Wie Maigret einen Abend als Strohwitwer verbringt und schließlich im Hôpital Cochin landet

»Kommen Sie doch zum Abendessen zu uns, ganz zwanglos.«

Wahrscheinlich hatte der gute Lucas hinzugefügt:

»Meine Frau wird sich sehr freuen, ganz bestimmt.«

Armer alter Lucas! Es stimmte ja gar nicht; denn seine Frau, die sich über jede Kleinigkeit aufregte und es als Martyrium empfand, einen Gast am Tisch zu haben, hätte ihn sicherlich mit Vorwürfen überhäuft.

Sie hatten den Quai des Orfèvres zusammen verlassen, gegen sieben, als die Sonne noch schien, waren zur Brasserie Dauphine gegangen und hatten in ihrer Ecke Platz genommen. Beim ersten Aperitif hatten sie ins Leere gestarrt, wie man das so tut nach vollbrachtem Tagewerk. Dann hatte Maigret gedankenverloren mit einer Münze an die Untertasse geschlagen, um den Kellner zu rufen, und noch einmal das Gleiche bestellt.

»Bloß weil seine Frau nicht da ist, trinkt der Chef ein zweites Glas.«

Vor zwei Tagen war Madame Maigret ins Elsass an das Krankenbett ihrer Schwester gerufen worden, die operiert werden sollte.

Ob Lucas glaubte, Maigret wisse nicht, wo er hinsollte, oder dass er unglücklich sei? Jedenfalls lud er ihn zum Abendessen ein mit einer Eindringlichkeit, die etwas zu freundlich war, dazu noch mit einem beinahe mitleidigen Blick. Oder bildete sich Maigret das alles nur ein?

Absurd, dass es gerade jetzt seit zwei Tagen keine dringende Angelegenheit gab, die ihn nach sieben abends im Büro festgehalten hätte. Er hätte sogar schon um sechs fortgehen können, während es sonst einem Wunder gleichkam, wenn er einmal pünktlich zum Essen nach Hause kam.

»Nein, ich nutze die Gelegenheit und gehe ins Kino«, hatte er geantwortet.

Die Gelegenheit nutzen – er hatte es unwillkürlich gesagt, obwohl er es gar nicht so meinte.

Sie hatten sich am Châtelet getrennt, Lucas und er; Lucas stürzte die Treppe zur Metro hinunter, Maigret blieb unschlüssig mitten auf dem Gehsteig

Worauf hatte er Appetit? Da er allein war und überallhin gehen konnte, stellte er sich ganz ernsthaft die Frage und dachte an die verschiedenen Restaurants, die ihn schon lange reizten. Erst ging er ein paar Schritte Richtung Place de la Concorde und hatte dabei fast ein schlechtes Gewissen, da er sich unnötig von zu Hause entfernte. Im Schaufenster eines Metzgers sah er fertig zubereitete Weinbergschnecken, übergossen mit Petersilienbutter, die wie Lack glänzte.

Seine Frau mochte keine Schnecken, deswegen gab es selten welche. Er beschloss, sich an diesem Abend welche zu gönnen, also »die Gelegenheit zu nutzen«, und machte kehrt, um zu einem Restaurant bei der Bastille zu gehen, das bekannt war für seine Schnecken.

Man kannte ihn dort.

»Sie sind allein, Monsieur Maigret?«

Der Kellner musterte ihn ein wenig erstaunt und vorwurfsvoll. Da er allein war, konnte er keinen guten Tisch bekommen, man wies ihm einen Platz in einer Art Gang zu, vor einer Säule.

In Wahrheit hatte er sich nichts Besonderes versprochen. Es stimmte nicht einmal, dass er Lust

»Was für einen Wein möchten Sie?«

Er wagte es nicht, einen zu guten Wein zu nehmen, auch wieder um nicht den Eindruck zu erwecken, »die Gelegenheit zu nutzen«.

Und eine Dreiviertelstunde später, als im bläulichen Abend schon die Laternen brannten, stand er, immer noch allein, auf der Place de la Bastille.

Es war zu früh, um schlafen zu gehen. Er hatte im Büro Zeit gehabt, die Abendzeitung zu lesen. Er hatte keine Lust, ein Buch anzufangen, das ihn die halbe Nacht wach gehalten hätte.

