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Monika Beck, ›Eine Zitrone für Fabian

Originalausgabe

© 2018 Ganymed Edition (www.ganymed-edition.de)

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Andreas Brandtner, Hemmingen

Titelabbildung: Bilder Vorderseite Shutterstock; Bild Rückseite www.JenaFoto24.de/pixelio.de

Gestaltung und Verlag: Ganymed Edition, Hemmingen

ISBN 978-3-946223-50-4

Printed in Germany

›Wir werden einen Weg finden, wie du es lernen kannst.
Ich verspreche es dir.‹

Für eine bessere Lesbarkeit finden Sie in diesem Buch entweder die
weibliche oder die männliche Form von personenbezogenen
Hauptwörtern. Die entsprechenden Begriffe gelten im Sinne der
Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Blick verließ mit ihr das Gebäude, setzte sich mit ihr ins Auto, betrat mir ihr das Haus und hinderte sie am Zeitunglesen.

Kurz und flehend war er gewesen, blitzschnell geschossen, nur aus den Augenwinkeln, den Kopf abgewandt, nicht mal eine Sekunde, doch lange genug, um ihrem Blick zu begegnen, verzweifelt genug, sie zu treffen. Tief, bis in die Magengegend drang er vor, krallte sich dort fest und wollte nicht mehr locker lassen. Nicht beim Bügeln, nicht beim Joggen. Der Blick begleitete sie ins Bett und ließ sie um Mitternacht schweißgebadet im Traum hochschrecken. Der Blick schrie: ›Ich verstehe jedes Wort.‹

***

›Ich verstehe jedes Wort‹ schallten die Gedanken durch die Räume der Erinnerung, bis sie sich in der Türkei wiederfanden. Über 20 Jahre lag die Reise zurück. Per Autostopp von Frankfurt nach Kappadokien, kaum mehr im Gepäck als das Gefühl grenzenloser Freiheit und pure Abenteuerlust. Durch nichts zu bändigen, selbst nicht von einem heftigen Reisedurchfall, der sich als hartnäckiger Begleiter ab Ankara ungebeten dazugesellte.

Bis es geschah.

Zuerst erstarrten die Finger, spreizten sich, ließen sich nicht mehr bewegen, so als gehörten sie ihr nicht. Schon während sie ungläubig auf ihre verkrümmten Hände schaute, entzogen sich Arme, Füße und Beine ihrer Kontrolle.

Blankes Entsetzen! Den Freund neben ihr, der gerade die am Fenster des Lastwagens vorbeifliegende, herrliche Landschaft bewunderte, um Hilfe rufen zu wollen – und es nicht zu können. Auch die Mundmuskeln versagten ihren Dienst. Panik! ›Nein‹ schreien zu wollen und keinen Ton herauszubringen. Die plötzliche Aufregung des Freundes, als ihr Kopf zur Seite kippte und leblos auf seiner Schulter landete. Das Quietschen der Reifen bei der Vollbremsung des vom Grauen erfassten türkischen Fahrers. Wie die starren Gliedmaßen es Freund und Fahrer schwer machten, sie aus dem Führerhaus zu zerren.

Stocksteif, ganz wie damals, saß sie mit vor Entsetzen geweiteten Augen in ihrem Bett, ohne den quälenden Film, der da ablief, stoppen zu können. Glasklar zeichneten sich die Bilder von damals: Die staubige, heiße Straße, auf die sie gelegt wurde. Menschen, die sich neugierig um sie versammelten. Stimmen, die hektisch durcheinander riefen, türkisch und deutsch.

»Sie braucht einen Arzt!«

»50 Kilometer, in der nächsten Stadt!«

»Bis dahin hält sie nicht durch!«

Eingesperrt in ihrem Körper, der ihr nicht gehorchen wollte, hörte, sah und fühlte sie. Unfähig zu sprechen, unfähig sich verständlich zu machen.

›Wasser! Wasser! Warum gebt ihr mir nicht einfach Wasser?‹

Niemand hörte sie, alle sprachen nur über sie.

»Bleib bei mir!« Ihr Freund rüttelte sie verzweifelt, flüsterte: »Du darfst nicht sterben!«

Plötzlich die Angst, sie würden sie begraben, ohne zu merken, dass sie noch lebte. Nicht mal mit ihren Augenlidern gelang es ihr, ein Zeichen zu geben. Kein Lidschlag, obwohl sie voller Panik die Anstrengungen vervielfachte.

