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Rodrigue Péguy Takou Ndie

Die Suchenden

Roman

Aus dem Französischen von Inga Frohn
unter Mitarbeit von Lena Müller

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

 

Rodrigue Péguy Takou Ndie: Die Suchenden

Französischer Originaltitel: Les Chercheurs d’avenir

Aus dem Französischen von Inga Frohn

unter Mitarbeit von Lena Müller

Herausgegeben von Afrique-Europe-Interact

Die Übersetzung wurde gefördert durch

die Stiftung »Umverteilen!«.

 

1. Auflage, Juni 2018

Insurrection Notes Vol. 9

 

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2019

ISBN 9783-95405-055-0

 

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | kontakt@unrast-verlag.de

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

 

 

 

 

 

 

 

 

Rodrigue Péguy Takou Ndie wurde im Dezember 1981 in Bafoussam / Kamerun geboren, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. An der Universität Yaoundé II studierte er Wirtschaftswissenschaften, arbeitete dann aber als Autor und Schriftsteller. Aus politischen Gründen musste Péguy Takou Ndie im Jahr 2013 aus Kamerun fliehen. Mittlerweile lebt er in Deutschland, wo er sich u.a. bei Afrique-Europe-Interact engagiert. In Frankreich sind bereits zwei Romane (Les retrouvailles und Le fardeau de nos pères) von Péguy Takou Ndie erschienen, außerdem ein Gedichtband (Les complaintes de l’exilé) und eine Sammlung von Liebesgedichten (Les 90 graines de l’amour).

Für meine Eltern

Ndie Samuel und Damgne Pauline sowie

meine große Schwester Meyou Ndie Quicelle

in liebem Gedenken

 

 

 

 

 

Meine große Dankbarkeit gilt der Stiftung »Umverteilen!« für die Finanzierung der Übersetzung, außerdem danke ich Claire Parthiot, Richard Djif und Marthe Arends für ihre Unterstützung sowie allen, die zur Veröffentlichung dieses Romans beigetragen haben.

Inhalt

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Epilog

Nachwort

Glossar

KAPITEL 1

Wie viele junge Menschen hat mich das Schnurren der hungrigen Bäuche aus Afrika vertrieben, das von einer Clique Diktatoren in Beschlag genommen wurde, die den Frieden bekämpfen und sich jeder Art von Entwicklungsmöglichkeit entgegenstellen. Wie viele andere hat mich der höllische Waffenlärm vertrieben, der die arme Bevölkerung nie ruhig schlafen lässt.

Ja, ich habe mich aus meinem Land davongemacht, das die seit Jahren ungeteilt herrschenden Halbgötter unbewohnbar gemacht haben. Diese Männer reißen die Macht für ein Drittel ihrer Lebenszeit an sich und sorgen dafür, dass das Land für Generationen niemanden kennt als sie selbst und ihre Söhne. Ich habe mein Land verlassen, wo Wandel bisher nur durch Blutvergießen und Krieg möglich war, durch niemals endende Unruhen, die ein scheinbar ruhiges Land in einen Ort voll Leid verwandeln, wo jeder sich selbst zum König macht und sein Gesetz herrschen lässt. Ein Gesetz, das immer zu Ungunsten der Schwachen ausfällt, egal auf welcher Seite sie sich befinden. So sitzt die lethargisch gewordene Bevölkerung in der Klemme zwischen zwei feindlichen Lagern, die angeblich beide für ihr Wohlergehen kämpfen, und weiß nicht, wem sie trauen soll. Konsterniert nimmt sie den Verrat des einen und die Vergeltung des anderen hin. Sie ist die unverständlichen Kriege leid, sie applaudiert und rühmt den Sieger in der Hoffnung, dass er der befreiende Engel ist, der dem Volk endlich seine Macht zurückgeben wird.

