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Thomas Koehler & Konstantin Zorn

Lambachs letzter Fall

Thriller

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Koehler, Thomas & Zorn, Konstantin: Lambachs letzter Fall.
Thriller. Hamburg, edition krimi 2020

2., Auflage 2020

E-Book ISBN 978-3-946734-75-8

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ISBN 978-3-946734-74-1

Lektorat: Dr. Willi Hetze

Korrektorat: Katharina Salomo

Umschlaggestaltung: © Jörg Hausmann, heizfrosch Werbung Dresden; überarbeitet von Annelie Lamers, Hamburg

Umschlagmotiv: © Jörg Hausmann, heizfrosch Werbung Dresden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die edition krimi ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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© edition krimi, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.edition-krimi.de

Für Meret, Ronja & Leonie

Inhalt

PROLOG

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

Danksagung

PROLOG

GUT APPENRODE,
31. OKTOBER 1998

Über dem gesamten Gelände lag eine Mischung aus dem bissigen Rauch verbrannter Holzbalken und dem stickigen Geruch nasser Asche. Die Feuerwehr hatte zwei Stunden gebraucht, um die Tür zu öffnen. Von Stetten war der erste Kriminalbeamte vor Ort. Er ließ sich ein Atemschutzgerät und eine Taschenlampe geben, bevor er in den schweren Lederstiefeln der Feuerwehr über die Außentreppe in den Keller des abgebrannten Gutshofes stapfte. Unten erwartete ihn ein Feuerwehrmann, der bis zu den Knöcheln im Löschwasser der vergangenen Nacht stand. Er wies ihm den Weg durch das rußgeschwärzte Labyrinth. Nur das leise Plätschern seiner Schritte und das rhythmische Fauchen des Druckluftgeräts begleiteten seinen Weg durch den verwinkelten Keller.

Am Ende des Ganges warteten zwei weitere Feuerwehrmänner. Gemeinsam zogen sie die schwere Tür gerade so weit auf, dass ein Mann hindurchpasste. Beton bröckelte aus dem massiven Stahlrahmen. Mit dem unsäglichen Lärm, der aus dem Raum kam, konnte von Stetten in dieser Situation nichts anfangen. Er schaute die Männer hinter sich an, die nur mit den Schultern zuckten.

„Ich gehe erst mal alleine rein“, sagte er und stieg über einen kleinen Mauerabsatz durch die Tür. Die Druckluftflasche auf seinem Rücken und die Maske vor seinem Gesicht beengten ihn. Die Gläser beschlugen. Seine Ohren gewöhnten sich an die unerwartete Geräuschkulisse und aus dem quälenden Lärm wurde klassische Musik. Eine Opernsängerin sang eine Arie.

Im Schein seiner Taschenlampe entdeckte er eine Musikanlage, deren Stecker er kurzerhand zog. Was an Geräuschen blieb, war das sonore Brummen eines Notstromaggregats. Auf Knopfdruck verstummte auch dieses.

Stille. Nur das Geräusch seines Atmens erfüllte den Raum. Von Stetten suchte im Lichtkegel seiner Lampe die Umgebung nach weiteren Besonderheiten ab. Vergeblich. Eigentlich hatte er gelernt, sich in solchen Situationen lautstark bemerkbar zu machen, doch etwas schnürte ihm die Kehle zu. Sein Herz pumpte mit aller Kraft Blut in den Kopf. Schweiß lief ihm am Rand der Maske über das Gesicht und tropfte vom Kinn. Er hielt den Atem an und lauschte. Rechts von sich entdeckte er einen Streifenvorhang aus trübem PVC. Instinktiv griff er nach seiner Waffe, entsicherte sie und teilte mit ihr den Vorhang. Langsam ließ von Stetten den Schein seiner Taschenlampe durch den Raum wandern. Fliesen bis unter die Decke an allen vier Wänden. Links eine Gefriertruhe, daneben ein Edelstahltisch. Die Fliesen warfen das Licht seiner Lampe nur spärlich zurück. In der Mitte machte er einen Schatten aus, der von der Decke hing.

Diese verdammte Maske! Er konnte die Luft nicht mehr anhalten, musste atmen, schneller als ihm lieb war. Die Gläser beschlugen nun stärker. Was war das in der Mitte des Raums? Hing da eine Schweinehälfte? Hinter einer Panzertür? Mit Musik?

Von Stetten wurde schwindelig, seine Atmung noch hektischer.

Ruhig! Ganz ruhig! Er hatte die Maske nur für den Fall bekommen, dass in diesem Raum noch etwas schwelte oder irgendetwas Giftiges lagern würde. Ruhig! Nimm die Maske ab!

Mit der Waffe in der Hand zog er sich die Maske herunter. Der Schweiß brannte in seinen Augen. Er wollte tief durchatmen, doch sein Körper weigerte sich. Ein widerwärtiger Gestank schlug ihm entgegen. Sofort drückte er sich die Maske wieder aufs Gesicht. Er musste würgen. Was – zum Teufel …

Er nahm einen tiefen Zug aus der Druckluftflasche, hielt den Atem an und nahm die Maske ab. Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß aus den Augen. Da hing tatsächlich eine Schweinehälfte in einem Netz von der Decke. Das Netz schnürte sich tief ins Fleisch. Die Haut war übersät mit eitrigen Wunden.

Wieder drückte er sich die Maske aufs Gesicht, nahm zwei tiefe Züge und hielt die Luft an. Langsam ging er vorwärts.

Für ein Schwein war dieser Fleischklumpen zu klein. Das Netz erschwerte von Stetten die Bestimmung zusätzlich. Einen Schritt näher. Und noch einen. Dann erkannte er ihn: den menschlichen Kopf.

Großer Gott! Wieder presste er sich die Maske aufs Gesicht und nahm fünf, sechs tiefe Züge. Unzählige Gedanken tobten ihm durchs Hirn. Er begann zu zittern und musste sich zwingen, die Maske abzunehmen und hinzuschauen. Ein Penis und ein praller, schwarzer Hodensack hingen aus dem Netz heraus. Ein Mann.

Scheiße! Scheiße! Scheiße! Da sind keine Arme und keine Beine dran! Luft!

Gierig saugte er die Luft aus der Stahlflasche und beobachtete durch die schmierigen Gläser den verstümmelten Kadaver, bis er glaubte, eine Bewegung des Netzes wahrzunehmen. War er dagegengestoßen? Es war ein leichtes Schwingen, kaum wahrnehmbar. Vielleicht ein Luftzug, als wir die Tür geöffnet haben – oder sieht das durch die Maske nur so aus?

Wieder ein paar tiefe Atemzüge. Von Stetten zog die Maske herunter und starrte das an, was von dem Mann im Netz übrig geblieben war. Vorsichtig tippte er mit dem Lauf seiner Waffe durch die Netzmaschen an den Rumpf – und sofort begann der lebende Überrest des Mannes zu schreien. Von Stetten spürte eine warme Flüssigkeit im Gesicht. Beinahe hätte er geschossen. Reflexartig atmete er ein und schmeckte die Mischung aus Verwesung, Eiter und Fäkalien auf der Zunge. Der Schein seiner Taschenlampe fing eine augenlose Fratze ein. Der markerschütternde Schrei dieser Kreatur wandelte sich in unerträgliches Kreischen.

