Die Schlossherrin von La Bicoque

Am kleinen, tristen Bahnhof von Bréauté-Beuze-ville stieg er aus dem Zug Paris–Le Havre. Um fünf Uhr morgens war er aufgestanden und mit der ersten Metro zur Gare Saint-Lazare gefahren, denn ein Taxi hatte er nicht bekommen. Nun wartete er auf seinen Anschluss.

»Wo bitte fährt der Zug nach Étretat ab?«

Es war nach acht und der Tag schon lange hell, aber durch den kühlen Nieselregen wirkte es so, als dämmerte es gerade.

Der Bahnhof hatte weder ein Restaurant noch ein Buffet. Nur gegenüber, auf der anderen Straßenseite, gab es ein Lokal, eine Art Kneipe. Karren von Viehhändlern standen davor.

»Nach Étretat? Da haben Sie noch Zeit. Sehen Sie, dort hinten, das ist Ihr Zug.«

Am Ende des Bahnsteigs stand ein Zug ohne Lokomotive, mit altmodischen Waggons, seltsam grün gestrichen. Hinter den Scheiben waren schemenhaft Reisende zu erkennen, reglos, als warteten sie

Eine Familie – natürlich Pariser! – hastete, warum auch immer, über die Schienen zu dem Zug ohne Lokomotive. Die drei Kinder hatten Krabbennetze in den Händen.

Der Anblick löste Erinnerungen in ihm aus. Für einen Moment vergaß Maigret sein Alter. Er glaubte, den salzig herben Geruch wahrzunehmen und das Rauschen der Brandung zu hören, obwohl das Meer mindestens zwanzig Kilometer entfernt war. Er hob den Kopf und sah mit einer gewissen Ehrfurcht zu den grauen Wolken, die von dort kommen mussten.

Für ihn, der im Landesinneren geboren und aufgewachsen war, gehörte all das zum Meer: Krabbennetze, eine Spielzeugeisenbahn, Männer in Flanellhosen, Sonnenschirme am Strand, Muschel- und Souvenirverkäufer, Bistros, in denen man Weißwein trinkt und Austern schlürft, Familienpensionen, die alle denselben unverwechselbaren Geruch hatten und in denen Madame Maigret schon nach wenigen Tagen so sehr unter ihrer Untätigkeit litt, dass sie am liebsten beim Geschirrspülen geholfen hätte.

Er wusste zwar, dass es nicht stimmte, und doch fühlte er sich jedes Mal, wenn er ans Meer kam, in

In seiner Laufbahn hatte er mehrmals an der Küste ermittelt und war dabei auf echte Tragödien gestoßen. Doch jetzt, als er an der Theke der Kneipe einen Calvados trank, musste er fast schmunzeln über die alte Dame namens Valentine und ihren Stiefsohn Besson.

Es war September. Mittwoch, der 6. September. Wieder ein Jahr ohne Urlaub für Maigret. Am Abend zuvor gegen elf Uhr war der alte Bürodiener am Quai des Orfèvres bei ihm erschienen und hatte ihm eine schwarzumrandete Visitenkarte gereicht:

Madame Ferdinand Besson

La Bicoque

Étretat

»Möchte sie mich persönlich sprechen?«

»Ja, unbedingt, auch wenn es nur kurz ist. Sie sagt, sie sei extra von Étretat hierhergekommen.«

»Wie ist sie?«

»Eine alte Dame, eine reizende alte Dame.«

Er ließ sie hereinkommen, und es war tatsächlich die entzückendste alte Dame, die man sich vorstellen konnte. Zart und zierlich, mit einem rosigen feinen Gesicht und perlweißem Haar, dabei lebhaft und anmutig. Sie wirkte eher wie eine

»Sie kennen mich wahrscheinlich nicht, Herr Kommissar, umso dankbarer bin ich, dass Sie mich empfangen. Denn Sie sind mir durchaus bekannt, und seit Jahren verfolge ich mit Spannung Ihre Fälle. Wenn Sie mich besuchen, was ich sehr hoffe, kann ich Ihnen sogar jede Menge ausgeschnittener Zeitungsartikel zeigen, in denen von Ihnen die Rede ist.«