Er ging die Grands Boulevards entlang, entschlossen, sich einen Film anzusehen. Zweimal blieb er stehen, um Plakate zu studieren, die ihm jedoch nicht zusagten. Eine Frau sah ihn eindringlich an, und er errötete fast, denn sie schien erraten zu haben, dass er Strohwitwer war.

Erwartete sie auch, dass er »die Gelegenheit nutzte«? Sie überholte ihn, drehte sich um, und je verlegener er wurde, umso mehr war sie davon überzeugt, dass es sich um einen schüchternen Kunden handelte. Sie flüsterte ihm sogar einige Worte zu, als sie an ihm vorbeiging, und er konnte sie nur abschütteln, indem er die Straßenseite wechselte.

Sogar allein ins Kino zu gehen kam ihm sündig,

Tausendmal hatte er sich auf einen Bartresen gestützt und nie dieses Gefühl gehabt.

Um seine Ruhe zu haben, ging er schließlich in ein kleines Kellerkino, in dem nur Wochenschauen gezeigt wurden.

Um halb elf lief er wieder draußen herum. Er kehrte in dieselbe Bar ein, trank noch einen Calvados, als wäre das schon Tradition, und ging dann, seine Pfeife stopfend, langsam zum Boulevard Richard-Lenoir.

Im Grunde hatte er den ganzen Abend das Gefühl gehabt, sich falsch zu verhalten, und obwohl er nichts Tadelnswertes getan hatte, nagte in einem Winkel seines Gewissens etwas wie ein Vorwurf.

Er zog den Schlüssel aus der Tasche, als er die Treppe hinaufstieg. Kein Lichtschein unter der Tür, kein Essensgeruch, der ihn empfing. Er musste selber das Licht anknipsen. Als er an der Anrichte vorbeiging, beschloss er, sich einen Schluck zu genehmigen, was er heute tun konnte, ohne einen Blick mit seiner Frau zu wechseln.

Er fing an sich auszuziehen, ohne vorher die Vorhänge zuzuziehen, ging dann zum Fenster und nahm gerade die Hosenträger ab, als das Telefon klingelte.

»Hallo!«

Es war nicht seine Frau, die anrief, also war seine Schwägerin nicht gestorben. Das Gespräch kam aus Paris.

»Sind Sie es, Chef?«

Also die Kriminalpolizei. Er erkannte die laute Stimme von Torrence, die am Telefon wie eine Trompete klang.

»Bin froh, dass Sie wieder zu Hause sind. Ich habe Sie schon vier Mal angerufen. Lucas hat mir gesagt, dass Sie im Kino sind. Aber ich wusste nicht, in welchem …«

Torrence war ganz durcheinander und wusste offenbar nicht, womit er anfangen sollte.

»Es geht um Janvier.«

Maigret schlug unbewusst einen brummigen Ton an:

»Was will der denn?«

»Man hat ihn vorhin ins Cochin gebracht. Eine Kugel hat ihn in die Brust getroffen.«

»Was sagst du?«

»Im Augenblick wird er wohl gerade operiert.«

»Wo bist du?«

»Am Quai. Einer muss ja hierbleiben. Ich habe das Nötige in der Rue Lhomond veranlasst. Lucas

»Bin gleich da.«

Er wollte schon den Hörer auflegen und streifte mit einer Hand die Hosenträger wieder über, da fragte er noch:

»War es Paulus?«

»Man weiß es nicht. Janvier war allein auf der Straße. Er hat um sieben den Dienst angetreten. Der kleine Lapointe sollte ihn morgen früh um sieben ablösen.«

»Hast du Leute in das Haus geschickt?«

»Sie sind noch dort. Sie halten mich telefonisch auf dem Laufenden. Sie haben nichts gefunden.«

Maigret musste bis zum Boulevard Voltaire gehen, um ein Taxi zu bekommen. Die Rue Saint-Jacques war fast menschenleer, nur in wenigen Lokalen brannte noch Licht. Er eilte durch den Torbogen des Cochin, und ein Geruch wie aus allen Krankenhäusern zusammen, die er je betreten hatte, schlug ihm entgegen.