Von Stetten war unfähig, sich zu rühren. Er stand einfach nur da, den Finger am Abzug seiner Waffe.

Kräftige Hände packten ihn und zerrten ihn aus dem Keller an die frische Luft. Doch zu spät: Dieser Anblick und das Schreien hatten sich bereits in sein Hirn eingebrannt.

Erschöpft sank er an einem Löschfahrzeug zusammen und ließ die Taschenlampe und die Waffe neben sich ins Gras gleiten.

GÖTTINGEN,
3. DEZEMBER 2001

Vorsichtig steuerte die junge Frau die schwarze Limousine zwischen den parkenden Autos hindurch und bremste am Ende des Parkplatzes. „Du bleibst im Auto, Franziska! Konsbruch braucht dich nicht zu sehen. Es wird nicht lange dauern.“

Franziska Parde nickte.

Kreisler nahm seinen Mantel vom Rücksitz des Daimlers und ging in Richtung Haupthaus. Die efeubewachsenen Kalksandsteinmauern der Gebäude warfen Schatten auf den Weg und Kreisler musste aufpassen, mit seinen Ledersohlen nicht auf den feuchten, teils überfrorenen Pflastersteinen auszurutschen. An einem Hinweisschild blieb er stehen und las: „Forensische Psychiatrie/Hochsicherheitsbereich“. Kreisler schaute hinüber zu dem von einer etwa sechs Meter hohen Mauer umschlossenen Sicherheitstrakt. Hinter einigen der vergitterten Fenster nahm er schemenhaft Personen wahr. Dann setzte er seinen Weg fort. Schon von Weitem sah er Johann Konsbruch unter dem Vordach des Eingangs stehen.

„Wartest du schon lange?“

„Zehn Minuten“, antwortete Konsbruch und rieb sich die Hände. „Verdammt kalt heute. Dieses Winterwetter geht einem richtig in die Knochen.“

Kreisler nickte. „Du weißt, wo er liegt?“

Konsbruch deutete auf das alte Gebäude jenseits einer Kapelle.

„Na dann los“, sagte Kreisler und ging voran.

Die beiden durchquerten den Park und betraten den Kreuzgang, als Kreisler stehen blieb, sein Zigarettenetui aus der Manteltasche zog und es Konsbruch entgegenhielt. Dieser schüttelte den Kopf.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Kreisler, der Konsbruchs Nervosität bemerkt hatte.

Konsbruch zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete.

„Was meinst du, Gerhard, ob er eine Gefahr darstellt?“

Kreisler schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, entzündete sie, nahm einen tiefen Zug und sah Konsbruch an. „Sonst wäre er nicht hier. Alles Weitere wird sich ergeben.“

Konsbruch schaute nachdenklich, dann nickte er Kreisler wortlos zu.

„Alle Indizien deuten darauf hin, dass er Riedmann auf dem Gewissen hat.“

„Wenn du meinst …“, erwiderte Konsbruch.

„Mein Gott, Johann, jetzt hör endlich auf! Die Ballistiker sind sich sicher und die Beweise sind erdrückend.“

Kreisler machte eine Pause und schaute Konsbruch in die Augen. „Johann, nun denk dich da mal nicht so rein! Es ist für alles gesorgt; es wird alles seinen Lauf nehmen“, sagte er und schnipste seine Zigarette in die Hecke jenseits des Weges.

„Wir sollten jetzt reingehen. Verhaaren wartet sicher schon.“

1. Kapitel

DREI JAHRE ZUVOR

HAMBURG,
31. OKTOBER 1998

Der Querverkehr fuhr los.

„Was für eine blöde Sache!“, murmelte Lambach.

Er hatte an der Kreuzung angehalten, um sich zu orientieren. Die Grindelallee kannte er. Überall mehrstöckige Wohnblöcke aus den verschiedenen Epochen. Bäckereien, Imbisse, Blumengeschäfte und Kioske. Nichts, woran man sich wirklich orientieren konnte. Jeder Block schien ein eigenes kleines Dorf zu sein.

Ein älterer Herr kam aus einem Kiosk, griff in seinen verschlissenen Stoffbeutel und öffnete eine kleine Bierflasche mit dem Feuerzeug. Hastig trank er ein paar Schlucke. Den Kronkorken warf er nicht weg, sondern steckte ihn in die Hosentasche.

Die Grünphase der Ampelanlage hatte Lambach verpasst. Er stand nun als Linksabbieger halb auf der Kreuzung und blockierte die Busspur. Die Fahrer lenkten kopfschüttelnd die Busse um ihn herum. Fahrgäste lachten oder zeigten mit dem Finger auf ihn. Er seufzte und fokussierte seinen Hintermann im Rückspiegel, um dessen Anfahrt abzupassen.

„Das gibt’s doch nicht!“, sagte Lambach laut zu sich selbst, zog die Stirn kraus und drehte sich umständlich um. Er meinte … ja, wen eigentlich? … erkannt zu haben. Er hatte das Gesicht vor sich, die Situation: Der Mann saß mit versteinerter Miene auf einem Sofa neben seiner Frau.

Es hupte. Der Mann im Wagen hinter ihm gab ihm ein Zeichen. Lambach machte eine dankende Handbewegung, nickte höflich und fuhr los. Er war sich sicher, dass er den Mann kannte. Nur woher?

GÖTTINGEN,
2. NOVEMBER 1998

Als Lambach zwei Tage später sein Büro betrat, trank er wie gewöhnlich einen Kaffee und überflog die Lokalnachrichten im Tageblatt. Bis auf einen abgebrannten Gutshof in der Nähe von Göttingen gab es nichts Nennenswertes. Die Polizei schloss Brandstiftung offensichtlich aus.

Lambach schaute von der Zeitung auf und blickte sich um. Nichts hatte sich verändert; nicht in den letzten Wochen, nicht in den letzten Jahren. Von seinen achtundfünfzig Lebensjahren hatte Richard Lambach knapp zweiunddreißig im Polizeidienst verbracht, davon einundzwanzig Jahre bei der Kriminalpolizei in Göttingen. Im Frühjahr 1992 hatte sich der damalige Präsidiumsleiter Heinrich Coordes nach Hamburg beworben und Lambach hatte gehofft, in seine Fußstapfen treten zu können. Zu seiner Enttäuschung wurde jedoch nicht er, sondern Johann Konsbruch zum Nachfolger ernannt. Lambach leitete seither die Ermittlungen des 1. Kommissariats.

Ihm wurde eng bei diesem Gedanken. Er stand von seinem Schreibtisch auf und öffnete das Fenster. Die kalte Morgenluft drang ins Zimmer. Auf den Ästen der alten Kastanie im Innenhof des Präsidiums lag Raureif.

„Guten Morgen, Lambach.“

Lambach fuhr herum. In der Tür stand Johann Konsbruch. „Darf ich reinkommen?“

„Nimm Platz.“ Lambach deutete auf den Stuhl gegenüber.