»Sehr liebenswürdig.«

»Ich heiße Valentine Besson. Mein Name würde Ihnen vermutlich wenig sagen, wenn ich nicht hinzufügte, dass mein Mann, Ferdinand Besson, der Erfinder der Juva-Produkte war.«

Das Wort Juva war Maigret vertraut. Schon in seiner Jugend hatte er es im Anzeigenteil der Zeitungen und auf Reklametafeln gesehen, und er meinte sich zu erinnern, dass seine Mutter Juva-Creme benutzte, wenn sie sich für besondere Anlässe zurechtmachte.

Die alte Dame ihm gegenüber war ausgesucht elegant gekleidet – wenn auch ein wenig altmodisch – und trug viel Schmuck.

»Seit dem Tod meines Mannes vor fünf Jahren lebe ich allein in meinem kleinen Haus in Étretat. Genauer gesagt, ich habe dort bis zum letzten Sonntagabend mit meinem Hausmädchen gelebt. Sie

Sie sagte das alles ohne Pathos, schien sich vielmehr mit einem leichten Lächeln dafür zu entschuldigen, dass sie von tragischen Dingen sprechen musste.

»Keine Sorge, ich bin nicht verrückt. Keine dieser skurrilen Alten, wie man so sagt. Wenn ich sage, dass Rose – so hieß das Mädchen – an meiner Stelle gestorben ist, dann bin ich mir dessen nahezu sicher. Darf ich Ihnen die Geschichte kurz erzählen?«

»Ich bitte darum.«

»Seit mindestens zwanzig Jahren nehme ich jeden Abend ein Mittel ein, denn ich leide unter Schlafstörungen. Die Tropfen sind ziemlich bitter, aber ein starker Anisgeschmack überdeckt die Bitterkeit. Ich kenne mich damit aus, mein Mann war Apotheker.

Am Sonntag tat ich wie immer vor dem Schlafengehen die Medizin in ein Glas. Ich lag schon im Bett, Rose war bei mir.

Ich trank einen Schluck, er schmeckte bitterer als sonst.

›Ich muss mehr als zwölf Tropfen hineingetan haben, Rose. Ich trinke lieber nicht mehr davon.‹

Sie nahm wie immer das Glas mit hinaus. Ob sie aus Neugier einen Schluck probiert hat? Hat sie es ganz ausgetrunken? Das ist anzunehmen, denn in ihrem Zimmer fand man das leere Glas.

Gegen zwei Uhr in der Nacht wurde ich von Stöhnen geweckt. Das Haus ist nicht groß. Ich stand sofort auf und ging zu meiner Tochter, die ebenfalls aufgestanden war.«

»Ich dachte, Sie lebten allein mit dem Dienstmädchen?«

»Sonntag war mein Geburtstag, der 3. September. Meine Tochter war aus Paris zu Besuch gekommen und über Nacht geblieben.

Ich möchte Ihre Zeit nicht allzu sehr in Anspruch nehmen, Herr Kommissar. Als wir an ihr Bett kamen, lag Rose bereits im Sterben. Meine Tochter hat sofort Doktor Jolly benachrichtigt, aber als er kam, war Rose bereits unter Krämpfen gestorben.

Der Arzt stellte sofort eine Arsenvergiftung fest.

Sie war niemand, der Selbstmordgedanken hegte, und sie hatte genau das Gleiche gegessen wie wir. Folglich kann das Gift nur in meiner Medizin gewesen sein.«

»Haben Sie einen Verdacht, wer ein Interesse an Ihrem Tod haben könnte?«

»Wen sollte ich verdächtigen? … Doktor Jolly ist ein alter Freund von uns, der früher auch meinen

»Wissen Sie seinen Namen?«

»Inspektor Castaing. Braune Haare, rotes Gesicht.«

»Ich kenne ihn. Was sagt er?«

»Gar nichts. Er verhört die Leute in der Gegend und hat den Leichnam zur Autopsie nach Le Havre bringen lassen.«

Das Telefon klingelte. Maigret nahm den Hörer ab. Der Leiter der Kriminalpolizei war am Apparat.

