Für Anna, immer und immer

 

Hubertus Tigges

Starke Frauen - Hebammen auf den Nordfriesischen Inseln

 

Inhalt

Einiges zuvor

Antje Hinrichsen, Amrum

Kerstin Lauterberg, Föhr

Kirsten Rickmers, Föhr

Anke Bertram, Sylt

Heidrun Hepper, Sylt

Cornelia Bäcker, Sylt

Nachwort

Literatur

 

Starke Frauen - Hebammen auf den Nordfriesischen Inseln

Copyright 2016 Hubertus Tigges

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Einiges zuvor

 

Wenn ich am Wyker Krankenhaus vorbeigehe und zum Haupteingang schaue, entsteht immer dasselbe Bild in mir: Es ist der 30. September 2009. Knapp zwanzig Stunden sind seit der Geburt unserer Tochter im Kreißsaal vergangen. Am 29.09.2009 um 21.09 Uhr wurde sie geboren. Nun stehen wir im Eingangsbereich, unser Liebstes ist dick eingepackt in wärmende Kleidung. Wir warten auf das Taxi, das uns zum Hafen bringen soll, weil wir mit der Fähre zurück nach Amrum wollen. Es dämmert, Regen fällt. Mutter und Kind geht es gut. Dem Papa auch.

Am 27. September sind wir mit einem Schiff der W.D.R. von Amrum nach Föhr gefahren. Es wurde Zeit für Anna. Antje Hinrichsen, Amrums Hebamme, die meine Frau in der Schwangerschaft betreut hatte, stand ihr auch im Kreißsaal zur Seite, aufmerksam, liebevoll, kompetent.

Heute würde Anna nicht mehr im Wyker Kreißsaal zur Welt kommen, denn der ist seit dem 1. Oktober 2015 aus „haftungsrechtlichen Gründen“ geschlossen. Etwa eintausend Kinder wurden dort in den vergangenen Jahrzehnten entbunden. Zwar hatte der Geschäftsführer des Klinikums Nordfriesland, Frank Pietrowski, zunächst beschlossen, die Geburtshilfeabteilung in Wyk zum 1. Dezember 2015 einzustellen, doch dann ereilte die Föhrer und Amrumer die Mitteilung, dass nun schon am 1.10. keine Entbindungen mehr stattfinden dürften. Der Grund: Da Herr Pietrowski Haftungsgründe für die Schließung öffentlich gemacht hatte, beschloss das Wyker Gynäkologen-Ehepaar Juliane Engel und Dr. Thomas Hölter, ab sofort keine Geburten mehr zu begleiten. Das Risiko lag allein bei ihnen, die Klinikleitung lehnte es ab, sie von der Haftung zu befreien.

Als ich von der Schließung erfuhr, rieb ich mir verwundert die Augen. Offen gestanden fand ich diesen Schritt unerhört. Ich fragte mich, welchen Interessen hier eigentlich gedient wird? Den der Frauen auf Amrum, Föhr und den Halligen, die selbstverständlich ihre Kinder in Wyk zur Welt gebracht hatten, wenn es sich nicht um Risikoschwangerschaften handelte, die in Flensburg oder Husum entbunden wurden?

Nein, sicherlich nicht.

Den Interessen der Hebammen, die nach einem vorgelegten Konzept ihre Frauen nicht mehr bis zur Geburt begleiten können, weil die Schwangeren nun 14 Tage vor der Geburt aufs Festland sollen? Nein, auch nicht.

Den Interessen des Ungeborenen, das in den letzten Tagen vor der Geburt einem Stress ausgesetzt wird, den es deutlich wahrnimmt und auf den es reagiert?

Nein.

Also: Wem dient diese Schließung? Wer profitiert davon?

Das Leben auf den Nordfriesischen Inseln gestaltet sich in einer exponierten geografischen Lage. Es ist auf Amrum oder den Halligen – und nun auf Föhr auch nicht mehr - nicht möglich, schnell mit dem Auto zum Krankenhaus zu fahren, wenn es die Notwendigkeit gebietet. Ein Krankenhaus mit einer Geburtshilfe, wie sie in Wyk bis zum 1.10.2015 Bestand hatte, sollte, nein: muss von einer Gesellschaft getragen werden, in der das Geld, um das es hier ja letztlich geht, häufig in Projekte fließt, deren Sinnhaftigkeit sich dem Betrachter nicht immer erschließt.