„Wie war der Urlaub? Hast du dich erholt?“

„Ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht.“

„Und?“, fragte Konsbruch und lehnte sich vor.

„Ich werde meinen Schreibtisch räumen“, antwortete Lambach.

Konsbruchs Gesicht zeigte keine Regung.

„Langsam! Ich habe dich lediglich gebeten, über den vorzeitigen Ruhestand nachzudenken. Du sollst ja nicht schon heute mit einem Pappkarton unter dem Arm hier rausspazieren. Gern lasse ich dich sowieso nicht gehen. Es wäre nur für deine Gesundheit das Beste. Du schienst mir in letzter Zeit seelisch angeschlagen zu sein.“

„Seelisch angeschlagen? Soll das heißen, ich hätte sie nicht mehr alle?“

Konsbruch holte tief Luft, lehnte sich im Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander.

„Ich meinte, dass du ausgebrannt wirkst. Richard, es ist dir nicht zu verdenken. Du bist ein guter Polizist, hast dir nie etwas zuschulden kommen lassen.“

„Bis auf die beiden Toten in der Tankstelle“, unterbrach Lambach seinen Vorgesetzten.

„Du hättest es nicht verhindern können.“

„Jaja, ich weiß. Das hätte jedem passieren können, ich habe keine Schuld und so weiter. Ich kann es nicht mehr hören! Ich fühle mich nun mal schuldig. Wäre mir der Dreckskerl aufgefallen, dann wäre ich noch im Verkaufsraum geblieben und hätte sofort einschreiten können. Dann hätte es keinen Überfall, kein erschossenes Mädchen und keinen getöteten Vater gegeben.“

„Was hättest du denn machen wollen ohne Waffe? Dich auch erschießen lassen? Womöglich hätte es dann noch mehr Tote gegeben, vielleicht noch die Kassiererin oder die Mutter des Mädchens. Richard, es war nicht zu verhindern! Dass es dir nahe geht, zeichnet dich aus, aber es ist nicht gut für deine Arbeit. Und das fällt nicht nur mir auf.“

„Ach ja, wem denn noch?“

„Entscheidend ist doch, du hast selbst eingesehen, dass dir das Ganze hier zu schaffen macht. Außerdem hast du dir nach all den Jahren ein bisschen Ruhe verdient. Hattest du nicht erzählt, du wollest mit einem Freund auf einem Hausboot durch Frankreich schippern? Jetzt ist die Zeit gekommen. Wer weiß, wie lange du das noch kannst. Sieh es als Chance. Als Chance, die nicht jeder bekommt.“

„Wenn ich gehe, dann nicht, weil ich psychisch labil bin oder so was.“

Lambach schloss das Fenster.

„Wo ist von Stetten? Sein Wagen stand nicht auf dem Parkplatz. Er ist sonst immer vor mir hier.“

„Nun ja, ich mache es kurz: Wir haben nach einem Feuer auf einem alten Gutshof eine männliche Brandleiche gefunden. Nach bisherigem Wissensstand handelt es sich um den Besitzer. Die Leiche befindet sich derzeit in der Rechtsmedizin. Wir gehen von einem Unfall oder einem technischen Defekt aus. Brandbeschleuniger waren laut Spurensicherung wohl nicht im Spiel, darum schließen wir vorerst Brandstiftung aus. Das Opfer wurde allem Anschein nach im Schlaf von den Flammen überrascht. Bolz ist an der Sache dran. Bei der anschließenden Durchsuchung des Anwesens fand von Stetten in einem Kellerverlies einen total verstümmelten Männerkörper. Er hing in einem Netz an der Kellerdecke. Der Mann hatte weder Arme noch Beine; alle Extremitäten waren fachmännisch vom Rumpf entfernt worden.“

Konsbruch zog hörbar die Luft ein, bevor er weitersprach.

„Allerdings lebte er noch, der arme Teufel. Er wurde auf die Intensivstation des Uniklinikums gebracht. Von Stetten musste nach seinem makabren Fund von Broda und Hansch nach Hause gefahren werden. Natürlich nicht, bevor sich der Polizeipsychologische Dienst um ihn gekümmert hat. Eigentlich sollte er die Ermittlungen in deiner Abwesenheit leiten. Aber wie du dir vorstellen kannst, ist er zurzeit nicht dienstfähig und fällt bis auf Weiteres aus. Ich will den Fall Steiger übergeben.“

„Steiger? Das ist nicht dein Ernst! Steiger hat noch nie die Leitung einer Ermittlungsgruppe übernommen. Dazu ist er nicht fähig. Das kannst du nicht machen.“

Lambach war außer sich.

„Auch die jüngeren Kollegen müssen mal ihre Chance bekommen“, entgegnete Konsbruch.

Lambach schaute aus dem Fenster. Was ist aus dem Polizeidienst geworden, fragte er sich. Es ging nur noch darum, einen Fall irgendwie abzuschließen.

Inzwischen war Konsbruch aufgestanden und ging zur Tür. „Ach, Lambach, eine Sache noch …“ Er ließ seine Stimme betont beiläufig klingen. „Deine Ex-Frau wäre letzten Freitag beinahe überfahren worden. Sie hatte Glück, ihr ist fast nichts passiert.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, verließ Konsbruch das Zimmer.

„Beinahe überfahren?“

Hastig nahm Lambach seine Jacke von der Stuhllehne.

2. Kapitel

Um Viertel nach zehn erreichte Lambach das Gelände der Rechtsmedizin im Windausweg. Da der Pförtner seinen Wagen kannte, wurde er durchgewunken. Auf dem Parkplatz angekommen, saß er noch etwas in seinem Volvo und dachte an die frühen Tage seiner Polizeikarriere, daran, wie er gelegentlich unter einem Vorwand in der Rechtsmedizin anrief, um Carolas Stimme zu hören und eventuell eine Verabredung zu arrangieren. Lange hatte es gedauert, bis sich die beiden näherkamen. Dann, während einer gemeinsamen Ermittlung, hatte es auch bei ihr gefunkt. Die Erinnerung an die darauffolgenden gemeinsamen Jahre machte ihn schwermütig.

Um fünf vor halb elf traf er Carola in dem kleinen Frühstücksraum im Untergeschoss des Instituts.

„Ich frage mich manchmal, wie du es hier aushältst. Selbst in eurem Frühstücksraum bekomme ich immer ein beklemmendes Gefühl.“

„Man gewöhnt sich an alles“, antwortete Carola.

„Konsbruch hat mir von deinem Unfall erzählt.“

„Ich hatte Glück im Unglück.“

„Was ist denn passiert?“

„Ich war mit dem Rad auf dem Weg zur Arbeit und wollte gerade die Kiesseestraße überqueren, als meine Tasche hinten vom Gepäckträger rutschte. Ich habe gebremst, um sie wieder aufzuheben, als ein silberner Wagen mit hoher Geschwindigkeit mein Vorderrad gestreift hat. Das hat mich umgeworfen, aber mir ist zum Glück nicht viel passiert.“

Erst jetzt bemerkte Lambach ihr leichtes Humpeln.