Leider weiß sie nicht, dass der Rebell, der triumphierend in die Hauptstadt einfährt und den Platz des alten Herrschers einnimmt, ein seit langem genährtes Begehren befriedigt. Das Volk liegt ihm nur in den ersten Tagen seiner Herrschaft am Herzen, und mitunter schenkt er ihm auch gar keine Beachtung. Er hat nur die Opfer im Sinn, die er seit Jahren erbringen musste, um sein Lebensziel zu erreichen. Er will Rache und seinen Lohn. Seine Dankbarkeit gilt den Ländern, die ihn mit Geldmitteln unterstützt haben. Mit dem Verkauf von Waffen, Panzern und anderem Kriegsgerät, mit dem er eine Armee gegen den etablierten Machthaber aufstellen konnte. Nebenbei löst er einen Bürgerkrieg aus, der in einigen Landstrichen über Jahre andauern wird und Wirtschaft, Infrastruktur und Bevölkerung zugrunde richtet. Sein Ziel ist weder der Wiederaufbau des Landes noch die Rückkehr der Geflüchteten und noch weniger die Unterstützung der Bevölkerung, die Mühe hat, das Kriegstrauma zu überwinden. Ihm geht es um seinen persönlichen Wiederaufbau, die Anerkennung Seinesgleichen, die Verwirklichung seines Traumes.

Und so offenbaren sich ihm die Geheimnisse der Macht: Mit den Schlüsseln zur Staatskasse betraut, öffnet er das Tor zu einer neuen Dynastie. Die wiederum findet mit dem Sturz des Tyrannen durch einen neuen machthungrigen Rebellen ein Ende, der von unsichtbaren Hintermännern gestützt wird, denen er die gleichen Versprechungen macht wie sein Vorgänger, Versprechen, für deren Erfüllung die Entwicklung des ganzen Landes über Jahrzehnte herhalten muss. Und der Kreislauf beginnt von vorne.

Unter diesen Bedingungen werden alle mundtot gemacht. Meinungsfreiheit gibt es nicht. Sie ist nur ein Schein, eine Fassade, eine Maske. Medienbesitzer, die nach Expansion und Alleinherrschaft trachten, üben eine strenge Zensur aus und sorgen für eine permanente, oft erdrückende Beeinflussung ihrer Mitarbeiter. Mitunter ist es Letzteren erlaubt, von den Vorgesetzten peinlich genau kontrollierte und abgewägte Kritik zu äußern, um vor der Welt den Anschein von Meinungsfreiheit zu erwecken, auch wenn die Fakten das Gegenteil belegen. Ihre redaktionelle Ausrichtung ist ins Schlingern geraten. Die derart hergestellte Kritik besiegelt die Abwertung, die die Freiheit in meinem Land schon vor langem erleiden musste. Ein Journalist, der dennoch unverzagt und entschlossen seiner Arbeit nachgeht, wird insgeheim dafür gerügt, dass er zu eifrig bei der Sache ist. So fällt er aus dem von einer korrupten Hierarchie festgelegten Rahmen, die sich nicht um Berufsethik schert und noch weniger ums Volk. Und sollte der Unerschrockene sich nur der Wahrheit verpflichtet fühlen und weiter gegen den Strom der vorgefertigten Regeln schwimmen, werden seine Gegner ihn vor die Entscheidung stellen, ob er lieber eine gesicherte Arbeitsstelle haben oder auf ewig eine neue suchen möchte.

Und sollte er sich trotz alledem entschließen, die Machenschaften einer durchtriebenen Regierung offenzulegen, sei es in einem Film oder einem Artikel, einer Radiosendung oder einem Buch, bringen Polizei, Geheimdienst oder auch irgendein Verwaltungsbeamter, der sich gestört fühlt, ihn mit Gewalt zum Schweigen. An Mitteln dazu mangelt es nicht: Erpressung, Einschüchterung, Morddrohungen gegen ihn und seine Familie, Entführung, Freiheitsberaubung, Inhaftierung, Vergiftung, Hexerei, Tötungsversuch, Mord usw.