»Können Sie einen Augenblick in mein Büro kommen, Maigret?«

»Sofort?«

»Bitte, wenn möglich.«

Maigret entschuldigte sich bei der alten Dame. Der Chef erwartete ihn.

»Würde es Sie reizen, für ein paar Tage ans Meer zu fahren?«, fragte er ihn.

Auf gut Glück antwortete Maigret:

»Nach Étretat?«

»Sie wissen schon Bescheid?«

»Es kommt darauf an. Erzählen Sie weiter.«

»Ich wurde eben vom Büro des Ministers angerufen. Kennen Sie Charles Besson?«

»Ist das der mit der Juva-Creme?«

»Nicht ganz. Es ist der Sohn. Charles Besson lebt in Fécamp und ist vor zwei Jahren zum

»Und seine Mutter lebt in Étretat.«

»Es handelt sich nicht um seine Mutter, sondern um die Stiefmutter, die zweite Frau seines Vaters. Alles, was ich Ihnen sage, habe ich, wohlgemerkt, selbst eben erst am Telefon erfahren. Charles Besson hat sich an den Minister gewandt, denn er möchte, dass Sie sich mit einem Fall in Étretat befassen, obwohl es nicht in Ihrem Zuständigkeitsbereich liegt.«

»Das Dienstmädchen von Bessons Stiefmutter wurde in der Nacht von Sonntag zu Montag vergiftet.«

»Lesen Sie etwa die Zeitungen aus der Normandie?«

»Nein. Aber die alte Dame sitzt bei mir im Büro.«

»Auch, um Sie zu bitten, nach Étretat zu kommen?«

»Richtig. Sie ist extra deswegen nach Paris gefahren. Woraus man schließen kann, dass sie von dem Schritt ihres Sohns nichts weiß.«

»Und was werden Sie tun?«

»Das hängt von Ihnen ab, Chef.«

Und so bestieg Maigret am Mittwoch, morgens um kurz nach halb neun, in Bréauté-Beuzeville einen Zug, der so klein war, dass man ihn kaum als solchen bezeichnen konnte, und lehnte sich aus

Je näher man dem Wasser kam, umso mehr klarte es auf, und als der Zug die hügeligen Weiden hinter sich gelassen hatte, zeigte der Himmel ein verwaschenes Blau, in dem nur vereinzelt leichte, helle Wolken trieben.

Maigret hatte tags zuvor bei der Brigade mobile von Le Havre angerufen und gebeten, Inspektor Castaing möge von seiner Ankunft in Kenntnis gesetzt werden. Aber nun hielt er vergeblich nach ihm Ausschau. Frauen in Sommerkleidern und halb nackte Kinder, die irgendjemanden erwarteten, verliehen dem Bahnsteig eine heitere Note. Der Bahnhofsvorsteher schien alle Ankommenden prüfend zu mustern. Schließlich kam er auf den Kommissar zu.

»Sie sind nicht zufällig Monsieur Maigret?«

»Doch, ja, der bin ich zufällig.«

»Dann habe ich hier eine Nachricht für Sie.«

Er reichte ihm einen Umschlag. Castaing schrieb ihm:

Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie nicht abholen kann. Ich musste nach Yport zu dem Begräbnis. Zu empfehlen ist das Hôtel des Anglais. Ich hoffe, Sie dort zum Mittagessen zu treffen. Ich werde Ihnen dann alles berichten.

Bevor er jedoch dort eintrat, wollte er trotz seines Koffers erst einmal ans Meer und die weißen Felsenklippen zu beiden Seiten des Kiesstrands betrachten. Junge Menschen tanzten in den Wellen, andere spielten hinter dem Hotel Tennis. In den Strandsesseln saßen strickende Mütter, und alte Paare gingen mit Trippelschritten am Strand spazieren.

