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Thomas Elsaesser
Malte Hagener

Filmtheorie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Dieter Thomä, St. Gallen
Cornelia Vismann, Frankfurt a.M. †

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2007 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: Buster Keaton, Sherlock Jr.

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-100-5

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-621-7

5., unveränderte Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1978 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Von Zeit zu Zeit müssen im ausufernden Gebiet der Wissenschaften neue Wegweiser aufgestellt werden. Teile der Geisteswissenschaften haben sich als Kulturwissenschaften reformiert und neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervorgebracht; auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sind die traditionellen Kernfächer der Geistes- und Sozialwissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diese Veränderungen sind nicht bloß Rochaden auf dem Schachbrett der akademischen Disziplinen. Sie tragen vielmehr grundlegenden Transformationen in der Genealogie, Anordnung und Geltung des Wissens Rechnung. Angesichts dieser Prozesse besteht die Aufgabe der Einführungsreihe darin, regelmäßig, kompetent und anschaulich Inventur zu halten.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in verstärktem Maß ein Ort für Themen, die unter dem weiten Mantel der Kulturwissenschaften Platz haben und exemplarisch zeigen, was das Denken heute jenseits der Naturwissenschaften zu leisten vermag.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Dieter Thomä
Cornelia Vismann

Inhalt

Einleitung

1.Kapitel: Fenster und Rahmen

Rear Window – Konstruktivismus – Realismus – offene und geschlossene Filmformen (Leo Braudy) – Klassisches Kino – Zentralperspektive – Rudolf Arnheim – Sergej Eisenstein – André Bazin – David Bordwell – Kino als Schaufenster

2.Kapitel: Tür und Leinwand

The Searchers – Eintritt in den Film – Etymologie Leinwand/screen – Schwellen – Filmanfänge – Narratologie: Neoformalismus und Poststrukturalismus – Michail Bachtin – Tür und Leinwand als Motiv

3.Kapitel: Spiegel und Gesicht

Persona – Béla Balázs – Großaufnahme – Gesicht – Spiegel des Unbewussten – Christian Metz – Jean-Louis Baudry – Apparatus-Theorie – frühes Kino und Großaufnahme (Tom Gunning) – reflexive Verdopplung im modernen Film – Spiegelneuronen – Paradoxien des Spiegels

4.Kapitel: Auge und Blick

Blade Runner – dynamisches Auge im frühen Kino – Dziga Vertov – suture – Continuity-Montage – Laura Mulvey – feministische Filmtheorie – The Silence of the Lambs – Historizität von Wahrnehmungsformen – Blickregime (gaze) – der große Andere (Lacan) – Slavoj Žižek – Panoptikon (Foucault)

5.Kapitel: Haut und Kontakt

Crash – Kritik am Okularzentrismus – Haut und Identität – The New World – Vivian Sobchack – Phänomenologie – Rückkehr zum Körper – Avantgarde-Praktiken – Körper und Genre (Linda Williams, Barbara Creed) – Haut des Films (Laura Marks) – akzentuiertes Kino (Hamid Naficy) – Siegfried Kracauer

6.Kapitel: Ohr und Ton

Das Lied einer Nacht – Ton als Raumphänomen – Stummfilm und Einführung des Tons – Ton im klassischen Kino – Singin’ in the Rainacousmêtre (Michel Chion) – Enthierarchisierung von Bild und Ton – Surround-Systeme – Materialität und Plastizität des Tons

7.Kapitel: Geist und Gehirn

Eternal Sunshine of the Spotless Mind – Propaganda- und Kultfilme – fünf Konzepte zum Zusammenhang von Geist und Kino – Gilles Deleuze – Annette Michelson – Torben Grodal – Gedankenspielfilme – Körper und Geist, Zuschauer und Film – Kognitivismus – Phänomenologie – Einfühlung – Ver- und Entkörperung

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Basis-Bibliografie Filmtheorie

Über die Autoren

Einleitung

Filmtheorie gibt es beinahe so lange wie das Medium selbst, das Ende des 19. Jahrhunderts aus Entwicklungen in der Fototechnik, der Mechanik und Optik sowie der wissenschaftlichen Reihenbildherstellung entstanden ist. Von Anfang an stellten sich Erfinder, Industrielle, Künstler und Intellektuelle Fragen nach dem Wesen des Kinos, nach seiner Eignung für spezielle Darstellungsformen und nach dem (ontologischen, epistemologischen) Status der aufgenommenen und wiedergegebenen Bilder. Neben der Spezifik ist die Bedeutung des Kinos immer wieder diskutiert worden, und die Antworten darauf konnten geringschätzig (»Das Kino – Eine Erfindung ohne Zukunft«, Antoine Lumière), skeptisch (»Königreich der Schatten«, Maxim Gorki) oder triumphal (»Das Esperanto des Auges«, D.W. Griffith) ausfallen. Die frühesten Versuche einer Auseinandersetzung mit dem Film als neuem Medium fanden dann Anfang des 20. Jahrhunderts statt – Vertreter, deren Annäherungen mit dem Prädikat der »ersten Filmtheorie« versehen wurden, sind etwa Hugo Münsterberg oder Vachel Lindsay. Einen ersten Höhepunkt konnte die Filmtheorie in den 1920er Jahren verzeichnen, institutionalisiert wurde sie im angelsächsischen Raum sowie in Frankreich erst nach dem Zweiten Weltkrieg und auf breiterer Basis seit den 1970er Jahren. Das gilt auch für die deutschsprachige Entwicklung, die zwar in den 1920er Jahren wichtige Ansätze geliefert hatte, aber erst seit den 1980er Jahren wieder mühsam Anschluss an die internationale Entwicklung sucht; zu dieser internationalen Vernetzung will auch dieser Band beitragen.

Die erste Möglichkeit, eine Einführung in die Filmtheorie anzulegen – als Theoriegeschichte oder Paradigmengeschichte des Films – ist damit bereits angedeutet. Es gibt aber noch eine Reihe anderer Möglichkeiten, filmtheoretische Ansätze zu klassifizieren und systematisch anzuordnen. Wir wollen die bekanntesten hier zumindest kurz Revue passieren lassen, um dann unseren eigenen Ansatz zu entwickeln, der zwar verschiedenen Schulen Einiges verdankt, aber doch in entscheidenden Punkten von ihnen abweicht.

