Über Georges Simenon

GEORGES SIMENON geboren 1903 im belgischen Lüttich, gestorben 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Eine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Fünf Ärzte verhören den Autor

Anlässlich ihres 25-jährigen Jubiläums erschien am 5. Juni 1968 in der Zeitschrift Médecine et Hygiène ein Gespräch, das fünf Ärzte mit Georges Simenon auf seinem Anwesen in Epalinges geführt hatten: Charles Durand, Samuel Cruchaud, René Kaech, Jean-Jacques Burgermeister und Pierre Rentchnick. Im November desselben Jahrs erschien es im Verlag Presses de la Cité erstmals in Buchform.

Simenon hat Millionen von Lesern. Zusammen mit Victor Hugo und Jules Verne zählt er zu den am meisten übersetzten Autoren. Die außergewöhnliche Verbreitung dieser Leserschaft wirft Fragen auf. Die Maigret-Romane werden in der Tat sowohl in Europa, in Japan, in den Vereinigten Staaten als auch in der ehemaligen Sowjetunion geschätzt. Doch trotz dieser extremen Popularität sahen so anerkannte Literaten wie Gide, Martin du Gard und François Mauriac Simenon als Schriftsteller von sehr großem Talent.

Experten sagen ohne zu zögern, dass Simenon in der Literatur eine Ausnahmeerscheinung, vor allem aber ein schöpferisches Phänomen darstellt. Besonders Ärzte, von denen viele Simenons Werk bewundern, waren immer sensibel für eine bestimmte Art intellektueller Vorgehensweise des Schöpfers von Maigret, für die Beschreibung elementarster Wahrnehmungen (Geschmack, Geruch etc.),

Einige Mediziner, die das Werk Simenons nicht gut kannten, wurden von Die Glocken von Bicêtre überrascht, dessen Widmung vielsagend ist: »Für alle – Professoren, Mediziner, Schwestern und Pfleger –, die sich in Krankenhäusern und anderswo darum bemühen, diesem verwirrenden Wesen Verständnis entgegenzubringen und Linderung zu verschaffen: dem kranken Menschen.« Durch halbseitige Lähmung zur Bewegungslosigkeit verdammt, sieht die Figur dieses Romans die anderen Menschen anders als diese sich selbst sehen; sie hat nicht mehr dieselben Probleme wie sie, ist darüber hinausgegangen. Während der Gelähmte seine Umgebung beobachtet, stellt er sich fundamentale Fragen, für die ein gesunder Mensch in seiner Alltagsexistenz zweifellos nicht die Muße hätte, Fragen, die einen dazu bringen, spiralförmig in die

Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums von Médicine et Hygiène dachten wir, dass es interessant und aufschlussreich sein könnte, einen Tag mit Simenon auf seinem Landgut in Epalinges oberhalb von Lausanne zu verbringen. Diese Begegnung verlief in einer Atmosphäre herzlicher Freundschaft und Sympathie. Der außerordentliche Erfolg hat Simenon nicht zu einem affektierten, gekünstelten Wesen werden lassen: Wir sind einem Mann begegnet, der bescheiden, umgänglich geblieben ist, der sich beständig Fragen stellt und an sich selbst und seinem Talent zweifelt. Trotz seiner weltweiten Leserschaft braucht Simenon immer noch Bestätigung, was ihn sehr menschlich und sehr empfindsam für die Probleme anderer macht.

Wir danken Simenon sehr herzlich für seine Zustimmung zur Veröffentlichung dieser vertraulichen und zwanglosen Mitteilungen. Sie bilden ein psychologisches und literarisches Dokument, das wir den Schriften dieses Autors

Médicine et Hygiène

Ja, sicherlich, ich muss Anflüge des Unbewussten ergreifen, und falls ich »den« Moment vorübergehen lasse, besteht das Risiko, dass dieses Unbewusste sich verflüchtigt. Wenn ich zum Beispiel im Verlauf der Ausarbeitung eines Romans krank werde und seine Fertigstellung um zehn Tage verschieben muss, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass ich ihn aufgeben muss, denn er ist mir gänzlich fremd geworden. Er berührt mich nicht mehr. Und dann frage ich mich: Warum bin ich von dieser Figur oder jenem Detail ausgegangen?

Man hat den Eindruck, als handle es sich um Filter, um Schleusen, die beizeiten zum Einsatz kommen müssen. Gibt es auch eine Frist für den Beginn?

Ich kann etwa vier bis fünf Tage mit dem Roman »schwanger gehen«, aber ich kann ihn nicht länger als fünfzehn Tage zurückhalten. Die Arbeit muss fortlaufend sein, und ich darf bei seiner Abfassung keinen Tag überspringen, sonst reißt der Faden.