Damals auf dem Gymnasium hatte er seine Mitschüler braun gebrannt aus den Ferien zurückkehren sehen, erfüllt von Geschichten und die Taschen voller Muscheln. Er hingegen verdiente längst seinen Lebensunterhalt, als er zum ersten Mal das Meer sah.

Es betrübte ihn ein wenig, dass er das seltsam erregende Gefühl nicht mehr verspürte, sondern gleichgültig auf den glitzernden Schaum der Wogen und das kleine Boot blickte, das immer wieder hinter einer großen Welle verschwand und vom Bademeister mit seinen nackten tätowierten Armen gesteuert wurde.

Der Geruch im Hotel war so, wie er ihn in Erinnerung hatte, und plötzlich vermisste er Madame Maigret, denn er hatte diesen Geruch bisher immer mit ihr gemeinsam wahrgenommen.

»Das kann ich noch nicht sagen.«

»Ich frage, weil wir am 15. September schließen, und heute haben wir schon den 6

Alles wäre dann geschlossen wie ein Theater; die Souvenirgeschäfte, die Konditoreien, überall wären die Fensterläden zugeklappt, und der verwaiste Strand würde wieder dem Meer und den Möwen gehören.

»Kennen Sie Madame Besson?«

»Valentine? Aber sicher. Sie stammt hier aus der Gegend, ist hier geboren, ihr Vater war Fischer. Als Kind kannte ich sie nicht, denn ich bin jünger als sie, aber ich sehe sie noch als Verkäuferin bei den Demoiselles Seuret vor mir. Sie führten damals eine Konditorei. Die eine von den beiden ist inzwischen gestorben, die andere lebt noch. Sie ist zweiundneunzig. Ihr Haus steht nicht weit entfernt von Valentines Haus. Dort drüben, das mit dem blauen Gartenzaun. Würden Sie bitte den Meldezettel ausfüllen?«

Der Geschäftsführer – oder war er vielleicht der Besitzer? – las ihn durch und betrachtete Maigret neugierig.

»Ach, Sie sind der Maigret von der Kriminalpolizei? Sind Sie extra wegen dieser Sache aus Paris gekommen?«

»Ja. Das heißt, er kehrt seit Montag meistens hier ein, aber er fährt abends nach Le Havre zurück.«

»Ich warte auf ihn.«

»Er ist bei der Beerdigung in Yport.«

»Ich weiß.«

»Glauben Sie wirklich, dass man Valentine vergiften wollte?«

»Ich habe mir noch keine Meinung darüber bilden können.«

»Wenn das stimmt, dann kann es nur jemand aus der Familie gewesen sein.«

»Denken Sie dabei an ihre Tochter?«

»Nein, an niemand Bestimmten. Ich weiß von nichts. Am vergangenen Sonntag kamen eine Menge Leute in La Bicoque zusammen. Und ich wüsste nicht, wer hier in der Gegend etwas gegen Valentine haben sollte. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Gutes die Frau zu Lebzeiten ihres Mannes getan hat, als sie noch die Mittel hatte. Und sie tut es auch jetzt noch. Obwohl sie wirklich nicht reich ist, will sie immer nur geben. Es ist eine hässliche Geschichte, glauben Sie mir. In Étretat war es immer friedlich. Wir haben uns um ein ausgesuchtes Publikum bemüht, vor allem um Familien aus den besseren Kreisen. Ich könnte Ihnen Namen nennen …«

Er fragte einen Laufburschen, wie man nach La Bicoque kam. Der zeigte ihm eine Straße, die sich sanft den Hügel hinaufschlängelte. Einige Landhäuser, von Gärten umgeben, säumten die Straße. Er blieb in einer gewissen Entfernung vor einem ganz im Grünen versteckten Haus stehen, aus dessen Schornstein eine dünne Rauchfahne langsam in den blassblauen Himmel stieg. Als er zum Hotel zurückkam, war Castaing bereits dort. Sein kleiner Simca stand vor der Tür, er selbst erwartete Maigret oben auf der Treppe.

