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Susanne Ziegert

Tod im Leuchtturm

Kriminalroman

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Zum Buch

Mord oder Suizid? Seit ihrer Kindheit war Maria Lange nicht mehr auf der Nordseeinsel Neuwerk. Nach fast drei Jahrzehnten kehrt sie zurück, um über den Winter den Leuchtturm zu hüten. Bald darauf wird sie tot in der Badewanne gefunden. Alles deutet auf einen Suizid hin, doch die Malerin und Freundin der Toten, Margo Valeska, will sich damit nicht abfinden. Sie beginnt Nachforschungen anzustellen, schließlich übernimmt die Hamburger Kommissarin Friederike von Menkendorf mit ihren Kollegen die Ermittlungen und stößt auf einen ungelösten Mordfall. Vor 29 Jahren verschwand der kleine Felix und wurde tot im Hafen aufgefunden. Maria Lange hatte als Jugendliche ihren Schwager beschuldigt, das Kind entführt zu haben. Kurz darauf zog sie ihre Aussage jedoch zurück und schwieg seitdem. Das Verbrechen konnte nie aufgeklärt werden. Doch was war die Wahrheit, was war die Lüge – und wer hatte ein Interesse daran, eine neue Aussage der einzigen Zeugin zu verhindern? Kann Rike von Menkendorf das Verbrechen aufklären, an dem andere Ermittler gescheitert sind?

Susanne Ziegert wurde im Erzgebirge geboren und wuchs in Leipzig und Plauen im Vogtland auf. Zwei Tage vor dem Mauerfall floh sie in den Westen, um endlich Paris zu sehen. Nach ihrem Studium in Aix-en-Provence in Südfrankreich arbeitete sie mehrere Jahre in Brüssel und zog dann nach Berlin, wo sie eine Stelle als Reporterin bei der Berliner Morgenpost antrat. Seit 2019 lebt Susanne Ziegert mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Pferden und Eseln in einem alten Bauernhof im Landkreis Cuxhaven und in Berlin.

Sie arbeitet als Journalistin für die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag und Konferenzdolmetscherin. Schreiben war ihr von Kleinauf ein Bedürfnis. Als Kind verfasste sie Briefe in alle Welt, Tagebücher sowie einen Roman über die Stadt der Liebe. Schon damals träumte sie davon, einmal Schriftstellerin zu werden.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Weihnachtsmannjagd (in: Glück Auf – oje du fröhliche!, hrsg. v. Petra Steps, 2019)

Störtebekers Erben (2018)

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt von der Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book. Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Дмитрий Финкель /
stock.adobe.com
und manne68 / Pixabay

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6314-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Eine Ausnahme bilden der Cuxhavener Krabbenfischer Onkel Werner, der von Werner Hustedt inspiriert wurde. Ihm und seinem Kutter Johanna, die 2018 nach 50 Jahren auf dem Meer in Rente gingen, möchte die Autorin mit dieser Figur ein Denkmal setzen.

Ebenso gibt es den Kiosk des Käpt’n Eberhard und seinen Vollmatrosen Hannes im Alten Fischereihafen. Möge dieser wunderbare Treffpunkt angesichts der Baupläne noch lange bestehen! Die kriminellen Vorkommnisse mit Wattwagen sind ein Produkt der Fantasie der Autorin und in der Realität noch niemals geschehen. Die Überfahrt ist eines der vergnüglichsten Erlebnisse im Urlaub an der Nordseeküste.

Stammbaum

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Kapitel 1

Es würde Regen geben. Die Wellen der aufgepeitschten Nordsee um die kleine Insel trugen Schaumkronen. Die Wolkenberge hatten eine dunkelviolette, fast schwarze Farbe angenommen. Sie stand an der Brüstung des alten Leuchtturms, fast 40 Meter über der Erde, und sah nach unten. Wenn sie sprang, dann war es endlich vorbei. Der Wind zerrte an ihren Haaren, pustete ihr dicke rote Strähnen ins Gesicht, erwischte schließlich ihr lose um den Hals liegendes Tuch und wirbelte den orangefarbenen Stoff mit sich. Kurz schien es noch im Wind zu tanzen, bevor es in die Tiefe fiel und sich auf der anderen Seite des Platzes in einem Busch neben der Schankterrasse des Inselkaufmanns verfing. Sie stellte sich vor, wie sie einen Fuß auf den Hocker setzen, auf die Brüstung steigen und abspringen würde. Keine Sekunde später wäre der Alptraum vorüber. Schwarz, Ruhe, Vergessen!

Schön würden ihre Überreste nicht aussehen, doch das ging sie nichts mehr an. Wenn sie aus dieser Höhe sprang, bestand nicht die Gefahr, am Ende als Krüppel wiederbelebt zu werden. Doch es gehörte Mut dazu, Mut, den sie nicht hatte. Diese Insel schnürte ihr die Luft ab. Sie hätte niemals zurückkehren sollen.

Von oben hatte sie einen Rundumblick über Neuwerk, dieses kleine Landfleckchen in der Nordsee. Die sonst grünen Wiesen waren braun und die großen Scharen der eintreffenden Gänse bildeten darauf graue Tupfen. Von hier aus sah alles friedlich aus. Wie Legosteine lagen die Häuser um den Rand der Insel verstreut. Dort im Norden das Haus der Königs, wo der kleine Felix gelebt hatte. In dem bescheidenen Wohnflügel an der Seite hatte sie bei ihrer Schwester gewohnt, als der Junge starb. Und der kleine Hafen im Süden, wo der leblose Körper gefunden worden war.

29 Jahre waren seitdem vergangen – und doch erinnerte sie sich daran, als sei es gestern geschehen. Wie sie sich ganz wichtig vorgekommen war, als sie bei der Polizei als Zeugin aussagen sollte. Sie dachte an den muffigen Geruch im Büro, das die uniformierten Männer im Nebenhaus eingerichtet hatten, die schrecklichen Fotos an der Wand. Der niedliche kleine Felix, an Händen und Füßen gefesselt, wie er leblos dalag, eine Mütze über das Gesicht gezogen, und sein leerer Blick auf einem anderen Bild. Sie hatte noch nie einen Toten gesehen, geschweige denn ein gestorbenes Kind, und musste weinen. Dann kam ein netter Polizist, legte eine Hand auf ihre Schulter, brachte ihr einen warmen Kakao und stellte Fragen. Sie war es nicht gewöhnt, dass sich jemand um sie kümmerte. Und dann hatte sie geredet.

Ihr Blick fiel auf den Pferdestall hinter dem Wohnhaus mit einem neuen, roten Dach. Dort hatte sie viele Stunden verbracht, bevor ihr Schicksal seinen Lauf nahm.