Als Grund für die Schließung hieß es in einer Pressemitteilung vom 15.11.2015, deren Text hier vollständig wiedergegeben wird:

 

Pressemitteilung vom 15. September 2015

Geburtshilfe auf der Insel Föhr schließt Ende November 2015

Die werdenden Eltern der Inseln Föhr und Amrum müssen sich zukünftig umstellen: Ab Dezember 2015 stellt die Inselklinik Föhr-Amrum in Wyk auf Föhr die geburtshilfliche Versorgung ein. Nach Bad Oldesloe, Oldenburg in Holstein und Westerland auf Sylt wird dann auch auf Föhr die Geburtshilfe geschlossen. Sie ist die Klinik mit der geringsten Geburtenzahl in Deutschland und derzeit das letzte geburtshilfliche Krankenhaus auf einer Insel ohne Landanbindung.

„Diese Entscheidung ist uns nicht leicht gefallen“, betonen Landrat Dieter Harrsen als Aufsichtsratsvorsitzender des Klinikums Nordfriesland sowie dessen Geschäftsführer, Frank Pietrowski. „Um die Schwangeren mit dieser neuen Situation nicht allein zu lassen, hoffen wir bis Ende November eine geburtshilfliche Notfallkonzeption für die Inseln vorlegen zu können“, stellt Harrsen in Aussicht. Dazu laufen bereits Gespräche mit den Rettungsdiensten zu Land, Wasser und Luft. Ebenso werden die Hebammen der Inseln Föhr und Amrum eingebunden – in jedem Fall wird das Klinikum übergangsweise bis zum 31. März 2016 die Rufdienste der Hebammen finanzieren.

In den kommenden Wochen wird zudem mit den Krankenkassen eine Finanzierung von Unterbringungsmöglichkeiten für die Schwangeren von den Inseln (ein so genanntes „Boarding-Konzept“) verhandelt. Ziel ist es, dass den betroffenen Familien von den Inseln Föhr und Amrum ab Anfang Dezember 2015 eine solche Option auch in der Klinik Husum angeboten wird. Offen stehen diesen natürlich weiterhin auch die Boarding-Möglichkeiten in der Klinik Niebüll oder in der DIAKO Flensburg. Dort werden schon seit Anfang 2014 schwangere Frauen von der Insel Sylt geraume Zeit vor der Geburt untergebracht und vom geburtshilflichen Team der jeweiligen Kliniken betreut. „Unser Ziel ist es, ein ähnliches Versorgungskonzept abzustimmen, wie es jüngst für die Insel Sylt vereinbart worden ist“, erläutert Pietrowski.

Der Entschluss, die Geburtshilfe aufzugeben, ist auf mehrere Entwicklungen zurückzuführen. Strengere Vorgaben – sogenannte Leitlinien – der gynäkologisch-geburtshilflichen Fachverbände und die vermehrte politische Diskussion über die Zukunft kleinerer geburtshilflicher Einrichtungen in Schleswig-Holstein hatten das Klinikum veranlasst, sowohl eine qualitative als auch rechtliche Bewertung der geburtshilflichen Situation in Nordfriesland vornehmen zu lassen.

Die Gutachter kommen für die Geburtshilfe auf der Insel Föhr zu dem Ergebnis, dass diese nur ansatzweise den in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe geforderten strukturellen und prozessualen Mindeststandards für den Betrieb einer geburtshilflichen Abteilung einer Klinik der Grund- und Regelversorgung standhält und legen daher eine Schließung nahe.

„Diese Bewertungen haben nichts mit den auf der Insel handelnden Personen zu tun. Diese leisten alle eine hervorragende Arbeit. Das Problem sind die durch die Insellage erschwerten medizinischen Versorgungsbedingungen und das hiermit verbundene deutlich erhöhte Haftungsrisiko für den Klinikträger“, erläutert Frank Pietrowski. Insbesondere lebensbedrohliche und unkalkulierbare Notfälle, wie zum Beispiel durch starke Blutungen während der Schwangerschaft oder der Geburt, erfordern eine schnelle und jederzeitige Verfügbarkeit eines Geburtshelfers, Anästhesisten sowie vor allem einer ausreichenden Anzahl von Blutkonserven oder einer sehr kurzfristigen Beschaffung dieser Blutprodukte vom Festland – was aufgrund möglicher schwieriger Wetterlagen nicht immer möglich ist.

