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Prof. Dr. Klaus Hurrelmann ist der bekannteste Kindheits- und Jugendforscher in Deutschland. Er ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin, Buchautor und Herausgeber zahlreicher Jugendstudien, u. a. der Shell Jugendstudie. Gemeinsam mit Erik Albrecht Autor des Buches Die heimlichen Revolutionäre über die Generation Y (Beltz 2014).

Erik Albrecht arbeitet als freier Journalist und Berater in der Medienentwicklungshilfe. Er hat bereits aus Russland, der Ukraine und Großbritannien für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk berichtet. Zudem beschäftigt er sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Journalismus und Fragen der Medienkompetenz für Jugendliche.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1
Warum das Klima der Anfang ist

Freitage für die Zukunft

Plötzlich politisch?

Sorgen um Umwelt und Klima

Erst der Anfang

Jobchancen steigern Politisierung

Eine soziale Bewegung

Politik auf Faktenbasis

Kapitel 2
Gretas Generation

Das Gesicht der Klimabewegung

Der Generationenbegriff

Die Generationen der Nachkriegszeit

Wer ist Greta Thunberg?

Greta als Ikone einer Generation

Kapitel 3
Schulterschluss statt Generationenkonflikt

Der Brexit als Menetekel eines Generationenkonflikts

Sparpolitik zulasten der Jungen

Zwischen Renten und Bildung

Stoff für einen Generationenkonflikt?

Allianz statt Konflikt

Politik für alle Generationen

Kapitel 4
Klimaprotest versus Populismus

FFF lebt vom Bildungsbürgertum

Die andere Seite der Generation Greta

Fürs Klima und gegen Ausländer?

Die Welt des Rechtspopulismus

Fünf politische Orientierungen

Angst vor dem Abstieg

Vielfalt in der jungen Generation

Der Klimaprotest kommt aus der Mittelschicht

Kapitel 5
Kein Bock auf Parteien

Weniger als ein Prozent Mitglieder

Die Generation der Ära Merkel

Vertrauen in Regierungsparteien schwindet

Wahl zwischen zwei Polen

Politik für die Generation Greta

Kapitel 6
Digital immer einen Schritt voraus

Mediale Jugend

Zwischen Souveränität und Sucht

Übung in Selbstdisziplin

Ein Netzwerk für jeden Zweck

Klassische Medien im Abwind

YouTube – ein Paralleluniversum?

Kapitel 7
Bildung interaktiv

Auch Digital Natives brauchen Digitalkompetenz

Handys in der Schule

Digital Native im Wischen

Schule interaktiv

Eine neue Schule?

Kapitel 8
Was der Schule fehlt

Schülerfirmen

Eine Schule fürs Leben

Gut im Präsentieren

Klimakrise und Schule

Sozialverhalten

Gesunde Schule

Wirtschaftsunterricht

Schulstreik als Druckmittel

Kapitel 9
Wer in der jungen Generation zu kurz kommt

Die Spannweite von Leistungen

Die Lehrer-Schüler-Wohnung

Soziale Herkunft entscheidet

Lernen lernen

Die Schwächen der Jungs

Kapitel 10
Arbeit im Wandel

Die Widersprüche des Arbeitsmarkts

Ein Funken Wachsamkeit

Von der Suche nach dem Traumjob

Der ideale Arbeitsplatz

Schutz vor dem Burn-out

Duale Ausbildung muss kämpfen

Ein Bewerbermarkt

Duales Studium: Sowohl als auch

Schwieriger Arbeitsmarkt

Studium als Normalfall

Generation Zukunft

Kapitel 11
Generation Greta privat

Von hetero bis LGBTQI*

Suche nach Zugehörigkeit und Harmonie

Leben im Hotel Mama

Bei Kindern ganz traditionell

Verunsicherte Männer

Liebe online

Anders lieben

Kapitel 12
Warum das Klima erst der Anfang ist

Politisiert für das Leben

Weiser als die Eltern

Anmerkungen

Vorwort

Kapitel 1: Warum das Klima der Anfang ist

Kapitel 2: Gretas Generation

Kapitel 3: Schulterschluss statt Generationenkonflikt

Kapitel 4: Klimaprotest versus Populismus

Kapitel 5: Kein Bock auf Parteien

Kapitel 6: Digital immer einen Schritt voraus

Kapitel 7: Bildung interaktiv

Kapitel 8: Was der Schule fehlt

Kapitel 9: Wer in der jungen Generation zu kurz kommt

Kapitel 10: Arbeit im Wandel

Kapitel 11: Generation Greta privat

Kapitel 12: Warum das Klima erst der Anfang ist

Literatur

Vorwort

»Wir sind jung, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!« Seit Ende 2018 schallt dieser Spruch Freitag für Freitag durch Deutschlands Straßen. Wer derzeit durch die Republik fährt und mit Jugendlichen spricht, hört überall ähnliche Aussagen: »Mir ist der Klimawandel wichtig«, sagt die 15-jährige Madeleine*, die an einer Berliner Oberschule das Abitur anstrebt. »Ich habe Angst, was in 100 Jahren sein wird«, fügt Friedrich hinzu, der mit zwölf Jahren gerade erst auf die Oberschule gekommen ist und die Mittlere Reife machen will. »Ich finde es wichtig, dass wir jüngere Generation aufstehen und sagen: ›Halt, stopp, so könnt ihr nicht weitermachen‹«, sagt Markus aus Frankfurt an der Oder. »Wir wollen auch noch was von der Erde haben.«

* Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes haben wir die Namen von jugendlichen Interviewpartnern geändert.

Jugendforschung ist Zukunftsforschung. Lange bevor Entwicklungen die gesamte Gesellschaft erfassen, sind sie schon aus Jugendstudien herauszulesen. Wer sein Leben noch vor sich hat, ist für das, was kommt, sensibler als Ältere. Wer weder Besitz noch Privilegien zu verteidigen hat, ist freier darin, kreative Lösungen zu finden.