„Was ist denn mit deinem Fuß?“

Carola streckte ihm ihr Bein entgegen. „Knöchel verstaucht. Ist aber schon wieder am Abklingen. Wäre mir die Tasche nicht runtergefallen, dann hätte er mich voll erwischt. Der Mistkerl hat nicht mal angehalten.“

„Du hast dir doch hoffentlich das Kennzeichen gemerkt?“

„Ich lag mit weichen Knien da und war froh, das Bodenblech nicht von unten gesehen zu haben. Was denkst du dir denn?“

„Hätte ja sein können“, beschwichtigte Lambach.

„Nein, hätte es nicht!“

„Hattest du den Eindruck, der Fahrer ist mit Absicht auf dich zugerast?“

„Blödsinn! Der hat mich einfach übersehen. Es war ja noch dämmerig und ich hatte den dunklen Mantel an, den du mir damals zu Weihnachten geschenkt hast. Aber anhalten und sich erkundigen, ob alles okay ist, das hätte er schon müssen.“

„Was für ein Wagen war es denn?“

„Ein silberner, das sagte ich ja schon. Und jetzt hör auf!“

„Hauptsache, dir ist nichts passiert.“

„Ich habe mir ein wenig das Bein geprellt und den Knöchel verknackst, mehr nicht, Richard. Ich konnte sogar noch arbeiten am Freitag.“

Carola sah Lambach in die Augen und neigte ihren Kopf zur Seite.

„Sag mal, Richard, das ist doch nicht der einzige Grund, weshalb du hier bist.“

„Ich soll dich von Antonia grüßen. Ich habe sie kurz auf dem Rückweg von Dänemark besucht. Sie bat mich, dir deine Sonnenbrille zu geben.“

Lambach griff in die Innentasche seiner Jacke und zog ein Etui hervor.

„Wie lange warst du bei ihr?“

„Wir waren gemeinsam essen und haben uns unterhalten.“

„Und? Was machte sie für einen Eindruck?“

„Sie wirkte erwachsen und selbstbewusst. Das ist nicht mehr unsere Kleine.“

„Ja, so ist das halt. Sie hatte in den vergangenen Wochen viel um die Ohren.“

„Ach ja? Davon hat sie mir gar nichts erzählt.“

„Dafür wird sie ihre Gründe haben, mach dir keine Sorgen.“

„Carola, ich muss jetzt wieder los. War schön, dich zu sehen.“

„Ja, ich muss auch wieder an die Arbeit. Pass auf dich auf, Richard.“

Sie richtete seinen Hemdkragen. Lambach hätte Carola am liebsten kurz in den Arm genommen, verkniff sich aber jegliche Berührung.

„Ach, Carola, eine Frage habe ich noch.“

Sie zog ihre rechte Augenbraue hoch und spitzte die Lippen.

Lambach kannte diesen Blick.

„Am Freitag habt ihr eine Brandleiche reinbekommen. Kannst du mir sagen, wer die auf dem Tisch hatte?“

Carola schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich wusste es, Richard. Ich kenne dich viel zu gut. Wie konnte ich nur annehmen, dass hinter deinem Besuch nichts Dienstliches steckt?“

Lambach schaute zu Boden.

„Carola, es ist wichtig.“

„Wenn du es genau wissen willst: Ich selbst habe die Sektion durchgeführt. Mein Kollege Hagen Strüwer hat assistiert. Der Obduktionsbericht dürfte deinem Chef vorliegen. Noch weitere Fragen?“

„Nein, das war’s.“ Er sah sich hilflos um. „Was soll ich denn machen? Soll ich privat rausgehen und gleich noch mal dienstlich reinkommen?“

Carola winkte ab.

„Lass gut sein. Ist schon okay.“

Sie verschwand durch eine Schwingtür. Lambach verspürte den Impuls, die Kaffeetassen vom Tisch zu schlagen, riss sich jedoch zusammen. Er musste an die frische Luft.

Kurze Zeit später befand er sich schon auf dem Weg zu seinem Kollegen von Stetten. Er kannte ihn als einen aufstrebenden und eher zur Sachlichkeit neigenden Polizisten. Aber da gab es diesen Mann im Netz, dessen Entdeckung von Stetten so zugesetzt hatte und über den niemand richtig redete.

Lambach sah schon beim Einbiegen in die Bramwaldstraße Madeleine, die langjährige Freundin von Stettens, die den Wocheneinkauf aus ihrem Cabrio lud. Sie leitete die Filiale einer bekannten Boutiquenkette in der Göttinger Innenstadt. Lambach hasste es, Menschen in Schubladen zu stecken, auch wenn es das Leben oft ungemein vereinfachte, aber Madeleine war eine Person, die ihn förmlich dazu zwang. Wenn Lambach einen Abend bei von Stetten verbrachte, überlegte er danach oft, was sein Kollege an Madeleine fand. Sie hatte etwas unbeschreiblich Beliebiges. Ihren Haushalt führte sie penibel, aber das Haus wirkte so lieblos und unpersönlich eingerichtet wie eine Präsentationsbox bei IKEA. Trotz häufiger Besuche bei von Stetten kam es in der Vergangenheit nie zu einem längeren Gespräch mit Madeleine. Wahrscheinlich war es gerade ihre Beliebigkeit, die es von Stetten ermöglichte, mit ihr zu leben. Sie war einfach da und hielt den Alltag am Laufen.

Lambach parkte hinter Madeleines Golf am Straßenrand und als sie ihn erblickte, entdeckte er das erste Mal eine echte Emotion in ihrem Gesicht. Es war Wut, beinahe schon Verachtung, die Lambach entgegenschlug. Sie trug den Klappkorb mit Lebensmitteln ins Haus und stieß die Tür mit dem Fuß hinter sich zu. Der Schlüssel, der noch außen im Schloss steckte, schlug gegen den Alurahmen der Haustür.

Lambach griff sich die beiden Sechserträger Mineralwasser, die im Fußraum des Golfs standen, und ging zum Eingang. Die Haustür wurde aufgerissen, bevor er sie erreichte.

„Lass die Scheißflaschen da stehen! Das schaffen wir auch alleine!“, schrie sie ihn an, zog den Schlüssel von der Haustür ab und schlug die Tür zu.

Er setzte sich auf die kleine wacklige Holzbank vor dem Haus. Es widerstrebte ihm, jetzt einfach zu gehen, aber was sollte er sagen, wenn er von Stetten gegenüberstand? Daran, dass er zu Hause war, bestand kein Zweifel. Sein Mercedes Coupé hatte Lambach schon von Weitem entdeckt.

Lambach stand auf und klingelte.

Nichts tat sich.

Er klingelte ein zweites Mal. „Max, mach auf! Ich bin’s, Lambach.“

Er ging rückwärts vom Haus weg und versuchte dabei jemanden am Fenster zu entdecken. Ein mechanisches Geräusch setzte ein: Die Elektromotoren der Außenrollos waren in Gang gesetzt worden. Gleichzeitig machte sich in der Jackentasche Lambachs Handy bemerkbar, eine Kurznachricht. „Lasst mich in Ruhe!“

Lambach aktivierte die Tastensperre seines Handys und schloss die Tür von Madeleines Golf. Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr ins Präsidium. Wütend eilte er die Treppen hinauf und stürmte in Konsbruchs Büro.

