büro, richtete ein paar Worte an Lucas und ging mürrisch auf die kleine Tür zu, die das Gebäude der Kriminalpolizei mit dem Palais de Justice verbindet.

»Herein.«

Dossin überragte alle Richter der Stadt, und es schien ihm peinlich zu sein, dass er so groß war. Es wirkte, als ob er sich unentwegt für seine Figur entschuldigen wollte, die an einen russischen Windhund erinnerte.

»Nehmen Sie Platz, Maigret. Rauchen Sie nur Ihre Pfeife. Haben Sie den Artikel heute Morgen gelesen?«

»Ich habe heute noch keine Zeitung gesehen.«

Der Richter schob ihm eine hin. Auf der Titelseite prangte die Schlagzeile:

DER FALL STEUVELS

Maître Philippe Liotard wendet sich

an die Liga für Menschenrechte

»Ich hatte eine lange Unterredung mit dem Staatsanwalt«, sagte Dossin. »Er vertritt meine Ansicht.

Noch wenige Wochen zuvor war dieser Name im Palais de Justice weitgehend unbekannt gewesen. Philippe Liotard hatte mit seinen kaum dreißig Jahren nie zuvor ein Mandat in einem bedeutenden Prozess übernommen. Nachdem er fünf Jahre lang einer der Sekretäre eines berühmten Anwalts gewesen war, hatte er sich gerade erst selbstständig gemacht und wohnte noch immer in einer schlichten Junggesellenwohnung, gleich neben einem Stundenhotel in der Rue Bergère.

Seit der Fall Steuvels ruchbar geworden war, stand sein Name täglich in den Zeitungen. Er gab aufsehenerregende Interviews, schickte Communiqués und war sogar mit widerspenstiger Haarsträhne im Gesicht und sarkastischem Lächeln auf den Lippen in der Wochenschau über die Kinoleinwände geflimmert.

»Bei Ihnen etwas Neues?«

»Nichts Erwähnenswertes, Herr Richter.«

»Glauben Sie, Sie finden den Mann, der das Telegramm aufgegeben hat?«

»Torrence ist in Concarneau. Der hat einen guten Riecher.«

In den drei Wochen, die er nun schon die Öffentlichkeit erregte, war der Fall Steuvels wie ein

Begonnen hatte es mit:

Der Keller an der Rue de Turenne

Zufällig spielte es sich in einem Viertel ab, das Maigret gut kannte. Er träumte sogar davon, dort zu wohnen, kaum fünfzig Meter von der Place des Vosges entfernt.

Wenn man an der Ecke des Platzes die schmale Rue des Francs-Bourgeois verlässt und die Rue de Turenne zur Place de la République hinaufgeht, kommt man gleich links an einem gelb gestrichenen Bistro und dahinter an einem Milchgeschäft, der Crémerie Salmon, vorbei. Unmittelbar daneben befindet sich die verglaste Werkstatt eines Buchbinders, mit niedriger Decke, auf deren verstaubtem Schaufenster in verblichenen Buchstaben Reliure d’Art zu lesen ist. Dann folgt ein Laden, in dem die Witwe Rancé Regenschirme verkauft.

Zwischen der Werkstatt und dem Schaufenster des Schirmgeschäfts befindet sich eine gewölbte Toreinfahrt, die den Blick freigibt auf die Loge der Concierge und weiter hinten, im Hof, auf ein ehemals herrschaftliches Stadthaus, das heute zahlreiche Büros und Wohnungen beherbergt.

Was die Öffentlichkeit nicht wusste: Der Fall war nur durch einen ungeheuren Zufall ans Tageslicht gekommen. Der Presse gegenüber hatte man diesen Umstand sorgfältig verschwiegen. Eines Morgens hatte man im Briefkasten der Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres ein Stück Packpapier gefunden, auf dem geschrieben stand:

Der Buchbinder in der Rue de Turenne hat in seinem Heizofen eine Leiche verbrannt.