Nach Jahren einer Großen Koalition, die viele Zukunftsthemen liegen ließ, lautet die gute Nachricht: Junge Menschen interessieren sich wieder verstärkt für Politik. Sich zu engagieren gilt sogar wieder als cool. Die weniger gute Nachricht lautet allerdings: So, wie Jugendliche die deutsche Politik heute wahrnehmen, gefällt sie ihnen immer weniger. Das hängt auch mit der Klimapolitik zusammen. Angela Merkel war zu Beginn ihrer vier Amtszeiten einmal als Klimakanzlerin angetreten. Am Ende ihrer langen Regierungszeit hat sie ihre selbst gesteckten Klimaziele kleinlaut wieder einkassiert.

Das macht junge Menschen misstrauisch. Sie verlieren das Vertrauen in die regierenden Politikerinnen und Politiker und ihre Parteien. Die Generation Z, wie die nach dem Jahr 2000 Geborenen oft bezeichnet werden, weil sie auf die Generation Y folgen, hat das Gefühl, die Sache selbst in die Hand nehmen zu müssen. In Zeiten von Klimawandel und Digitalisierung spürt sie: Politik müsste heute die Weichen für die Zukunft stellen. Stattdessen verliert sie sich im Klein-Klein des täglichen Regierens und fährt auf Sicht.

Die junge Generation will einen Aufschub wichtiger Entscheidungen nicht länger hinnehmen. »Wenn man heute von der ›Zukunft‹ spricht, denkt niemand weiter als bis 2050«, schreibt die schwedische Schülerin Greta Thunberg, geboren am 3. Januar 2003, die zur Initiatorin der weltweiten Klimabewegung Fridays for Future (FFF) wurde. Dann fügt sie hinzu: »Zu der Zeit werde ich im besten Fall noch nicht mal mein halbes Leben gelebt haben.«1

Es ist dieser Unterschied in der Lebensperspektive, der die Jugend schon immer zum Seismografen für zukünftige Entwicklungen gemacht hat. Doch noch nie zuvor in der Geschichte sind so junge Menschen so massiv auf die Straße gegangen, um ihren Anliegen Nachdruck zu verleihen. Noch nie zuvor hatten junge Menschen in solch einem Maß das Gefühl, keine Zeit mehr verlieren zu dürfen. Denn vielen von ihnen wird angst und bange, wenn sie derzeit in die Zukunft blicken.

Während die Parteien und ihre im Schnitt deutlich älteren Wählerinnen* in den starren Abläufen des politischen Betriebs gefangen scheinen, sind es die ganz Jungen, die die Zeichen der Zeit erkannt haben.

Die Kompromisslosigkeit, mit der sie ihre Forderungen vortragen, zeigt einen grundlegenden Wandel in den Generationen. Auf die beiden politisch sehr zurückhaltenden Generationen X und Y, deren Angehörige heute zwischen 20 und 35 beziehungsweise zwischen 35 und 50 Jahre alt sind, folgt jetzt eine junge Generation Z, die sich laut zu Wort meldet. Wir nennen sie »Generation Greta«, weil die junge Schwedin Greta Thunberg diese Generation mit ihrem Klimaprotest schon jetzt geprägt hat.

Als die deutsche Politik Anfang 2019 den Schulstreik der FFF-Bewegung kontrovers diskutierte, erklärte FDP-Chef Christian Lindner den protestierenden Schülern altväterlich, sie sollten die Rettung unseres Planeten doch lieber den Profis überlassen. Doch wer die Generation Greta ernst nimmt, kommt nicht umhin, zu denken: »Hätten wir doch (früher) auf sie gehört.«

Dieses Buch will das nachholen – mit einem Porträt der Generation Greta: Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist.

* Wir verwenden männliche und weibliche Formen im Wechsel, wenn das Geschlecht unbekannt ist.

Kapitel 1

Warum das Klima der Anfang ist

Freitage für die Zukunft

»Kein Leben auf dem Saturn« steht auf einem Plakat, das Camilla in der Dortmunder Innenstadt hochhält. Darunter: »Jetzt die Erde retten.« Die Aktivistin Anfang 20 steht vor der Filiale des gleichnamigen Elektronikmarkts. Etwa zwei Dutzend Klimaaktivisten haben sich für die Aktion notdürftig verkleidet. Ein wenig Glitzer-Make-up auf den Wangen, über der Stirn leuchtet die Goldfolie einer zerschnittenen Wärmedecke aus einem Erste-Hilfe-Kasten – das muss reichen, um als Außerirdische von unserem Nachbarplaneten erkannt zu werden.

Während Camilla wie angemeldet die Mahnwache vor dem Kaufhaus besetzt hält, geht der Rest der Gruppe shoppen. Das Ein-Mann-Sicherheitsteam des Marktes hat dem Ansturm der außerirdischen Aktivisten wenig entgegenzusetzen. Auf der Rolltreppe gleiten sie mit spacigen Bewegungen langsam in die oberen Etagen. Bald schon tanzen sie zwischen Kaffeemaschinen und Hi-Fi-Anlagen durch die engen Gänge, rufen Käufer und Mitarbeiter zum Klimastreik auf. Am Ende leuchtet der Appell von zahlreichen Computerbildschirmen. In der Drogeriemarktfiliale nebenan bekommen Camillas Mitstreiter bei einer ähnlichen Aktion Hausverbot.