Wenn ich einen Roman beginne, werde ich zur Hauptfigur, und mein ganzes Leben, vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zum Morgen, wird von dieser Figur bestimmt: Ich stecke wirklich in ihrer Haut. Wenn ich vierundzwanzig Stunden lang wieder ich selbst bin, finde ich die Figur nicht mehr wieder, oder wenn ich sie wiederfinde, erscheint sie mir ein wenig konstruiert. Bevor ich einen Roman schreibe, muss ich in dem Augenblick, in dem ich mich in den von

Das ist ja vielleicht nicht dasselbe. Picasso hat immerhin ein Thema gewählt, wobei es ihm nicht darauf ankommt, ob er es in der Form eines Baums oder eines Stiers zum Ausdruck bringt.

Ja, vielleicht. So wird das Thema meines nächsten Romans zum Beispiel verdrängte Gewalt sein. Ich habe die Figur, ich habe den Ausgangspunkt. Jetzt versuche ich, den Roman in Frankreich anzusiedeln. Aber es geht nicht: Damit meine Figur in Gang kommt, damit ein Anfangspunkt existiert, muss ich den Roman in den Vereinigten Staaten ansiedeln. Das ist der einzige Ort, den ich ausreichend gut kenne, um die Entwicklung des Themas zu ermöglichen. Wenn ich von diesem Thema spreche, bin ich mir nicht wirklich

Ist der Ausgangspunkt ein Thema oder eine Figur?

Eher die Figur als das Thema. Ich weiß zum Beispiel, dass sie die Gewalt in sich erstickt hat.

Ich kenne die Figur schon. Ich habe ihren Stammbaum erstellt. Der Charakter ihrer Großmutter, ihres Großvaters, ihrer Eltern, ihre gesamte Lebenssituation ist bekannt. Ich kenne ihre Krankheiten, jene ihrer Familie, was nicht besagen will, dass ich all diese anamnestischen Details im Roman selbst erwähne.

Müssen Sie sich jedes Mal dieser Mühe unterziehen, Ihrer Figur eine Identität und eine vollständige Persönlichkeit zu geben?

Ja, gewiss, und das ist der Tag, den ich bei der Vorbereitung meines Romans am wenigsten mag. Wenn meine Figuren ausgereift sind, aber noch keine genaue Adresse oder Telefonnummer haben, greife ich auf der Suche nach Namen zum Telefonbuch oder zum Littré. Ich zeichne auch einen schematischen Grundriss der Wohnung oder des Hauses, denn ich muss wissen, ob die Türen sich nach links oder rechts öffnen, ob die Sonne durch dieses oder jenes Fenster einfällt, ob sie ein Zimmer morgens oder spätnachmittags mit Licht durchflutet. All das ist notwendig; ich muss mich in diesem Haus bewegen können, als wäre es mein Zuhause. Das, und nichts anderes, ist mein Plan.

Erfinden Sie selbst die Lokalnachricht, die Stendhal in der Wirklichkeit suchte?

Könnte man sagen, dass Ihre Figur sich bei dieser Gelegenheit selbst entdeckt?

Ja, der Zwischenfall ist gewissermaßen ein Entwickler.

Die Person sieht ihre Vergangenheit mit neuen Augen, und neue Möglichkeiten, die bisher verborgen waren, treten zutage.

In der katholischen Religion gibt es, wie Sie wissen, die sogenannten Exerzitien: man geht ein oder zwei Mal im Jahr in ein Kloster, und dort wird erwartet, dass man eine Zwischenbilanz der eigenen Existenz, aller Handlungen zieht. Mein Ausgangspunkt dient also in Wirklichkeit nur dazu, diese Exerzitien bei meiner Figur oder einer meiner Figuren in Gang zu setzen.

Das wird ihr somit auferlegt?

Also ist der Vorfall oder Unfall, von dem Sie sprechen, nicht wesentlich?

Er ist dennoch notwendig. Er spielt die Rolle eines Katalysators.

Ich denke da insbesondere an Die Flucht des Monsieur Monde. Er steigt hinab in den Hof seines Gebäudes und entdeckt, dass sein Sohn homosexuell ist. Oder ein anderes Beispiel: in Die Komplizen ist es der Unfall. Ein idiotischer Unfall, der die beiden Menschen aneinander bindet.

 

Wir sind verblüfft über Ihr Anwesen, über die Ordnung, die hier herrscht.

In meiner Jugend war ich eher für Unordnung bestimmt, aber ich hatte gleichzeitig eine Sehnsucht nach Ordnung, nach einer bestimmten Solidität, und im Grunde habe ich mich mein ganzes Leben lang daran geklammert. Jedes der zahlreichen Häuser, die ich bewohnt habe, war gut gebaut, solide, um mich daran zu hindern, »mich aus dem Staub zu machen«. Es war ein Bedürfnis nach Sicherheit, denn meine eigentliche Versuchung (schon mit sechzehn schrieb ich das auf) war, als Clochard zu enden, und im Grunde verspürte ich immer die Anziehungskraft des Clochards. Ich würde fast so weit gehen, den Zustand des Clochards als Idealzustand anzusehen. Es ist offensichtlich, dass der wahre Clochard als Mensch vollständiger ist, als wir es sind.