Sie war ein Kind gewesen damals und hatte einen schlimmen Fehler gemacht. Dieser hatte ihr ganzes Leben bestimmt. Seitdem durfte sie nie einfach nur sie selbst sein. Es gab die einen, die in ihr die letzte Zeugin sahen, die hartnäckig schwieg. Die anderen beschimpften sie als das Mädchen, das gelogen hatte. Der Fall war immer wieder durch die Presse gegangen. Wie Hyänen lauerten sie mit ihren Kameras und Mikrofonen. Sie kamen die Hauswand hochgeklettert, warteten auf sie an der Schule, als sie noch ein Kind war, später vor der Fischfabrik, wo sie als ungelernte Arbeiterin angefangen hatte. Dann erfuhren die Kollegen, wer sie war, und das Getuschel ging wieder los. Weil alle sie mit dem Fall verbanden, mit dem kleinen Jungen, der so grausam getötet worden war. Ganz so, als wäre sie die Täterin gewesen.

Doch sie war damals so jung und naiv. Gerade einmal 15 Jahre alt, ein rothaariges Dickerchen mit Sommersprossen, hundertfach abgelichtet. Damals war ihre Kindheit plötzlich vorbei.

Als der leblose Körper des kleinen Felix gefunden wurde, hatte sie mit den anderen hinter der Absperrung gestanden, der Jachthafen war mit rot-weißem Band abgeriegelt, die Männer mit weißen Anzügen sahen aus wie vom Mars. Seitdem war sie nur noch die Zeugin oder eben die Lügnerin. Erst vor ein paar Monaten hatten sie ihr wieder an der Fabrik aufgelauert, zwei Fotografen und eine Frau, die ihr das Mikrofon penetrant unter die Nase gehalten hatte.

»Sag es endlich. Was weißt du?« Der 30. Jahrestag stand bevor, das Thema würde erneut auf allen Kanälen laufen. Auch deshalb hatte sie sich auf die Insel zurückgezogen. Dabei mussten die doch genau wissen, dass sie nichts sagen konnte. Warum verstanden die das nicht?

Sie sah wieder in die Tiefe auf den gepflasterten Vorplatz zwischen dem Turm, dem Inselkaufmann und dem Schullandheim. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Tagestouristen waren schon vor Stunden mit den Wattwagen über das Watt zurück ans Festland gefahren. Sie hatte sich gewundert, dass bei dem Wetter überhaupt Wattwagen hinübergekommen waren. Einige waren auf den Turm gestiegen, sie hatte die Eintrittskarten verkauft und einige Eiergrogs zubereitet. Doch nun gehörte die Insel nur den wenigen Bewohnern, die sich vor der Saison hier aufhielten. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

Wenn sie springen wollte, war das der ideale Moment. Doch vielleicht hatte sie ja noch eine Chance. Könnte neu anfangen. Nach dem Jubiläum würde das Interesse vielleicht nachlassen. Sie müsste einmal die Wahrheit sagen und könnte dann für immer mit dem Fall abschließen. Just in dem Moment zeigte sich eine Öffnung in der Wolkendecke, ein Sonnenstrahl fiel wie ein Scheinwerferlicht auf die Nordsee und tanzte auf der brausenden Oberfläche.

Sie lächelte und dachte an das Angebot, das sie bekommen hatte. Eine neue Stelle war ein Anfang. Sie hatte doch auch das Recht auf ein Leben, auf Liebe, auf Familie, auf Freunde. Doch sie hatte nie eine Chance bekommen. Ihr Gesicht war bekannt und wenn sie dann ihren Namen sagte, erntete sie wieder diese Blicke. Mit so einer wollte niemand arbeiten und sich keiner anfreunden, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Sie war noch keine 45 Jahre alt – es war nicht zu spät für einen Neuanfang. Sie war jemandem begegnet, der ihr Hoffnung gemacht hatte. Diese Chance wollte sie sich nicht entgehen lassen. Sie blickte ein letztes Mal hinab zu dem orangen Schal, der wie eine Fahne an einem Busch hing.

»Nein«, sagte sie entschlossen, »ich werde dir nicht folgen!«

Sie öffnete die Metalltür neben der Besucherplattform und stieg die Wendeltreppe hinab. Da hörte sie die schwere Tür unten in der Pension ins Schloss fallen. Das war verwunderlich, denn die Tagesbesucher waren schon lange abgefahren. Über Nacht blieb um diese Jahreszeit kaum ein Gast. Sie stieg die Treppe hinab zur Rezeption, wo die Eintrittskarten für die Besichtigung lagen. Der Vorraum war leer.

»Hallo, ist hier jemand?«, rief sie. Sie hatte doch ganz deutlich die schwere Tür der Pension gehört, die ins Schloss gefallen war. Doch niemand war zu sehen, alles schien still. Sie ging durch die Räume, um nach dem Rechten zu sehen, ging durch den Flur in die Küche, als sie einen Lufthauch spürte. Sie konnte sich nicht mehr umdrehen, als sich von hinten eine Hand mit einem Tuch über Mund und Nase legte. Sie nahm einen scharfen Geruch war. Wieder raste der Gedanke durch ihren Kopf: Ich hätte niemals hierher zurückkommen sollen. Sie versuchte, den Angreifer zu treten, doch ihre Glieder wurden ganz schlaff, sie spürte kaum noch den harten Schlag, der sie auf den Hinterkopf traf. Dann verblasste der Raum, bis er sich in nichts auflöste.

Kapitel 2

Die Nebelhörner gaben einen klagenden Ton von sich, ansonsten war es beängstigend still. Margo schien es, als schlucke der Nebel die Geräusche. Eine besondere Stimmung, die nicht einfach zu malen war. Wie konnte sie das ihren Malschülern vermitteln? Vor zwei Monaten hatte sie ihr neues Wohnatelier bezogen, in der ersten Etage über einer traditionellen Seilfabrik im Alten Fischereihafen von Cuxhaven. Eine ganze Etage kostete hier gerade einmal so viel Miete wie ein WG-Zimmer in Berlin – und sie war fasziniert vom rauen Charme. Sie schaute hinab auf die Krabbenkutter am Kai, wo die Fischer gerade die Kisten mit ihren Fängen ausluden.

Direkt vor dem Haus sah sie drei Frauen, die ihre Fahrräder abstellten – wahrscheinlich ihre Malschülerinnen. Mit ihrer Kunstschule »Hafenmaler« hatte sie eine Marktlücke besetzt, denn ihre Kurse waren gefragt. Sie sah auf die Uhr. Die Damen waren überpünktlich. In der verbleibenden Viertelstunde wollte sie ihre Bekannte anrufen, die sie auf der Insel Neuwerk getroffen hatte. Als ihr Atelier gerade renoviert wurde, war sie auf die Insel gefahren, um weitere Mitglieder der Familie ihres Vaters kennenzulernen.