»Hatten Sie eine gute Reise, Herr Kommissar? Ich bedaure sehr, dass ich Sie nicht am Bahnhof empfangen konnte. Aber ich dachte, es wäre interessant, an der Beerdigung teilzunehmen. Wenn es stimmt, was man sich so erzählt, ist das ja auch Ihre Methode.«

»Wie war es denn?«

Sie begaben sich ans Meer und gingen ein Stück.

»Ich weiß es nicht. Am liebsten würde ich sagen, ziemlich scheußlich. Es lag etwas Stumpfes in der Luft. Die Leiche des Mädchens war am Morgen von Le Havre überführt worden. Die Eltern erwarteten den Sarg am Bahnhof mit einem Lieferwagen,

Castaing hatte dichtes Haar und eine niedrige Stirn. Er sprach mit solcher Verbissenheit, als würde er einen Pflug schieben.

»Ich bin jetzt seit sechs Jahren in Le Havre und durchforste die Gegend. In den Dörfern, besonders in denen rings um die Schlösser, begegnet man immer noch Leuten voll demütiger Hochachtung, die von ›unseren Herrschaften‹ sprechen. Daneben gibt es aber andere, die weniger ergeben als misstrauisch, sogar feindselig wirken. Ich weiß noch nicht, zu welcher Kategorie die Trochus zählen, aber die Atmosphäre um Valentine Besson war heute Morgen recht frostig, geradezu bedrohlich.«

»Ich habe gehört, dass sie in Étretat vergöttert wird.«

»Yport ist nicht Étretat. Und die Rose, wie man hier sagt, ist tot.«

»War die alte Dame auf der Beerdigung?«

»In der ersten Reihe. Manche nennen sie die Schlossherrin. Sie besaß wohl mal ein Schloss in

»Sie hat mich in Paris aufgesucht.«

»Sie sagte mir zwar, sie wolle nach Paris fahren, aber ich wusste nicht, dass es Ihretwegen war. Welchen Eindruck haben Sie von ihr?«

»Noch keinen.«

»Sie ist stinkreich gewesen. Über viele Jahre hatte sie ein Stadtpalais in der Avenue d’Iéna, ein Schloss und eine Jacht. La Bicoque war nur ein kleiner Nebenwohnsitz.

Sie wurde immer in einer schweren Limousine von einem Chauffeur dorthin gefahren, in einem zweiten Wagen kam das Gepäck hinterher. Wenn sie sonntags der Messe beiwohnte – in der ersten Reihe natürlich, da hat sie ihren festen Platz –, war es jedes Mal eine Sensation. Sie verteilte das Geld mit vollen Händen. Wenn jemand in der Klemme saß, sagte man:

›Geh doch einfach zu Valentine.‹

Viele, vor allem die Älteren, nennen sie noch so.

Heute Morgen kam sie in einem Taxi nach Yport und stieg aus wie früher, wie aus ihrem eigenen Wagen. Es wirkte, als wäre sie die Hauptperson bei der Trauerfeier. Sie brachte einen riesigen Kranz mit, neben dem alle anderen kümmerlich aussahen.

Vielleicht irre ich mich, aber die Trochus schienen aufgebracht zu sein. Ihre Blicke kamen mir

»Wurde Madame Besson von ihrer Tochter begleitet?«

»Nein, die Tochter ist schon Montag mit dem Nachmittagszug nach Paris zurückgefahren. Ich hatte keinen Grund, sie hier festzuhalten. Sie werden bemerkt haben, dass ich noch im Dunkeln tappe. Aber ich glaube, man sollte die Tochter noch einmal vernehmen.«

»Wie sieht sie aus?«

»Vermutlich wie ihre Mutter in dem Alter, also mit achtunddreißig. Man könnte sie aber für fünfundzwanzig halten. Schlank und zierlich, sehr hübsch, auffallend große Augen, fast immer mit einem kindlichen Ausdruck. Was sie allerdings nicht daran gehindert hat, in der Nacht von Sonntag auf Montag bei sich im Zimmer in La Bicoque einen Mann zu beherbergen, der nicht ihr Ehemann ist.«