Ja, eigentlich ist dieses Haus Ihr Heimathafen, Ihre Brüstung, die Sie daran hindert, sich den Clochards anzuschließen.

Können diese beiden Tendenzen nicht gleichzeitig oder nacheinander existieren?

Das schon, aber ich glaube, dass es bei mir ein Schutzmechanismus ist. Schauen Sie: ab dem Alter von acht Jahren war ich der Erste, der im Haus aufstand, um fünf Uhr dreißig morgens, vor meiner Mutter, vor allen anderen. Um sechs Uhr diente ich schon bei der Messe im Krankenhaus. Diese Disziplin, vor sechs Uhr aufzustehen, habe ich mein ganzes Leben lang beibehalten. Aber ich glaube nicht, dass das zwangsläufig mit einer Vorliebe für frühes Aufstehen zu tun hat, vielmehr stellt es eine Disziplin dar. An Tagen, an denen ich nicht früh aufstehe, habe ich Schuldgefühle, bin aus dem Gleichgewicht und muss manchmal meinen Arzt rufen.

Noch an ein anderes Detail kann ich mich erinnern. In der Pubertät begann ich auszugehen, ließ mich treiben, vernachlässigte die Schule, obgleich ich ein brillanter Schüler war, doch im letzten Moment machte ich die Sache jedes Mal wieder wett. Eines Tages, ich war siebzehn und arbeitete

Das ist ein Schutzmechanismus, der in sehr jungem Alter einsetzte. Waren Sie sich dessen bewusst?

Was das Haus betrifft, so war ich mir dessen nicht bewusst, wohl aber, was die Heirat betrifft. Ganz gewiss hat diese erste Ehe mich gerettet. Doch in Wirklichkeit war es so, dass mich jedwede Unordnung interessierte. Es gab zum Beispiel anarchistische Gruppen in Lüttich. Ich verkehrte mit ihnen und wäre sicherlich bis zum Äußersten gegangen. Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass es sich bei den Romanen ähnlich verhält. Wenn ich eine Disziplin einhalte und so viele Romane im Jahr schreibe, dann auch deshalb, weil es ein funktionierendes Alarmsignal gibt: Wenn es mir nicht gut geht, sage ich es meinem Arzt, und dieser erwidert: »Wann beginnen Sie mit Ihrem nächsten Roman?« Ich sage zu ihm: »in acht Tagen«, und er antwortet: »Nun, dann ist ja alles gut.«

Es ist ein wenig so, als würde er mir als Rezept verschreiben: »So bald wie möglich einen Roman schreiben.« Das ist die Therapie, die mir am ehesten zusagt.

Stimmen Sie, was die Schreibmotivation betrifft, mit Charlie Chaplin überein, der vor vielen Jahren zu Ihnen

Ich glaube schon, dass an dem, was Chaplin mir damals gesagt hat, etwas Wahres ist.

Im Verlauf des großzügigen Essens, das Sie uns vorhin aufgetischt haben, sprachen wir von der aktuellen Moral, vom Bild des Menschen, das sich in den großen Epochen wandelt, von den Schwierigkeiten, die die Erziehung der Kinder mit sich bringt. Ich würde gern etwas vom Bild erfahren, das Sie sich als Kind vom Menschen gemacht haben.

Ich habe in meiner Familie den Menschen kennengelernt, der ein Produkt dessen war, was man als gesellschaftliche Organisation am Ende des vergangenen und Beginn des aktuellen Jahrhunderts bezeichnen könnte. Man brauchte Angestellte, Arbeiter, Bedienstete, und die Gesellschaft hatte sie auf ganz bewundernswerte Weise »domestiziert«. Sie waren überzeugt davon, ehrbare Menschen zu sein, und sie schritten alle hintereinander her wie im Prozessionszug. Mein Vater ging ins Büro, als würde er in den Himmel auffahren. Er war der Gerechte und alle meine Onkel ebenfalls. Er hatte das rituelle Verhalten des Gerechten. Er hatte einen Köhlerglauben, sowohl was die Religion als auch die gesellschaftliche Organisation betraf. Ich glaube, dass mein Vater ein glücklicher Mensch war. Trotz der Dürftigkeit unserer Existenz lebte er in Frieden mit sich und den anderen. Meine Mutter und einige ihrer Schwestern wollten stets mehr; sie hatten Vertrauen in die gesellschaftliche Organisation und wollten den sozialen Aufstieg. Die Organisation

Befanden sie sich im selben Büro?

Ja.