Vor zwei Jahren hatte sie im Winter den Leuchtturm gehütet, in dieser Zeit waren zwei schreckliche Morde passiert – und sie war sogar verdächtigt worden. Schließlich hatte sie wesentlich dazu beigetragen, dass die Verbrechen aufgeklärt wurden. Durch die Suche nach ihren eigenen Wurzeln war sie dem Mörder gefährlich nah gekommen. Dabei hatte sie endlich herausgefunden, wer ihr Vater war. Dieser war seit Langem tot, ihr Onkel, den sie noch kennenlernen durfte, verschollen. Doch sie hatte auf der Insel einen Cousin, Daniel Prell. Sie hatten sich auf Anhieb verstanden, es war ein gutes Gefühl für sie, dass sie in der Familie ihres Vaters willkommen war.

Außerdem hatte sie Julia getroffen, die neue Leuchtturmwärterin auf Zeit, die eigentlich in Cuxhaven lebte. Margo hatte ein paar Skizzen von der Kuppel anfertigen wollen. Julia hatte ihr zugesehen und ihr Fragen über das Leben als Künstlerin gestellt. Sie war an vielen Abenden zu Besuch bei ihr gewesen, stundenlang hatten sie sich über Gott und die Welt unterhalten. Margo feilte noch an ihrem Konzept für die Malschule. Julia kannte jeden Winkel von Cuxhaven und hatte ihr Tipps gegeben, doch sie hatte auch jedes Wort eingesogen, das Margo über ihr eigenes Leben erzählt hatte.

Julia war unglücklich. Aber sie war eine unglaublich mutige und feinsinnige Frau und hatte sich nicht aufgegeben. Sie war dort, um nachzudenken, und suchte einen Neuanfang. Das hatte sie gespürt, auch wenn sie nicht über die Gründe gesprochen hatten. Margo hatte ihrer neuen Freundin schließlich vorgeschlagen, den Telefondienst und die Verwaltungsarbeit für ihre Malschule zu übernehmen. Julia war ihr um den Hals gefallen, und solche Gefühlsäußerungen waren bei ihr selten. Sie hatte das Ganze überschlafen und am nächsten Morgen erklärt, dass sie auf so eine Chance gewartet hatte. Dabei war dies keine besonders tolle Stelle, für Julia jedoch ein Neubeginn nach ihrer Arbeit in der Fischfabrik und verschiedensten Aushilfsjobs.

Doch nun erreichte sie Julia seit Tagen nicht. Sie hatte Nachrichten hinterlassen, irgendwann bekam sie nur noch die Ansage vom Band, dass der Anschluss nicht erreichbar war. Die Mailbox war offenbar voll. Was war da los? Sie würde es am Abend nochmals probieren, doch in einer Minute begann ihr Kurs – und sie konnte es sich nicht leisten, unpünktlich zu sein. Sie nahm sich ihre Staffelei und die Tasche mit der Wasserflasche, Farben und Pinseln und ging vor die Tür, um die Kursteilnehmer zu begrüßen.

Zehn Frauen warteten schon, die älteste schätzte sie auf etwa 70, eine Ärztin in Rente mit schlohweißen kurzen Haaren, die mit ihrer Tochter gekommen war. Sie begann immer mit einer Vorstellungsrunde, das machte die Kurse persönlicher. Die jüngsten waren drei Kunstlehrerinnen aus dem Kölner Raum, die in Cuxhaven ihren Urlaub verbrachten. Eine Buchhändlerin aus Heilbronn hatte den Kurs zum Geburtstag bekommen. Sie erklärte verlegen, dass sie seit der Schulzeit nicht mehr gemalt hatte.

Sie postierten sich am Kai mit Blick auf die Kutter, die zunehmend der Nebel einhüllte. Margo hielt eine kurze Einführung über Industriemalerei und zeigte einige ihrer Werke, dann begannen die Hobbykünstlerinnen mit groben Skizzen. Margo ging von Staffelei zu Staffelei, gab Ratschläge, half beim Anmischen der Farben. Die Buchhändlerin wollte sich an einem Aquarell versuchen. Sie half ihr, mehrere Blau- und Grüntöne auf der Palette zu mischen, fügte verschiedene Grautöne hinzu. »Aber bitte keine 50 davon«, sagte die Buchhändlerin.

»Handschellen habe ich auch nicht dabei«, konterte Margo. Sie mochte ihren Humor.

Sie stahl sich für eine kurze Rauchpause davon und wählte wieder die Nummer auf Neuwerk. Nichts! Sie schickte ihrem Cousin eine Nachricht und bat ihn, bei Julia nach dem Rechten zu sehen. Notfalls müsste sie die Polizei einschalten. Warum sollte Julia ihr aus dem Weg gehen? Sie hatte sich unglaublich über das Angebot gefreut und einen absolut verlässlichen Eindruck gemacht.

Natürlich konnte einem die Einsamkeit aufs Gemüt schlagen. Sie war damals nach traumatischen Erlebnissen weggegangen und nie vorher zurückgekehrt. Andeutungsweise hatte sie von den Gespenstern der Vergangenheit gesprochen.

»Frau Valeska«, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als sie zur Gruppe zurückkehrte. Elisabeth, die Ärztin, hatte sie gerufen und deutete auf ihr Werk, ob sie ihr einen Rat geben könne. Es sah aus wie der Versuch einer Sechsjährigen, bunte Kästen, das sollten wohl die Schiffe sein, entlang einer braunen Linie. Die Frau war verkopft, hatte Angst, eine falsche Linie zu setzen. Margo setzte Schatten, korrigierte die Konturen und tupfte mit Weiß Spiegelungen in die Wasserfläche. Dann trat sie zurück – mit wenigen Strichen hatte sie aus dem Versuch ein annehmbares Hafenporträt gemacht. »Fantastisch«, schwärmte die Hobbymalerin begeistert. Gespannt sah sie, was die Buchhändlerin auf das Papier gebracht hatte – und war überrascht. Sie hatte sich auf ein Detail konzentriert und das Seil des Kutters am Kai mit mutigen Aquarellstrichen festgehalten, dazu noch etwas Nebel über das Wasser gelegt.

»A bissl peinlich«, sagte sie in charmantestem Schwäbisch. Doch Margo war begeistert, da schien ein Talent brachzuliegen. Sie hielt das Bild hoch, um es den anderen Teilnehmerinnen zu zeigen, bevor sie von Staffelei zu Staffelei ging, um den Werken den letzten Schliff zu geben. Am Ende klatschten die Frauen begeistert, jede von ihnen schien mit ihrem Werk zufrieden zu sein. Sie verabschiedete sich von ihren Schülerinnen. Dieses Mal verzichtete sie auf eine Nachbesprechung am Hafenimbiss, wo sie sonst gerne einen Kaffee trinken ging. Sie hatte ganz vergessen, ein eigenes Gemälde zu erstellen, ihre Gedanken waren weit weg.