Als einflussreich hat sich etwa die Unterscheidung in formalistische und realistische Filmtheorien erwiesen.1 Während Erstere den Film als Konstruktion und Repräsentation ansehen, betonen Letztere, dass Film den Durchblick auf eine (nicht-mediale) Wirklichkeit ermöglicht. Die »Formalisten« betonen also die Künstlichkeit des Kinos, seine artifizielle Natur, während die »Realisten« das Augenmerk auf die (Semi-)Transparenz des filmischen Mediums richten, die uns eine scheinbar direkte Zeugenschaft ermöglicht. In dieser Aufteilung stehen Sergej Eisenstein, Rudolf Arnheim, die russischen Formalisten ebenso wie die US-amerikanischen Neoformalisten auf Seiten der artifiziellen »Konstruktion«, während sich die Gegenseite unter dem Banner eines ontologischen »Realismus« um André Bazin und Siegfried Kracauer versammeln würde. Schon mit dieser Aufzählung ist angedeutet, dass die Debatte weit zurückreicht und sich zumindest bis in die 1920er Jahre zurückverfolgen lässt, als Fragen nach der Begründung und dem Wesen des filmischen Mediums sowie nach der Kunstfähigkeit des Kinos bei einer Theorie und Praxis gleichermaßen verpflichteten Film- und Medienavantgarde ganz oben auf der Tagesordnung standen.

Eine andere Einteilung würde geografische Herkunft zum entscheidenden Merkmal machen. So ließen sich eine von Jean Epstein über André Bazin bis Gilles Deleuze reichende Linie französischsprachiger Theorie und eine von Hugo Münsterberg zu Noël Carroll sich erstreckende Reihe englischsprachiger Ansätze gegenüberstellen – die deutschsprachige Filmtheorie hat in dieser stets internationalen Debatte, zumindest nach dem nationalsozialistischen Bruch, keine nennenswerte Rolle mehr gespielt, nachdem mit Béla Balázs, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Bertolt Brecht deutschsprachige Autoren in ihr zunächst prominent vertreten waren. Mit einer solch nationalen Einteilung würde man allerdings auf Kosten von transnationalen Übersetzungs- und Transformationsleistungen eine äußerliche Kohärenz konstruieren, die nur selten der inneren Logik der Positionen entspricht. Eine Spezifizierung der Herkunft als zentrales Merkmal würde die strategische und diskursive Logik von Institutionen und Organen betonen: Filmtheorien haben sich nicht selten im Umfeld von Zeitschriften wie Cahiers du cinéma und Screen, Einrichtungen wie der Cinémathèque française und dem Museum of Modern Art oder Universitätsinstituten entwickelt. In einer solchen Perspektive wären zwar eher Übersetzungen und Transfers aufgehoben, aber noch immer würde nicht die Theorie selbst die Ordnung vorgeben, sondern äußerliche Indikatoren.

Polemisch aufgegriffen wird eine geografische Ordnung durch die Neoformalisten David Bordwell, Kristin Thompson und Noël Carroll, die die meisten europäischen Denkgebäude aus der Tiefe des »heartland« Wisconsin (alle drei Genannten unterrichte(te)n an der Universität Madison in Wisconsin, einem der Zentren der US-amerikanischen Filmwissenschaft) und vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Tradition der analytischen Philosophie als »continental theory« angreifen. Nach ihrer Meinung ist die kontinentale Filmtheorie in einem beklagenswerten Zustand, weil sie der unheiligen Viererbande von Ferdinand de Saussure, Jacques Lacan, Louis Althusser und Roland Barthes anhängt. Aus den Anfangsbuchstaben der Geschmähten haben die Gründerväter des »Wisconsin Project« das Kunstwort »SLAB« geschaffen und damit selbst ein Paradigma hervorgebracht, gegen das zu kämpfen sie angetreten sind. Noch andere, meist in kategorialen Gegensätzen organisierte Vorschläge der Gliederung ließen sich finden, etwa normativ vs. deskriptiv oder kritisch vs. affirmativ.

Eine weitere gängige Systematisierung von Ansätzen sieht die Filmtheorie als einen Gegenstandsbereich, der sich nicht an seinem Objekt bildet, sondern sich stets bei anderen Theorien bedient, sich mit fremden Federn schmückt und dessen Erfolg im methodisch-modischen Opportunismus und in den Künsten der Anverwandlung zu liegen scheint. Ein solcher Ansatz hebt die kontextuelle Einbettung der Filmtheorie in übergreifende kultur- und sozialwissenschaftliche Entwicklungen hervor und betont die transdisziplinären Beziehungen, durch die sich die Geisteswissenschaften zumindest seit den 1980er Jahren des 20. Jahrhunderts auszeichnen. In dieser Perspektive tragen die synchronen oder diachronen Schulen Namen wie feministische Theorie, Semiotik oder Psychoanalyse.2 Eine Variante dieser Anordnung schlägt die Positionen größeren Facheinheiten zu, etwa indem psychologische von sozialwissenschaftlichen und textanalytischen Ansätzen unterschieden werden.

Neuere Versuche der Systematisierung von Filmtheorien haben solche häufig polemischen oder normativen Einteilungen aufgegeben und stellen nun in einer Art von Stafette einzelne Positionen vor, die aufeinander folgen.3 Dies führt dazu, dass die Filmtheorie entweder in teleologischer Weise auf ihre Vollendung fortzuschreiten scheint, jede neue Theorie also die alte verbessert, oder dass nach Art einer Drehtür Ansatz auf Ansatz folgt, ohne dass einzelne Positionen Vertiefung oder Perspektivierung im Hinblick auf eine Fragestellung erfahren würden. Im ersten Fall existieren die einzelnen Perspektiven nur noch im Bezug aufeinander, vor allem aber in Ausrichtung auf einen impliziten Fluchtpunkt, im zweiten Fall stehen sie alle unverbunden nebeneinander. Um diesen beiden Problemen zu entgehen, haben wir uns entschlossen, unseren Durchgang durch die Filmtheorie anhand einer Leitfrage zu organisieren, um so eine zusammenhanglose Abfolge zu vermeiden, aber auch das evolutionistische Modell zu umgehen, das von einem impliziten Ziel in retrospektiver Logik zurückrechnet. Mit dieser Perspektivierung befragen wir nicht nur die vorhandenen Positionen, sondern beziehen selbst Stellung innerhalb des wissenschaftlichen Felds.