Warum werden die Kranken, die Verletzten, die Menschen, die man am Leben erhalten will, und jene, die sterben müssen, einer so schaurigen, so trüben Atmosphäre ausgesetzt? Warum ist das Licht hier zugleich armselig und grausam, wie man es sonst nur aus manchen Ämtern kennt? Und

Es fehlte nicht viel, und er hätte sich ausweisen müssen. Der Assistenzarzt war noch ein halbes Kind und hatte seine weiße Kappe herausfordernd schief aufgesetzt.

»Gebäude C. Man wird Sie hinbringen.«

Er kochte vor Ungeduld, und in seiner Wut auf alle Welt verübelte er es nun der Krankenschwester, die ihn führte, dass sie geschminkte Lippen und ondulierte Haare hatte.

Schlecht erleuchtete Höfe, Treppen, ein langer Gang und am Ende des Ganges drei Gestalten. Der Abstand zwischen ihm und jenen Gestalten schien nicht kleiner werden zu wollen, und der Fußboden kam ihm rutschiger vor als irgendwo sonst.

Der kleine Lucas kam ihm einige Schritte entgegen in der schrägen Gangart eines Hundes, den man geschlagen hat.

»Sie sagen, er kommt durch«, sagte er sofort mit leiser Stimme. »Er ist schon seit einer Dreiviertelstunde im Operationssaal.«

Madame Janvier, rote Augen, verrutschter Hut, sah ihn Hilfe suchend an, als könnte er etwas tun, und plötzlich schluchzte sie in ihr Taschentuch.

Die dritte Person kannte er nicht: ein Mann mit langem Schnurrbart, der sich diskret abseitshielt.

»Das ist ein Nachbar«, erklärte Lucas. »Madame

Der Mann, der zugehört hatte, grüßte und dankte Lucas mit einem Lächeln.

»Was sagt der Chirurg?«

Sie befanden sich vor der Tür des Operationssaals und sprachen weiter leise. Am anderen Ende des Ganges eilten Krankenschwestern, die alle etwas in der Hand hielten, unablässig hin und her, geschäftig wie die Ameisen.

»Die Kugel hat das Herz nicht getroffen, ist aber in die rechte Lunge eingedrungen.«

»Hat Janvier gesprochen?«

»Nein. Als der Wagen des Unfallkommandos in der Rue Lhomond eingetroffen ist, war er bewusstlos.«

»Glauben Sie, er kommt durch, Kommissar?«, fragte die sommersprossige Madame Janvier, die offensichtlich ein Kind erwartete.

»Warum sollte er nicht durchkommen?«

»Sehen sie, deswegen schlafe ich immer schlecht, wenn er nachts unterwegs ist.«

Sie wohnten in einem Vorort, in einem Häuschen, das sich Janvier vor drei Jahren hatte bauen lassen, vor allem der Kinder wegen, die man schwer in einer Etagenwohnung in Paris großziehen konnte. Er war besonders stolz auf seinen Garten.

In Gegenwart von Madame Janvier wollte er Lucas nicht fragen, was genau vorgefallen war. Er konnte sich aber auch nicht entfernen. Neben Lucas – seiner rechten Hand – war Janvier immer sein liebster Inspektor gewesen. Schon als ganz junger Mann war er in seiner Abteilung gewesen, so wie jetzt Lapointe, und noch heute nannte Maigret ihn manchmal den kleinen Janvier.

Endlich öffnete sich die Tür. Aber es war nur eine rothaarige Krankenschwester, die zu einer anderen Tür lief, ohne die Besucher anzusehen, und dann wieder mit irgendetwas in der Hand zurückkam. Undenkbar, sie aufzuhalten und zu fragen, wie weit die Operation sei, aber alle vier hatten sie angeblickt und waren enttäuscht, nur beruflichen Eifer in ihrem Gesicht zu lesen.

»Ich glaube, wenn es schlimm ist, dann würde ich sterben«, sagte Madame Janvier, die wie die anderen stehen geblieben war, obwohl ein Stuhl bereitstand. Schwankend hielt sie sich aufrecht, aus

Ein Geräusch. Die Türflügel öffneten sich. Man sah eine Rollbahre. Maigret ergriff Madame Janviers Arm, um zu verhindern, dass sie hinlief. Einen Augenblick lang war ihm bange; denn er glaubte gesehen zu haben, dass Janviers Gesicht mit einem Tuch bedeckt war.