Seit Ende 2018 demonstrieren Schülerinnen und Schüler freitags während des Unterrichts für das Klima. Die ersten Schülerinnen verabredeten sich am 7. Dezember 2018 in Bad Segeberg zum politischen Schuleschwänzen. In Berlin versammelten sich eine Woche später etwa 300 Schüler vor dem Bundestag. »Sie kamen alle, ohne zu wissen, worauf das hinauslaufen sollte«, erinnert sich die Mitinitiatorin Luisa Neubauer. »Auf einen Erfolg oder einfach nur eine verschwendete Fehlstunde und den entsprechenden Stress mit Eltern und Lehrer*innen.«1 Von Januar 2019 an griff die Bewegung auf ganz Deutschland über. Schnell bildeten sich Dutzende Ortsgruppen, oft mithilfe der Schülervertretungen organisiert. Schon Ende Januar 2019 kamen in Berlin 5000 Schülerinnen zur Freitagsdemo. Sie schlossen sich zur Bewegung »Fridays for Future Deutschland« (FFFD) zusammen. Am 1. März 2019 nahm Greta Thunberg in Hamburg erstmals an einer deutschen Demonstration teil. Inzwischen ist FFFD mit etwa 600 Ortsgruppen eine der größten sozialen Bewegungen in Deutschland.

Fridays for Future (FFF) hat seitdem in fast allen europäischen Ländern Fuß gefasst und auf andere Kontinente ausgestrahlt. Im Frühjahr 2019 konnte die Bewegung bereits weltweit über 1,6 Millionen Menschen auf die Straße bringen – in der Mehrzahl Schülerinnen und Schüler. Greta Thunberg sprach vor dem EU-Parlament, dem Weltwirtschaftsforum und den Vereinten Nationen. »Keine Jugendbewegung hat jemals so viel globale Aufmerksamkeit bekommen«, schreibt der schwedische Soziologe Mattias Wahlström, der mit einem internationalen Team von Protestforschern die Bewegung untersucht.2 Das wurde bei der Klimakonferenz in Madrid im Dezember 2019 deutlich. Wieder war FFF in allen Messehallen präsent, wieder trat Greta Thunberg auf, die Delegierten der 197 Vertragsländer kamen an ihnen und ihren Argumenten gar nicht vorbei. Junge Leute aus allen Kontinenten waren angereist und kämpften mit ihrem Slogan »What do we want? Climate Justice!« lautstark für schnelle internationale Vereinbarungen.

In Deutschland folgte dem Staunen über die neue Jugendbewegung eine öffentliche Debatte um die Frage: »Müssen die nicht in der Schule sein?« Doch die Schülerinnen hatten ihre Protestform bewusst gewählt. 90 Prozent von ihnen waren überzeugt, ihre Regierung brauche einen Weckruf, um endlich in Sachen Klima aktiv zu werden.3 Der Schulstreik schien ihnen da deutlich effektiver, als am Wochenende zu demonstrieren. Schließlich geht es um ihre Zukunft.

Durch den Schulstreik als gezielten Akt des zivilen Ungehorsams erfuhren ihre Demonstrationen eine gewaltige öffentliche Aufmerksamkeit. Zunächst bei ihren eigenen Eltern, die letztlich die Entschuldigungen für die Schule schreiben mussten, dann bei den Lehrerkollegien, den Schulbehörden und nicht zuletzt den Medien. »Schulschwänzen« wurde so zum provokativen Mittel zum Zweck. Und der Zweck, Druck auf die Klimapolitik der Regierung auszuüben, rückte immer mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion.

Seit der Anti-Atomkraft-Bewegung der 1970er-Jahre streitet Deutschland über seine Energiepolitik. Sah es nach dem Ausstieg aus der Kernenergie eine Zeit lang so aus, als könne das Land per Energiewende zum weltweiten Vorreiter in der Nutzung erneuerbarer Energie werden, hat sich mittlerweile Ernüchterung breitgemacht. Der Ausbau der Windenergie etwa ist zuletzt kaum noch vorangekommen.

Fridays for Future reiht sich damit in eine lange Reihe sozialer Bewegungen ein, die für eine klimaneutrale Energiepolitik kämpfen, und baut auf ihnen auf. Seit 2015 protestiert »Ende Gelände« gegen die Braunkohleförderung in der Lausitz und im rheinischen Revier. 2018 machten die Proteste für den Hambacher Forst Schlagzeilen. Der Urwald zwischen Köln und Aachen sollte dem Tagebau Garzweiler II weichen – der Forst würde unwiederbringlich zerstört für eine Technologie, die zu den klimaschädlichsten überhaupt gehört. Zehntausende Menschen demonstrierten dagegen und konnten nach mehreren Wochen einen Aufschub der Rodung erreichen.

Und doch hat es erst Fridays for Future vermocht, den Klimawandel ganz oben auf die politische Agenda zu bringen. Die Bewegung setzte mit Großdemonstrationen, die weit über die Schülerschaft hinausgingen, die Regierung unter Zugzwang. Ihr war es von Anfang an gelungen, über die eigenen Eltern die älteren Generationen von der Relevanz ihrer Ziele und der Ernsthaftigkeit ihrer Absichten zu überzeugen. Der Wahlerfolg der Grünen bei der Europawahl 2019 zeigte: Mit Klima- und Umweltpolitik lassen sich Wahlen gewinnen. Plötzlich war nur allzu klar, wie blank Union und SPD bei dem Zukunftsthema waren.

Entsprechend groß war die öffentliche Aufmerksamkeit am 20. September 2019. Die Klimaschützer von FFF – unter diesem Kürzel war die Bewegung Fridays for Future inzwischen ein Begriff – hatte zum weltweiten Aktionstag aufgerufen. Allein in Berlin zogen über 100 000 Menschen aus allen Generationen vom Brandenburger Tor bis zum Alexanderplatz. Bundesweit schätzte FFF die Zahl der Demonstranten auf 1,4 Millionen. Während sich vor dem Brandenburger Tor die Menschen zur größten Klimademo versammelten, die Berlin seit Langem gesehen hatte, ging das Klimakabinett der Bundesregierung gerade duschen. Fast 19 Stunden, die ganze Nacht hindurch, hatten die Spitzen der Koalition um ihr »Klimapaket« gerungen. Was dabei herauskam, war alles andere als »der große Wurf«, den SPD-Finanzminister Olaf Scholz zuvor versprochen hatte. Selbst Wirtschaftsverbände kritisierten die Maßnahmen als zu zaghaft – gemeinsam mit Wissenschaftlern, Umweltverbänden und der Opposition. Wahrscheinlich hatten auch bei Fridays for Future nur wenige damit gerechnet, dass die Große Koalition ihre Forderungen voll und ganz erfüllen würde. Doch dass das Klimapaket nur so ein kleines Päckchen werden würde, war für viele bitter.