Dieser Waffen bedient sich das herrschende Regime gegen Journalisten, Schriftsteller, Künstler, Politiker, Regimegegner. Ob berühmt oder unbekannt, reich oder arm, niemand ist davor sicher. In meinem Land zweifelt niemand, dass jeder, der sich öffentlich oder im Privaten dem herrschenden politischen System entgegenstellt, für immer auf der dunklen Seite landet, sich in die Schar der Feinde einreiht, die es auszulöschen gilt. Für die Machthabenden ist ein solches Individuum de facto ein Separatist, ein Dissident, und sie werden ihm das Leben zur Hölle machen.

Obgleich Menschenrechtsorganisationen ihre Unterstützung zusichern, können sie nichts gegen die verächtlichen Blicke der Nachbarn tun. Sie sind machtlos, wenn ihr Gegenüber das Problem auf Stammesunterschiede zurückführt und jeden westlichen Aktivisten zum Feind erklärt, bloß weil er die Inkompetenz einer Regierung aus dem globalen Süden anprangert. So weiß der Betroffene schließlich nicht mehr, wem er überhaupt vertrauen soll. Die Menschen, die ihm nahestehen, werden zur ständigen Bedrohung, seine Familie zu seiner größten Schwäche, einer Last und einem leichten Ziel.

Am Ende ist der politische Aktivist allein, seine Freunde haben ihn verraten und verlassen, er ist isoliert, die Bevölkerung, die er verteidigen will, versteht ihn nicht, Fremde machen ihm Angst. Kommt er endlich zu der Einsicht, dass auch ein fettes Gesäß den Anus nicht verschließt, lässt er nach und nach von den Kämpfen ab, die nur für ihn allein von Bedeutung zu sein scheinen. Möchte er sich und seinem Kampf dennoch treu bleiben, muss er eine neue Strategie finden. Zuallererst muss er sein Leben und das seiner Familie vor den Handlangern der Regierung und den Fangarmen des Hungers retten. Leider ist der beste Weg der Entschluss zum Exil, vor allem, wenn er sein Land trotz der Undankbarkeit noch liebt und weiter unterstützen will.

So sieht es in meinem Land und in zahlreichen anderen Ländern Afrikas aus, und viele verschließen die Ohren vor den Berichten oder behaupten, es sei nicht wahr. Es hat mich immer in die Verzweiflung getrieben, dass viele Staaten Künstlern und Aktivisten keinen Glauben schenken, wenn sie sich für die Wahrheit engagieren und eine nachlässige Regierung oder einen ruinösen Staatschef zum Abtreten zwingen wollen. Denn wenn sie diese nicht ernst nehmen, wie sollen sie mich ernst nehmen, wo ich doch nicht einmal ein leidenschaftlicher Redner bin?

Die meisten Menschen im Norden haben keine Ahnung, was es bedeutet, von der Hand in den Mund zu leben, wie ich es bisher tat, ohne zu wissen, ob das Leben es wert ist. Sie können sich kaum vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn die Lebensbedingungen dich dazu zwingen mit vierzehn Jahren erwachsen und mit dreißig alt zu sein. Nur wenige kennen den Groll, der dich überkommt, wenn du den Platz eines Vaters einnehmen musst, der sich aus dem Staub gemacht hat, nachdem er der scheinbar einzigen Pflicht seines Lebens nachgekommen ist: nämlich das Leben weiterzugeben. Und der durch Zufall erschaffene Sprössling ist dazu verdammt, sich ganz allein und ohne jede Unterstützung durchzuschlagen.

Ich selbst habe Elend erlebt und Leid gesehen, das in den Zeitungen keinerlei Erwähnung findet. Ich meine hier nicht die manipulierten Bilder, die auf Werbeplakaten zu sehen sind. Ich spreche von Frauen mit acht Kindern, die keine Arbeit haben. Ich spreche von denen, die ganze Familien durch den Verkauf von Avocados, Guaven, Kolanüssen und Orangen ernähren, und die mit den Steuereintreibern verhandeln müssen, damit ihr Verkaufsstand nicht beschlagnahmt wird. Ich spreche von denen, die sich nur von gekochtem, oft nicht einmal gesalzenem Reis ernähren. Die Sumpfwasser zum Trinken und Kochen benutzen, in das die Reichen flussaufwärts ihre Abwässer leiten.