So als sei es gestern gewesen, durchlebte sie erneut jede endlose Minute der gefühlten Not. Und die unendliche Erleichterung, als der Lastwagenfahrer ihr eine aufgeschnittene Zitrone an die Lippen hielt und ihr den Saft in den Mund tröpfeite. Die Zitrone löste langsam die Verkrampfung – sie wurde zu ihrer Erlösung! Die Zitrone befreite sie aus dem Kerker, zu dem ihr Körper für den Verstand und die Seele geworden war.

Auf der Fahrt zum nächsten Flughafen verfiel ihr Körper noch fünfmal in die Starre. Allein die Tatsache, dass ihr Freund an ihrer Seite war und wusste, was ablief, wie er ihr helfen konnte, verstand, dass sie trotz der Starre immer bei Bewusstsein blieb und alles mitbekam, beruhigend auf sie einsprach, ihr erklärte, gleich wirke die Zitrone, machte das Unerträgliche erträglicher.

»Gib nicht auf! Bitte nicht!«, flehte der Blick, wurde immer eindringlicher und ließ nicht locker.

Flatternde Hände.

Zähne, die ins eigene Fleisch beißen.

Oberkörper, die rhythmisch hin- und her schaukeln.

Finger, die hektisch vor den Augen wedeln.

Minutenlanges schrilles Schreien.

Füße, die gegen Tischbeine treten.

Der Blick verbrüderte sich mit all den fremden Sprachen, die sie in den letzten Jahren verstehen gelernt hatte – als Ausdruck der Verzweiflung. Und dann verbrüderte sich der Blick mit ihrer damaligen Not.

Als sie mit trockenem Mund aufstand, um sich etwas zu trinken aus der Küche zu besorgen, fühlte sie sich wie zerschlagen. Zitternd drehte sie den Wasserhahn auf, füllte ein Glas randvoll und kippte hastig die Flüssigkeit in sich hinein, um alles wegzuspülen. Vergeblich, die Erinnerung blieb in allen quälenden Einzelheiten lebendig. Als sie erschöpft wieder ins Bett sank, spürte sie, diese Nacht wog schwer.

1

»Ich sehe deine Not. Und ich bin sicher, dass du alles verstehst.« Eva hielt Fabians Hände bei diesen Worten fest, um ihn zu beruhigen. Und um zu verhindern, dass er weitere Gegenstände warf. Sie musste ihre ganze Kraft aufbieten, ihn zu halten. Der Junge bebte am ganzen Körper, sein Kopf wackelte hektisch hin und her, seine Augenlider flatterten und sein unruhiger Blick zeigte, dass es noch gewaltig in ihm brodelte. Verzweifelte Wut, riesig, so viel größer als der kleine Kerl, so viel mächtiger.

»Wir werden einen Weg finden, damit du uns alles zeigen kannst«, fuhr Eva mit gesenkter, ruhiger Stimme fort und konnte spüren, wie sich Fabians schmächtiger Körper langsam ein wenig entspannte. »Alles, was du weißt und denkst.«

Behutsam tastete sich die Pädagogin noch weiter vor. »Hier in unserer Klasse sprechen wir nicht nur mit der Stimme, sondern auch mit den Händen. Oder mit Bildern.«

Eva sah Fabian bewusst nicht an, während sie sprach, sie spürte, das wäre zu viel für den Jungen. Stattdessen richtete sie ihre Augen auf die Tafel, an der Gebärdenabbildungen, Symbole und Fotos mit kleinen, bunten Magneten befestigt waren. Der kurze Blick aus seinen Augenwinkeln streifte ihr Gesicht zart wie ein Windhauch, bevor er dem ihren an die Tafel folgte und sie ermutigte.