Seitdem ist es wahrscheinlicher geworden, dass Deutschland auch die von der Regierung selbst gesteckten Klimaziele für 2030 verfehlt. Trotzdem: Politisch führt an dem Thema seit dem 20. September 2019 kein Weg mehr vorbei. Das ist schon jetzt mehr, als viele andere Bewegungen erreicht haben.

Plötzlich politisch?

Wenn die Pausenglocke durch die gründerzeitlichen Flure der Sophie-Scholl-Oberschule hallt, fliegen die Türen zu den Klassenräumen auf. Die gewölbten Decken der Korridore werfen die Stimmen von gut 1 000 Schülerinnen wider. Vom Siebtklässler bis zur Abiturientin im 13. Jahrgang ist alles vertreten. Die Treppenhäuser des Gründerzeitbaus in Berlin-Schöneberg schleusen die Massen zu den Unterrichtsräumen für die nächste Stunde. Schulalltag in der »Integrierten Sekundarschule« – freitags nicht weniger als an anderen Wochentagen.

Nur sehr wenige Schüler gehen hier regelmäßig zu den Fridays-for-Future-Protesten in den Berliner Invalidenpark. »Ich würde da gerne öfter hingehen«, sagt Adrian aus der achten Klasse über die Schülerproteste. »Aber oft passt das nicht. Letztes Mal hatten wir gerade eine Klassenarbeit.«

Und doch sind die Themen Umweltschutz und Klimawandel auf den Gängen der Schule allgegenwärtig. Während die dicken Mauern des Altbaus nur langsam die Wärme des mitteleuropäischen Sommers mit seinen Temperaturrekorden abstrahlen, brennt in Brasilien der Amazonas. Sie fände die Haltung des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro furchtbar, sagt Samira aus der gleichen Klasse. »Der hat halt nicht verstanden, was da passiert.« Und Adrian fügt hinzu: »Was ich blödsinnig finde, ist, dass der sogar abgelehnt hat, dass sie Hilfe zum Löschen bekommen.«

Adrians Mutter kauft seit Fridays for Future keine Lebensmittel in Plastikverpackungen mehr, um umweltbewusster zu leben. Das hat Adrian durchgesetzt. Doch er weiß auch, dass es nicht reicht. »Das war es eigentlich schon«, räumt er ein. »Man selber kann als Person ja gar nicht viel machen«, erklärt Adrian und fordert: »Die Politik muss sich ändern.«

Es ist eine der Grundforderungen der Jugend, die auf die Straße geht. Sie weiß: Individueller Verzicht wird das Klima nicht retten. Deshalb verlangt sie mehr Regulierung durch die Politik. Ob Industrie und Verkehr, Konsum und Landwirtschaft, Gebäudesanierung und Flugreisen – die Klimawende muss fast alle Bereiche unseres Lebens erfassen, wollen wir die Klimakrise noch stoppen oder zumindest ihre Folgen abmildern.

Seit einigen Jahren wird die Jugend wieder politischer. Gab um die Jahrtausendwende gerade einmal jeder dritte Jugendliche an, sich für Politik zu interessieren, ist es heute mit 45 Prozent knapp jeder Zweite. Damit hat das politische Interesse zwar noch nicht wieder die Höhe von 1991 erreicht – damals zu Zeiten der Wiedervereinigung interessierten sich 57 Prozent der jungen Leute für Politik –, dafür ist heute der Anteil der »sehr« Interessierten besonders hoch.4 Und damit nicht genug: In der jungen Generation der 12- bis 25-Jährigen ist Politik wieder hip geworden. 35 Prozent sagen, es sei »in«, sich auch aktiv einzumischen.5

So überraschend der politische Aktivismus der Jugend für die breite Öffentlichkeit kam, so langfristig hat er sich angekündigt. Schon die World Vision Kinderstudien in den Jahren 2007 und 2010 zeigten für Grundschulkinder ein hohes Selbstbewusstsein und ein großes Interesse, an der Gestaltung ihres Alltags in Familie und Schule mitzuwirken. Auch fielen die Sorgen und Ängste der befragten Sechs- bis Elfjährigen vor Terror und Krieg, wachsender Armut, aber besonders auch vor zunehmender Umweltverschmutzung auf.6

Die junge Generation spürt, dass Deutschland vor wichtigen Zukunftsfragen steht, und sie will nicht länger untätig zuschauen. Klar, Klimaschutz oder eine ökologische Landwirtschaft waren auch den jungen Menschen der Generation Y, den heute 20 bis 35 Jahre alten »Millennials«, wichtig. Doch niemals wären sie dafür massenhaft auf die Straße gegangen. »Das bringt doch eh nichts«, hätte wohl manch ein Millennial zwischen Masterstudium, Praktikum und erstem Job mit Zeitvertrag ein wenig verschämt abgewunken. Sie waren unter dem Eindruck des Beinahe-Zusammenbruchs des Weltfinanzsystems 2007 und der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise sowie der historisch hohen Arbeitslosigkeit zu Beginn der 2000er-Jahre damit beschäftigt, ihre eigene Schullaufbahn zu optimieren, um in Ausbildung und Beruf zu kommen. So wurden sie zu »Egotaktikern«, die sich gezwungen sahen, ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen. Viele hatten nicht das Gefühl, grundsätzlich etwas verändern zu können. Stattdessen kämpften sie in den Jahren vor Fridays for Future still und leise, fast »heimlich«, an ihrer Schule oder in ihrem Betrieb dafür, persönlich so leben und arbeiten zu können, wie sie wollten. Privat kauften sie Bio-Produkte oder teilten eine Petition auf Facebook. In der Zeit ihres Erwachsenwerdens ist das Radfahren deutlich populärer geworden. Sie riefen zum stillen Boykott von umweltschädlich produzierter Kleidung auf. Doch vieles davon verbuchten sie eher als bewusste private Konsumentscheidung denn als politischen Akt.7