„Kannst du nicht anklopfen, Lambach?“

„Ich war gerade bei von Stetten. Hier läuft irgendwas richtig schief. Von Stetten scheint es mehr als schlecht zu gehen, er wollte nicht mal mit mir reden, und seine Freundin war außer sich.“

Konsbruch schaute zu Boden, stand auf, ging zum Fenster und starrte auf die gegenüberliegende Hauswand.

„Der Brand in Appenrode und der Kerl in dem Netz dort sind ’ne ziemlich blöde Sache.“

„Blöde Sache? In einer Großstadt mitten auf der Kreuzung im Querverkehr zu stehen, ist eine blöde Sache. Das hier ist ja wohl deutlich mehr – und das weißt du selber, verdammt noch mal! Konsbruch, du verbietest meinen Kollegen, darüber zu reden, von Stetten ist kurz davor durchzudrehen und du erzählst mir hier was von einer blöden Sache.“

Lambach zog seine Jacke aus und warf sie über die Rückenlehne eines Stuhls.

„Weißt du was, Konsbruch?“

Lambach setzte sich ganz gemächlich auf einen anderen Stuhl.

„Ich werde den Fall übernehmen. Du hast selbst gesagt, dass ich nicht so ohne Weiteres in den Vorruhestand gehen kann, und Steiger ist der falsche Mann für einen Fall, der deutlich mehr ist als eine blöde Sache.“

Konsbruch schaute aus dem Fenster wie eingefroren. Obwohl er nur ein Hemd trug, sah man nicht einmal, dass er atmete.

Lambachs Blick schweifte durch das Zimmer, das ihm zugestanden hätte, und blieb an einem Pokal für den zweiten Platz bei den Landesmeisterschaften 1983 im Faustball hängen. Lambach maß solchen Pokalen, Medaillen und Urkunden den Stellenwert eines Trostpreises bei, den es für das Versagen im richtigen Leben gab. Da stand nun der Vizelandesmeister von 1983 im Faustball und war nicht in der Lage, eine notwendige Entscheidung zu treffen.

Lambachs Wut wuchs. „Johann?“

Konsbruch neigte den Kopf etwas zum Fenster hin, so als könne er dann besser sehen, was unten auf der Straße passierte. Am liebsten hätte Lambach den Pokal neben Konsbruch durchs Fenster geworfen, um ihn aufzurütteln. Stattdessen stand er auf und stellte sich neben ihn. Zellermann und Busse begleiteten eine ältere Dame im Nachthemd in den Haupteingang.

„Komm, Johann, wir gehen jetzt oben einen Kaffee trinken und du erzählst mir was über diese blöde Sache.“

Lambach nahm seine Jacke und ging langsam den Flur entlang zum Treppenhaus, die Treppen hoch, in die Cafeteria. Keine Schritte hinter ihm. Er setzte sich mit zwei Tassen Kaffee an einen Tisch in der Ecke. Nach einer Weile hörte er endlich Konsbruch in seinem Rücken fragen: „Hast du schon Zucker drin?“

Sein Vorgesetzter setzte sich zu ihm.

„Also gut … In Appenrode ist dieser Hof abgebrannt. Eine männliche Leiche im Schlafzimmer. Furchtbar, aber für uns nichts Besonderes. Doch dann entdeckte von Stetten diesen verborgenen Kellerraum. Feuerfest. Schalldicht und gefliest. Und schließlich den verstümmelten Torso in einem Netz unter der Decke.“

Konsbruch hob seine Tasse, schüttelte den Kopf und stellte sie zurück auf die Untertasse, ohne getrunken zu haben.

„Von Stetten war sicher, dass der Kerl tot war. Keiner wäre auf einen anderen Gedanken gekommen. Doch plötzlich hat er losgeschrien wie am Spieß. Das muss für von Stetten grauenvoll gewesen sein. Er ist ein harter Hund, aber das hat ihn mitgenommen. Der Polizeipsychologische Dienst hat gleich draufgeschaut. Hansch hat ihn nach Hause gefahren. Ich glaube, von Stetten braucht jetzt einfach ein bisschen Ruhe und Abstand.“

Konsbruch nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

„Wer ist der Typ in dem Netz?“, fragte Lambach.

Konsbruch schüttelte wieder den Kopf.

„Willst du nicht lieber Steiger den Fall überlassen?“

„Hältst du mich für blöd? Ich sitze nicht mit dir hier, weil ich will, dass Steiger das macht.“

„Gut“, antwortete Konsbruch. „Dann übernimm den verfluchten Fall. Aber mach mir hinterher keine Vorwürfe.“

Er sah Lambach mit versteinerter Miene an.

„Der Typ im Netz ist Udo Mahnke.“

Lambach wurde schwindelig. Sein Blickfeld verengte sich. Er griff nach seiner Tasse und zwang sich, etwas zu trinken. Wie aus der Ferne hörte er die Namen Opinelli, Wieseler und Mortag.

„Bist du sicher, Konsbruch? Das ist mein Mahnke?“

Lambach kam wieder zu sich. Erinnerungen stiegen auf, wurden klarer und gruppierten sich um diesen Namen.

Die junge Maria Opinelli will 1991 Urlaub bei Verwandten in Italien machen. Sie möchte mit dem Taxi zum Bahnhof, mit dem ICE nach Hamburg zum Flughafen fahren. Sie schafft es nur bis ins Taxi. Udo Mahnke ist der Taxifahrer. Er lässt nach kurzer Fahrt seine Bekannten und Mittäter Gerd Wieseler und Carsten Mortag zusteigen. Letzterer schlägt die Frau brutal bewusstlos. Sie verschleppen sie in Mahnkes Kellerwohnung und ketten sie an Metallringe, die extra zu diesem Zweck in die Wand eingelassen worden waren. Maria Opinelli wird fast eine Woche lang von Mahnke und Wieseler schwer misshandelt und missbraucht. Sie stirbt am sechsten Tag an Erschöpfung und inneren Verletzungen. Ihr Unterleib war regelrecht zerrissen.

„Du siehst blass aus. Bist du sicher, dass du das machen willst, Lambach?“

„Ja. Wenn das wirklich Mahnke ist, dann schließe ich den Fall ab und nicht Steiger oder irgendein anderer. Ich bringe ihn vor Gericht. Du weißt selber, wie lange ich den Drecksack gesucht habe, und jetzt …“ Lambach rieb sich mit beiden Händen über den Kopf. „Jetzt hängt der hier in einem kleinen Kaff bei uns rum. Wer soll denn das verstehen?“

Er lachte bitter.

„Schließ den Fall ab. Jetzt haben wir ihn – und so wie der aussieht, tut der auch nie wieder jemandem etwas an. Mach erst mal Feierabend für heute.“

Auf dem Weg nach unten ging Lambach kurz zu Traudel, seiner Sekretärin. „Ich möchte morgen früh gleich die Opinelli-Akten auf meinem Schreibtisch haben. Regeln Sie das?“

„Alle?“, fragte Traudel.