Wie verhält sich der Film zum (Zuschauer-)Körper? So wollen wir die Leitfrage dieser Einführung in die Filmtheorie formulieren, die klassische ebenso wie neuere Autoren, kanonisierte wie unbekannte Texte auf die eine oder andere Art zu beantworten suchen. Ob die Antwort auf diese Frage sich implizit im Theoriedesign findet und erst durch eine genaue Lektüre der Texte herauspräpariert werden muss oder explizit artikuliert wird, gilt es am Einzelfall zu klären, jedoch kann sich keine theoretische Position auf Film und Kino dieser Relation entziehen. Diese Beziehung wird uns den nötigen Zusammenhang für eine historischsystematische Überblicksdarstellung geben. Jeglicher Entwurf einer Filmtheorie konzeptioniert im Kern (auch) die Beziehung von Film und Körper, ob normativ (offen mit diesem Anspruch treten etwa die Ansätze von André Bazin oder Siegfried Kracauer auf) oder deskriptiv (so zumindest im rhetorischen Gestus der überwältigende Teil der heutigen Theorien).

Dieses Leitmotiv schließt an historische Untersuchungen zum frühen wie auch zum klassischen und postklassischen Kino an, in denen es um die Frage des kinematografischen Dispositivs ging, also des Apparates oder der Anordnung. Jede Art des Kinos (wie auch jede Art der Filmtheorie) formuliert und postuliert eine Art von idealer Rezeptionsposition, eine bestimmte Beziehung vom Zuschauer(körper) zum Bild (und damit zur Leinwand beziehungsweise zum Bildschirm), eine Modulation des Raums, in der Film und Zuschauer, also Kino und Körper, zueinander in Beziehung gesetzt sind. Diese Perspektive betrachtet ebenso die architektonische Anordnung des Zuschauer(raum)s im Kino(bau), die zeitliche Abfolge und soziale Rahmung des Kinobesuchs wie auch die imaginäre Konstruktion von Film(raum) in Mise en scène, Montage und Narration, die Produktionsformen ebenso wie die Verkaufsargumente. Schließlich werden auch die Beziehungen der Körper und Dinge im Film selbst auf eine theoretisch relevante Art artikuliert. Entscheidend dafür ist das Verhältnis zwischen dem Diegetischen und dem Nicht- oder Extra-Diegetischen. Mit dem Begriff der Diegese (griech.: »diegesis«, Erzählweise, Erörterung) unterscheidet die Erzähltheorie zwischen der Welt der Erzählung und allem, was dieser nicht angehört. So ist beispielsweise eine Musik, die ein Orchester im Film spielt (etwa in einer Szene, die in einem Nachtclub stattfindet), diegetisch, die Musikuntermalung einer romantischen Szene am Flussufer wird als extra-diegetisch bezeichnet. Bei einer auffälligen Heranfahrt an einen narrativ wichtigen Gegenstand, die nicht durch eine Figur motiviert ist (etwa die Enthüllung am Ende von Citizen Kane, dass »Rosebud« ein Schlitten ist), ist die Kamerabewegung extra-diegetisch, das Objekt selbst hingegen diegetisch. Da sich der Zuschauer in gewissem Sinne immer auf der Schwelle zwischen dem filmischen Universum (der Diegese) und seiner eigenen Realität befindet, wird dieser Begriff im Folgenden eine zentrale Position einnehmen.4

Die unterschiedlichen Relationen zwischen Zuschauer und Film lassen sich als eine Reihe von Metaphern, Konzepten und Begriffsfeldern verstehen, die alles, was den Körper angeht, mit denken: dessen Oberflächen und Wahrnehmungsarten, seine unterschiedlichen taktilen, epistemologischen, sensomotorischen und perzeptuellen Grundlagen. Für die Filmtheorie haben wir sieben Konzepte ausgemacht, die weder eine Verbesserung des jeweils vorgängigen darstellen noch unverbunden aufeinander folgen. Eine neue Theorie antwortet (implizit oder explizit) auf Fragen, die durch eine vorhergehende ans Licht getreten sind, aber nicht befriedigend erklärt werden konnten. In aller Regel handelt sich das neue Denkgebäude an anderer Stelle Probleme ein, so dass die Theorie oft zirkulär an Stellen zurückkehrt, die bereits für überwunden galten; so lässt sich beispielsweise das überraschende Revival der Theorien von André Bazin seit Mitte der 1990er Jahre damit erklären, dass der Übergang von analogen zu digitalen Medien Bazins zentrale Frage nach der »Ontologie des fotografischen Bildes« (so ein klassischer Aufsatztitel Bazins) in neuer Form auf die Tagesordnung setzt.5 Die Rückkehr zu Bazin findet also unter neuen Vorzeichen statt; allgemein gesprochen ist eine Theorie nie historisch stabil, sondern nimmt in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder andere Formen an.

Die verschiedenen Abschnitte unserer Darstellung korrespondieren auch mit der dominanten Form des Kinos in einer bestimmten Epoche, denn Theorieentwicklung wie auch die Veränderung des Films stehen in einem stetigen Austauschverhältnis. Neben dem historisch-analytischen Überblick über entscheidende theoretische Positionen impliziert dieser Entwurf auch eine Re-Klassifikation der Filmgeschichte anhand des Verhältnisses von Zuschauerkörper und bewegtem Bild. Insofern geht es uns um mehr als um eine vermeintlich objektive Darstellung einer abgeschlossenen Vergangenheit; es geht uns darum, Theorieentwürfe auf ihre Nützlichkeit für heutige Film- und Medientheorie zu befragen, um über eine neue Konzeptionierung auch zu einer veränderten Vorstellung von Theorien zu gelangen.

Damit haben wir unsere systematische Position umrissen; bleibt das Moment der Historizität der Theorie selbst. Die Filmtheorie ist beinahe so alt wie das Kino – mindestens bei Hugo Münsterbergs Pionierwerk The Photoplay: A Psychological Study (1916) müsste man ansetzen, wollte man eine Geschichte der Filmtheorie schreiben. Doch diese soll hier nicht im Vordergrund stehen, denn solche diachronen Überblicksdarstellungen sind in großer Zahl verfügbar. Uns geht es einerseits um eine knappe und systematische Einführung, andererseits aber auch um eine spezifische Perspektive, die durch eine veränderte Fragestellung eröffnet wird. Wenn wir in dieser Einführung also eine hundertjährige Entwicklung und eine vieltausendseitige Theorieentfaltung kondensieren, so geht das nicht ohne Verluste; doch hoffen wir auf einen Effekt ähnlich wie beim Einkochen und Andicken. Es reduziert sich zwar das Volumen, doch wesentliche Geschmacks- und Inhaltsstoffe bleiben erhalten.