Die Generation der Post-Millennials, den nach der Jahrtausendwende Geborenen, ist da anders. Sie sieht sich vom Klimawandel existenziell bedroht und versucht, die politisch Verantwortlichen unter Handlungsdruck zu setzen. Individueller Verzicht ist ihr nicht genug. Sie erwartet Regulierung durch die Politik. Ihr gesellschaftliches Engagement ist alles andere als heimlich, es ist im Gegenteil explizit und klar.

Die Millennials waren Egotaktiker, sie sind Ökotaktiker. Die Millennials waren leise, sie sind laut. Ihre Forderungen hallen seit Monaten Freitag um Freitag von den Plätzen der Republik. Ihr Vertrauen in die Regierung ist dabei denkbar gering. Keine drei Prozent derer, die auf die FFF-Demos gehen, wollen sich darauf verlassen, dass die Regierung den Klimawandel von alleine ernsthaft angeht.8 Sie kritisieren die politisch Machthabenden scharf, aber sie glauben an die Demokratie. Die Zustimmung zur Demokratie ist in der jungen Generation auf ein Allzeithoch von 77 Prozent gestiegen.9 Sie wollen die radikale politische Wende innerhalb des existierenden politischen Systems.

Eine politische Bewegung von dieser Kraft hat es zuletzt in den 1960er- und 1970er-Jahren gegeben. Damals speiste sich das Engagement aus einer Unzufriedenheit mit den politischen Prozessen.

Die Ökotaktiker von heute würdigen Deutschland als eine friedliche, wohlhabende und sozial gerechte Gesellschaft und bewerten die Entwicklung des Landes durch und durch positiv, wie die letzte Shell Jugendstudie zeigt.10 Deshalb glauben sie auch daran, die Politik mit Mitteln des Protests zu einer nachhaltigen Umweltpolitik bewegen zu können. Dafür schmieden sie Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen.

Sorgen um Umwelt und Klima

Die Shell Jugendstudie macht deutlich, wie wichtig Umweltverschmutzung und Klimawandel in der Wahrnehmung der jungen Generation geworden sind. Unter den Themen, »die einem Angst bereiten«, haben sie sich immer weiter nach vorne geschoben. 2002 stuften 62 Prozent der Befragten Umweltverschmutzung als besonders Angst machend ein, 2019 waren es schon 71 Prozent. Der Klimawandel beunruhigt 65 Prozent, ebenfalls mit steigender Tendenz. Andere Themen sind dagegen in den Hintergrund getreten. Die Gefahr von Terroranschlägen macht noch 66 Prozent der jungen Leute Angst (2002: 71 Prozent). Auch die wirtschaftliche Lage und steigende Armut (noch 52 statt 66 Prozent) und ein Krieg in Europa (noch 46 statt 59 Prozent) verlieren an Bedeutung.11

Umweltverschmutzung und Klimakrise trüben den Blick der jungen Generation in die Zukunft. Über zehn Jahre schaute sie von Jugendstudie zu Jugendstudie immer optimistischer auf ihr Leben. Nun ist der Trend gebrochen. 2019 glauben zwar immer noch 58 Prozent der 12- bis 25-Jährigen an ihre Zukunft, doch das sind drei Prozent weniger als vier Jahre zuvor. Vor allem die Bildungsstarken aus oft gut situierten Elternhäusern sind skeptischer geworden.12 Sie kennen die Szenarien der wissenschaftlichen Klimaforschung und beobachten irritiert, wie fahrlässig die Politik sie ignoriert. Mit einer Lebenserwartung von 90 Jahren und mehr werden sie die Folgen der Erderwärmung mit Sicherheit selbst erleben.

Aus dieser Sorge erwächst ihre politische Aktivität. Nach ihrer Einschätzung müssen heute die Weichen für die Zukunft gestellt werden, ohne Verzug und sofort. Sie verzweifeln daran, dass die Regierungen zaghaft und unschlüssig sind.

Dabei brauchte es für viele, die bei Fridays for Future aktiv sind, nicht erst eine Greta Thunberg, um sich zu politisieren. Bei den Protesten der Bewegung gibt Studien zufolge etwa jeder zweite Schüler an, die schwedische Klima-Aktivistin habe sein Interesse für Klimafragen gesteigert.13

Luzia ist im Organisationskomitee von FFF in Aschaffenburg aktiv. »Ich war schon länger politisch engagiert und war auch auf Demos«, erzählt sie über die Zeit vor Fridays for Future, während sie sich auf dem Sommerkongress der Bewegung an einer der großen Wasserstationen ihre Flaschen nachfüllt. »Ich habe dann aber irgendwann gemerkt: Das interessiert hier gerade alle. Alle wollen auf die Straße gehen. Jetzt können wir richtig was bewegen.« 1200 Schülerinnen und Schüler kamen bei der ersten Fridays-for-Future-Demo in ihrer Heimatstadt. »Damit hatte niemand gerechnet.«

Auch Luzia träumt davon, dass Deutschland als reiches Land Klimapolitik sozialverträglich umsetzt. »Wir sind alle wütend und haben Angst vor dem Klimawandel«, sagt die 16-Jährige. Im Gespräch mit ihr ist zu spüren, wie leicht die Zufriedenheit mit dem demokratischen System umschlagen kann: »Wenn wir weiter ignoriert werden, könnte ich mir vorstellen, dass wir auch mehr zivilen Ungehorsam machen und radikaler werden.«