„Ja, alle.“

MONTAG, 13. AUGUST 2001

Obwohl er nur kurz geschlafen hatte, fühlte er sich nun besser. Dennoch stand er nur mit Mühe von seinem Bett auf und ging durch den kleinen Raum hinüber zum Tisch. Alles lag noch genau so da, wie er es verlassen hatte. Aus der Thermoskanne goss er Pfefferminztee in den Becher, dann machte er sich wieder an die Arbeit. Viel Zeit würde ihm nicht bleiben. Vielleicht fünf oder sechs Stunden.

Er arbeitete so konzentriert, wie es unter diesen Umständen möglich war. Als es zu dämmern begann und die ersten Stimmen zu hören waren, hatte er sein nächtliches Werk beendet. Müde hatte er alles wieder verstaut. Niemand sollte davon wissen.

3. Kapitel

Die Tür der Intensivstation öffnete sich mit einem pneumatischen Zischen. Über den langen Flur eilte eine Frau Mitte dreißig in blauer OP-Kleidung auf ihn zu. Das Namensschild wies sie als Schwester Christina aus.

„Guten Morgen. Hauptkommissar Lambach, Kripo Göttingen. Ich suche Herrn Udo Mahnke. Er soll hier bei Ihnen auf der Station sein.“

„Kann ich Ihren Dienstausweis mal sehen? Wir dürfen niemanden zu Herrn Mahnke lassen.“

Lambach zog sein Portemonnaie aus der Innentasche seiner Jacke und öffnete es mit einer Hand. Der Ausweis klappte heraus. Die Schwester musterte ihn mit kritischem Blick.

„Ja, Herr Lambach, dann kommen Sie bitte mit. Ich werde Doktor Levi anpiepen.“

Die Schwester ging voraus und wies ihm einen Plastikstuhl zu, bevor sie mit schnellen Schritten über den Flur verschwand.

Lambachs Blick suchte auf dem gelben Linoleumboden nach Regelmäßigkeiten, nach einem Muster. Wenige Meter von ihm entfernt sollte der Mann liegen, der ihn so viele Nächte wach gehalten hatte, der vielleicht auch seine Ehe auf dem Gewissen hatte. Zum Teil zumindest … Wer hatte Mahnke in dieses Verlies gebracht? Wie lange war er dort gefangen gewesen?

Lambach betrachtete sein verschwommenes Spiegelbild auf dem glänzenden gelben Boden.

Und wer war überhaupt der Tote in dem Haus? Hatte der die Amputationen bei Mahnke durchgeführt?

Vermutlich.

Das plötzlich einsetzende Zischen der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Quietschende, schnelle Schritte kamen näher. Ein etwa fünfzigjähriger Mann steuerte auf ihn zu. Weißer Kittel über grüner OP-Kleidung. Lambach stand auf, um den Arzt zu begrüßen, doch dieser sah ihn nicht einmal richtig an.

„Herr Lambach? Mein Name ist Levi. Kommen Sie bitte mit.“

Lambach hatte Mühe, den schnellen Schritten des Arztes zu folgen. In einem separaten Raum angekommen, bot ihm Doktor Levi einen Sitzplatz an.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte er in den Spiegel über dem Waschbecken, während er sich die Hände wusch und seine Zähne betrachtete, um nach Essensresten zu suchen.

Bevor Lambach etwas sagen konnte, fuhr der Arzt fort: „Ich habe mit Ihrer Dienststelle telefoniert und mir das Okay geben lassen, dass ich Sie über den Gesundheitszustand Herrn Mahnkes in Kenntnis setzen darf. Die Klinikleitung hat zugestimmt.“

Levi setzte sich auf einen Rollhocker, zog sich an seinen Schreibtisch heran und begann umgehend, Papiere zu unterzeichnen, ohne seinen Monolog zu unterbrechen.

„Ich will versuchen, mich verständlich auszudrücken. Sollte Ihnen etwas unklar erscheinen, fragen Sie bitte. Keine falsche Scheu, aber meine Zeit ist kostbar. Für Sie auch einen Kaffee?“

Nun schaute Doktor Levi Lambach das erste Mal an und wartete tatsächlich auf eine Antwort.

„Gerne. Mit Zucker, wenn’s geht.“

„Schwester Christina, bitte einen Kaffee für mich und einen für Hauptkommissar Lambach. Mit Zucker. Danke.“

Der Pieper, den Levi am Bund seiner OP-Hose trug, gab einen kurzen schrillen Laut von sich. Er griff sofort zum Telefon.

„Levi. Ja. Schon vorbereiten. Bin in fünf Minuten drüben.“

Er rollte mit seinem Hocker zu einem Wagen, in dem Patientenakten hingen, und dann mit Schwung zu Lambach, um ihm eine Mappe auf die Oberschenkel zu legen.

„Ich muss Sie warnen: Die Bilder zeigen grausame Entstellungen. Sie sehen dort Fotos eines menschlichen Körpers, die in die Fachliteratur eingehen werden.“

Lambach fühlte sich fast wie in einem Improvisationstheater und schaute gebannt und wortlos auf den Hauptdarsteller in Grün-Weiß. Die Schwester stellte zwei Plastikbecher Kaffee auf den Schreibtisch und ging ohne Text von der Bühne.

„Stört es Sie, wenn ich rauche?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, steckte sich Doktor Levi eine Zigarette an und rollte ein Stück zurück. Entschuldigend zeigte er nach oben. „Abluft!“

Er schaute auf die Uhr über der Tür.

„Herr Mahnke weist Amputationen der Arme bis in die Schultergelenke auf. Auch die unteren Extremitäten wurden komplett bis in die Gelenkpfannen amputiert.“

Lambach öffnete mit gemischten Gefühlen die graue Akte. Er war auf das Schlimmste gefasst. Doktor Levi kannte wahrscheinlich die Reihenfolge der Fotos, denn das Erste, was zu sehen war, war der Rumpf eines Männerkörpers, ohne Beine, ohne Arme, eingewickelt in ein grünes Netz.

„Herr Mahnke hing über Monate in diesem Netz, das bereits an mehreren Stellen in den Körper eingewachsen war. Und immer noch ist. Wir haben es noch nicht operativ entfernt, da die psychische Stabilisierung des Patienten oberste Priorität hat.“

Lambachs Blicke wanderten über den vernarbten Körper auf den Fotos. Die Aufnahmen erinnerten ihn an einen Rollbraten.

„Seine Augen wurden entfernt“, fuhr Doktor Levi sachlich fort. „Statt seiner Ohrmuscheln bilden narbige Fleischwülste die Eingänge in seine äußeren Gehörgänge. Anzunehmen ist, dass Herr Mahnke noch hören kann, zumindest reagiert er auf Geräusche. Ob eine kognitive Verarbeitung des Gehörten stattfindet, können wir noch nicht sagen.“

„Doktor Levi, eine Zwischenfrage.“

„Nur zu!“

„Was hat er auf diesem Foto im Mund? Sind das Würmer?“, fragte Lambach unsicher und wollte die Antwort eigentlich gar nicht wissen.