Eine Unterschrift fehlte natürlich. Das Papier war im Büro Maigrets gelandet, der zu skeptisch war, um einen seiner alten Inspektoren mit der Sache zu behelligen. Stattdessen schickte er den kleinen Lapointe los, einen jungen Mann, der darauf brannte, sich irgendwie auszuzeichnen.

Lapointe fand heraus, dass es in der Rue de Turenne tatsächlich einen Buchbinder gab: einen Flamen namens Frans Steuvels, der schon seit fünfundzwanzig Jahren in Frankreich lebte. Indem er sich als Mitarbeiter des Amts für öffentliche Hygiene ausgab, konnte Lapointe die Räume sorgfältig inspizieren und kehrte mit exakten Aufzeichnungen zurück.

»Steuvels arbeitet sozusagen im Schaufenster,

Eine Treppe führt ins Souterrain. Dort befinden sich eine Küche und ein kleiner Raum, das Esszimmer, in dem man schon morgens das Licht einschalten muss. Außerdem gibt es einen Keller.«

»Mit einem Heizofen?«

»Ja. Ein altes Modell. Es scheint in keinem sehr guten Zustand zu sein.«

»Funktioniert er?«

»Heute Morgen hat er nicht gebrannt.«

Am Nachmittag um fünf Uhr hatte sich Lucas zu einer offiziellen Hausdurchsuchung in die Rue de Turenne begeben. Zum Glück hatte er daran gedacht, sich einen Durchsuchungsbeschluss zu besorgen, denn der Buchbinder hatte sich auf den Schutz seiner Privatsphäre berufen.

Fast wäre Inspektor Lucas unverrichteter Dinge zum Quai des Orfèvres zurückgekehrt. Und nun, da der Fall für die Kriminalpolizei zum Albtraum geworden war, nahm man ihm seinen Erfolg dort beinahe übel.

Ganz hinten im Heizofen hatte er, als er mit den Händen durch die Asche fuhr, zwei Zähne entdeckt, menschliche Zähne, die er sofort ins Labor gebracht hatte.

»Er muss ungefähr fünfundvierzig Jahre alt sein, hat rotes Haar, ein pockennarbiges Gesicht, blaue Augen und wirkt sehr sanftmütig. Seine Frau lässt ihn nicht aus den Augen, als wäre er ein Kind. Dabei ist sie viel jünger als er.«

Inzwischen wusste man, dass Fernande, der nun ebenfalls ein gewisser Ruhm anhaftete, als Mädchen für alles nach Paris gekommen und dann mehrere Jahre lang am Boulevard Sébastopol auf den Strich gegangen war.

Sie war sechsunddreißig Jahre alt und lebte seit zehn Jahren mit Steuvels zusammen. Drei Jahre zuvor hatten sie sich ohne ersichtlichen Grund auf dem Standesamt des 3.Arrondissements trauen lassen.

Das Labor hatte seinen Bericht geschickt. Die Zähne stammten von einem vermutlich ziemlich korpulenten Mann um die dreißig, der einige Tage vorher noch gelebt haben musste.

Steuvels war in Maigrets Büro geführt worden, und der hatte das »Liedchen« angestimmt. Der Buchbinder saß in dem grünen Samtsessel, gegenüber dem Fenster, das den Blick auf die Seine freigab. An diesem Abend regnete es in Strömen. Während der gesamten zehn oder zwölf Stunden, die das

Er war ein gebildeter und belesener Mensch. Er blieb ruhig, antwortete überlegt, und seine feine rötliche Haut blühte leicht auf.

»Wie erklären Sie sich, dass wir in Ihrem Heizofen menschliche Zähne gefunden haben?«

»Ich kann es nicht erklären.«

»Haben Sie in der letzten Zeit Zähne verloren? Oder Ihre Frau?«

»Weder sie noch ich. Meine sind falsch.«

Er hatte sein Gebiss aus dem Mund genommen und mit geübter Geste wieder eingesetzt.