Ich bin einer von denen, die immer ganz unten waren und die Hand ausstrecken mussten, aber tief im Inneren blieb mir der grimmige Drang, es nach oben zu schaffen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben fasste ich den Entschluss, ins Hexagon aufzubrechen. Diese Entscheidung war nicht leicht, es war ein langer Prozess, genährt von Abenteuerlust und Erfolgsstreben. Ich bin der älteste Sohn einer Familie mit acht Kindern (die drei an Malaria, Cholera und Kwashiorkor gestorbenen nicht mitgezählt). Ich hatte nicht das Glück wie andere Kinder, eine Schulbildung außerhalb meines Dorfs zu genießen. Ich kannte nur das alte, aus der deutschen Kolonialzeit stammende Gebäude, dessen Überreste auch heute noch davon zeugen, dass es in dieser Gegend einstmals eine Schule gegeben hat. Auf eine weiterführende Schule oder gar ein Gymnasium oder auch nur eine Grundschule, die diesen Namen wirklich verdient, wird man wohl noch bis ins nächste Jahrhundert warten müssen. Während die Kinder meines Alters, die in eine wohlhabende Familie hineingeboren waren, den Ort verließen und ihr Studium anderswo fortsetzten, hörte ich mit der Schule auf, da ich ärmer und ohne Vater war und nur auf die Unterstützung meiner Mutter zählen konnte. Doch ich beklagte mich nicht. Ich blieb optimistisch, war ich doch schon weiter gekommen als das halbe Dorf und hatte Lesen und Schreiben gelernt.

Mit blieb nichts anderes übrig, als meiner Mutter mit meinen kleinen Geschwistern zu helfen. Mit anderen Worten, ich musste meine Kindheit und Jugend opfern und meine Mutter beim Verkauf von Tomaten, Kolanüssen und Ananas am Straßenrand unterstützen. Wir rannten hinter den Autos her, um den Reisenden in Bussen und Privatautos unsere Waren anzubieten. In den Augen meiner Mutter lohnte sich das Opfer, das ich erbrachte. Dank meiner Unterstützung konnte sie sich um die sieben anderen Kinder kümmern, meine Brüder und Schwestern, deren Väter ebenfalls keinerlei Verantwortung übernahmen. Sie hatten sich alle davon gemacht und meine Mutter blieb allein mit einer hungrigen Meute. Noch schlimmer war, dass es außer den Kindern auch noch meine Onkel gab.

Der jüngste musste bei uns unterkommen, seit er sein ganzes Hab und Gut wegen des Pipeline-Projekts verloren hatte. Anfangs, als er sich noch vorstellte, welchen Gewinn er mit diesem Projekt machen könnte, hatte er Freudenschreie ausgestoßen und sich schon steinreich gewähnt. Doch seine Hoffnung wurde zerschlagen und er musste sich der bitteren Realität beugen. Der einflussreiche Dorfchef hatte alle angrenzenden Landstücke zu seinem Besitz erklärt. Das Land meines Onkels gehörte unglücklicherweise dazu. Gegen den gefürchteten und allmächtigen Chef mit einer Staatsanwältin als Tochter und einem Richter als Sohn konnte er sich nicht wehren und musste alles zurücklassen. Er erhielt keinen einzigen Cent von der beträchtlichen Summe, die dem falschen Besitzer als Entschädigung gezahlt wurde. So lautete die Geschichte, die er uns erzählte.