Ein kurzer Überblick über die sieben Kapitel soll im Folgenden unseren methodischen Zugriff verdeutlichen. Das erste Kapitel steht im Zeichen des Fensters und des Rahmens und beschäftigt sich mit der Einfassung des Filmbildes als grundlegendem Element. Verschiedene Positionen, etwa André Bazins Theorie des filmischen Realismus oder David Bordwells Überlegungen zur Tiefeninszenierung, haben die Filmerfahrung konzeptuell gefasst als privilegierten Zugang zu einer anderen Welt, als Aus- und Einblick in ein diegetisch erzeugtes Universum. Andere Autoren wie Rudolf Arnheim und Sergej Eisenstein haben dagegen den Konstruktions- und Kompositionscharakter des Bildes innerhalb des Rahmens hervorgehoben. Dennoch, so werden wir argumentieren, sind sich diese beiden Positionen – oft realistisch und formalistisch genannt – ähnlicher als häufig angenommen. Die Wahrnehmung erscheint in dieser Perspektive als fast völlig entkörperlicht, weil auf den Augensinn reduziert.

Das zweite Kapitel knüpft hieran an und widmet sich unter dem Motto von Tür und Leinwand Positionen, die den Übergang von der Welt des Zuschauers in die Welt des Films zu beschreiben suchen. Zentral werden hier Ansätze der Erzähltheorie, also der Narratologie, behandelt, die sich um die Frage der Einbeziehung des Zuschauers in die filmische Erzählung drehen. Hier finden sich kognitive Theorien, aber auch Positionen des (Post-)Strukturalismus oder in Anlehnung an Michail Bachtin entwickelte Entwürfe, die das Verhältnis Zuschauer/Film dialogisch betrachten. Zugrunde liegt dieser Haltung die Vorstellung vom Zuschauer als Wesen, das in eine fremde Welt eintritt oder dem die eigene Welt »fremdgemacht« wird (im Sinne des ostranie der russischen Formalisten).

Das dritte Kapitel schöpft unter dem Motto von Spiegel und Gesicht aus dem reflexiven Potenzial des Kinos. Einerseits kommen wir auf die Selbstreferenz zu sprechen, wie sie sich in den kinematografischen Erneuerungsbewegungen im Europa der 1950er bis 1970er Jahre (die so genannten »Neuen Wellen«) findet. Andererseits ist der Spiegel auch zu einem zentralen Element psychoanalytischer Filmtheorie geworden, für die der Blick in den Spiegel zugleich mit dem Selbst konfrontiert und den Blick von innen nach außen lenkt, also zum Blick des Anderen wird. Die Faszination des Kinos für Doppelgängergeschichten und vertauschte Identitäten spielt hierbei ebenso eine Rolle wie Fragen der Identifikation, denn die oft bemühte und theoretisch immer noch nicht geklärte Zuschauerbeziehung zum Film beruht auf einem ähnlichen Mechanismus des Verwechselns von Selbst und Anderem. Daneben betrachten wir in diesem Zusammenhang theoretische Ansätze, die auf die zentrale Rolle der Großaufnahme und des menschlichen Gesichts eingegangen sind.

Weiterentwickelt wird dies im vierten Kapitel, das im Zeichen von Auge und Blick steht. In den 1970er Jahren entwickelte sich in der Filmtheorie eine Reihe von Positionen, die einerseits stark von Jacques Lacans poststrukturalistischer Umformulierung der freudschen Psychoanalyse beeinflusst waren, andererseits auf Michel Foucaults Theorie des Panoptikons als Gesellschaftsmodell Bezug nahmen. Insbesondere die feministische Filmtheorie hat mit elaborierten Schemata der Blickstruktur (innerhalb des Films, zwischen Kamera und Filmfiguren, zwischen Zuschauer und Film) gearbeitet. Diese Denkschule geht noch von einer gewissen Distanz zwischen Zuschauer und Film aus, die sich im Sehen als einer Wahrnehmungsform der Entfernung äußert.

Ganz anders dagegen eine Theorieschule, die wir im fünften Kapitel unter die Überschrift der Haut und des Kontakts gestellt haben. Auf der einen Seite finden sich hier Positionen, die Kino stets als eine Art von Zusammentreffen konzeptualisieren, als eine Begegnung mit dem Anderen, die das Ferne nahe bringt und präsent macht. Auf der anderen Seite sind Theorien zu nennen, die von der Haut als einem Wahrnehmungsorgan ausgehen, die also Kino auch als haptische Erfahrung verstanden wissen wollen. Diese – wenn man so will – interkulturelle und phänomenologische Schule korrespondiert zumindest teilweise mit einer Faszination für den menschlichen Körper, seine Oberfläche und Verletzlichkeit im Kino der letzten zwanzig Jahre, vor allem im Genre des Horror- oder Slasherfilms.

Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zu den im sechsten Kapitel vorgestellten Ansätzen, die ebenfalls den Körper als zentrales Element der Wahrnehmung und der Erkenntnis betrachten, jedoch anstelle von Haut und Kontakt den Akzent stärker auf das Ohr und den Raum legen. Betrachteten frühere Ansätze den Zuschauer im Kino als ein Wesen, das auf das rationalistische Sehen und die kognitiv-logische Datenverarbeitung reduziert ist, so spielen hier Faktoren wie Gleichgewichtssinn und Raumempfinden eine zentrale Rolle. Der Zuschauer ist nicht länger ein passiver Empfänger optischer Informationen, sondern ein Körperwesen, das akustisch, sensomotorisch, somatisch und affektiv in die Textur des Films eingewoben wird. Technologische Entwicklungen wie die enorme Verbesserung der Tontechnik seit den 1970er Jahren (die verschiedenen Dolby-Formate) werden hier ebenso zur Sprache kommen wie Regisseure und Theoretiker, die den Ton in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen.

Die siebte Position schließlich lässt sich mit Gilles Deleuzes Motto »Das Gehirn ist die Leinwand« beschreiben. Der Film schreibt sich hier direkt in das Innerste des Zuschauers ein, besetzt Synapsen und Hirnfunktionen, modelliert Neuronen und Nerven, übernimmt also die Regie über Körper und Geist als Ganzheit, um darin den Film ablaufen zu lassen. Dieser Gedanke liegt zahlreichen Filmen der letzten 15 Jahre zugrunde, in denen die im Film dargestellte Welt nur in der Vorstellung einer (Film-)Figur existiert oder nur für den Zuschauer geschaffen wird. Der radikale Konstruktivismus wird hier ebenso zur Sprache kommen wie auf Deleuze aufbauende Ansätze.