Auf der Basis der gutachterlichen Stellungnahmen hat das Klinikum in den vergangenen Monaten verschiedene Überlegungen angestellt, die Versorgung auf der Insel Föhr mehr an diese Vorgaben anzupassen. „Wir müssen aber feststellen, dass dies mit einem vertretbaren Aufwand nicht so gelingen wird, dass auch nur annähernd die erforderliche Sicherheit für Mutter und Kind geschaffen werden kann“, macht der Aufsichtsratsvorsitzende klar. Insbesondere die regelhafte Vorhaltung von erheblichen Mengen von Blutkonserven auf der Insel für Notfälle, die gerade in der Geburtshilfe unvorhergesehen vorkommen können, ist nicht realistisch umsetzbar. Ebenso fehlt es in dieser Situation an der erforderlichen kinderärztlichen Versorgung.

Diese an sich schon schwierige Situation verschärft sich dadurch, dass durch einen erheblichen Mangel an medizinisch-technischen Laborassistenten die Laborversorgung auf der Insel umgestellt werden muss. Erforderliche Blutgruppenbestimmungen können dann nur noch über das Labor der Klinik Niebüll erfolgen. Dies bedeutet insbesondere in geburtshilflichen Notfallsituationen eine zusätzliche zeitliche Verzögerung in der Blutversorgung.

„Nachdem wir zu diesen ernüchternden Erkenntnissen gelangt sind, musste der Aufsichtsrat und die Geschäftsführung handeln“, erläutert Dieter Harrsen. „Alle Faktoren zusammen genommen, können wir die Geburtshilfe ab Ende November nicht mehr aufrechterhalten. Bei einem Schadensfall könnten wir ansonsten den betroffenen Familien nicht mehr in die Augen schauen. Zudem würde jedes Gericht den Verantwortlichen im Klinikum ein Organisationsverschulden unterstellen – mit gravierenden persönlichen Folgen“.

Frank Pietrowski ergänzt, dass bei juristischen und haftungsrechtlichen Auseinandersetzungen die Vorgaben der Fachverbände als Maßstab zur Überprüfung der Vorgehensweisen herangezogen werden. Dies würde im Schadensfall zu unkalkulierbaren finanziellen und juristischen Folgen für die handelnden Personen und das Klinikum Nordfriesland führen. „Wir können unter den dann gegebenen Umständen nicht mehr länger erwarten, dass dieses Risiko von der Geschäftsführung und dem Klinikum übernommen wird“, erläutert Landrat Dieter Harrsen die von Aufsichtsrat und Geschäftsführung getroffene Entscheidung.

„Wir bedauern diesen anstehenden Schritt, der ausschließlich aus Qualitäts- und Sicherheitsgesichtspunkten erfolgt, wirklich sehr“, betont Frank Pietrowski. „Wir sehen uns als breit aufgestellten Versorger unserer Bevölkerung und der Gäste in unserer Region. Streichungen in unserem Leistungsspektrum widersprechen eigentlich unserem eigenen Credo. Aber vor dem Hintergrund der beschriebenen Situation ist ein Weiterbetrieb der Einrichtung ab Dezember 2015 zum Schutz der Schwangeren und des ungeborenen Lebens bzw. der Säuglinge nicht weiter verantwortbar“. Auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe kommt auf eine entsprechende Nachfrage des schleswig-holsteinischen Sozialministeriums zu dem Ergebnis, dass Abweichungen von den Mindeststandards bei Insellagen eine potentielle Gefährdung der Gesundheit und des Lebens von Mutter und Kind bedeuten und dies keine akzeptable Lösung der regionalen Versorgungsprobleme darstellen könne.

Klinikum Nordfriesland – Der Geschäftsführer

Erichsenweg 16 – 25813 Husum

Tel. 04841 660-1363 – eMail: presse@klinikum-nf.de1

Bemerkenswert ist, dass in dieser Mitteilung ausschließlich medizinische und haftungsrechtliche Faktoren als Grund für die Schließung genannt werden, während Kostengründe überhaupt nicht thematisiert werden.