Aber als die Rollbahre näher kam, sah er, dass er sich getäuscht hatte.

»Albert!«, schrie Madame Janvier mit einem unterdrückten Schluchzen.

»Psst …«, machte der Chirurg, der zu ihnen herantrat und seine Gummihandschuhe auszog.

Janvier hatte die Augen geöffnet, und er musste sie erkannt haben, denn ein Lächeln erschien auf seinen Lippen.

Man brachte ihn in eins der Zimmer, und seine Frau folgte ihm mit Lucas und dem Nachbarn, während sich der Kommissar in einer Fensternische mit dem Arzt unterhielt.

»Wird er am Leben bleiben?«

»Es besteht kein Grund, dass er nicht davonkommt. Die Rekonvaleszenz wird zwar lange dauern, wie bei allen Verletzungen an der Lunge, und man wird auch vorsichtig sein müssen, aber praktisch besteht keine Gefahr mehr für ihn.«

»Haben Sie die Kugel entfernt?«

»Ich nehme das mit«, sagte Maigret. »Ich werde Ihnen nachher eine Quittung darüber schicken. Hat er etwas gesagt?«

»Nein. In der Narkose hat er ein paar Worte gestammelt, aber ich war zu beschäftigt, um darauf zu achten.«

»Wann kann ich ihn vernehmen?«

»Wenn er sich von dem Schock erholt hat, morgen, wahrscheinlich gegen Mittag. Ist das seine Frau? Sagen Sie ihr, sie soll sich keine Sorgen machen und ihn nicht vor morgen besuchen. Aufgrund der Anweisungen hat man ihm ein Einzelzimmer gegeben und eine Nachtschwester. Entschuldigen Sie mich, aber ich muss morgen früh um sieben schon wieder operieren.«

Madame Janvier bestand darauf, ihren Mann in seinem Bett zu sehen, und man ließ sie im Gang warten, bis er umgebettet war. Dann erlaubte man ihr, einen kurzen Blick hineinzuwerfen.

Ganz leise gab Madame Janvier der Nachtschwester, die um die fünfzig war und wie ein als Frau verkleideter Mann aussah, einige Hinweise.

Draußen wussten sie nicht, was sie machen sollten. Kein Taxi weit und breit.

»Ich schwöre Ihnen«, erklärte Maigret, »es wird

Sie mussten bis zur Rue Gay-Lussac gehen, um einen Wagen zu finden, und der Mann mit dem Schnurrbart richtete es ein, dass er mit Maigret allein sprechen konnte.

»Machen Sie sich um sie keine Sorgen. Verlassen Sie sich auf meine Frau und mich.«

Erst als er mit Lucas auf dem Gehsteig allein war, überlegte er, ob Madame Janvier wohl genügend Geld zur Verfügung hätte. Es war kurz vor Monatsende. Er wollte ihr nicht zumuten, den Weg jeden Tag im Zug und in der Metro zurückzulegen. Taxis waren teuer. Er würde sich gleich morgen darum kümmern.

Als er sich endlich Lucas zuwandte, zündete er seine Pfeife an, die er seit einer guten Weile in der Hand hielt, und fragte:

»Was hältst du davon?«

Sie waren nur wenige Schritte von der Rue Lhomond entfernt und begaben sich zur Pension von Mademoiselle Clément.

Die zu dieser Stunde menschenleere Straße machte einen ziemlich provinziellen Eindruck; die ein- und zweistöckigen Häuser wurden von den

Möblierte Zimmer zu vermieten

Zwei Polizisten des 5. Arrondissements, die sich in der Nähe unterhielten, grüßten den Kommissar.

Es war Licht über der Tür sowie in den Fenstern rechts und im zweiten Stock. Maigret brauchte nicht zu klingeln. Man musste sie beobachtet haben, denn die Tür öffnete sich, und Inspektor Vacher sah den Kommissar fragend an.

»Er wird durchkommen«, sagte Maigret.