»Wir rebellieren nicht gegen unsere Eltern«, schreiben Luisa Neubauer, eine der Führungsfiguren von FFF in Deutschland, und ihr Co-Autor Alexander Repenning in ihrem Buch Vom Ende der Klimakrise. »Wir haben heute eher das Gefühl, unsere Eltern, die im Zuge ihrer Rebellion allzu verantwortungslos geworden sind, erziehen zu müssen. Wir sollten ihnen erklären, dass ihr und unser Lebensstil nicht mehr bezahlbar sind, es eigentlich nie war.« Die Hoffnung, ihren Kindern werde es besser gehen als ihnen selbst, werde ohne einen radikalen Wandel zerplatzen. »Sie müssen sehen, dass sie uns ins offene Messer laufen lassen, wenn sie jetzt nicht aufwachen.«14

Es ist fast eine verkehrte Welt, in der die Jungen die Argumente der Vernunft auf ihrer Seite haben und die Alten zur Ordnung rufen, die sich wie ein trotziges Kind aufführen, dem FFF sein spritfressendes SUV und die Pauschalreise nach Fernost abnehmen will.

»Wie kann es sein, dass wir wissenschaftliche Gewissheit darüber haben, dass wir seit Jahrzehnten auf die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte zusteuern, aber, statt einzulenken, das Tempo sogar noch erhöhen?«, fragen Neubauer und Repenning.15

Die Bewegung Fridays for Future fordert konkret, dass die Ziele der Pariser Weltklimakonvention eingehalten werden, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Dafür braucht es ihrer Ansicht nach ein Ende der Subventionen für fossile Energieträger, das sofortige Aus für ein Viertel der Kohlekraftwerke, den völligen Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030 und eine 100-prozentige Umstellung auf erneuerbare Energien bis zum Jahr 2035. Auf alle Treibhausgasemissionen soll eine Steuer erhoben werden, langfristig in Höhe von 180 Euro pro Tonne. Die Bewegung fordert die Regierungen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene auf, schnellstens zu handeln und grundlegende Veränderungen vorzunehmen. Das solle vor allem in den Bereichen Energieerzeugung, Wohnen und Bauen, Industrie, Transport und Verkehr und Landwirtschaft geschehen.

Zur eigenen Rolle als junge Generation heißt es: »Es darf nicht die alleinige Aufgabe der Jugend sein, Verantwortung für die Priorisierung des Klimaschutzes zu übernehmen. Da die Politik diese kaum wahrnimmt, sehen wir uns gezwungen, weiter zu streiken, bis gehandelt wird.«16

Erst der Anfang

Die junge Generation wird in einer Zeit erwachsen, in der der Publizist Sascha Lobo den westlichen Gesellschaften einen »Realitätsschock« attestiert. »Eine neue, hyperkomplexe Wirklichkeit ist eingebrochen in die zuvor einigermaßen fassbare Welt«, schreibt Lobo in seinem gleichnamigen Buch. Zwar sei auch zum Ende des 20. Jahrhunderts nicht alles unkompliziert gewesen. »Aber Digitalisierung und Globalisierung haben vorher Unverbundenes vernetzt, vorher Übersehenes sichtbar gemacht und uns die Hoffnung geraubt, Politik, Wirtschaft und Eliten hätten eine gewisse Kontrolle über den Lauf der Dinge.«17 Es gebe nur noch wenige Großprobleme, die keinen globalen und digitalen Hintergrund hätten.

Eben diese globale Dimension ist es, die Lösungen so aussichtslos erscheinen lassen. Die Reaktion darauf ist häufig Resignation. Das gilt für den Klimaschutz, bei dem mit den USA der größte Verursacher von CO2-Emissionen die Ergebnisse von Jahrzehnten der Klimaforschung infrage stellt. Das gilt aber ebenso für die Regulierung des Internets, Migrationsfragen, fairen Handel zwischen Nord und Süd oder den Übergang zu einer ökologischen Landwirtschaft.

Der Klimaprotest ist weder ein auf Deutschland beschränktes Phänomen, noch ist das Klima das einzige Thema, bei dem die Jugend Probleme angeht, die die älteren Generationen längst als unlösbar abgehakt haben. In einer Welt, die mit gewaltigen Herausforderungen kämpft, gehen die Impulse für Veränderung immer häufiger von der jungen Generation aus. Sie besitzen den Optimismus, trotzdem noch für eine bessere Welt zu kämpfen. Nicht nur in Deutschland.

»Puschkin ist unser Ein und Alles«, preist ein russisches Sprichwort den Nationaldichter des Landes. »Putin ist unser Für-Immer«, setzte schon vor Jahren die Pointe eines politischen Witzes den Gedankengang fort. Die Botschaft scheint 20 Jahre nach Amtsantritt des Kremlchefs wahrer denn je. Vor der Präsidentschaftswahl 2018 schien Putins Wiederwahl ein abgekartetes Spiel. Kaum jemand glaubte, eine vierte Amtszeit Putins verhindern zu können, indem er sich auf den Straßen der russischen Hauptstadt den hochgerüsteten Spezialeinheiten der Polizei entgegenstellte. Die OMON wird bei der Bekämpfung von Terroristen eingesetzt – und bei Demonstrationen. Doch dann trat plötzlich eine Generation auf den Plan, die den Status quo nicht akzeptieren wollte, gerade weil er der einzige war, den sie kannte. Zehntausende von Schülerinnen und Studierenden demonstrierten plötzlich gegen das Regime. Auch hier war Protest noch nie so jung. Wo die älteren Generationen sich längst mit einem Leben unter Wladimir Putin abgefunden hatten, das ihnen zwar nicht unbedingt gefiel, aber dennoch unabänderlich schien, begehrten die Jungen auf.