Interessant sind in diesem Zusammenhang Äußerungen des Geschäftsführers, nachzulesen in einem Interview mit den Husumer Nachrichten (Husumer Nachrichten vom 25. August 2015)2. Frank Pietrowski führt aus: „Die Krankenhäuser in Schleswig-Holstein erhalten bereits seit vielen Jahren keine auskömmlichen Erlöse mehr – sie laufen massiv den Kosten hinterher. Dies zehrt – trotz aller Bemühungen um eine Erhöhung der Wirtschaftlichkeit – an der finanziellen Substanz. Dieser Sachverhalt ist auch den Politikern bekannt; was jetzt allerdings erneut nicht dazu führt, die Kliniken zu entlasten. Stattdessen sollen weitere Mittelstreichungen erfolgen und unter dem Deckmantel „Qualität“ werden weitere bürokratische Hürden eingeführt, die gerade die kleineren Krankenhäuser erheblich benachteiligen werden.“ Genau das ist auf Föhr geschehen. „Wir bedauern diesen anstehenden Schritt, der ausschließlich aus Qualitäts- und Sicherheitsgesichtspunkten erfolgt, wirklich sehr“, betont Frank Pietrowski. So heißt es in der Pressemitteilung. Der „Deckmantel Qualität“ verschleiert somit die wahren Gründe für die Schließung nur unzureichend: mangelnde Wirtschaftlichkeit.

Die Konsequenz ist, so führt Frank Pietrowski weiter aus, die Zerstörung der medizinischen Infrastruktur im ländlichen Raum.

Merkwürdig, bezogen auf die Situation auf Föhr, Amrum und Sylt, indes klingt es, wenn er zum Abschluss fordert: „Jeder Leser, jeder niedergelassene Arzt, jedes Pflegeheim, jeder Mitarbeiter, einfach jeder, sollte unbedingt seine Möglichkeiten nutzen, um Einfluss zu nehmen. Sprechen Sie Ihre Politiker vor Ort an, schreiben Sie Leserbriefe, Briefe an die Landesregierung oder auch an Frau Merkel selbst. Der öffentliche Druck muss gravierend erhöht werden, damit die Gesundheitsversorgung in ländlichen Räumen eine Chance behält.“

Wie klingen solche Aussagen in den Ohren der Föhrer und Amrumer Bevölkerung?

Die Schließung der Kliniken im ländlichen Raum ist natürlich wirtschaftlich begründet. Diese Entwicklung beschreibt Matthias Wallenfels in einem Artikel, der am 2.12.2014 in der ÄrzteZeitung erschien3. Danach geht jede 20. Klinik auf dem Land nach eigener Einschätzung davon aus, 2020 nicht mehr zu existieren. Ein hoher Kostendruck und eine unzureichende Investitionsfinanzierung führen dazu, dass die Häuser nicht mehr wirtschaftlich arbeiten können. „Oftmals müssten aus wirtschaftlichen Gründen bereits Abteilungen geschlossen werden - konkret habe es meistens die geburtshilflichen und pädiatrischen Abteilungen getroffen.“4

Und: „Ihre aktuelle wirtschaftliche Situation im Herbst 2014 beurteilten demnach 45 Prozent der Häuser als eher unbefriedigend. Für 2015 erwarteten 41 Prozent eine weitere Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage.“5 Weiter: „Nach eigener Einschätzung rechneten die im Fokus stehenden Kliniken auf dem Lande bis zum Jahr 2020 mit einer Marktbereinigung. Konkret gingen sechs Prozent der Befragten - allesamt Häuser mit weniger als 200 Betten - davon aus, dass ihr Standort in etwas mehr als fünf Jahren nicht mehr existent sein werde.

Weitere zehn Prozent der Krankenhäuser erwarteten bis 2020 die Schließung von Fachabteilungen - allen voran der Gynäkologie und Geburtshilfe.“6

 

Unter dem Eindruck der Schließung des Kreißsaales des Wyker Krankenhaus entstand die Idee, die Situation der Hebammen auf Amrum, Föhr und Sylt, die eine wesentliche Stütze für die medizinische Betreuung sind, darzustellen. Die Arbeit von Antje Hinrichsen auf Amrum hatte für meine Frau, für mich und vor allem auch für unsere Tochter eine große Bedeutung. Sie ermöglichte eine umsorgte Schwangerschaft, die in einem bekannten Umfeld zu einer normalen Geburt führte, nach der wir schon einen Tag später zurück nach Amrum fuhren, um in vertrauter Umgebung das Leben mit dem Neugeborenen zu gestalten.