Anschließend ließ er sich im Osten des Landes nieder und arbeitete dort bei einem Freund der Familie. Leider war es just der Moment, in dem unser genialer Präsident sich nach dreißig Jahren ungeteilter Herrschaft auf einige seiner großartigen Einfälle besann. Sein fortgeschrittenes Alter und seine weisen Begleiter befeuerten seine Ambitionen. Er erteilte Befehle und das gesamte Land wurde umgekrempelt, keine einzige Region wurde verschont. Und so entdeckte man einige Monate später eine bedeutende Eisenader im Osten des Landes. Haus und Hof des Freundes der Familie, bei dem mein Onkel untergekommen war, standen auf dem betroffenen Land. Der arme Mann muss geglaubt haben, dass die Sterne vom Himmel fallen, als er zwangsenteignet wurde, sein Hof abgerissen, sein Land gestohlen, alles für das »Wohl des Volkes«, bloß welches? Er erhielt eine symbolische Entschädigung, nicht mal ein Siebzehntel des reellen Werts, unter dem Vorwand, dass er keine Besitzurkunde für das Land habe. Was wollt ihr, so funktioniert der Staat in Afrika.

Diese Situation brachte meinen Onkel erneut in Schwierigkeiten, seinen Freund in die Arbeitslosigkeit und ihre Kinder und alle, die von ihnen abhingen, in Not. Aus ersichtlichen Gründen konnte der gute Freund sein Leid nicht einfach hinnehmen, und so beschlagnahmte er die Monatslöhne, die er meinem Onkel noch schuldete, tauschte sie gegen ein Visum ein und verflüchtigte sich in die Vereinigten Staaten Amerikas. Der unglückselige Onkel seinerseits schickte seine Kinder und seine Frau zurück zu ihrem Vater. (Er hatte nur die Mitgift bezahlt und war dem Gesetz nach nicht an sie gebunden, wie er ohne Scham erzählte.) Er selbst beeilte sich, auf dem Familiengrundstück unterzuschlüpfen, auf dem meine Mutter lebte.

Wenn man meiner Mutter glaubt, ist dieses Familiengrundstück ein Geschenk Gottes. Es wird erzählt, dass dieser Schlupfwinkel nicht existieren würde, hätten die abergläubischen Nachbarn meine Großmutter nicht für eine Hexe gehalten und sie beschuldigt, die sieben Kinder der Nebenfrau meines Großvaters durch Hexerei getötet und ihre Herzen verspeist zu haben. Aus Angst auch noch ihren letzten Sohn zu verlieren, war die Nebenfrau aus dem Hause ihres Mannes geflohen. Doch alle Vorsichtsmaßnahmen halfen nichts gegen das Unglück. Ihr letzter Sohn starb später im Alter von 24 Jahren (an Sichelzellenanämie), anders als seine Brüder, von denen kein Einziger seinen zehnten Geburtstag erlebt hatte. Seine ›Langlebigkeit‹ bestätigte bloß, was alle schon wussten: Meine Großmutter war eine fürchterliche Hexe. Wenn sie eine Seele begehrte, gab es kein Entkommen. Magier, Wahrsager und andere Hexenmeister waren machtlos gegen sie. Weder die zahlreichen Krankenakten noch die Autopsien brachten Licht in die geheimnisvollen Umstände der Todesfälle, die ihr angelastet wurden. Niemand wollte glauben, dass es eine Krankheit wie die Sichelzellenanämie gab, die eine ganze Nachkommenschaft dahinraffen konnte. Wer nach einer rationalen Erklärung suchte, zog den Zorn der Hinterbliebenen auf sich und konnte dem Himmel dankbar sein, wenn sie es dabei beließen, ihn als Dummkopf zu bezeichnen.