Sie sorgte sich um Julia und hoffte, dass ihr nichts geschehen war. Und sie selbst hatte auch noch eine Entscheidung zu treffen. Sie hatte einen Mann kennengelernt, es war ein Flirt für sie. Doch sie spürte, dass er mehr wollte, eine Beziehung. Sie hatte Spaß mit ihm, doch sie würde ihm die Wahrheit sagen müssen. Dass sie nicht bereit war. Aber eines überraschte sie: Berlin hatte sie noch kein einziges Mal vermisst. Viele Freunde fehlten ihr, doch vielleicht würden diese an die Nordsee zu Besuch kommen. Selbst ihr Kater Horlemann, den sie vor zwei Wochen geholt hatte, schien sich wohlzufühlen.

Sie öffnete die Tür ihrer Fabriketage. Jedes Mal, wenn sie in das Loft eintrat, freute sie sich über diesen fantastischen Raum mit den großen Fenstern, von denen sie auf die Fischereiboote blickte. Auf der anderen Hafenseite befanden sich die historischen Fischhallen mit den Restaurants, die frühere Fischbörse, die Verarbeitungsfabriken für den Fang und die Werften. In der Nacht war die ganze Anlage hell beleuchtet, ein Lichtermeer wie das einer Großstadt, die nie schläft. Es war eine faszinierende eigene Welt.

Sie legte ihre Tasche ab, ging zu ihrem roten Sofa und ließ sich erschöpft fallen, als ihr Horli auf den Bauch sprang. Sie öffnete ihm seine Dose, bevor sie wieder ihr Telefon zur Hand nahm. Nichts! Auch Daniel hatte nichts mehr erreicht, er hatte am Leuchtturm geklingelt und gerufen – niemand hatte geantwortet. Kurzerhand wählte Margo die Telefonnummer von Friederike von Menkendorf, der Hamburger Kommissarin, mit der sie vor zwei Jahren aneinandergeraten war.

»Von Menkendorf«, die Stimme klang gestresst. Margo schilderte das Problem.

»Ich habe Angst, dass sich Julia etwas angetan haben könnte.«

Eigentlich hatte sich Julia auf ihre Zusammenarbeit gefreut und auf die Rückkehr nach Cuxhaven. Aber man konnte in die Menschen nicht hineinsehen. Das wusste sie nur allzu gut, ein naher Freund war wegen Depressionen aus dem Leben geschieden, zuletzt hatte er fröhlich gewirkt.

»Das ist ja kein Fall für die Mordkommission. Ich kann ja bei Gelegenheit jemanden hinschicken«, antwortete ihr von Menkendorf in gelangweiltem Ton.

Margo hatte den Eindruck, dass diese daraus nicht gerade eine Priorität machte. »Da muss wirklich was passiert sein.«

»Sie kann aufs Festland gefahren sein. Neuwerk ist außerhalb der Saison sehr einsam«, beschwichtigte die Kommissarin.

Als ob sie das nicht wüsste – doch schien Julia das nichts auszumachen, sie hatte die Einsamkeit für einige Monate gewählt.

»Bitte, vielleicht hatte sie auch einen Unfall und liegt irgendwo hilflos, im Leuchtturm hört sie keiner.«

»Ich kann mich durchaus daran erinnern, ich kenne das Gebäude«, antwortete die Menkendorf spitz. Dann hörte sie das Tuten im Hörer.

Die Polizistin hatte einfach aufgelegt. Sie hoffte, dass diese etwas unternehmen würde. Dass sich alles aufklärte. Vielleicht war Julia ja doch einfach weggefahren, weil ihr die Decke auf den Kopf fiel, sie hatte nur niemandem Bescheid gesagt. Allerdings erschien ihr das unwahrscheinlich. Sie war einfach nicht der Typ für eine spontane Spritztour.

Kapitel 3

Er glaubte nicht an Gott, schon lange nicht mehr. Und doch hatte er kurz die Hände gefaltet und kniete am Grab. So fühlte er sich Felix nah. Sein Sohn lag unter der Erde auf dem Brockeswalder Friedhof in Sahlenburg. Kai-Uwe König kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich, um das Bild des Jungen aus seinem Gedächtnis abzurufen. Das war das Schlimmste, es fiel ihm mittlerweile schwer. Er sah nur noch das Foto, das bei der Suche überall gehangen hatte, nicht den lebenden Felix. Es war, als ob sich eine Staubschicht auf die lebendige Erinnerung gelegt hatte, und diese wurde immer undurchdringlicher. Nur eine Szene, die konnte er noch abrufen wie einen Film. An jenem Tag, als er mit dem Wattwagen losgefahren war und den Kleinen zurückgelassen hatte, obwohl er so gerne mit ans Festland gekommen wäre. Laut weinend war Felix ins Haus gelaufen. Ein letzter Moment mit seinem Vater, eine Enttäuschung. Und die immer wiederkehrende Frage: Was wäre, wenn er ihn an diesem Tag mitgenommen hätte? Würde er dann noch leben? Wer konnte das wissen, dass er Nein sagen würde? War die Tat damals geplant gewesen?

Seine Knie schmerzten, er ballte die Fäuste und kam mühsam nach oben. Unablässig stellte er sich diese Fragen. Doch man konnte das Leben nun einmal nicht zurückspulen wie einen Film und dann den anderen Weg nehmen. Es gab nur eines, was er noch tun konnte: herausfinden, wer der Täter war. Würde er das zu seinen Lebzeiten herausfinden? Könnte sie ihm diese Antwort geben?

Im Herbst war sie zurückgekommen nach all den Jahren. Das musste eine Bedeutung haben. In ein paar Monaten war der Jahrestag.

Kai-Uwe König hatte sich über das Grab gebückt und zog Grasbüschel heraus, die zwischen den Kieselsteinen wuchsen, um nicht einfach so dazustehen. Es wäre leichter, wenn er seinen Tränen freien Lauf lassen könnte, aber das hatte er nie gelernt. »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, hieß es früher. Wer weinte, war als Mädchen verspottet worden. Und jetzt fühlte er sich zu alt, um damit anzufangen. Ohnehin hätten die Tränen nicht ausgereicht, um all das Leid, was er seit fast 30 Jahren erfahren hatte, zu beweinen. Vielleicht war es so, dass man für sein Glück bezahlen musste.

Er dachte an seine paradiesische Zeit zurück, bevor Felix ermordet wurde. Damals hatten sie gerade das Haus, das er von den Eltern übernommen hatte, komplett renoviert und ihre Pension weiter ausgebaut. Sie hatten sich eine rundum verglaste Veranda über dem Anbau gen Norden bauen lassen, von der sie aufs Meer sehen konnten. Abends nach der Arbeit hatte er dort Hand in Hand bei einem Glas Wein mit seiner geliebten Christine gesessen. Sie fragte ihn oft nach den Sternbildern. Manchmal sahen sie auch ganz einfach den Containerschiffen nach und sie schmiegte sich an ihn. Er hatte niemals von seiner Insel weggehen wollen, und seine Frau sah das ebenso, obwohl sie vom Festland stammte. Auch wenn sie vielleicht zu viel gearbeitet hatten und er nicht oft zu Hause war, sie waren doch glücklich. Bis sie ihren Sohn verloren. Danach hatte sie es nicht mehr lange ausgehalten.