In Parkland, Florida, eröffnet der 19-Jährige Nikolas Cruz am 14. Februar 2018 das Feuer auf Schüler in seiner ehemaligen Highschool. Er tötet 17 Menschen und verletzt 17 weitere, bevor er flieht. Eine Stunde später wird er festgenommen. Es war ein Amoklauf, wie ihn die Vereinigten Staaten viel zu oft erleben. In keinem Industrieland sterben so viele Menschen durch Schusswaffen. Doch die Waffenlobby NRA dominiert seit Jahren die öffentliche Debatte. Die Chance auf eine Verschärfung der Waffengesetze schien mit dem Amtsantritt von Präsident Trump endgültig vertan. Auch hier sind es Schüler, meist unter 20-Jährige, die trotz allem versuchen, die Macht der amerikanischen Waffenlobby zu brechen. Und wie bei Fridays for Future ist der Protest weiblich. Bei einer Demo für schärfere Waffengesetze rief die 19-jährige Emma Gonzáles den Mächtigen entgegen. »Die Menschen in der Regierung, die an die Macht gewählt worden sind, lügen uns an. (…) Und wir Kinder scheinen die Einzigen, die es merken und den Schwindel auffliegen lassen.«18

»Die größere Bedeutung der FFF-Bewegung liegt in ihrer Fähigkeit, so viele junge Leute zu mobilisieren, die – durch ihren Klima-Aktivismus – engagierte Bürger werden«, schreiben die Protestforscher um Mattias Wahlström. In jungen Jahren könne politische Partizipation so prägen, dass die Personen ihr gesamtes Leben über politisch engagiert blieben.19

In Deutschland dürfte das Klima zunächst das Kernthema der Generation Greta bleiben. Doch der Kampf gegen die Klimakrise legt schon durch seine innere Logik den Grundstein für mehr Aktivismus. Denn wer CO2 einsparen will, muss zwangsläufig neue Visionen dafür entwickeln, wie wir wohnen, uns ernähren, reisen und selbst wie wir digital kommunizieren wollen. Damit kann die Generation Greta ihr Themenspektrum jederzeit ausweiten. So könnten eines Tages Themen wie die verschleppte Digitalisierung, die mangelhaften Investitionen in Bildung, die fehlende Absicherung des Rentensystems oder die hohe Schuldenlast des Staates hinzukommen. Das Klima wird erst der Anfang sein.

Jobchancen steigern Politisierung

Es ist vor allem der Wandel auf dem Arbeitsmarkt, der der jungen Generation den nötigen Freiraum zum politischen Engagement gibt. Im Vergleich zur Jahrtausendwende haben Jugendliche heute ihre Sorge verloren, einen Arbeitsplatz zu bekommen. Die deutsche Wirtschaft ist fast ein Jahrzehnt lang ununterbrochen gewachsen. Hinzu kommt der demografische Wandel. In den kommenden Jahren werden die geburtenstarken Babyboomer in Rente gehen. Die Lücke, die sie hinterlassen, ist riesig: Auf 1,4 Millionen Babyboomer pro Geburtsjahrgang kommen nicht einmal 750 000 Angehörige der heutigen jungen Generation.

Für lange Zeit werden also deutlich mehr Menschen in den Ruhestand gehen als junge nachkommen. Vielerorts suchen Betriebe schon heute händeringend nach Mitarbeitern – und nicht nur nach hoch qualifizierten Überfliegern: Bäcker fehlen ebenso wie Ärzte, Elektriker sind ähnlich rar wie Apotheker. Immer mehr Ausbildungsstellen bleiben unbesetzt. Die junge Generation blickt damit ohne berufliche Existenzsorgen in die Zukunft. So hat sie den Kopf frei für die großen gesellschaftlichen Fragen und kann politisch werden.

Protest nicht obwohl, sondern gerade weil es jungen Leuten gut geht – auf den ersten Blick scheint das überraschend. Doch auch in Deutschland ist das Phänomen nicht neu. Als das Land nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde, blieben die jungen Menschen weitgehend unpolitisch – zu tief saß das Trauma der Nazi-Diktatur und des Zusammenbruchs, der folgte. In beiden deutschen Staaten waren sie in erster Linie damit beschäftigt, sich eine neue Existenz aufzubauen. Helmut Schelsky hat die Jahrgänge 1925 bis 1940 in der ersten Jugendstudie der Nachkriegszeit für die frühere Bundesrepublik befragt. Am Ende des Zweiten Weltkriegs ist Deutschland ideologisch bankrott, kriegszerstört und auch wirtschaftlich am Boden. Jugendliche, die kurz zuvor noch im Geist des Nationalsozialismus erzogen worden waren, erleben plötzlich den Zusammenbruch des Regimes und die Entnazifizierung. Schelsky nennt sie die »Skeptische Generation«. »Diese Generation ist in ihrem sozialen Bewusstsein und Selbstbewusstsein kritischer, skeptischer, misstrauischer, glaubens- oder wenigstens illusionsloser als alle Jugendgenerationen vorher«, schreibt er in seiner Analyse. »Sie meistert das Leben in der Banalität, in der es sich dem Menschen stellt, und ist darauf stolz.«20 Die illusionslose Haltung schloss nicht aus, dass sich junge Leute zu einzelnen Fragen klar positionierten und zum Bespiel in großer Zahl gegen eine atomare Bewaffnung Deutschlands auf die Straße gingen.

Schelsky konnte mit seiner Studie zum ersten Mal anschaulich belegen, wie gemeinsam erlebte, als schicksalhaft empfundene Ereignisse zusammen mit historisch neuen politischen und kulturellen Lebenskonstellationen sehr ähnliche Persönlichkeitszüge, emotionale Einstellungen und Zukunftsperspektiven bei vielen Angehörigen der betroffenen Jahrgänge prägen.