»Hat sie Ihnen das selbst erzählt?«

»Ich habe es herausgefunden. Leider zu spät, um sie noch befragen zu können. Ich muss Ihnen das alles im Einzelnen erzählen. Die Sache ist viel komplizierter, als es den Anschein hat. Deshalb habe ich mir einiges aufgeschrieben. Erlauben Sie?«

»Am Montag um sieben Uhr früh bekamen wir in Le Havre einen Anruf, und als ich um acht Uhr ins Büro kam, lag ein Zettel auf meinem Schreibtisch. Ich habe dann gleich meinen Simca genommen und war um kurz nach neun hier. Charles Besson war knapp vor mir angekommen und stieg gerade aus dem Wagen.«

»Wohnt er in Fécamp?«

»Er besitzt dort ein Haus, in dem lebt seine Familie das ganze Jahr über. Aber seit er Abgeordneter ist, hält er sich zeitweise in Paris auf. Er bewohnt ein Appartement in einem Hotel am Boulevard Raspail. Den ganzen Sonntag hat er hier mit der Familie verbracht, also mit seiner Frau und den vier Kindern.«

»Er ist nicht Valentines Sohn, nicht wahr?«

»Valentine hat keinen Sohn, nur eine Tochter, Arlette, von der ich eben gesprochen habe. Sie ist in Paris mit einem Zahnarzt verheiratet.«

»War dieser Zahnarzt auch hier am Sonntag?«

»Nein, Arlette ist allein gekommen. Es war der Geburtstag ihrer Mutter, und offenbar ist es Familientradition, dass ihre Kinder sie an dem Tag besuchen. Als ich Arlette fragte, mit welchem Zug sie

Aber wie Sie gleich sehen werden, stimmt das nicht. Nachdem die Leiche am Montag nach Le Havre gebracht worden war, habe ich als Erstes alle Räume des Hauses gründlich durchsucht. Das war nicht ganz leicht, denn so klein und niedlich das Haus auch sein mag, es ist sehr verwinkelt, und die Zimmer stehen voller empfindlicher Möbel und Nippes.

Abgesehen von Valentines Schlafzimmer und dem Dienstmädchenzimmer, beide im ersten Stock, gibt es im Erdgeschoss ein Gästezimmer. Dort hat Arlette geschlafen. Als ich den Nachttisch von der Wand abrückte, fand ich ein Männertaschentuch. Arlette, die mir zusah, schien über diese Entdeckung ziemlich erregt zu sein. Hastig riss sie es mir aus der Hand.

›Da hab ich doch wieder versehentlich ein Taschentuch meines Mannes eingesteckt!‹

Ich weiß nicht, warum, erst abends wurde mir bewusst, dass in das Taschentuch der Buchstabe H eingestickt war. Arlette war eben abgereist. Ich hatte ihr angeboten, sie in meinem Wagen zum Bahnhof zu bringen, und habe dann gesehen, wie sie am Schalter ihre Fahrkarte löste.

Ich weiß, es ist idiotisch. Aber in dem Augenblick, als ich wieder in mein Auto stieg, wunderte

›Die Dame ist doch Sonntagfrüh mit dem Zehn-Uhr-Zug angekommen, nicht wahr?‹

›Welche Dame?‹

›Die ich eben hierherbegleitet habe.‹

›Madame Arlette? Nein, Monsieur.‹

›Ist sie nicht am Sonntag gekommen?‹

›Sie ist vielleicht am Sonntag gekommen, aber nicht mit dem Zug. Ich sammle nämlich die Fahrkarten ein und hätte sie bestimmt erkannt.‹«

Castaing sah Maigret leicht beunruhigt an.