Die Idee von Körper(teil) und Wahrnehmung als Schnittstelle ist somit nicht nur heuristisches Hilfsmittel und ästhetische Metapher, sondern auch ontologisches, epistemologisches und phänomenologisches Anschauungsmaterial für die jeweiligen theoretischen Positionen. Der so skizzierte Ablauf geht einher mit der Beschreibung einer (nicht-teleologischen) Entwicklung, die von außen nach innen führt, von einem unbeteiligten und privilegierten Augen- (und Ohren-)zeugen zur Artikulation einer filmischen Realität, die das Gehirn und den Geist des Zuschauers für ihre Konstitution benötigt. Der Film nistet sich als Parasit oder Gast in den Kopf und den Körper der Zuschauer ein, denn nur dort kann er seine Realität entfalten, oder er wird zu einer eigenen »Lebensform«, die neben anderen besteht oder der sich andere sogar unterordnen. Hier knüpfen Theorien an, die das postklassische Kino vom klassischen unterscheiden wollen, indem sie von einer anderen »Ontologie« des Kinos ausgehen.

Jedes Kapitel öffnet mit einer emblematischen Filmszene, die in nuce die jeweilige Position enthält und so den Boden für die darauf folgenden theoretischen Erörterungen bereitet. Die Filme, die wir dabei heranziehen, korrespondieren zeitlich nicht unbedingt mit der jeweiligen Position (unser siebenstufiges Modell ist zwar grob chronologisch, erhebt aber keinen Anspruch, eine Geschichte des Films oder der Filmtheorie nachzuzeichnen), sondern können auch älteren oder jüngeren Datums sein. Diese cineastischen Embleme sollen weniger als »Beispiel« oder »Illustration« verstanden werden, sondern eher als Möglichkeit, mit dem Film nachzudenken (statt lediglich über ihn), wie dies Gilles Deleuze so nachdrücklich in seinen Kinobüchern vorgeschlagen und erprobt hat. Auch innerhalb der Kapitel kommen wir immer wieder auf Beispiele zu sprechen, die eben nicht als Belege für unabhängig davon existierende Theorien zu verstehen sind, sondern eher zum Mitdenken wie zur Wiederbegegnung mit Filmen und Theorien anregen wollen. Wir hoffen, dass sich die Leser ermuntert fühlen, ihre eigene Film- und Kinoerfahrung mit ihrer Theoriekenntnis in Beziehung zu setzen. Und zwar weniger im Sinne einer »Anwendung« als einer gegenseitigen Durchdringung: als ein Nachdenken darüber, wie Filme die Arbeit der Theorie weiterführen und umgekehrt. Denn viele zeitgenössische Filme muten an, als würden sie avancierte Theoriepositionen kennen und auch auf dem Feld der theoretischen Betrachtung ernst genommen werden wollen. Wenn sich der eine oder andere Leser dazu verleiten lässt, Film und Theorie zusammenzubringen, so haben wir unser Ziel erreicht.

Für die vierte Auflage haben wir diese Einführung um ein Nachwort ergänzt, das auf die Frage antwortet, ob und wie sich die Konzeptualisierung der Filmtheorie als zuschauer- und körperbezogen auch in der digitalen Ära veranschaulichen lässt. Anhand eines Filmbeispiels und drei auf die gegenwärtige Situation bezogenen Begriffsprägungen, die zunächst rein deskriptiv erscheinen, aber durch die jeweilige Kombination von Attribut und Substantiv tatsächlich produktive Selbstwidersprüche enthalten – digitales Kino, virtuelle Realität und Medienkonvergenz – spüren wir den Mutationen, Konstanten und Selbstverweisen nach, die den Film im Zeitalter digitaler Netzwerke prägen. Damit soll auch unser Anspruch untermauert werden, eine Klassifikation der Filmtheorie zu entwerfen, die nicht nur die reiche Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung mit Film und Kino durchdringt, sondern Vorschläge für zukünftige Entwicklungen bereithält.

1. Fenster und Rahmen

Ein Mann sitzt unbeweglich in einem Sessel und schaut zum Zeitvertreib durch einen rechteckigen Rahmen auf menschliche Dramen. Seine visuelle Wahrnehmung wechselt zwischen einem weiten, panoramaartigen Überblick und einer Detailsicht. Seine Position ist erhöht und privilegiert. Die Geschehnisse scheinen sich unabhängig von seiner Beobachtung zu entfalten, aber er fühlt sich dennoch nie derart ausgeschlossen, dass ein Gefühl der Frustration entstünde. Damit ist nicht nur eine mögliche Beschreibung der Zuschauerposition im Kino gegeben, sondern auch die Grundsituation von Alfred Hitchcocks Rear Window (US 1954, Das Fenster zum Hof) skizziert.6 Dieser Film ist ein Testfall der Filmtheorie, weil er die grundlegende Betrachtersituation des klassischen Kinos figurativ nachstellt: Der Fotograf L.B. Jefferies (James Stewart) sitzt nach einem Unfall mit einem Gipsbein in seiner Wohnung im Rollstuhl; ein Fernglas sowie das Teleobjektiv seiner Fotokamera ermöglichen ihm, zwischen einer Totalen des Hinterhofs, zu dem sich seine Wohnung öffnet, und Naheinstellungen der einzelnen Apartments mit ihren Bewohnern zu wechseln. Rear Window inszeniert zwei grundlegende Eigenschaften des Kinos, die die Filmtheorie unter den Metaphern des Fensters und des Rahmens erörtert hat: Zum einen nimmt Jefferies als Zuschauer und (im eingeschränkten Maße) als Zuhörer eine scheinbar privilegierte Perspektive ein, zum anderen hat er eine Distanz zum Geschehen. Was die in der Einleitung formulierte Frage angeht – ist der Film, bezogen auf den Zuschauer, »außen« oder »innen«? – gibt Rear Window eine klare Antwort: Solange Jefferies seine distanzierte Betrachterperspektive beibehält, kann das Geschehen ihm nichts anhaben. Erst als er – oder vielmehr seine Freundin Lisa Carol Fremont (Grace Kelly) – die Schwelle zur beobachteten Welt überschreitet, wird die Welt »da draußen« auch für ihn »hier drinnen« gefährlich. Doch ist es nicht allein die Betonung der reinen Sichtbarkeit und Distanz, durch die Rear Window seinen theoretischen Resonanzraum gewinnt: »Der Titel Fenster zum Hof beschwört, neben der Buchstäblichkeit seiner Denotation, die unterschiedlichen ›Fenster‹ des Kinos: die Linse von Kamera und Projektor, das Fenster des Vorführraums, das Auge als Fenster und Film als Fenster zur Welt.«7 Damit ist eine Reihe von Motiven der ersten »Seinsweise« des Kinos genannt, die wir im Folgenden entfalten und vertiefen wollen.