Das gilt auch für die nachfolgende Generation, die zwischen 1940 und 1955 Geborenen, die sogenannten 1968er. Sie fand völlig veränderte Lebensbedingungen vor und wurde nicht nur punktuell, sondern dauerhaft politisch aktiv. In ihrer Jugendzeit hielt der Konsum in Deutschland Einzug. Der Westen erlebte sein Wirtschaftswunder. Die DDR machte sich an den Aufbau des Sozialismus. Im Wettstreit der Systeme richtete die Führung später auch dort die Produktion stärker auf den Konsum aus. Die junge Generation profitierte von der Aufbauleistung ihrer Vorgänger und fand sehr gute berufliche Entfaltungsmöglichkeiten vor. Wirtschaftliche Sorgen traten in den Hintergrund, die materielle Sicherheit war weitgehend wiederhergestellt. Genau diese Ausgangslage ermöglichte den jungen Leuten die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen. Die 68er-Studentenbewegung entstand – bis heute der Maßstab für politisches Engagement, an dem sich jede nachfolgende Generation messen lassen musste.

Diese historischen Beispiele zeigen: Ob eine junge Generation politisch aktiv wird und Gestaltungsmacht anstrebt, hängt eng mit den wirtschaftlichen und beruflichen Zukunftschancen zusammen, die sie vorfindet. Politisches Interesse und politisches Engagement entstehen bei jungen Menschen am ehesten dann, wenn sie Chancen für ihre persönliche und berufliche Zukunft sehen.

Wirtschaftliche Not und berufliche Zukunftsunsicherheit machen junge Menschen dagegen in der Regel nicht politisch, sondern führen dazu, sich auf die eigene Lebenssicherung zu konzentrieren. Nur selten gibt es politische Konstellationen von materieller Unsicherheit und politischem Aktivismus, die anders gelagert sind. Die Indignados, die im Spanien der Eurokrise gegen ihre Prekarisierung auf die Straße gingen, sind hierfür ein Beispiel. Sie taten dies explizit, weil ihrer Generation großflächig materielle Teilhabe in der Gesellschaft verwehrt wurde.

Junge Generationen in Deutschland sind meist aus gesellschaftlichen Motiven auf die Straße gegangen, nicht für materielle Forderungen. Die 68er kämpften für eine Öffnung der verkrusteten Gesellschaft, die neuen sozialen Bewegungen für die Rechte von Frauen, Schwulen oder Lesben.

Auch den Klimastreiks von Fridays for Future (FFF) liegen altruistische Motive zugrunde. Und doch trägt FFF etwas Neuartiges auf die Straße. Die 68er begehrten gegen ihre Eltern auf, um neue Freiheiten zu erkämpfen. Die heutige junge Generation will – wie Luisa Neubauer und Alexander Repenning es ausdrücken – ihre Eltern zu einem bewussten Lebensstil erziehen. Es geht ihr nicht darum, neue Freiheiten zu erschließen, sondern umweltschädigende Freiheiten einzuschränken. Konsum, Energieverbrauch, Verkehr – überall habe unsere Gesellschaft schon viel zu lang weit über ihre Verhältnisse gelebt, und deshalb gehe es jetzt um kluge Einschränkungen und nachhaltiges Handeln.

Eine soziale Bewegung

Fridays für Future fordert keine Privilegien für sich selbst. Die Bewegung will durch Restriktionen und Regulierung das Überleben der Menschheit sichern. Am ehesten ist sie noch mit früheren Umweltbewegungen wie etwa der Anti-Atomkraft-Bewegung vergleichbar. Auch sie forderte eine Abkehr von der westdeutschen Konsumgesellschaft.

Wie die 68er-Bewegung positioniert sich auch FFF eindeutig außerparlamentarisch. Viele ihrer Aktivistinnen und Aktivisten sind grün und links eingestellt, einige sogar Parteimitglieder. Trotzdem bleibt die Bewegung selbst auf Distanz zur offiziellen Politik. Selbst Umweltorganisationen und Aktionsbündnisse wie der BUND, Greenpeace und Campact unterstützen FFF zwar, halten sich aber im Hintergrund. Auch deshalb konnten die Klimaproteste so groß werden. Gleichzeitig kann sich FFF punktuell mit radikalen Bewegungen wie Ende Gelände oder Extinction Rebellion solidarisieren, ohne eine verbindliche Allianz einzugehen. Das alles gibt ihr einen großen Spielraum für spontanes Handeln.

Die Bewegung will etwas für das Gemeinwohl erreichen, das allen zugutekommt und allen offensteht. Auffällig ist ihre basisdemokratische Organisation. Bemerkenswert auch, dass an ihrer Spitze überdurchschnittlich viele Frauen stehen. Bei der letzten großen politischen Massenbewegung, den 68ern, führten Männer Regie. Redner wie Rudi Dutschke waren die Helden der Bewegung – auf den Demos und in den Universitäten.

Fridays for Future setzt auf völlig andere Formen des Protests. Die Bewegung fühlt sich eher vom Christopher Street Day als vom Straßenkampf inspiriert: bunte und stimmungsvolle Demonstrationen mit Party, die Lebensgefühl und Politik miteinander verbinden. Ihre Demonstrationen wirken wie ein Straßenfest mit Tanz und Musik. Politik soll Spaß machen, jeder darf mitmachen. Politik setzt sich aus Sicht der Bewegung für etwas ein, aber sie muss sich auch gut anfühlen. Jede Form von Gewalt ist verpönt.

Diese Form des Protestes ist für ihre Gegner schwer angreifbar. Wer hetzen will, wirkt gegen die gut gelaunte Menge der Demonstranten albern und isoliert. Die Proteste machen deutlich, dass Politik direkt mit dem Alltag verbunden ist – zum Beispiel dem Kaffee im Plastikbecher.