„Nein, das ist seine Zunge. Sie wurde der Länge nach in Streifen geschnitten. Er kann weder essen noch sprechen. Ernährt wurde Herr Mahnke während seiner Gefangenschaft mittels Sondenkost. Das haben wir, gezwungenermaßen, so weitergeführt.“

Die Hand, die die Zigarette hielt, zitterte. Der Überschwang war gewichen.

„Inzwischen haben wir ihn ins Koma gelegt.“

Lambach schloss langsam die Mappe, ohne einen weiteren Blick auf die folgenden Fotos zu werfen, und fragte fast flüsternd: „Wer macht denn so was? Wer kann so was und wer ist dazu imstande?“

Doktor Levi nahm noch einen tiefen Zug, dann drückte er die Zigarette aus.

„Ein Chirurg kann so etwas. Wer dazu imstande ist, kann ich nicht sagen. Gefunden wurde Herr Mahnke, wie Sie sicherlich wissen, im Keller bei unserem Doktor Sachse. Dass der Kollege in dem Haus verbrannt ist, wird ihm einiges an Unannehmlichkeiten ersparen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so etwas gemacht hat, aber es sieht fast so aus.“

Lambach hörte das Blut in seinen Ohren rauschen.

„Sie meinen den Doktor Sachse, dessen Tochter damals getötet wurde?“

„Ja. Vielleicht hat ihn das verrückt gemacht. Vielleicht wird man ja wirklich zu dem, was man hasst?“

4. Kapitel

Benommen saß Lambach in seinem alten Volvo und sortierte seine Gedanken. Er war verwirrt, versuchte sich zu erinnern. Vor Jahren hatte er in einem grausamen Kinderschändungsfall ermittelt. Ein abgängiger pädophiler Forensikpatient namens Thorsten Riedmann hatte sich an einem kleinen Mädchen vergangen und es anschließend erdrosselt. Er selbst musste damals, im Juli 1988, Ulrich und Marianne Sachse die Nachricht überbringen, dass ihre achtjährige Tochter auf dem Weg zur Schule entführt, vergewaltigt und erwürgt worden war. Ihr Körper wurde dreizehn Tage nach der Entführung an einem Baggersee in der Nähe von Göttingen gefunden. Krähen hatten sich schon an der Leiche zu schaffen gemacht. Familie Sachse wohnte damals im Ostviertel von Göttingen. Marianne Sachse, Herzchirurgin an der Uniklinik, tötete sich etwa ein halbes Jahr nach Auffinden ihrer Tochter selbst. Doktor Ulrich Sachse zog nach dem Verlust der Tochter und seiner Frau auf den einsamen Hof.

Lambach fragte sich, was Sachse mit Mahnke zu schaffen haben könnte. Hatte Mahnke etwas mit dem Tod von Sachses Tochter zu tun? Konnte der Arzt solch eine Gräueltat begangen haben?

Niemals würde er Sachses Gesicht vergessen. Es war Lambach völlig unverständlich, dass ein Mensch, der einerseits Menschenleben rettete, zeitgleich einen anderen Menschen so gequält haben sollte.

Lambach wurde Zuschauer seiner Gedanken. Er hörte sie nicht, er sah sie als Bilder, als Symbole. Eine unglaubliche Klarheit durchströmte ihn und er kniff die Augen leicht zusammen, so, als würde er auf diese Weise noch schärfer denken können. „Sachse war es nicht“, hörte er sich sagen. „Sachse war nicht in dem Haus. Sachse ist nicht in dem Haus verbrannt. Er lebt.“

Indem er diese Worte langsam und laut aussprach, wurde ihm klar, dass es Doktor Ulrich Sachse gewesen war, den er am Samstag in Hamburg im Rückspiegel gesehen hatte.

Er rief Traudel an.

„Haben Sie die Akten von dem Opinelli-Fall schon in mein Zimmer gebracht?“

„Ja, habe ich. Guten Morgen.“

„Entschuldigung. Guten Morgen. Sie haben sie, ja? Das ist gut. Dann jetzt bitte noch dringend die Akten von dem Sachse-Fall von 1988. Ich bin gleich da. Es ist wichtig.“

Lambach wurde unruhig. Er hatte das Gefühl, ganz klar zu denken, aber es fehlte ihm ein roter Faden. Wo war der Zusammenhang? Er wählte von Stettens Nummer, doch statt der Stimme seines Kollegen hörte er eine weibliche computergenerierte Ansage: „The number you have called is temporarily not available!“

Lambach schlug mit der Faust aufs Lenkrad. „Verdammter Mist! Wie soll ich das alles allein zusammenkriegen?“

Woher er die plötzliche Eingebung hatte, wusste er nicht. Er startete den Wagen und fuhr los.

Auf der Fahrt nach Rosdorf, einem Vorort von Göttingen, machte er einen Umweg über die Bramwaldstraße. Was er dort sah, stimmte ihn nachdenklich. Die Rollos waren noch immer geschlossen.

Er schrieb eine SMS.

„Lass uns reden. Ich war bei Mahnke im Krankenhaus. Lambach.“

Nichts rührte sich. Lambach war sich sicher, dass von Stetten und seine Freundin zu Hause waren. Er überlegte, ob die beiden ihn durch die schmalen Schlitze in den Rollläden beobachten würden.

Noch eine Weile saß er regungslos in seinem Volvo und starrte das Haus an. Eine ältere Dame, die sich mit ihren Einkaufstaschen abmühte, ging vorüber und nahm Lambachs Aufmerksamkeit in Anspruch. Sein Blick folgte ihr, bis sie um eine Hausecke verschwand. Dann kurbelte er die Scheibe der Fahrertür hoch, drehte den Zündschlüssel und fuhr los.

Als er auf den Rosdorfer Baggersee zusteuerte, überkam ihn ein ungutes Gefühl. Vollbeladene Laster kamen ihm entgegen und zwangen ihn, in den unebenen Randbereich des geschotterten Weges zu fahren. Grob konnte er noch den See in den Ausmaßen von damals erkennen. Durch den Kiesabbau hatten sich Größe und Form des Gewässers stark verändert. Für einen Moment befürchtete Lambach, dass die Stelle, an der damals die Leiche der kleinen Sachse entdeckt wurde, den Abbauarbeiten zum Opfer gefallen war. Es war wichtig für ihn, an Orten Stimmungen und Schwingungen aufzunehmen. Er brauchte den Bezug zu solchen Plätzen. Er verglich es immer mit trauernden Menschen, die etwas Greifbares haben mussten, um den Verlust zu verschmerzen – das letzte Betrachten des Verstorbenen oder das Wissen um den Ort, an dem der nahe Angehörige oder Freund gestorben war, ein Kleidungsstück oder ein Kuscheltier des Liebsten. Aus keinem anderen Grund gab es Friedhöfe, Pilgerstätten oder Mahnmale, da war er sich sicher. Es sind Orte, um in Kontakt zu kommen, um Kontakt zu halten. Daher suchte Lambach bedeutungsvolle Orte auch für seine Ermittlungen auf.

Schon bald erkannte er die Pappeln, zwischen denen ein Arbeiter den grausamen Fund gemacht hatte. Seinen Wagen stellte er neben den Kiesbergen ab, sodass er niemanden behinderte. Hier und da fielen kleine Steine klappernd zwischen den Stahlstreben der hohen, rostigen Förderanlage hinab.