Angefangen hatte das Unheil früher, mit den schrecklichen Briefen und den Anrufen, kaum war Felix auf die Welt gekommen. Die ersten Briefe hatte er kommentarlos in den Müll geworfen. Darin ging es um ihren angeblichen Reichtum. Die Verfasser listeten jede Neuanschaffung auf, zum Beispiel, als sie ihr Wohnzimmer neu möbliert hatten. Er war in den Briefen als Erbschleicher beschimpft worden und damit bedroht, dass die »Rechnung am Schluss bezahlt« werde. Auch seine Eltern hatten solche widerlichen Drohschreiben erhalten, in denen sie aufgefordert wurden, ihren jüngsten Sohn nicht länger zu bevorteilen und seine Geschwister nicht länger so schlecht zu behandeln. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er mit dem gesammelten Schund zum Kommissar Winner von der Wasserschutzpolizei gegangen war. Doch der hatte nur den Kopf geschüttelt, da könne man nichts machen, sie sollten ihre Familienfehden allein klären. Es seien ja schließlich keine Erpresserbriefe, sondern anonyme Verunglimpfungen. Später waren sogar Anrufe gekommen, jemand hatte sie mit verstellter Stimme beschimpft. Und dann gab es den schrecklichen Brand, als jemand den Stall angesteckt hatte und fünf Pferde, die er zur Ausbildung hatte, qualvoll umkamen.

Dann hatte die Polizei endlich reagiert und eine Fangschaltung eingerichtet, doch auch damit konnten sie nicht herausfinden, wer sie bedrohte, und auch der Brand wurde nie aufgeklärt. Es war ihnen klar, dass der Schreiber in irgendeiner Form mit ihnen verwandt oder bekannt sein musste, woher sonst hätte er wissen sollen, wer bei seinen Eltern zum sonntäglichen Mittagessen eingeladen war oder was sie gerade eingekauft hatten. Sein Bruder und der Cousin hatten geschworen, damit nichts zu tun zu haben, doch er glaubte ihnen nicht. Das Ganze hatte Zwietracht gesät in der Familie, er war misstrauisch geworden. Die beiden hatten weder seinen Geschäftssinn noch das Glück gehabt, eine so fleißige Frau zu ehelichen, und allein hätte er es niemals so weit gebracht mit seinen Wattwagen und der Pension.

Am Tag, an dem Felix verschwand, kam der letzte widerliche Brief an, in dem stand: ›Wir haben dir dein Balg genommen. Mit Geld kann man nicht alles kaufen, du Drecksau.‹ Er hatte das Schreiben aus dem Kasten genommen und an Christine weitergereicht, die ganz blass geworden war. Noch hatten sie gehofft, dass Felix irgendwo auf der Insel unterwegs war, doch das hatte sich zerschlagen. Felix wurde am nächsten Morgen am Jachthafen gefunden, an Händen und Füßen gefesselt, mit ganz blauen Lippen, die Mütze über das Gesicht gezogen. Er war zum Jachthafen gerannt und hatte gebrüllt wie ein wildes Tier. Er wollte denjenigen umbringen, der das getan hatte. Und auch seine Frau hatte sich auf den kleinen Körper gestürzt, ihn schützen wollen vor der Kälte. Doch dann mussten sie ihn weggeben, ans Festland, für die Untersuchungen.

Ihr Junge, er kam in einem Sarg zurück auf die Insel, allein für das letzte Geleit über das Watt, wie es einem Neuwerker zusteht. Wenigstens diese Ehre sollte sein Sohn noch haben. Prächtig hatten sie den Wattwagen geschmückt, mit Tannenzweigen, in die sie Lilien geflochten hatten. Ganz allein lag der kleine Sarg auf dem Wagen, vor den vier Pferde gespannt waren. Er selbst führte den Wagen vom hinteren Pferd aus, auf dem er ritt. Dem Sarg folgten vier Reiter – und zehn Wattwagen, in dem die Trauergemeinde saß, alle Neuwerker wollten dem Kleinen sein letztes Geleit geben. Es war so still, dass man nur die Hufe hörte und das Knarren der alten Wagen. Als sie in der Mitte des Watts den Pferdewagen vom Festland begegneten, die Tagestouristen für einen Ausflug hinüberbrachten, hielten auch diese still ihre Pferde an, als ihr Trauerzug vorüberfuhr. Zu Ehren des Toten senkten sie ihre Peitschen, an denen sie schwarzen Trauerflor befestigt hatten. In dem Moment erreichten die vier Trauerreiter, die vom Festland gekommen waren, ihren Zug. Wie der Brauch es wollte, reihten sie sich nun hinter dem Wagen mit dem Sarg ein, lösten damit die Neuwerker Reiter ab, um Felix auf seinem letzten Weg zu begleiten. Viele Menschen weinten, Felix mit seinen langen blonden Locken war ein Sonnenschein gewesen, ein Kind, dem man nicht lange böse sein konnte. Er rechnete nach und schüttelte den Kopf. Sein Sohn wäre heute fast 34 Jahre alt, vielleicht hätte er sein Geschäft übernommen, hätte schon eigene Kinder. Doch nun hatte er niemanden mehr, der ihm nachfolgte.

Ihre Liebe hatte dieser Tragödie nicht standgehalten, Christine hatte ihn bald darauf verlassen. Er hatte die Trennung ebenso wenig verwunden wie Felix’ Tod. Er war alleine zurückgeblieben, immer mit der Frage, wer seinen Jungen umgebracht hatte. Wäre er sich sicher gewesen, hätte er demjenigen längst das Gehirn aus dem Kopf gepustet.

Doch er hatte jetzt wieder Hoffnung geschöpft, endlich zu erfahren, was damals geschehen war. Er strich noch ein letztes Mal über den Grabstein, verabschiedete sich innerlich von seinem Jungen und fuhr zurück zum Wattwagenparkplatz, wo sein Traktor stand. Das Wasser begann bereits in den Prielen anzusteigen. Er musste sich beeilen – und dann würde er zu ihr in den Leuchtturm gehen. Er würde sie nicht in Ruhe lassen, bevor sie ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte.

Kapitel 4

Schon von Anfang an war Rike dieser Mann unangenehm aufgefallen. Er war groß, durchtrainiert und hatte einen fast glatt rasierten Schädel und einen dieser exakt in Form gefrästen Pseudo-Bärte, eigentlich eher ein schmaler Steg am Kinn. Er war neu in ihrem Hundesportverein, sie hatte ihn noch nie hier gesehen. Seit einem Jahr nahm sie mit ihrem Mischlingsrüden Prinz am Training teil, gemeinsam mit ihrer Kollegin Mareike, die einen ehemaligen rumänischen Straßenhund aus dem Tierheim angenommen hatte. Es gab noch andere Kollegen von der Kriminalpolizei, die hier trainierten, da das Gelände in der Nähe des Präsidiums lag. Es gab sogar einen Hundeservice, der die Vierbeiner tagsüber betreute.