Nach dem Verschwinden der Nebenfrau blieb meine Großmutter die einzige Frau an der Seite ihres Mannes, und als dieser nach langer Krankheit verstarb, erbte sie sein Haus. Es mangelte nicht an übler Nachrede, man beschuldigte sie, den Tod ihres Mannes verursacht und ausgekostet zu haben. Um endgültig das Haus und die wenigen Habseligkeiten ihres verstorbenen Ehemannes zu erben, musste sie sich gegen die gesamte Schwiegerfamilie durchsetzen. Auch heute kommt es noch oft vor, dass die Geschwister eines Verstorbenen sich seine Besitztümer aneignen und unter sich aufteilen, während die Witwe und Waisen leer ausgehen. Eine trauernde, arme, verängstigte Witwe zählt nicht viel. Sie hat keinen Einfluss auf den Besitz des Bruders. Niemand verschwendet einen Gedanken an die Jahre ihres Lebens, die sie ihm geschenkt hat. An die Schwierigkeiten, die sie bewältigen musste. Dass sie ihren Mann während seiner Krankheit und seinem langen Leidensweg ganz allein unterstützt hat, erkennt niemand an. Auf diese Weise landen viele Witwen mittellos auf der Straße und sehen sich gezwungen, zu ihren Eltern zurückzukehren. Bei meiner Großmutter war es ganz anders. Die Schwiegerfamilie wagte es nicht, Anspruch auf die Besitztümer des Bruders zu erheben, weder mit Gewalt noch mit List. Zumindest nicht in ihrer Anwesenheit. Vielleicht befürchteten sie, die eigenen Kinder könnten plötzlich an Epilepsie oder an Sichelzellenanämie erkranken, die meine Großmutter, davon waren sie überzeugt, nach Belieben austeilte.

Nach ihrem Tod blieb das Haus fünf Jahre lang unbewohnt. Marabouts, Propheten und Wahrsager erklärten, dass ihr Geist in ihm umgehe. Ein Glück für uns. Denn später, als meine Mutter nicht nur ohne Arbeit und ohne Geld für die Miete dastand, sondern auch noch von ihrem letzten Ehemann verlassen worden war, meinem arbeitsscheuen Stiefvater, der mich als Bastard beschimpft hatte – der Trottel, »selber Bastard!« – zog sie es vor, dort einzuziehen. Für sie war es praktischer und naheliegender, sich mit Großmutters Geist auseinanderzusetzen als mit einem realen, mächtigen und entschlossenen Vermieter. Weise Entscheidung. Ich kann jedoch nicht sagen, ob sie jemals mit Großmamas Geist zu tun hatte. Ich weiß nur, dass über dem Türrahmen stets der Zweig eines Friedensbaums steckte und dass sie in ihrer Handtasche und neben ihrem Kopfkissen immer Brustbeeren und Rinden hatte. Ich selbst habe nie etwas Übernatürliches bemerkt. Vielleicht haben Mamas Talismane unser Haus davor bewahrt. Einige Zeit später quartierten meine beiden Onkel sich bei uns ein. Sie hatten ebenfalls verstanden, dass ein unsichtbarer Geist Elend und Schulden vorzuziehen ist.

Die Schwierigkeiten des jüngeren der beiden Brüder waren nicht ganz einfach zu begreifen. Und doch muss ich gestehen, dass er die direkte Ursache für mein Weggehen und mein Abenteuer ist. Er stand eines Tages vor der Tür, um seinen Urlaub bei uns zu verbringen, obwohl doch mittellose Individuen selten Ferien machen. Als er ein Quartal später noch immer da war, wurde uns klar, dass seine Anwesenheit von Dauer sein würde. Es erschien uns seltsam, stellte er doch die Hoffnung der Familie dar. Das war er tatsächlich, und um uns anzuspornen, sagte Mama stets, wir sollten seinem Beispiel folgen. Er hatte lange an der Universität studiert und nun warteten alle ungeduldig, dass aus ihm ein wichtiger Herr mit weißem Kragen würde. Doch leider warteten wir umsonst. In meinem Land hatte sich vor langer Zeit ein Wandel vollzogen und Leistung allein reichte nicht aus, um sich einen Weg in die Verwaltung oder zum Erfolg zu bahnen. Mein Onkel erzählte mir oft, wie er sich, um es zu etwas zu bringen und alle zufriedenzustellen, auf jeden Posten beworben hatte, der für einen jungen Mann wie ihn in Frage kam. Doch nie hatte er Glück gehabt. Und Glück musste wohl eine Rolle spielen, denn intelligent genug war er in unseren Augen.