Wie sich in diesem Kapitel zeigen wird, weisen die Konzepte des Fensters und des Rahmens eine Schnittmenge, aber auch bedeutsame Unterschiede auf. Betrachten wir zunächst die Gemeinsamkeiten: Erstens bietet das Kino sowohl als Fenster wie als Rahmen einen besonderen, auf das Auge zentrierten Zugang zu einem (fiktionalen) Geschehen an – ein (in der Regel) rechteckiger Durchblick, der der visuellen Neugierde des Zuschauers entgegenzukommen scheint. Zweitens verwandelt sich die (reale) zweidimensionale Bildfläche im Akt des Betrachtens in einen (imaginären) dreidimensionalen Raum, der sich jenseits der Leinwand als Bildausschnitt eröffnet. Und drittens gestattet die Distanz, die tatsächliche und metaphorische Entferntheit von den Vorgängen im Film, dem Zuschauer im Kino ein sicheres Betrachten, ein Gefühl, das durch die schützende Dunkelheit des Kinosaals noch befördert wird. Der Zuschauer ist vom Filmgeschehen vollkommen abgeschnitten und muss nicht befürchten, in die Handlung einbezogen zu werden (wie etwa im modernen Theater). Auch sieht er sich nicht aus moralischen Gründen genötigt einzugreifen (wie im realen Leben). Kurz gesagt: In der Konzeption vom Kino als Fenster/Rahmen ist das Kino okularspekular (also durch den optischen Zugang bestimmt), transitiv (etwas wird betrachtet) und entkörperlicht (der Zuschauer besitzt eine sichere Distanz und kommt mit dem Geschehen nicht in Berührung, sein Körper hat neben seinem Augensinn keinen Anteil am Akt der Filmbetrachtung).

Zwar kommen beide Konzepte im Kompositum »Fensterrahmen« zusammen, zugleich deuten die Metaphern jedoch auf unterschiedliche Qualitäten: Man schaut durch ein Fenster, aber man schaut auf einen Rahmen. Die Vorstellung des Fensters impliziert, dass man das gerahmte Viereck, durch das man hindurchsieht, aus dem Blick verliert, während der Rahmen sowohl auf den Inhalt der (undurchsichtigen) Bildfläche, dessen konstrukthaften Charakter, wie auf sich selbst verweist. Das Fenster steht im Zeichen der Transparenz, während man für den Rahmen den Begriff der Komposition stark machen könnte. Wo das Fenster die Aufmerksamkeit auf ein dahinter oder jenseits Liegendes lenkt, ja im Idealfall die trennende Glasscheibe in der Vorstellung ganz verschwinden lässt, lenkt der Rahmen – man denke an klassische Bilderrahmen, ihre Ornamentik und Opulenz, ihre Auffälligkeit und ihren ostentativen Zeigegestus – die Aufmerksamkeit auf den Artefaktstatus und den Bildträger als solchen. Im einen Extremfall bringt das Fenster sich als Medium völlig zum Verschwinden und macht sich unsichtbar, im anderen dagegen lässt der Rahmen nur noch das Medium in seiner Verfasstheit sehen.

Situiert man Rahmen und Fenster historisch – beide Metaphern haben in der Filmtheorie eine lange Geschichte –, so werden die Unterschiede noch augenfälliger. Traditionell korrespondiert der Rahmen mit solchen Filmtheorien, die als konstruktivistisch bezeichnet werden, während das Fenster-Modell meist in realistischen Theorien Verwendung gefunden hat. Lange Zeit wurde die Unterscheidung von konstruktivistisch (oder formalistisch, formgebend) und realistisch (oder mimetisch, phänomenologisch) als grundlegende Differenz innerhalb der Filmtheorie angesehen – Siegfried Kracauer war hier sicher stilbildend, weil er in seiner Theorie des Films diese Entgegensetzung stark in den Vordergrund gerückt hatte.8 Auf der einen Seite stehen in einer solchen Klassifikation Béla Balázs, Rudolf Arnheim und die russischen Montagetheoretiker, auf der anderen André Bazin und Siegfried Kracauer. Die erste Gruppe stellt die Konstruktion einer eigenen Filmwelt durch Abweichung von und Veränderung der realen Welt in den Mittelpunkt, etwa durch Montage und Bildgestaltung, oder, wie vor allem Arnheim, durch die Abwesenheit von Farbe und Sprache im Stummfilm. Die zweite Gruppe erkennt als eigentliches Wesen des Films dessen Möglichkeit zur Aufzeichnung und Wiedergabe der Realität und fürs bloße menschliche Auge nicht wahrnehmbarer Phänomene und Momente.

Gemeinsam ist beiden Richtungen indes, dass sie darauf abzielen, den Film kulturell aufzuwerten, ihn in das Konzert der etablierten Künste einzuführen. Dabei leistet die Idee des Fensters oder Rahmens hilfreiche Dienste, denn historisch antwortet sie auf einen Minderwertigkeitskomplex des Films gegenüber seinen älteren und distinguierteren Geschwistern Theater und Malerei, die auf der Vorstellung eines Betrachters beruhen, der eine Distanz zum Geschehen besitzt. Um so rezipieren zu können, wie es seit der Renaissance einem bürgerlichen Bildungsideal entspricht: individualisiert und kontemplierend ins Werk vertieft, und eben nicht kollektiv und zerstreut wie in der Frühzeit des Kinos, bedarf es der Distanz und damit der Rahmung. Davon wird noch die Rede sein, hier nur so viel: Die Wahrnehmung ist sowohl für die Konstruktivisten wie für die Realisten auf das Sehen ausgerichtet, die ablaufenden Prozesse werden als streng logisch konzeptualisiert, und die rationale Verarbeitung von Informationen wird als Ziel angestrebt. Insofern ist die implizite Vorstellung des Verhältnisses vom Zuschauer zum Film bei Balázs und Bazin, bei Arnheim und Kracauer ähnlich.9