»Wir werden nicht aufgeben eine Methode zu suchen, mit der auch du dich mitteilen kannst.«

Die Pädagogin war froh, dass niemand hörte, welche Worte sie für ein als geistig behindert eingestuftes Kind wählte. Ein Kind, das kein Wort sprechen konnte und statt im Unterricht mitzuarbeiten, alles, was immer sie auch vorlegte, mit einer raschen Armbewegung vom Tisch wischte. Oder von seinem Stuhl aufsprang, zur Tafel stürzte, um den Tafellappen in den Mund zu stecken. Ein Kind, das sich in die Hand biss, mit dem Oberkörper hin und her schaukelte und in der Pause draußen schmutziges Laub vom Schulhofboden sammelte und aß. Und das gerade den Klassenraum gründlicher als ein Wirbelwind in ein komplettes Chaos verwandelt hatte. Das sorgsam vorbereitete Unterrichtsmaterial war wild durcheinander über den gesamten Fußboden verstreut, drei Stühle umgeworfen, ein liebevoll gestaltetes Schülergemälde von der Wand gerissen.

»Das verspreche ich dir.« Eva sprach betont langsam, um die eigene Anspannung, die der Ausbruch in ihr hervorgerufen hatte, nicht nach außen zu tragen. Innerlich zitterte sie. Was ales hätte passieren können. Nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt.

»Das verspreche ich dir«, wiederholte sie, auch um sich selbst zu beruhigen. Sie meinte es ernst. Sie wollte nicht eher innehalten, bis sie auch für Fabian einen Weg gefunden hatte. Die Lehrerin konnte dieses Versprechen geben, weil sie nicht allein stand und im Stillen dankte sie mal wieder dem Leben von ganzem Herzen für ihr Team. Zur Verständigung, wer welche Aufgabe übernahm, hatte ein Kopfnicken genügt.

»Kommt, Kinder, wir gehen in die Bücherei.«

Mit ihrer bedächtigen Stimme und den dazu akzentuiert sorgfältig ausgeführten Gebärden hatte Susanne vorhin, als es brenzlig wurde, die Aufmerksamkeit der aufgeregten Kinder von Fabian weg auf sich gelenkt und alle umsichtig aus dem Klassenraum geleitet. Nur so, ohne Publikum und in der Stille, die sich dadurch im Klassenraum ausbreitete, hatte der aufgedrehte Junge die Chance erhalten, runterzukommen.

Eva mochte sich gar nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn sie beide in einer solchen Situation, in der jede Minute zählte, erst noch hätten überlegen müssen, was zu tun war. Oder, schlimmer noch, wenn unterschiedliche Meinungen zusätzlich belastet hätten. Halt geben konnte nur, wer unerschütterlich war – und Fabian brauchte jetzt vor allem Halt und Sicherheit. Er musste sich angenommen fühlen in seiner Not.

Noch immer stand Eva mit Fabian, seine Hände von den ihren umfasst, mitten im verwüsteten Raum.

›Deine Kraft lässt nach. Es wäre besser, sich jetzt mit ihm zu setzen‹, dachte sie. Aber in diesem Moment, in dem die Pädagogin anfing zu überlegen, als sie eine Sekunde, nur eine kurze Sekunde schwächelte, spannte sich Fabians Körper erneut an. Durch jede Pore drang sie, empfangen von feinsinnigen Antennen, diese winzige Schwingungsstörung, die sich ungebremst in ihm riesenhaft auftürmte. Sein sofort folgender, heftiger Fußtritt traf hart einen der am Boden liegenden Stühle.

›Er spürt genau, was in dir vorgeht‹, durchfuhr es Eva und sie registrierte, wie Fabians Blicke zwischen ihren Beinen und der Tafel wechselten, während sein Fuß zum nächsten Tritt ansetzte, doch zögerte. Obwohl Eva sich, 165 Zentimeter groß, schlank und sportlich, dem Jungen körperlich weit überlegen wusste, war sie kurz versucht, sich provoziert zu fühlen oder sich aufzuregen. Ihr Rücken schmerzte bereits und der Kleine verfügte über Bärenkräfte, wenn ihn die Wut packte. Wut, die von Verzweiflung genährt wurde, konnte die physikalischen Gesetze der Kraft aushebeln. Eva kannte das. Sie hatte es bereits schmerzlich erlebt. Doch jetzt einen Fußtritt zu fürchten wäre der falsche Weg gewesen.

›Auf ein paar blaue Flecke kommt es nicht an‹, ermahnte sie sich selbst. Allein das andere zählte.