»Hören Sie mir zu?«

»Aber ja. Sicher.«

»Vielleicht sind diese Einzelheiten überflüssig?«

»Nein, durchaus nicht. Ich muss mich nur erst mit allem vertraut machen.«

»Womit?«

»Mit allem, dem Bahnhof, Valentine, Arlette, dem Bahnbeamten, der die Fahrkarten einsammelt, den Trochus. Gestern noch kannte ich nichts und niemanden.«

»Zurück in La Bicoque habe ich die alte Dame nach dem Namen ihres Schwiegersohns gefragt. Er heißt Julien Sudre; keins der beiden Wörter beginnt mit einem H. Ihre beiden Stiefsöhne heißen Théo und Charles Besson. Immerhin heißt der Gärtner,

Da ich nicht recht wusste, wo anfangen mit den Ermittlungen, habe ich zunächst die Leute in der Stadt befragt. Vom Zeitungsverkäufer erfuhr ich, dass Arlette keineswegs mit dem Zug, sondern mit einem Auto angekommen ist, und zwar mit einem großen grünen Sportwagen.

Das machte die Sache leichter. Der Eigentümer des grünen Wagens hatte für Sonntagabend in dem Hotel, das ich Ihnen empfohlen habe, ein Zimmer bestellt.

Es ist ein gewisser Hervé Peyrot. Auf dem Anmeldeformular gibt er als Beruf Weinhändler an, und er wohnt in Paris am Quai des Grands Augustins.«

»Hat er auswärts geschlafen?«

»Bis kurz vor Mitternacht, also bis dort geschlossen wurde, hat er an der Hotelbar gesessen und ist dann, statt auf sein Zimmer zu gehen, zu Fuß fortgegangen, weil er sich, wie er sagte, noch das Meer ansehen wollte. Dem Nachtportier zufolge ist er erst gegen halb drei Uhr morgens wiedergekommen. Ich habe den Hausdiener, der die Schuhe putzt, befragt, und der sagte, an Peyrots Schuhsohlen habe rötliche Erde geklebt.

Was halten Sie davon?«

»Nichts.«

»Was Théo Besson betrifft …«

»War er auch da?«

»Nicht die ganze Nacht. Sie wissen ja, die beiden Söhne Besson kommen aus der ersten Ehe, Valentine ist nicht ihre Mutter. Ich habe den ganzen Familienstammbaum notiert, und wenn Sie möchten …«

»Nein, nicht jetzt. Ich habe Hunger.«

»Théo Besson, achtundvierzig Jahre alt und Junggeselle, macht jedenfalls seit zwei Wochen Urlaub in Étretat.«

»Bei seiner Stiefmutter?«

»Nein, er war gar nicht bei ihr. Sie sind, glaube ich, zerstritten. Er wohnt im Hôtel Les Roches Blanches da drüben.«

»Er ist also nicht in La Bicoque gewesen?«

»Warten Sie, als Charles Besson …«

Der arme Castaing seufzte in dem verzweifelten Versuch, für Maigret ein klares Bild der Situation zu zeichnen, zumal Maigret gar nicht zuzuhören schien.

»Sonntagmorgen um elf kam Charles Besson mit seiner Frau und den vier Kindern. Sie haben ein

»Hat er seinen Bruder getroffen?«

»Das ist es ja gerade. Ich nehme an, Charles Besson hat den Spaziergang nur gemacht, um in der Bar des Casinos etwas trinken zu können. Nach dem, was so erzählt wird, hebt er nämlich gern mal einen. Dort traf er Théo. Er wusste vorher nicht, dass sein Bruder in Étretat war. Er bestand darauf, dass Théo mitkam, und der willigte schließlich ein. So war die Familie zum Abendbrot in La Bicoque vollzählig versammelt. Es gab ein kaltes Abendessen, Langusten und Braten.«

»Ist niemand davon krank geworden?«

»Nein. Außer der Familie war nur das Dienstmädchen im Haus. Charles Besson ist mit seiner Familie gegen halb zehn aufgebrochen. Der fünfjährige Claude hatte bis dahin im Zimmer der alten Dame geschlafen. Das jüngste Kind ist erst sechs Monate alt und schrie wie am Spieß. Es musste erst noch die Flasche bekommen, bevor sie in den Wagen steigen konnten.«

»Wie heißt die Frau von Charles Besson?«