Ihre Omama hatte ihr immer in den Ohren gelegen, etwas Sinnvolles mit ihrer Freizeit anzufangen. »Geh unter Menschen, Rike. Du bist noch jung und musst in Hamburg Freunde finden.« Es war für sie ein Alarmsignal, als Bettina, eine Kollegin der Mordkommission, fast ein Jahr ausfiel, da sie ausgebrannt war. Bei einem Krankenbesuch hatte Bettina sie eindringlich ermahnt, auch mal abzuschalten und den Belastungen des Berufs schöne Erlebnisse entgegenzusetzen. Tatsächlich hatte Rike seit ihrer Beförderung zur Hauptkommissarin für nichts anderes mehr Raum im Leben außer für ihre Arbeit. Hier im Verein trafen sie sich öfter nach dem Training, grillten gemeinsam und unternahmen gelegentlich Ausflüge. Die Stimmung war gut, doch an diesem Tag war etwas anders.

Allein schon der Wagen von dem Typen war Friederike ins Auge gefallen, ein protziger Pseudogeländewagen. Den brauchte man natürlich mitten in Hamburg. Nun stand dieser Typ, umringt von Kollegen, vor ihrem Vereinsbungalow. Er gab offenbar mit seiner Hündin an, deutete sie aus den Wortfetzen, die sie aufschnappte.

»Eine der edelsten und treuesten Hunderassen der Welt. Aber nur etwas für Profis«, dozierte der Mann, der etwa in ihrem Alter war. Mareike winkte ihr zu, sie stand bei den anderen. Rike hielt sich lieber abseits. Sie sortierte ihre Ausrüstung und wartete, dass das Training endlich begann. Neben dem Neuen saß sein Vierbeiner, der mit seinem rötlichen dichten Fell und den spitzen Ohren aussah wie ein zu groß geratener Fuchs. Sie hatte so einen schon einmal in einer Zeitschrift gesehen, wohl eine dieser neuen Moderassen aus Japan, Akita Inu, wenn sie sich richtig erinnerte.

Prinz winselte und fiepte neben ihr, zog auffordernd an der Leine und achtete überhaupt nicht auf ihre Ermahnungen. Vermutlich hatte er Lust auf Bewegung und wollte ebenso wenig wie sie dem Vortrag dieses Angebers zuhören. Endlich gab ihr Trainer Holger Fortmann das Aufbruchssignal. »Na, dann mal los Chris«, forderte er den Neuen auf, der es wohl nicht für angebracht hielt, sich ihr vorzustellen, und gleich mit seinem Hund auf den Parcours zumarschierte.

Wieder fiepte Prinz und zerrte an der Leine in Richtung Platz, sie sprach beruhigend auf ihn ein. Gespannt sah sie zu den einzelnen Stationen. Mal sehen, was der Angeber wirklich draufhatte, vielleicht war ja auch sein ach so bewunderter Hund der Chef im Zweierteam. Beide standen vor dem Trailplatz, der Fuchs hatte neben seinem Herrchen Platz genommen. »Los, Kaida«, forderte dieser seinen Vierbeiner auf. Dieser zögerte vor der Wippe, lief dann brav darüber, schaffte beim ersten Versuch den Sprung über die Hürden, nur durch den Tunnel mochte er nicht kriechen. Sie sah, wie der Mann rot anlief und mit den Händen fuchtelte und herumschrie, mit Verweigerung konnte er offenbar schlecht umgehen. Sein Hund bog vor dem Tunnel blitzschnell ab und rannte Richtung Ausgang. In dem Moment gab es einen Ruck an der Leine und Prinz schoss wie ein Blitz auf den anderen Hund zu.

»Oh je, eine Hündin«, vermutete sie, doch so hatte Prinz bislang nur reagiert, wenn das andere Tier gerade läufig war. Der Typ hatte doch nicht etwa eine läufige Hündin zum Training mitgebracht? Prinz war nun bei der Füchsin angekommen, beide tollten miteinander über die Wiese, beschnüffelten und beleckten sich, bellten sich an, dann klebte er am Hinterteil der Hündin, legte seinen Kopf auf ihrem Rücken ab, sie war stehen geblieben. Oh je, der würde doch nicht etwa … Doch schon waren die beiden miteinander verknäult. Rike war es peinlich, dass ihr Rüde mitten im Training eine wildfremde Hündin beglücken wollte. Sie rannte hin und zerrte den jaulenden Prinz weg, der Mann schnauzte sie wütend an: »Mit so etwas kommen Sie zum Training. Ein wenig besser sollten Sie den aber im Griff haben!«

»Na toll, Ihr Fuchs hört ja genau aufs Wort, wie man gerade sehen konnte.«

»Ein Fuchs, Sie haben ja keine Ahnung. Das ist eine reinrassige Akita Inu! Diesen Hund muss man überzeugen, das ist kein hergelaufener Straßenköter. Eine edle Hunderasse – und ein Unfall mit dem da, das würde Sie teuer zu stehen kommen«, er strich seiner Hündin über den Kopf, wohl eher aus Besitzerstolz für das Statussymbol als aus Tierliebe.

So etwas Arrogantes hatte Rike selten erlebt. Kam neu in den Verein und wollte die alten Mitglieder belehren. Rike war das Verhalten ihres Rüden peinlich, dennoch fand sie den Mann unverschämt.

»Beim nächsten Mal sollten Sie die aber zu Hause lassen, wenn sie läufig ist. Das ist eine unserer ungeschriebenen Vereinsregeln!«

»Was glauben Sie denn, ist sie natürlich nicht«, gab dieser empört zurück und schrie nun seine Hündin an: »Kaida, sofort hierher!«, doch diese nahm ihn nicht einmal wahr. Wenn das nicht doch die Hormone waren. Sie zerrte Prinz an der Leine weg, der Mann nahm seinen Fuchs und ging zurück zum Tunnel, wo sich das Tier stur hinsetzte und keine Bewegung mehr machte.

Holger kam auf sie zu und rügte sie, weil sie unaufmerksam gewesen war. »Das macht der nie, außer bei läufigen Hündinnen, die ja eigentlich gar nicht beim Training sein dürften«, sagte sie nun.

Holger schüttelte den Kopf: »Das würde ich bei Chris ausschließen, der war schon Deutscher Meister mit seinem vorigen Hund. Ein feiner Kerl.«

Dieser hatte seinen Hund mittlerweile dazu gebracht, durch den Tunnel zu kriechen, und kam mit siegesgewissem Blick auf den Ausbilder zu. Sie hielt Prinz fest, der nach wie vor fiepte und an der Stelle schnüffelte, wo seine Angebetete wohl gesessen hatte. Er war überhaupt nicht bei der Sache, völlig durcheinander. Durch den Tunnel ging er problemlos, doch drehte danach wieder wie ein Blitz ab und raste zu seiner neuen Flamme. Mein Gott, wie peinlich, dachte Rike, aber diese Hündin musste läufig sein.