Eine weitere Gemeinsamkeit von Fenster- und Rahmenmetapher hat Charles F. Altman auf den Punkt gebracht: »Auch wenn die Metaphern von Fenster und Rahmen diametral entgegengesetzt erscheinen, so teilen sie doch die Annahme, dass die Leinwand grundlegend unabhängig von den Prozessen der Produktion und Rezeption ist.«10 Beide Modelle, Rahmen wie Fenster, setzen das Bild als gegeben voraus und konzentrieren den Betrachter auf das Werk und seine Strukturen, die in ihrer Ganzheit und (vermeintlichen) Kohärenz ins Blickfeld genommen werden sollen. Darüber vernachlässigen sie solche eher heterogenen und womöglich auch in sich widersprüchlichen Operationen wie Produktion und Rezeption. Der derart konstruierte Betrachter ist also nicht nur weitgehend körperlos, sondern darüber hinaus auch ein idealtypisches Konstrukt der Theorie. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird noch deutlicher werden, inwiefern Fenster und Rahmen verwandte Vorstellungen der Seinsweise des (Zuschauers im) Kino(s) sind.

Mit der Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Filmformen lässt sich der Blick auf das Kino als Fenster/Rahmen noch weiter schärfen. Mit geschlossener Form meinen wir, im Anschluss an Leo Braudy11, solche Filme, die keine anderen Elemente enthalten als jene, die absolut notwendig sind: Georges Méliès’ Filme aus der Frühzeit des Kinos, die konsequent filmische Techniken und Tricks erproben, dabei aber stets auf sich selbst zurückverweisen, gehören in diese Kategorie ebenso wie die streng durchkomponierten Welten Fritz Langs oder Alfred Hitchcocks, in denen alles nach einem unsichtbaren, ausgeklügelten Plan seinen festen Platz zu haben scheint. Typischerweise ist auch die visuelle Gestaltung einzelner Einstellungen geometrisch und strukturiert. Die Welt des Films (die Diegese) schließt auf sich selbst, weist nirgends über sich hinaus auf ein Außerhalb, während der Film in der offenen Form ständig über sich hinaus in die nicht-diegetische Welt reicht. Die offene Form bietet also einen Ausschnitt aus einer Realität, die unabhängig von der Kamera zu existieren scheint. Die Filme der Brüder Lumière sind für diese Form das erste Beispiel, weitere wichtige Vertreter sind die Werke Jean Renoirs mit ihren langen, fließenden Kamerabewegungen und großen Figurenensembles sowie Roberto Rossellinis neorealistische Filme: Diese Filme erzeugen den Eindruck, als würden die Dinge in ähnlicher Form weitergehen, auch wenn die Kamera nicht weiterläuft, als würde sich die Welt jenseits des Kameraausschnitts im Fluss befinden und fortsetzen. Die geschlossene Form ist zentripetal und strebt nach innen, die Totalität der Welt endet an den Grenzen des Bildrahmens. Die offene Form ist dagegen zentrifugal und strebt nach außen, hier steht der Rahmen (als Fenster) eher für einen veränderbaren Ausschnitt aus einer potenziell grenzenlosen Welt:

»Der Unterschied könnte darin bestehen, eine Welt vorzufinden und eine zu erschaffen: der Unterschied zwischen der Verwendung bereits existierender Materialien und der Organisation dieser Materialien in eine durchgeformte Sichtweise; der Unterschied zwischen einem Versuch, die unabhängig vom Betrachter bestehenden Ordnungen zu entdecken, und jene Ordnungen zu entdecken, die der Zuschauer durch seinen Betrachtungsakt erst erzeugt. […] In geschlossenen Filmen ist das Publikum ein Opfer, dem sich die perfekte Kohärenz der Welt auf der Leinwand aufzwingt. In offenen Filmen ist das Publikum ein Gast, der als Gleicher in den Film hineingebeten wird und dessen Vorstellung von Realität potenziell dieselbe ist wie diejenige des Regisseurs.«12

Die Unterscheidung von geschlossener und offener Filmform lässt sich auch als eine Reformulierung der Differenz von Fenster und Rahmen verstehen: Das Fenster bietet immer nur einen Ausschnitt, in dem das Material, wenn überhaupt, nicht allzu auffällig angeordnet ist; es kommt vielmehr auf die Transparenz der Darstellung an. Dagegen nimmt der Rahmen vor allem die Organisation des Materials (Montage, Mise en scène) in den Blick. Das Fenster impliziert also bei Braudy, dass sich die Welt räumlich und zeitlich jenseits des Bildausschnitts fortsetzt – auch wenn die Kamera schwenkt oder weiterläuft, gehen die Dinge ihren Gang. Der Rahmen beschreibt dagegen eine filmische Konstruktion, die nur für den Blick des Zuschauers existiert und damit auch an der Grenze der Einstellung endet.

Die Vorstellungen von Fenster und Rahmen, die im Abstand zwischen Film und Zuschauer das Typische und Wesentliche des Films sehen, finden auf ungeahnte Weise zusammen in einem Filmstil, der zumeist als klassisch bezeichnet wird. Dieser Filmstil hält den Zuschauer körperlich auf Distanz und hat es vor allem auf die Wirkung der Transparenz abgesehen; dazu nutzt er allerdings die filmischen Mittel (Montage, Licht, Kamera, Größendifferenz, Tricks) intensiv, wenn auch auf eine Weise, in der sie möglichst wenig (wenn überhaupt) bemerkt werden. Das Besondere am klassischen Stil liegt also darin, dass er mit dem größtmöglichen Einsatz an Verfahren und Technik ein Konstrukt erschafft, das den meisten Zuschauern realistisch erscheint, also diesen Einsatz gerade verschleiert. Kurz gesagt: Der klassische Stil simuliert Transparenz. Der paradoxe Spagat zwischen dem Einsatz von kodifizierten Regeln und der Wirkung einer unvermittelten Durchsicht macht diese spezifische Form vielleicht derart dominant. Denn der klassisch genannte Stil, der Ende der 1910er Jahre in Hollywood perfektioniert wurde, bestimmte zumindest bis in die 1950er Jahre international das Kino.13 Häufig werden die Begriffe »Hollywood« und »Klassik« synonym verwendet, auch wenn historisch die meisten Formen des populären Kinos diesen Regeln gefolgt sind: das Kino der NS-Zeit und des Sozialistischen Realismus ebenso wie der italienische Neorealismus und zeitgenössische TV-Movies.