Mit diesem Gedanken nahm Eva wahr, welche Stärke es ihr gab, das Team im Rücken zu wissen. So wagte sie es, auch den Jungen mit ihrer positiven Erwartung zu stärken. Sie sprach ihn an, mit fester Stimme.

»Ich helfe dir aufzuräumen!« Dann hielt sie inne und atmete tief ein, um noch mehr Überzeugung in ihre Stimme legen zu können. »Wenn wir fertig sind, gehen wir zu den anderen in die Bücherei.« Eva wartete, bis die Worte und ihr Zutrauen in Fabian ankamen, Wut und Verzweiflung besänftigten, und er sich wieder entspannte. Erst dann machte sie den nächsten Schritt.

»Ich lasse jetzt deine linke Hand los«, kündigte sie an.

Sogleich griff sie mit ihrer nun wieder frei gewordenen Hand den soeben attackierten Stuhl und stellte ihn so behutsam auf, dass kein Geräusch entstand. Nur ein bedächtiger Bewegungsfluss, der Fabian wie magisch anzog, fesselte, ihn schließlich einband. Stumm, um das Fließen nicht zu unterbrechen, arbeiteten die beiden, sammelten Zahlen, Holztiere und Bildkarten auf, miteinander verbündet, ihre rechte Hand führte seine.

***

Seit sieben Jahren unterrichtete Eva in einer Schule für geistig behinderte Kinder. Davor hatte sie in Schulen für Sprachbehinderte und Lernbehinderte Erfahrungen gesammelt.

Eva war 44 Jahre, als sie Fabian begegnete. Mit den Diagnosen ›Frühkindlicher Autismus, keine Sprache‹ wurde er in ihre Klasse eingeschult und bereits am zweiten Schultag flogen Tafelschwamm, weiße und bunte Kreidestücke durch die Klasse. Seit seiner Ankunft vor vier Wochen gab es kein geordnetes Unterrichten mehr, kein Tag verging ohne Ausbruch, rasant schnell, scheinbar ohne erkennbaren Anlass. Seit seiner Ankunft vor vier Wochen verging kein Tag, an dem Eva nicht völlig erschöpft nach Hause kam, kaum noch fähig, den Erzählungen ihrer eigenen Kinder zuzuhören. Selbst entspannende Musik war ihr, seine durchdringenden Schreie noch im Ohr, zu viel. Auf den praktischen Umgang mit Autismus war sie in ihrer Ausbildung nicht vorbereitet worden. Natürlich hatte sie im Laufe der Zeit mal ein paar Bücher darüber gelesen, aber was die theoretischen Beschreibungen für Fabians konkretes Leben bedeuteten, davon hatte sie keine Ahnung. Noch schien die Kluft zwischen der Theorie und dem, was sich an jedem Schultag abspielte, kaum überbrückbar.

An diesem Mittwochnachmittag saß sie um 16.00 Uhr allein im Klassenzimmer, nachdem sich die Kinder endlich im Schulbus auf der Heimfahrt befanden. Sie musste erst zur Ruhe kommen, bevor sie sich, ohne ein Risiko einzugehen, ins Auto setzen konnte. Eines wusste sie jetzt ganz genau und ohne jeden Zweifel: Fabian besaß einen eingesperrten, scharfen Verstand, seine Seele schrie verzweifelt um Hilfe, während sein Mund ihm nie und seine Hände ihm nicht immer gehorchten. Die aufgewühlte Lehrerin konnte es nicht begründen, noch weniger belegen. Es war eine Gewissheit, die aus dem tiefsten Inneren kam. In der ersten Woche schwankte sie noch, doch als sein verzweifelter Blick sie ins Mark traf, war aus einer Ahnung eine unerschütterliche Überzeugung geworden.