Und eine Frauenstimme, im Zimmer rechts, rief:

»Was habe ich Ihnen gesagt!«

Es war eine eigenartige Stimme, kindlich und fröhlich. Eine sehr große, sehr dicke Frau trat in den Türrahmen, streckte dem Kommissar herzlich die Hand entgegen und sagte:

»Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Monsieur Maigret.«

Ein Riesenbaby mit rosiger Haut, unbestimmten Formen, großen blauen Augen, hellblondem Haar, einem himbeerfarbenen Kleid. Wenn man sie ansah, hätte man denken können, dass nichts Tragisches geschehen und alles in bester Ordnung wäre.

»Ich bin Mademoiselle Clément«, sagte sie. »Es ist mir gelungen, meine Mieter ins Bett zu schicken. Aber ich kann sie natürlich holen, wenn Sie das wünschen. Ihr Inspektor ist also nicht tot?«

»Die Kugel ist in die rechte Lunge eingedrungen.«

»So was reparieren die Chirurgen heutzutage im Nu.«

Maigret war etwas erstaunt. Sowohl das Haus als auch die Besitzerin hatte er sich anders vorgestellt. Die beiden Inspektoren, Vauquelin und Vacher, die Torrence nach der Meldung vom Attentat zum Tatort geschickt hatte, schienen sich an seiner Überraschung zu weiden; Vauquelin, vertraulicher als Vacher, zwinkerte ihm sogar zu, während er auf das dicke Mädchen wies.

Sie musste vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt sein, wirkte aber alterslos. Und trotz ihrer beeindruckenden Leibesfülle schien sie auch kein Gewicht zu haben. Und es war so viel Überschwang in ihr, dass man trotz der traurigen Umstände darauf gefasst war, sie in ein heiteres Lachen ausbrechen zu sehen.

Es handelte sich um einen Fall, mit dem sich Maigret kaum persönlich befasst hatte. Er war noch

Niemand am Quai hätte sich einfallen lassen, dass »der Fall Cigogne« auch nur die leiseste Gefahr in sich bergen könnte. Vor fünf Tagen, gegen halb drei morgens, hatten zwei Männer ein kleines Nachtlokal in der Rue Campagne-Première in Montparnasse betreten, das Cigogne hieß und gerade geschlossen werden sollte.

Sie hatten ihre Gesichter mit schwarzen Tüchern bedeckt, und einer von ihnen hielt einen Revolver in der Hand.

Zu diesem Zeitpunkt waren im Lokal nur noch der Inhaber, ein Kellner namens Angelo und die Toilettenfrau, die gerade vor einem Spiegel ihren Hut aufsetzte.

»Die Kasse!«, hatte einer der maskierten Männer kommandiert.

Der Wirt hatte keinen Widerstand geleistet. Er hatte die Einnahmen des Abends über den Tresen geschoben, und wenige Augenblicke später hatten sich die Räuber in einem dunklen Wagen entfernt. Maigret war es gewesen, der am anderen Morgen die Toilettenfrau zu sich kommen ließ, eine rundliche verblühte Schönheit.

»Sind Sie sicher, dass Sie ihn erkannt haben?«

»Ich habe sein Gesicht nicht gesehen, wenn es das

Eigentlich ein lächerliches Detail. Zwei Stunden vor dem Raub hatte sich einer der Gäste, der an der Bar saß, zur Toilette begeben, um sich die Hände zu waschen und sich zu kämmen.

»Sie wissen, wie das ist. Manchmal bleibt der Blick auf irgendwas hängen, ohne dass man sich dessen bewusst wird. Während ich ihm das Handtuch reichte, bemerkte ich einen weißen Faden auf seiner Hose, in Kniehöhe auf dem linken Bein. Der Faden war wohl zehn Zentimeter lang und bildete eine Art Zeichnung. Ich dachte noch, wie ein menschliches Profil sieht das aus.«

Sie hätte ihn beinahe abgezupft, und dass sie es nicht getan hatte, lag daran, dass der junge Mann in diesem Moment hinausgegangen war.

Denn es war ein junger Mann. Sie sagte: »Ein Junge.« Sie hatte ihn in letzter Zeit ein paarmal im Lokal gesehen. Eines Abends hatte er dort ein Mädchen kennengelernt, das Stammgast im Cigogne war, und hatte es mitgenommen.

»Kümmerst du dich darum, Janvier?«

Drei Stunden, nicht länger, dauerte es, bis einer der Täter identifiziert war. Janvier hatte nur das Mädchen auftreiben müssen, eine gewisse Lucette, die in einer Pension im Viertel wohnte.