Der Rambo-Hippster, wie sie ihn wegen seines Äußeren und seiner unfreundlichen Art getauft hatte, warf ihnen einen finsteren Blick zu, schwieg aber.

Sie gab ihren Vierbeiner bei Holger ab, der nach dem Training einen Gassiservice für die Kollegen der Polizei anbot, und verabschiedete sich. Sie sah, wie der Neue kopfschüttelnd auf Holger einredete, bestimmt ging es um ihren unerzogenen Rüden. Hoffentlich war das nur ein einmaliger Besuch und dieser Typ trat nicht dem Verein bei.

Der Anruf dieser Malerin Margo hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie dachte daran, wie unkooperativ diese Frau bei den Mordfällen auf der Nordseeinsel Neuwerk gewesen war. Das war ihr erster großer Fall gewesen, mit dem sie ihr Chef Karl Roth betraut hatte – und es war eine sehr schwierige Ermittlung, da die Bewohner der Nordseeinsel eisern schwiegen. Diese Malerin war ihr bei den Ermittlungen dauernd in die Quere gekommen, sie war unglaublich neugierig und hielt sich wohl für Hercule Poirot höchstpersönlich! Und nun sollte sie wegen einer Laune von dieser Frau gleich den Polizeiapparat in Bewegung setzen. Bloß weil die irgendeine Freundin nicht erreichte? Das klang hysterisch. Aber Rike war ein gewissenhafter Mensch, sie hatte den Namen »Julia Lange« notiert und würde die Wasserschutzpolizei beauftragen, dort bei Gelegenheit nach dem Rechten zu sehen. Sie hatten am Nachmittag noch eine Sitzung, wo Karl Roth ihnen seinen Nachfolger vorstellen wollte. Sie bedauerte es sehr, dass ihr Mentor pensioniert werden sollte. Sein Nachfolger war extern ausgewählt worden, er kam wohl von der Bundespolizei aus Berlin und hatte in wichtigen Terrorverfahren ermittelt.

Sie fuhr in den fünften Stock, als sie den Konferenzraum betrat, fühlte sie sich, als hätte sie einen Schlag vor den Kopf bekommen. Karl Roth stand mit dem Typen vom Hundesportverein vor ihr und lächelte ihr zu: »Das ist unsere begabte junge Kollegin Friederike von Menkendorf«, stellte er sie vor.

»Christian Kanter«, entgegnete dieser mit einem kurzen, aber festen Händedruck und einem missbilligenden Blick. Fragen an sie hatte er offenbar keine. Er wandte sich gleich wieder Roth zu: »Sollen wir dann beginnen?«

Roth bat die Kollegen, Platz zu nehmen. Rike sah, dass er emotional aufgewühlt aussah, seine Arbeit war alles für ihn.

»Wie ihr alle wisst, werde ich am kommenden Freitag in Rente gehen. Ich werde euch und die Arbeit sehr vermissen. Aber ich freue mich, euch einen fachlich hochqualifizierten Kollegen als meinen Nachfolger vorzustellen. Das ist Polizeioberrat Christian Kanter.« Er bat diesen, sich selbst vorzustellen.

Der Neue ging nach vorn. Er hatte sich umgezogen, trug einen dunkelgrauen Anzug mit weißem Hemd, und sie musste Mareike widerwillig zustimmen. Der Mann war attraktiv. Wenn er nur ein klein wenig sympathischer wäre, sinnierte Rike und dachte an seinen unmöglichen Auftritt im Hundesportverein.

»Lange Rede, kurzer Sinn«, hörte sie gerade noch und ärgerte sich, dass ihre Gedanken komplett abgeschweift waren. Er bat sie alle, zurück an die Arbeit zu gehen. Denn zu tun gäbe es ja genug.

»Und es wird sich einiges ändern«, kündigte er noch an. Das klang eher beunruhigend, zudem wollte er sich im Lauf der Woche mit jedem von ihnen einzeln unterhalten. Dabei streifte er Rike mit einem grimmigen Blick. Als sie wieder nach unten ging, sah sie noch, wie ihr Kollege Robert Galinowski auf Kanter einredete. Natürlich, dieser Intrigant stand sofort Gewehr bei Fuß, um sich beim neuen Chef einzuschleimen. Da hatte sie nach ihrer ersten Begegnung schlechte Karten.

*

Er musste das Risiko eingehen, gesehen zu werden. Diese Strecke konnte er unmöglich zu Fuß zurücklegen. Seine Ferse schmerzte bei jeder kleinen Bewegung höllisch. Da hatte er sich für fast 1.000 Euro Spezialmarathonschuhe maßschneidern lassen und dann konnte er kaum noch laufen. Es gab keine andere Chance, in diese Einöde zu kommen, als mit dem Pferdewagen. Wie lächerlich! In welchem Jahrhundert lebten sie eigentlich?

Die Zeit drängte, denn diese kleine Ratte wollte zurückkehren und reden. Sie wollte das Geheimnis lüften, das durfte er nicht zulassen. Das würde alles kaputt machen, seine Ehe zerstören. Das würde er nicht einfach so abwarten.

Er hatte die Dinge damals in die Hand genommen und die beiden gerettet. Er hatte es aus Liebe getan. Und auch jetzt würde er wieder tun, was zu tun war. Es war nicht so, dass er es gerne tat. Aber alles musste seine Ordnung haben, sonst würde der ganze Dreck von damals hochkommen. Vor Saisonbeginn musste er handeln, und zwar selbst, denn mit einem weiteren Mitwisser fing das Problem von vorne an. Das war ihm zu gefährlich. Der bequeme Weg hatte immer seine Risiken.

Er quetschte sich zwischen die Touristen ganz hinten. Er erzählte etwas von einem Termin im Nationalparkhaus. Er musste warten, bis die Insel leer war, und würde vermutlich nicht am selben Tag zurückkehren können. In einer größeren Menschengruppe fiel er am wenigsten auf. Dann musste er sich nur noch in der Nähe des Turms verbergen, bis die Luft rein war. Dann war er ganz ungestört. Warum nur konnte sie ihr Mundwerk nicht im Zaum halten. Er konnte doch nicht zulassen, dass sie alles zerstörte, was er sich aufgebaut hatte. Sein gesamtes Lebenswerk!