Eva sog die Stille in sich auf und glättete die inneren Wogen, indem sie die bis ins kleinste Detail wieder hergestellte Ordnung betrachtete. Auf kleinen Holztabletts, übersichtlich platziert in kindhohen Regalen, reihte sich ein ästhetisch gestaltetes Arbeitsmaterial an das andere. Eine bunte Perlenkette voller Lernmöglichkeiten, die Glanz in die Augen der Kinder zauberte und ihre Aufmerksamkeit fesselte – zumindest, bevor Fabian diese auf sich zog. Alle im Team waren von Maria Montessori1 begeistert. Ihre Ideen und Leitgedanken prägten ihre Arbeit. Die ganz im Sinne von Montessori vorbereitete Umgebung flüsterte Eva nun aufmunternd zu: ›Jeder Tag beginnt neu. Mit frischer Kraft.‹ Diese Kraft würde sie brauchen. Denn auch das war ihr heute klar geworden: Das Leben, das Schicksal, wer auch immer hatte sie dazu auserwählt, zusammen mit ihrem Team für Fabian einen Weg zu entdecken. Einen Weg, sich mitzuteilen und mitzuarbeiten. Oder wie sie es für sich im Geheimen seit der Nacht der Erinnerung formulierte: Es war an ihr, ihm eine Zitrone zu reichen.


1 Namen und Fachbegriffe erläutert ein kleines Glossar ab S. 160

2

Seit Fabian in ihrer Klasse war, trafen sich Eva, Susanne und Diana jeden Donnerstag zur Lagebesprechung. In ihrer letzten Sitzung hatten sie vereinbart, darauf zu achten, was bei dem Jungen die Ausbrüche, die allen so zu schaffen machten, auslösen könnte. Sie bildeten ein vertrautes Team, vor sich frischgekochten Tee, Kekse und Schokolade für die Nerven.

Zwei Fremde erwiesen sich rasch als Gleichgesinnte, als Susanne und Eva vor einer Handvoll Jahren die Zusammenarbeit begannen, angeordnet vom Schulleiter. Eine Zusammenarbeit, die sie dann unbedingt weiterführen wollten, froh waren, wenn sie bewilligt wurde, Jahr um Jahr. Denn sie inspirierten sich gegenseitig, Antworten auf alle Signale zu entwickeln, die sie von den Schülern empfingen sowie ihre pädagogischen Ideen umzusetzen.

Für jeden Schüler fanden sie geeignete Lernmaterialien, stellten sich gegen den Wind, der ihnen damals ins Gesicht blies, als sie für geistig Behinderte selbstgesteuertes Lernen realisierten und nach außen in Seminaren vertraten. Als immer mehr nichtsprechende Kinder in ihre Klasse kamen, erlebten sie miteinander, wie sich zwangsläufig Hoffnungslosigkeit, Frust und Zorn ansammelt, bis zum Zerbersten, wenn ein Mensch nicht mal mitteilen kann, ob ihm zu heiß oder zu kalt ist, oder was er essen und trinken möchte. Nicht gefragt wird, weil scheinbar keine Antwort zu erwarten ist. Und dieser Mensch doch so viel, so unendlich viel, zu sagen hätte.

Gemeinsam begaben die beiden sich auf die Suche nach individuellen Wegen der Verständigung, eröffneten ihren Schülern andere Möglichkeiten, ihre dringlichen Bedürfnisse zu äußern. Andere Wege als zu schreien, sich zu beißen oder den Nachbarn an den Haaren zu ziehen, um nicht zu ersticken an den Wörtern, die – unausgesprochen – den Hals zuschnürten.

Mit Gegenständen, Bildern, Symbolen, Gesten oder Gebärden ließ sich herrlich kommunizieren. Susanne und Eva verbrachten Abende und ganze Samstage mit dem Suchen, Ausschneiden und Laminieren passender Abbildungen, mit denen die Schüler nur durch Zeigen, ganz ohne verbale Sprache, im Unterricht mitarbeiten konnten.

Unbeschreiblich freuten die Lehrkräfte sich über die Lernfortschritte ihrer Kinder, auch über die kleinsten. Begeistert wiesen sie sich gegenseitig darauf hin. Daraus zogen sie ihren Antrieb, ihre Energie, den Belastungen standzuhalten, die die Arbeit mit sich brachte und vor allem die Kraft, gelassen zu bleiben, wenn die Schüler unruhig und laut waren oder austesteten, wie weit sie gehen konnten. Gerade dann kam es ja darauf an, ihnen Halt zu geben, liebevoll und zugleich konsequent zu handeln. Den Kindern eine eindeutige Orientierung zu geben hieß in jeder Sekunde hoch präsent zu sein. Das Erziehen saugte die Kraft ab, nicht das Unterrichten, und war zugleich Voraussetzung dafür, dass das Unterrichten überhaupt möglich war.