Nachdem er bei der Arbeitssuche überall gescheitert war, änderte er seine Strategie. Bei Bewerbungen gab er in seinem Lebenslauf einen niedrigeren Abschluss an, als er tatsächlich hatte, doch auch damit hatte er keinen Erfolg. Als die Liste der Enttäuschungen und Misserfolge kaum mehr länger werden konnte, entschied er sich, klein beizugeben und sich in unser kleines Dorf zurückzuziehen. Mit großer Bitterkeit erzählte er mir, dass einige seiner Freunde es im Gegensatz zu ihm geschafft hätten. Er konnte nicht begreifen, warum das Pech an ihm klebte wie ein übelriechendes Insekt. Meine Mutter versuchte in ihrer Rolle als musterhafte große Schwester alles zu tun, um das traurige Schicksal abzuwenden. Sie suchte Priester, Pastoren und Marabouts auf, um die magischen Fesseln zu lösen, die meinen Onkel daran hinderten aufzusteigen. Als Novizin brachte sie bei den Opfergaben und Beschwörungen manches durcheinander. Doch auch dieser Synkretismus half ihr nicht, das Problem zu lösen. Schließlich nahm mein Onkel die Sache selbst in die Hand. Er brachte Opfer auf den Schädeln unserer Vorfahren dar. Er ließ Ziegen und Hähne schlachten, vergoss Blut und Öl, streute Salz an den heiligen Orten aus, doch nichts half. Er befolgte die Anweisungen der Wahrsager bis ins kleinste Detail, verteilte sogar im ganzen Dorf Lebensmittel, was ihm Glück bringen sollte, doch es war nichts zu machen.

Er suchte den mächtigsten Marabout der Region auf, der riet ihm, ein Küken auf dem Land seines Vaters aufzuziehen. Denn, so erklärte er, »das Küken steht für dich. Es wird sich von allem ernähren, was es findet, und wachsen. Und so wirst auch du wachsen.« Eigentlich hätte seine Mutter diese Aufgabe für ihn übernehmen sollen, aber sie lebte nicht mehr. Als mein Onkel es dann selbst tat, stürzte bald darauf ein Habicht aus dem Himmel und verschlang das arme Vögelchen, das es bei seiner eigenen Mutter bestimmt besser gehabt hätte. Was sich wohl auch der Onkel dachte, als Monate später eine Absage nach der anderen auf seine Bewerbungen eintraf. Doch er ließ sich nicht entmutigen, wollte das Rätsel seines Lebens lösen. Er steckte seine letzten Ersparnisse in die Suche nach dem Grund für sein Scheitern und wurde der beste Kunde der Scharlatane im ganzen Land. Doch selbst darin scheiterte er. In seiner Verzweiflung gab er sich selbst den Namen Djo Ngo’o, der Leidende.

Mein Onkel Djo Ngo’o war sich sicher, dass er in diesem Land keinen Erfolg mehr haben würde. Für Bewerbungen war er mittlerweile zu alt, kein Unternehmen wollte ihn mehr. Außerdem, so sagte er, war er nicht von guter Geburt. In seinen Adern floss ein siegloses Blut, ohne vererbte Kühnheit, ohne Ruhm. Ein Blut, das weder mit Adel noch Reichtum gesegnet war und ihm letzten Endes keine Türen öffnete. Oder höchstens einen kleinen Spalt, sodass er zum bloßen Zuschauen verdammt war, ohne je selbst handeln zu können. Ein Zuschauer auf Lebenszeit. Vielleicht war das seine Bestimmung. Mitunter überraschte ich ihn, wie er im Halbdunkel des Zimmers saß, das wir miteinander teilten. Sein flüchtiger, verstohlener Blick mied das gelbliche Licht der kleinen, nachlässig befestigten Glühbirne im Flur. Manchmal tat er, als schliefe er, ganz so, als forderten wir durch unsere bloße Anwesenheit Rechtfertigungen von ihm. Wenn wir mittags oder abends nicht genug zu essen hatten, senkte er voller Scham den Kopf, entschuldigte sich, eine solche Last für meine Mutter zu sein, bedauerte es, das Bett mit uns teilen zu müssen. Er öffnete den Mund, um seine untätige Anwesenheit im Haus zu erklären, als könnten seine Worte den moralischen Schaden beheben, den er glaubte, angerichtet zu haben. Mit der Zeit kam er zu der Überzeugung, dass ihm, wollte er in unserer kleinen Welt bleiben, nichts übrig blieb, als mit meiner Mutter und mir Mangos zu verkaufen und ein Läufer auf der Hauptstraße zu werden. Dieser Gedanke war ihm unerträglich.