Kapitel 5

Kurz entschlossen war Kai-Uwe König von seinem Hof im Norden der Insel Neuwerk den Mittelweg zwischen den Wiesen entlang zum Leuchtturm gelaufen. Die Wege waren spiegelglatt, seine Pferde hatte er lieber im Stall gelassen. Es war Aprilwetter, in der Nacht hatte es geschneit und einige der Wiesen waren weiß. Aufgeregt schnatterten die Gänse, die bereits aus ihren Winterquartieren im Süden zurückgekehrt waren und kaum etwas zu fressen fanden. Er ging die Stufen bis zum Eingang des Leuchtturms hinauf, die Tür der Pension war geschlossen. Heute würden wohl keine Wattwagen vom Festland kommen, die eineinhalbstündige Überfahrt von Sahlenburg auf die Insel war bei der Kälte kein Vergnügen. Solche Tage nutzten die Insulaner für die Inventur oder eine Großreinigung. Vielleicht war sie ja in den oberen Etagen der Pension unterwegs? Er klingelte noch mal, nach einigen Minuten wieder, hämmerte dann an die Tür, bis ihm seine Faust schmerzte. Schließlich wählte er die Nummer des Leuchtturms auf seinem Handy.

»Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar«, hörte er. Wo war sie? Oder verbunkerte sie sich, da sie ihm aus dem Weg gehen wollte? Er zündete sich eine Zigarette an und wartete.

Julia war die einzige Zeugin – und sie war auf die Insel zurückgekommen. Er hatte gehofft, dass sie ihm endlich die Wahrheit über Felix’ Tod sagen würde. Er konnte sich noch gut an die rothaarige Jugendliche erinnern, die im Nebenhaus gewohnt hatte. Sie war gutmütig und lieb zu den Kindern. Sie hatte immer gerne auf Felix aufgepasst und ihn oft in seinem Spielzeuglastwagen hinter sich hergezogen. Sie wohnte damals in einem Nebengebäude seines Hofs bei ihrer Schwester Cornelia und deren Mann Bernhard, einem Cousin von ihm.

Eigentlich hatte dessen Mutter den Königshof erben sollen, war jedoch früh verstorben. Nach dem Testament erhielt deshalb sein Familienzweig den Stammsitz auf der Insel Neuwerk. Niemals hatten sein Cousin oder sein Bruder sich darüber beklagt. Doch einer von ihnen musste vor lauter Neid zerfressen sein.

Nach dem Tod von Felix war die kleine Julia verhört worden – und sie hatte ausgesagt, dass sie aus dem Fenster ihren Schwager Bernhard gesehen hatte, der mit Felix an der Hand hinter dem Haus weggegangen war. Nachdem sie das bei der Polizei ausgesagt hatte, war sein Cousin verhaftet worden. Nur einen Tag später stellte sich das Mädchen zuerst vor ein Fernsehteam, dann vor die ermittelnden Beamten und behauptete, sie habe bei dieser Aussage gelogen und eine falsche Beschuldigung gemacht. Seither verkündete sie, sie habe an dem Tag niemanden gesehen und sei noch in der Schule gewesen. Bernhard wurde daraufhin wieder freigelassen. Doch der Zweifel blieb.

Kai-Uwe König vermutete, dass sie von ihrer Familie, allen voran von ihrer Schwester Cornelia, Prügel bezogen hatte, damit sie ihre Aussage zurückzog. 29 Jahre waren vergangen und die junge Frau schwieg eisern.

Er war jetzt bereit für die Wahrheit, auch wenn diese vielleicht schwer erträglich war. Seine Lust, dem Dreckskerl eine Kugel in den Kopf zu jagen, war nicht geringer geworden. Er klingelte erneut an der Pension, noch immer war kein Geräusch aus dem Turm zu vernehmen. Er ging die Treppe hinab, rüttelte an der Kellertür, wo sich im Mittelalter das Gefängnis befand, in dem Störtebeker festgehalten worden war. Heute wuschen die Pensionsbetreiber dort die Wäsche und lagerten Vorräte. Auch diese schwere Holztür war geschlossen. Er umrundete den trutzigen Turm und spähte hinauf zu den Fenstern. Alle geschlossen, nichts Auffälliges zu sehen. Vielleicht war sie irgendwo auf der Treppe gestürzt?

Er ging über den gepflasterten Platz am Kaufmann vorbei zum Nationalparkhaus und klingelte. Er wusste, dass sich dort ein Ersatzschlüssel für den Leuchtturm befand. Die neue Leiterin Karen Wind öffnete und brachte ihm den Bund. Er ging zurück zur hölzernen Treppe des Turms, probierte mehrere rostige Schlüssel aus, bis er den richtigen fand und die Tür öffnen konnte. Noch eine Treppe musste er steigen und keuchte, als er oben ankam. Er rief nach Julia, doch sie antwortete nicht, es war still. Vielleicht hatte sie sich hingelegt, doch dann musste sie einen sehr gesunden Schlaf haben. Leise öffnete er die Zimmertüren. In einem der Räume lagen Kleider auf dem Bett und er konnte einen dunkelblauen großen Koffer auf einer Ablage sehen. In diesem Zimmer wohnte sie offensichtlich, doch von der jungen Frau war nirgendwo eine Spur zu finden. Dann öffnete er die Tür zum Badezimmer und erstarrte.

Sie saß leblos in der Wanne, ihre blauen Augen waren weit aufgerissen, ein angeschlossener Föhn lag im Wasser. Sie trug einen grauen Jogginganzug, der sich mit Wasser vollgesogen hatte. Er ging deshalb schnell zum Sicherungskasten, legte den Hauptschalter um, bevor er den Föhn aus der Steckdose zog. Es roch so widerlich, dass er sich beinah erbrochen hätte. Dennoch nahm er ihr Handgelenk, um ihren Puls zu prüfen. Doch ihre Hand war eiskalt, der Arm fühlte sich steif an. Sie war tot und das schon seit längerer Zeit. Er hielt sich den Stoff seines Ärmels vor die Nase, um den Geruch zu ertragen.

Sie musste verzweifelt gewesen sein. Warum hatte er sich nicht früher entschlossen, sie aufzusuchen? Nun war es zu spät. Es sah eindeutig nach einem Selbstmord aus. Die abgeschlossene Tür, der Föhn, eindeutiger ging es nicht. Er musste seinen Kontaktmann bei der Hamburger Polizei anrufen und wurde durchgestellt. »Das muss sich ein Arzt anschauen, dann geht es an den Staatsanwalt«, erklärte der Kommissar. Er solle den Tatort sperren, was ja auf der Insel vor der Saison nicht schwierig war, und abwarten.

»Wir haben ein Unwetter, der Hubschrauber kann nicht eingesetzt werden.«

Er ging nach unten, um diesen Geruch nicht mehr wahrnehmen zu müssen, und setzte sich auf den Stuhl hinter dem Rezeptionstresen. Nun würde er niemals erfahren, was damals wirklich geschehen war. Der Kommissar rief ihn zurück. Bei diesem Wind konnte nur der Bundeswehrhubschrauber, der auch die Krankenflüge für die Insel übernahm, landen.