Diana, seit zwei Jahren mit im Boot, bildete mit ihrem jugendlichen Sportsgeist und ihrem Hang zu humorvollen Bemerkungen eine gute Ergänzung, denn wenn es um Förderung ging, waren die beiden Älteren manchmal etwas zu ernst. Aus Dianas Sicht wirkten sie vielleicht sogar etwas verbissen. Manches witzig Gemeinte fanden sie deshalb nicht witzig, verstanden, sahen den Witz nicht.

Aber das war nebensächlich. Entscheidend war: Sie konnten sich aufeinander verlassen. Besonders das zurückliegende Jahr mit sieben verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern, die kreativ Grenzen ausloteten und von denen drei nicht sprechen konnten, hatte die Pädagoginnen zusammengeschweißt und eine harmonische Lerngruppe entstehen lassen. Und dann kam der Neue, der das ohnehin fragile Gefüge aufmischte, die anderen Kinder so verunsicherte, dass sie in alte Verhaltensweisen zurückfielen und sie als Pädagoginnen herausforderte, ihnen ihre eigene Grenze der Belastbarkeit vor Augen hielt. So dicht waren sie alle noch nie an ihren Grenzen gewesen. Es galt, auch ihn aufzufangen, in diesem tragfähig gewebten Netz aus Erfahrung und aus einem verbindenden Menschenbild. Einem Menschenbild, das auf die Entfaltung selbstaktivierender Kräfte vertraute, wenn ein Rahmen gegeben wurde. Und aus dem festen Glauben daran, dass der Weg beim Gehen entsteht. Immer und überall. Auch wenn der Dschungel zunächst noch so undurchdringlich erschien.

***

»Was habt ihr beobachtet? Worauf springt Fabian an?«

Eva sah Susanne und Diana gespannt an.

»Sobald der Essenswagen über die Fliesen rattert«, begann Susanne. »Und wenn wir still arbeiten und Frau Tanne reinkommt.«

»Ihre hohe Stimme, diese Tonlage hält Fabian nicht aus.«

Eva war das auch schon aufgefallen.

»Die Tür des Schrankes, in dem wir das Klassenbuch aufbewahren, quietscht, wenn auch nur leise«, merkte Diana an. »Darauf reagiert Fabian ebenfalls mit Aufspringen und Schreien.«

So schnell wie die Beobachtungen sprudelten, konnte Eva kaum mitschreiben. Der Bleistift huschte nur so über das Papier, während sich ihre Gesichter erhitzten. Denn die vielen kleinen Stücke fügten sich mehr und mehr zu einem Bild zusammen. Wenn es auch noch unvollständig war, es ermöglichte nicht nur ein wenig Verstehen, sondern auch erste Ideen, was Fabian helfen könnte.

Jede einzelne noch so kleine Idee ließ die Lehrkräfte hoffen, diesen Prozess durchzustehen, schob die bedrohliche Grenze aus dem Blickfeld, verlieh ihnen neue Energie, die sie nutzten, alles sogleich umzusetzen. Obwohl es längst Zeit war, nach Hause zu fahren, schrieben sie Hand in Hand ein Schild ›Bitte nicht stören‹ für die Klassenzimmertür, ölten die Schranktür, stellten zwei Regale um. So entstand eine Rückzugsecke, schnell ausgestattet mit Teppich, drei Kissen, einer einfarbigen Decke und einem Warenhauskatalog. Fabian konnte zur Ruhe kommen, wenn er darin blätterte, da waren sie sich sicher.

Schon am nächsten Tag trugen ihre Überlegungen erste Früchte. Bei einem plötzlichen, schrillen Geräusch, das vom Schulflur in die Klasse dröhnte, rastete Fabian nicht aus, sondern stürzte in seine Ecke, hüllte sich in die Decke, zog sie sich sogar über den Kopf, um sich abzuschirmen. So bestätigte er ihre Annahme, dass der Junge hochsensibel wahrnahm und manche Geräusche ihm in den Ohren schmerzten.

Der erste Schritt war getan.

Ein Weg zeichnete sich ab, wenn auch noch so vage.