Im klassischen Kino ist der Zuschauer unsichtbarer Zeuge – unsichtbar nämlich für die sich entwickelnde Geschichte, die seine Präsenz nicht anerkennt (wie dies etwa durch direkte Ansprache des Zuschauers oder Blicke in die Kamera möglich wäre) –, und er besitzt, ganz wie Hitchcocks L.B. Jefferies, als Einziger den Überblick. Damit wird auch die Rolle des Betrachters deutlicher, der einerseits selbst von »außerhalb« nicht eingreifen kann (er sieht nur zu) und andererseits, will er sich nicht gänzlich ausgeschlossen fühlen und seine Wünsche in der Handlung ausagiert sehen, auf einen Stellvertreter »innerhalb« (der diegetischen Welt) angewiesen ist, den Protagonisten oder Helden.

Die Denkweise, der zufolge bildliche Darstellung von Distanz und einer Konzentration auf das Visuelle bestimmt wird, hat eine lange Tradition. Oft ist auf die Genealogie der filmischen Darstellungsform in der Zentralperspektive der klassischen Malerei seit der Renaissance hingewiesen worden, so etwa von Stephen Heath: »Grundlegend ist die Idee eines Betrachters am Fenster, einem ›aperta finestra‹, das einen Blick auf die Welt freigibt – gerahmt, zentriert, harmonisch (die ›istoria‹). […] Die Vorstellung des Quattrocento-Systems entspricht einem szenographischen Raum, einem Raum, der sich als Spektakel für das Auge eines Betrachters darbietet.«14 Der Fluchtpunkt und der aus ihm folgende Maßstab, die Größen und Proportionen, gewährleisten, dass eine dreidimensionale Wirklichkeit auf eine zweidimensionale Oberfläche reduziert wird. Dies geschieht derart, dass die Oberfläche (der Leinwand) eine dreidimensionale Realität simuliert, die man als andere Welt erfährt (als imaginäres Universum) oder – auch das gibt es – als Fortsetzung der dreidimensionalen Welt des Zuschauers (der einfahrende Zug der Brüder Lumière bewirkte angeblich, dass das Publikum glaubte, der Zug fahre in den Zuschauerraum hinein, und George Lucas’ Entwicklung des Dolby-Tons für Star Wars gab den Zuschauern das Gefühl, dass sie dem gleichen »Raum« wie das Raumschiff angehörten). Viele Filmemacher haben sich diese widersprüchlichen Eigenschaften – einerseits die »Oberfläche der Dinge« zu sehen, andererseits »durch die Dinge hindurch« zu sehen – zunutze gemacht, etwa indem sie das Bild »flächig« gestalten (wie Jean-Luc Godard in Pierrot le fou, FR 1965, Elf Uhr nachts) oder die Komposition dezentrieren (Jean-Marie Straub und Danièle Huillet in Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, DE 1965)

Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem sich die langgepflegte und eingeschliffene Gegenüberstellung der beiden Denkmodelle von Fenster und Rahmen aushebeln lässt. In diesem Sinne sollen jetzt drei Theoretiker, die gemeinhin in oppositionelle Lager eingeordnet werden, im Hinblick auf ihre Konzeptualisierung des Kinos als Rahmen und Fenster vorgestellt werden: Rudolf Arnheim als Formalist und Sergej Eisenstein als Konstruktivist, die den Rahmen und die Konstruiertheit der filmischen Welt hervorheben, sowie André Bazin, der gemeinhin als Realist gilt, weil er die Transparenz der kinematografischen Darstellung ins Zentrum seiner Theorie rückt.

Rudolf Arnheim entwickelte seine Theorie als Filmkritiker für das Organ der undogmatischen und überparteilichen Linken in der Weimarer Republik, Die Weltbühne. Nach einer Promotion in Psychologie war der noch nicht einmal Fünfundzwanzigjährige zum verantwortlichen Filmredakteur der angesehenen Zeitung geworden. Zwischen Tageskritik und Gestalttheorie – denn dieser Linie der Psychologie hing Arnheim, der im Juni 2007 im Alter von 102 Jahren starb, zeitlebens an – entwickelte er in seinem Hauptwerk zur Filmtheorie, das 1932 unter dem Titel Film als Kunst erschien15, aus den »elementaren Materialeigenschaften des Filmbildes« (24) systematisch die Differenzen, die zwischen »Weltbild und Filmbild« bestehen, also zwischen der alltäglichen Wahrnehmung und der Art und Weise, wie der Film sich dem Zuschauer darbietet. Die Oszillation zwischen Realitätseindruck und Abstand zur Alltagswahrnehmung ist für Arnheim ein wesentliches Charakteristikum des Films: »Filmbilder sind zugleich flächig und räumlich.« (27) Arnheims Ergebnis lautet, auf einen Nenner gebracht, dass der Film eben nicht die Wirklichkeit abbildet oder imitiert, sondern dass er eine ganz eigene Welt und Wirklichkeit erzeugt:

»Der Film also bietet […] eine partielle Illusion. Er vermittelt bis zu einem gewissen Grade den Eindruck wirklichen Lebens […]. Andrerseits aber ist er so stark bildmäßig, wie die Bühne es nie sein kann. Durch den Wegfall der bunten Farben, des stereoskopisch zwingenden Raumeindrucks, durch die scharfe Abgrenzung des Bildrahmens etc. ist der Film seiner Naturhaftigkeit aufs glücklichste entkleidet. Er ist immer zugleich Schauplatz einer ›realen‹ Handlung und flache Ansichtskarte.« (38f.)

Die psychisch-phänomenale Fähigkeit des Menschen, Formen zu vervollständigen oder Muster zu bilden, also aus äußerer Sinneswahrnehmung eine innere Organisation im Sinne der Gestalttheorie zu schaffen, bietet die Voraussetzung für die Vervollständigung einer derart »partiellen Illusion«. Es ist die menschliche Fähigkeit, eine Gestalt zu bilden (also eine Reihe von einzelnen sinnlich wahrgenommenen Eindrücken zu einem Ganzen zusammenzufassen, das mehr als die Summe seiner Teile ist), durch die wir nach Arnheim den Film (als Kunst) erst hervorbringen.

Mit dieser Position lässt sich Arnheim dem Mainstream jener Theoretiker der 1920er und 1930er Jahre zuordnen, der die Spezifik