»Können Sie mir sagen, was Sie an den Abenden des 16., 17. und 18. Februar gemacht haben?«

Das Verhör fand am Abend des 21. statt, nachdem sowohl Lapointe als auch Lucas in der Rue de Turenne gewesen waren.

»War einer dieser Tage ein Freitag?«

»Ja, der 16

»Dann bin ich, wie jeden Freitag, ins Kino Saint-Paul in der Rue Saint-Antoine gegangen.«

»Mit Ihrer Frau?«

»Ja.«

»Und an den beiden anderen Tagen?«

»Wohin?«

»Nach Concarneau.«

»War die Reise seit Längerem geplant?«

»Ihre Mutter ist gelähmt. Sie lebt bei ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn in Concarneau. Am Samstagvormittag kam ein Telegramm von Fernandes Schwester, Louise, in dem sie uns mitgeteilt hat, dass ihre Mutter schwer krank sei. Fernande hat den nächsten Zug genommen.«

»Ohne vorher anzurufen?«

»Sie haben kein Telefon.«

»Ging es der Mutter sehr schlecht?«

»Sie war überhaupt nicht krank. Das Telegramm war nicht von Louise.«

»Sondern?«

»Wir wissen es nicht.«

»Hat man Sie schon öfter auf diese Weise in die Irre geführt?«

»Noch nie.«

»Wann ist Ihre Frau zurückgekommen?«

»Am Dienstag. Da sie nun einmal dort war, ist sie noch zwei Tage bei ihrer Familie geblieben.«

»Was haben Sie während dieser Zeit gemacht?«

»Ich habe gearbeitet.«

»Ein Mieter hat behauptet, den ganzen Sonntagvormittag sei dichter Rauch aus Ihrem Schornstein gekommen.«

Das stimmte. An jenem Sonntag und auch am Montag war es eisig kalt gewesen, aus den Pariser Vororten war sogar Frost gemeldet worden.

»Welche Kleidung haben Sie am Samstagabend getragen?«

»Dieselbe wie heute.«

»Hat Sie nach Ladenschluss jemand besucht?«

»Nein, außer einem Kunden, der sein Buch abholen wollte. Soll ich Ihnen Name und Adresse geben?«

Es war ein bekannter Mann, Mitglied der Hundert Bibliophilen. Dank Liotard sollte man noch einiges über diese Bibliophilen zu hören bekommen – durchweg bedeutende Persönlichkeiten.

»Ihre Concierge, Madame Salazar, hat gehört, wie jemand an besagtem Abend gegen neun Uhr an Ihre Tür geklopft hat. Mehrere Personen sollen sich lebhaft unterhalten haben.«

»Das werden Leute auf der Straße gewesen sein. Bei mir war niemand. Wenn sie so lebhaft waren, wie Madame Salazar behauptet, ist vielleicht einer gegen das Schaufenster gestoßen.«

»Wie viele Anzüge besitzen Sie?«

»So wie ich nur einen Kopf und einen Körper habe, besitze ich auch nur einen Anzug und einen Hut, abgesehen von der alten Hose und dem Pullover, die ich bei der Arbeit trage.«

»Und der hier?«

»Der gehört mir nicht.«

»Wie ist er dann in Ihren Schrank gekommen?«

»Ich habe ihn noch nie gesehen. Irgendjemand muss ihn in meiner Abwesenheit hineingehängt haben. Ich bin immerhin schon seit sechs Stunden hier.«

»Würden Sie bitte einmal das Jackett anziehen?«

Es passte ihm.

»Sehen Sie diese Flecken, die wie Rostflecken aussehen? Das ist Blut, menschliches Blut, wie die Kollegen festgestellt haben. Jemand hat vergeblich versucht, sie zu entfernen.«

»Ich kenne diesen Anzug nicht.«

»Madame Rancé, die Inhaberin des Schirmgeschäfts, behauptet, Sie oft in einem blauen Anzug gesehen zu haben, vor allem freitags, wenn Sie ins Kino gegangen sind.«

»Ich hatte einen blauen Anzug, den habe ich aber schon vor mehr als zwei Monaten weggeworfen.«

Dieses erste Verhör verdarb Maigret die Laune. Er hatte eine lange Unterredung mit Richter Dossin, woraufhin sie gemeinsam zum Staatsanwalt gingen.