3

Zufrieden waren alle Kinder in ihre selbst gewählte Arbeit vertieft, während Fabian die Seiten des Warenhauskataloges durch seine Finger gleiten ließ. Bewundernswert geschickt und schnell, gebannt und andächtig, als könnte er nur so seine Gegenwart empfinden. Und zugleich sich wegzaubern in eine verlässlichere Welt, eine Welt, die er mit dem gleichmäßigen Umblättern beständig hielt.

Noch lange waren die Lehrkräfte nicht soweit, für Fabian eine geeignete Arbeit bereit zu stellen. Noch hatten sie für den unberechenbaren Jungen nur das eine Ziel: während der Freiarbeit kurze Zeit still am Tisch zu sitzen. Diese friedlichen Minuten waren mit Fabian selten geworden. Susanne nutzte sie, um schnell zur Toilette zu eilen.

Ohne Vorwarnung sprang der Junge panisch auf, so ruckartig, dass sein Stuhl umkippte. Bevor Eva ihn daran hindern konnte, raste er um die Tische auf Tina zu, die einen roten Filzstift aus ihrem Mäppchen gezogen hatte.

Eva sah ihre eigene Hand ins Leere greifen, während Fabian sich auf den Stift stürzte, den das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen fest umklammerte, so verschreckt, dass sie nicht loslassen konnte.

Schlimmste Befürchtungen verliehen Eva die Geschmeidigkeit und die Geschwindigkeit eines Panthers. Im letzten Moment, ehe Fabian Tina mitsamt Stift und Stuhl zu Boden reißen und ihren Kopf dabei gegen die Tafelkante schleudern konnte, gelang es ihr, Tina aufzufangen und die beiden zu trennen.

Eva schüttelte energisch den Kopf, um die schreckliche Szene zu verscheuchen. Für den Moment gelang ihr dies auch, weil sie gebraucht wurde, gerade nach dieser brenzligen Situation. Später sollte sich zeigen, dass sich das Geschehen im Gedächtnis festkrallte, als Andenken von der üblen Sorte, die wieder und wieder einfach hochkamen, obwohl man sie lieber ein für allemal in der Versenkung verschwunden gesehen hätte.

Es war alles gut gegangen. Dennoch packte der Gedanke Eva: was, wenn nicht?

Was, wenn Tina verletzt worden wäre?

Wohin dann mit ihrer Schuld?

Die sie sich geben würde, ohne ›schuld‹ zu sein?

4

›Auf Euch.‹

Eva Weidenbaum hebt ihr Glas und trinkt einen kleinen Schluck Rotwein. Kaum merklich, nur kurz angedeutet, zugleich akzentuiert, der Toast: ›Auf die Jahre.‹ Sie steht allein auf ihrem Balkon und schaut ins weite Land. So tief in Gedanken versunken, dass sie die freundlich über die Johannisbeersträucher hinweg grüßende Nachbarin nicht bemerkt.

›35 Schuljahre‹, sinniert Eva stattdessen vor sich hin. 35 Schuljahre, die Zeit als Schülerin nicht mitgerechnet. 35 Jahre Kinder mit besonderen Förderbedürfnissen motivieren, unterrichten, erziehen. Den Ruf nach Grenzen erkennen, Grenzen setzen, Halt geben, Beziehung aufbauen, loslassen, beraten. Mit Begeisterung neue Konzepte entwickeln. 35 Jahre konstruktive und kraftraubende Konferenzen, heiße und kontroverse Diskussionen, erfreuliche und unerfreuliche Elterngespräche und ständig wechselnde Vorgaben des Bildungsministeriums. 35 Jahre ackern auf einem niemals zufrieden zu stellenden Feld unterschiedlicher und sich verändernder Ansprüche inmitten von Bedingungen, von denen man die allermeisten nicht selbst bestimmen kann.

›Auf Euch.‹

Eva nippt erneut an ihrem Glas. Ist sie inzwischen außen vor oder eher noch mehr mittendrin? Die Pädagogin zuckt die Schultern. Es fällt ihr schwer, das zu entscheiden. Sie schwankt in ihrer Einschätzung, je nach Stimmung und Ereignissen.

Mit Fabian war Autismus ihr Spezialgebiet geworden, nach Fabian schien sie magisch Autisten anzuziehen. Wie auch immer, Fakt war, dass sich fortgesetzt weitere Autisten in ihrer Klasse einfanden, sie konnte sich immer besser in die Erlebniswelt autistischer Kinder einfühlen.