Als er unter den Förderbändern hindurchging, verringerte Lambach das Tempo und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die Stelle zwischen den Pappeln. Die Bäume bewegten sich im Wind. Der Himmel war herbstgrau, eine keilförmige Formation von Kranichen zog lautstark über ihn hinweg. Lambach schloss die Augen. Er atmete den Wind und genoss es. Den Wind, der Hunderte oder Tausende Kilometer über die Erde gefegt war, sog er tief in seine Lungen, hielt ihn eine Weile in sich und ließ ihn wieder frei. Es hatte für ihn etwas Reinigendes. Er spürte, dass er Teil eines Ganzen war. Wind bedeutete Freiheit. Er atmete Freiheit.

Lambach erinnerte sich, wie er damals mit Annegret, einer jungen, sehr motivierten Kollegin, an diesem Ort war. Er öffnete die Augen, schaute sich um, als ob er hoffte, noch eine Spur zu entdecken. Blätter verfingen sich im hohen trockenen Gras; genau an der Stelle, an der damals der kleine zerfressene Mädchenkörper gelegen hatte. Schutzlos. Immer wenn er einen Fall hatte, bei dem eine Minderjährige Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war, fragte er sich, was wohl ein Kind in den letzten Momenten denkt. Denkt es an die Eltern? Ist es traurig? Ist es böse auf die Eltern, weil sie es alleine gelassen haben? Kann ein Kind in solch einer Situation überhaupt noch denken oder nur noch Angst und Schmerz empfinden? Wie lange hofft ein Kind, dass die Eltern es retten?

Lambachs Augen wurden feucht. Er empfand Dankbarkeit dafür, dass seine kleine Antonia unbeschadet in dieser Welt erwachsen werden durfte.

Der Wind wurde stärker. Im Norden konnte Lambach den Stadtrand von Göttingen sehen. Er dachte an den Abend im Juli 1988, an dem er mit Annegret vor der Haustür der Sachses im Nonnenstieg stand, um die traurige Nachricht zu überbringen, daran, wie er klingelte und ihm speiübel wurde. Damals war es bereits dunkel gewesen. Er erinnerte sich, wie das Licht aus dem Hausflur auf ihn fiel, als sie die Tür öffneten und Herr Sachse ihn und seine Kollegin hereinbat. Es war so ziemlich das Grausamste, was er in seiner bisherigen Laufbahn hatte tun müssen. Nichts hatte ihn bislang so mitgenommen wie das Überbringen dieser Schreckensnachricht. Er sah die verängstigten Menschen wieder vor sich, wie sie auf ihrem Sofa saßen und die schlimmste Nachricht ertragen mussten, die Eltern bekommen können. Jedes Mal, wenn er daran dachte, fühlte Lambach sich elend, fühlte sich mitschuldig, ohnmächtig, wütend und schwor sich, nicht eher zu ruhen, bis er den Täter gefasst hätte. Er sah die Gesichter der Sachses, Marianne schrie auf, schluchzte. Ulrich Sachse blieb ausdruckslos. Er starrte stumm vor sich hin. Ohne seine Frau anzusehen, nahm er sie in den Arm und drückte sie an sich.

Kein Zweifel, es war Ulrich Sachse, den er in Hamburg gesehen hatte!

Mit dem Handrücken wischte sich Lambach die Tränen aus den Augen und drehte sich zu der Stelle, wo vor Jahren die Leiche der Kleinen gelegen hatte. Mit gesenktem Kopf und ineinandergelegten Händen stand er da. Er verspürte das Bedürfnis zu beten, doch es kam ihm irgendwie albern vor.

5. Kapitel

Lambach fühlte sich nach dem Besuch am See noch mehr in seinem Entschluss bestärkt, den Fall zu lösen. Er klopfte an Konsbruchs Bürotür und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

„Lambach, was kann ich für dich tun?“

Lambach setzte sich, stand wieder auf, zog sich die Jacke aus und setzte sich erneut. Er atmete tief ein und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Die richtigen Worte waren ihm wichtiger als sonst.

„Johann, wie steht’s mit der Obduktion des Brandopfers?“

„Zahnstatus und DNA-Analyse werden wohl die Identität von Sachse bestätigen.“

„Als ich am Samstag aus Dänemark zurückgekommen bin, hatte ich mich mit meiner Tochter Antonia in Hamburg verabredet und wollte danach eigentlich zu einem Feinkostgeschäft fahren, um für meinen dänischen Freund ein Geschenk zu kaufen. Sozusagen als kleines Dankeschön für das Ferienhaus, in dem ich meinen Urlaub verbringen durfte.“

„Gut. Und was hat das mit Sachse zu tun?“

Lambach holte tief Luft.

„Sachse ist nicht das Brandopfer. Ich habe ihn am Samstag noch in Hamburg gesehen.“

Konsbruch runzelte die Stirn.

„Ach, Lambach, weißt du, was du da erzählst? Das ist doch … Das heißt ja … So ein Quatsch! Mach’s doch nicht komplizierter, als es ist. Entschuldige, aber …“

Lambach sprach mit ruhiger Stimme, langsam, Wort für Wort: „Ich habe ihn gesehen. Ich stand an einer Ampel. Hinter mir ein dunkler Geländewagen. Und Ulrich Sachse saß am Steuer. Kein Zweifel. Verstehst du? Wenn es nicht Sachse war, der dort verbrannt ist, dann war es vielleicht auch nicht Sachse, der Mahnke so zugerichtet hat.“

Konsbruch setzte sich an seinen Schreibtisch und überlegte.

„Wenn es nicht Sachse war, der dort verbrannt ist, dann läuft der Täter noch frei herum. Dann war das Feuer nur ein Ablenkungsmanöver.“

Lambach nickte und sah Konsbruch erwartungsvoll an.

„Das kann ich kaum glauben, Lambach. Du bist dir hundertprozentig sicher?“

„Johann, ich bin mir absolut sicher!“

Konsbruch rieb sich das Kinn und starrte ins Leere. Nach einer Weile atmete er tief ein. „Nun gut. Dann müssen wir ihn kriegen, bevor er untertaucht. Ich werde alles Notwendige für eine Fahndung in die Wege leiten. Wir bilden eine Sonderkommission. Und du leitest sie, die SoKo Netz.“

Konsbruch schaute Lambach entschlossen an.

„Die Obduktion läuft noch“, fuhr er fort. „Bei dem bisschen Material, das da übrig war, wird uns nur die DNA-Analyse zweifelsfrei sagen, wer in diesem Haus verbrannt ist. Aber verlier den Opinelli-Fall nicht aus den Augen! Ich möchte, dass der schnell abgeschlossen wird.“

„Ich mache mich gleich an die Arbeit.“

Lambach nahm seine Jacke und verließ Konsbruchs Zimmer.

In seinem Büro angekommen, sah er, was er Traudel zugemutet hatte. Es standen dort vier große Kartons, gefüllt mit Akten, neben seinem Schreibtisch. Einer der Kartons war beschriftet mit „Sachse/1988“ und drei der Kartons mit „Opinelli/1991“.