Dieser ordnete Steuvels’ Verhaftung an und nahm die volle Verantwortung auf sich.

Am Morgen darauf war Maître Liotard wie aus dem Nichts aufgetaucht und hing Maigret seitdem wie ein bissiger Köter am Hosensaum.

Eine der Kapitelüberschriften in den Zeitungen hatte besonders große Aufmerksamkeit erregt:

Der Geisterkoffer

Der junge Lapointe behauptete nämlich, dass er bei der Inspektion der Räume als angeblicher Mitarbeiter des Amts für öffentliche Hygiene unter einem Tisch in der Werkstatt einen rotbraunen Koffer gesehen habe.

»Es war ein gewöhnlicher, billiger Koffer. Ich habe mich aus Versehen an ihm gestoßen, was ziemlich wehtat, und als ich den Koffer wegschieben wollte, habe ich begriffen, warum. Er war ungewöhnlich schwer.«

Um fünf Uhr nachmittags jedoch, als Lucas die Werkstatt durchsuchte, war der Koffer verschwunden. Genauer gesagt, gab es dort zwar noch einen Koffer, der ebenfalls braun war und billig wirkte, aber Lapointe war sicher, dass es nicht derselbe war.

»Das ist der Koffer, mit dem ich nach Concarneau gefahren bin«, hatte Fernande gesagt. »Wir

Lapointe bestand hartnäckig darauf, er schwor, dass es nicht derselbe Koffer sei, dass der andere heller und der Griff außerdem mit einer Schnur befestigt gewesen sei.

»Hätte ich den Koffer repariert, dann bestimmt nicht mit einer Schnur«, entgegnete Steuvels. »Sie vergessen wohl, dass ich Buchbinder bin und jeden Tag mit Leder arbeite.«

Also hatte Philippe Liotard Aussagen von den Bibliophilen eingeholt, aus denen hervorging, dass Steuvels als einer der besten Buchbinder in Paris galt, vielleicht sogar als der beste. Ihm vertrauten die Sammler die schwierigsten Arbeiten an, besonders das Restaurieren alter Einbände.

Sie waren sich allesamt einig, dass Steuvels ein ruhiger Mann war, der anscheinend sein ganzes Leben in seiner Werkstatt verbrachte. Die Suche der Polizei nach irgendetwas Zweifelhaftem in seiner Vergangenheit wäre sicher vergeblich.

Natürlich war da noch Fernande, die er kennengelernt hatte, als sie auf den Strich ging. Aber er hatte sie von der Straße geholt. Und auch über Fernande gab es seit dieser längst vergangenen Zeit nichts Unvorteilhaftes mehr zu sagen.

Torrence war seit vier Tagen in Concarneau. Auf dem Postamt hatte man das Originaltelegramm

»Wir haben genug von der angeblichen Unfehlbarkeit des Kommissars Maigret!«, hatte Maître Liotard einem Journalisten gegenüber geäußert.

Und er war auf die Nachwahl im 3.Arrondissement zu sprechen gekommen, derentwegen gewisse Persönlichkeiten sehr wohl ein Interesse daran haben konnten, in diesem Viertel einen Skandal auszulösen.

Richter Dossin musste einige Kritik einstecken, und die nicht gerade sanften Attacken setzten ihm sichtlich zu.

»Haben Sie denn kein einziges neues Indiz?«

»Ich suche. Wir sind zehn Mann, manchmal mehr. Einige Personen verhören wir nun zum zwanzigsten Mal. Lucas hofft, den Schneider ausfindig zu machen, der den blauen Anzug angefertigt hat.«

Wie immer, wenn ein Fall die Öffentlichkeit erregt, trafen täglich Hunderte von Briefen ein, die fast ausschließlich auf falsche Fährten führten und sie viel Zeit kosteten. Dennoch gingen sie jedem