»Er hat die ganze Nacht mit mir verbracht.«

»Nein. Hier. Er war überrascht, als er hörte, dass ich aus Limoges bin, denn da kommt er auch her, und seine Eltern leben noch dort. Er heißt Paulus. Hätte ihm keine achtzehn gegeben, aber er ist neunzehneinhalb.«

Das hätte noch Zeit in Anspruch nehmen können, aber bei der Meldestelle hatte Janvier den Namen Émile Paulus aus Limoges ermittelt. Er war seit vier Monaten in einer Pension an der Rue Lhomond gemeldet.

Bei Mademoiselle Clément.

»Wollen Sie mir einen Haftbefehl mitgeben, Chef?«

Janvier hatte jemanden mitgenommen. Es war gegen elf Uhr morgens, und die Sonne schien. Maigret erinnerte sich noch genau. Zwei Stunden später war Janvier zurückgekommen und hatte auf den Schreibtisch des Kommissars einen Umschlag gelegt, der Geldscheine enthielt, sowie eine Spielzeugpistole und ein Stück schwarzes Tuch.

»Es war tatsächlich Paulus.«

»Stimmt die Summe?«

»Nein. Es ist nur die Hälfte. Die Kerle müssen sich das Geld geteilt haben. Aber es sind drei Dollarscheine dabei. Ich habe den Inhaber vom Cigogne gefragt, und der hat mir bestätigt, dass an dem Abend ein Amerikaner in Dollar gezahlt hat.«

»Sein Bett war nicht gemacht, aber er war nicht in seinem Zimmer. Mademoiselle Clément, die Vermieterin, hat ihn nicht hinausgehen sehen und nimmt an, dass er das Haus wie gewöhnlich gegen zehn Uhr morgens verlassen hat.«

»Hast du jemanden dortgelassen?«

»Ja. Wir werden ihm eine Falle stellen.«

Vier Tage dauerte die Überwachung, ohne Ergebnis. Maigret kümmerte sich nicht weiter darum, sah im Bericht den Namen des jeweils wachhabenden Inspektors und regelmäßig die Bemerkung: Keine besonderen Vorkommnisse.

Die Presse hatte über die Entdeckung der Polizei nichts verlauten lassen. Paulus hatte kein Gepäck mitgenommen, und man konnte annehmen, dass er zurückkommen würde, um das kleine Vermögen abzuholen, das in seinem Koffer eingeschlossen war.

»Warst du dabei, Vacher?«

»Zweimal.«

»Wie ging das vor sich?«

»Ich glaube, am ersten Tag ist Janvier oben im Haus geblieben, um auf Paulus in dessen Zimmer zu warten.«

Er blickte kurz auf die dicke Mademoiselle Clément.

»Er muss misstrauisch geworden sein. Der Kerl ist vielleicht gewarnt worden.«

»Wir haben uns draußen abgelöst. Ich habe keine Gelegenheit gehabt, die Nachtschicht zu machen. Tagsüber war es leicht und angenehm. Es gibt ein kleines Bistro schräg gegenüber, mit zwei Tischchen im Freien. Man kann dort essen, und die Küche ist wirklich nicht übel.«

»Ist das Haus am ersten Tag durchsucht worden?«

Hierauf antwortete Mademoiselle Clément, freudig, als handelte es sich um eine lustige Begebenheit:

»Vom Keller bis zum Boden, Monsieur Maigret. Ich kann noch hinzufügen, dass Monsieur Janvier mich mindestens zehn Mal besucht hat. Irgendetwas beunruhigte ihn, ich weiß nicht, was. Stundenlang ist er oben im Zimmer auf und ab gegangen. Dann setzte er sich wieder hierhin und unterhielt sich mit mir. Er kennt jetzt die Geschichte aller meiner Mieter.«

»Wie hat sich das heute Abend im Einzelnen abgespielt? Wussten Sie, dass er draußen war?«

»Ich wusste nicht, dass er es war, aber ich wusste, dass ein Polizist Wache hielt.«

»Haben Sie ihn sehen können?«

»Ich habe gegen halb zehn, bevor ich zu Bett ging, einen Blick hinausgeworfen. Ich habe jemanden auf dem Gehsteig hin und her gehen sehen, aber die