Nach und nach stieg ein anderer Wunsch in ihm auf. Da das Land in beruflicher Hinsicht einer vertrockneten Wüstenlandschaft glich, sah er sich gezwungen, das Ganze anders anzugehen. Er musste dringend einen Weg ins Exil finden, nach Europa oder Amerika, ganz egal. Den ganzen Tag lang spielte er den Song von Jean-Jacques Goldman »Là-bas«, »Dort in der Ferne«, und überzeugte mich, dass »dort in Europa« die Würfel nicht schon gefallen seien, dass seine Abschlüsse dort anerkannt, seine Intelligenz gewürdigt werden würde, dass er es dort schaffen könne. Er sah sich schon als Angestellter eines bedeutenden Unternehmens, als Lehrbeauftragter einer berühmten Universität, als Besitzer einer Villa im Herzen der Metropole. Ein schöner Traum.

Doch leider kann man das Pferd nicht von hinten aufzäumen. Das Schwierigste war, ein Visum zu bekommen. Er verließ sein Schlupfloch für einige Wochen und begab sich in die Hauptstadt, um dort alle notwendigen Papiere zu besorgen und bei den Botschaften Visumsanträge zu stellen. Sein selbstgewählter Name darf dabei nicht vergessen werden. Nach mehreren Versuchen hatten alle diplomatischen Vertretungen im Land seine Daten erfasst und ihn auf die Liste der unerwünschten Personen gesetzt. Warum? Für die Visa-Abteilungen war er nur ein Elender mehr, der davon träumte, nach Europa auszuwandern, ein weiterer »Wirtschaftsflüchtling« ohne Papiere, einer von vielen, an denen sich die westlichen Länder die Zähne ohnehin schon ausbissen. Da ihm der Weg über die Botschaften versperrt war, ließ er sich widerwillig mit zwielichtigen Gestalten ein, die ihm Hilfe bei der Verwirklichung seines Traums versprachen. Allerdings war dazu Geld nötig, viel Geld, mehr als er aufbringen konnte; mehr als meine Mutter aufbringen konnte. Am Schluss hatte er die größten Schulden in der ganzen Familie. Alle fingen an, ihm mit Misstrauen zu begegnen. Es wird erzählt, dass er kurz vor seinem Tod zu einem Dieb, einem Betrüger, kurz gesagt, einer unehrlichen Person wurde. Das Streben nach Erfolg, die Versuchung und seine fixe Idee von Europa hatten ihn aufgefressen und zu einer neuen Art von Sklaven des verführerischen Kontinents gemacht – in jeder Hinsicht gefährlich und furchterregend für das Schwarze Afrika.

Zermürbt von den Tiefschlägen, verfolgt von seinen Gläubigern und gequält von den eigenen Gewissensbissen, verschwand er eines Tages. Man fand ihn drei Tage später erhängt am Ast eines Mangobaums auf einem abgelegenen Feld. Diesmal wurde keine Hexerei vermutet. Denn ein Fluch hängt niemanden auf, er quält, macht krank, tötet auf kleiner Flamme. Mein Onkel hatte sich umgebracht, und die Nachricht verbreitete sich von Familie zu Familie. Sie zeigten mit dem Finger auf uns. Wir sollten uns schämen. Wie es der Brauch verlangte, fasste niemand seinen kalten, steifen Körper an. Es gab keine Ermittlungen, keine Autopsie. Die Dorfältesten befahlen, unter seinen Füßen ein Loch zu graben. Dann gaben sie mir die Erlaubnis, auf den Baum zu klettern und den Strick zu durchtrennen. Ich tat, wie mir geheißen.