Cover

Anatoli Uschomirski

Die Bergpredigt aus jüdischer Sicht

Was Juden und Christen gemeinsam von Jesus lernen können

Ich möchte dieses Buch meiner Familie widmen.

Irina, meiner Frau, meiner besten Freundin, meiner Komplizin und Geliebten, mit der ich seit vierzig Jahren durch die Höhen und Tiefen des Lebens gehe.

Meine Tochter Alexandra und ihr Mann Dennis mit meinen mehr als geliebten Enkelkindern Yael und Noam sollen diese Zeilen als Bereicherung ihres Lebens sehen dürfen.

Und nicht zuletzt hoffe und bete ich, dass sowohl messianische Juden als auch Christen von meinen Erläuterungen profitieren können, um das Reich unseres Herrn weiter zu bauen.

INHALT

Über den Autor

Vorwort

Einführung

Entstehung der Evangelien

»Die Tora nach Matthäus«

Teil 1 | Voraussetzungen für Jünger

Die Seligpreisungen

Glückselig die Armen im Geist

Glückselig die Trauernden

Glückselig die Sanftmütigen

Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten

Glückselig die Barmherzigen

Glückselig, die reinen Herzens sind

Glückselig die Friedensstifter

Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten

Die Gleichnisse

Salz der Erde

Licht der Welt

Die guten Werke

Teil 2 | Die bessere Gerechtigkeit

Gesetz und Gerechtigkeit

Gesetz und Gnade

Jesu Stellung zum Gesetz

Thesen und Antithesen

Jesus widerspricht nicht der Tora

Heiligkeit des Lebens

Heiligkeit der Ehe

Heiligkeit der Beziehungen

Leben, wozu wir geschaffen sind

Vollkommen sein

Beziehung

Teil 3 | Das Vaterunser

Vom Beten

Wie man beten soll

Jüdische Gebete

Persönliche Ansprache

Vater-Sohn-Beziehung

Unser Vater

Lob und Anbetung Gottes

Geheiligt werde dein Name

Dein Reich komme, dein Wille geschehe

Dein Wille geschehe

Bitten für uns Menschen

Unser tägliches Brot

Vergib uns unsere Schuld(en)

Lass uns nicht in Verführung geraten, sondern erlöse uns von dem Bösen

Schlussformel im Vaterunser

Das Reich und die Kraft

Die Herrlichkeit

Amen

Schlusswort

Anhang

Worterklärungen

Anmerkungen

ÜBER DEN AUTOR

Anatoli Uschomirski (Jg. 1959) wuchs in einer jüdischen Familie in der Ukraine auf und kam 1992 nach Deutschland. Seitdem engagiert er sich beim »Evangeliumsdienst für Israel« (www.edi-online.de), gründete eine jüdisch-messianische Gemeinde und ist in einem umfangreichen Vortrags- und Predigtdienst europaweit unterwegs.

VORWORT

Als Jude, der in der ehemaligen Sowjetunion geboren wurde, wuchs ich in einer atheistischen Gesellschaft auf. Ich kannte nicht einmal die Heilige Schrift und erst recht nicht die jüdische Tradition. Vor 27 Jahren kam ich jedoch zu der Überzeugung, dass Jeschua, Jesus von Nazareth, der verheißene Messias Israels ist. Als ich das Neue Testament las, war ich überrascht, was dadurch in mir ausgelöst wurde: Meine abgestumpfte jüdische Wurzel wurde auf einmal lebendig und verlangte nach Nahrung. Die jüdische Identität des Messias gab mir Mut, meine eigene Identität zu entdecken und auszuleben.

Die Bibel erwies sich als ein historisches Dokument, das nur unter dem Volk Israel entstehen konnte. Daraus lernte ich, dass es unabdingbar ist, die Bibel aus jüdischer Sicht zu verstehen. Die christliche Sichtweise verliert dadurch nicht etwa, sondern profitiert sehr stark. Wichtige Werke wie Mischna, Talmud, Targume, Midraschim, Schriften von Qumran, die Sammlung von jüdischen Gebeten (Siddur), Abhandlungen von Josephus und Philo wurden viele Jahrhunderte lang in der christlichen Auslegung der Bibel nicht berücksichtigt. Andererseits lesen die Juden das Neue Testament nicht und können ihre wertvollen Erkenntnisse nicht auf die neutestamentlichen Schriften anwenden. Durch meine Begegnung mit Juden und Christen, die sich für das Wort Gottes interessieren, bekam ich viele Impulse, dieses Buch zu schreiben.

Ganz besonders dachte ich beim Schreiben an die messianischen Juden, die so wie ich in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, wo sie ihre jüdische Identität nicht ausleben konnten. Die siebzig Jahre Kommunismus gingen an uns nicht spurlos vorüber. Wir wussten sehr gut, dass wir Juden sind, weil der latente Antisemitismus immer vorhanden war. Unsere jüdische Nationalität stand in unserem Personalausweis. Paradoxerweise gab es zwei Staaten, die ehemalige Sowjetunion und den Nazistaat Deutschland, die ihren jüdischen Mitbürgern »Jude« als Nationalität (nicht als Religionszugehörigkeit) in die Ausweise schrieben. Dieser Vermerk (im Russischen »der fünfte Paragraf« genannt) kostete in Deutschland viele das Leben.

Für die sowjetischen Juden war dieser Vermerk allerdings trotz der vielen Nachteile oft der einzige Anker, der sie mit dem Volk Israel verband. Mit seiner Hilfe konnten sie nach der Perestroika ihre Herkunftsländer verlassen und in die Länder auswandern, in denen Religionsfreiheit herrschte, zumindest auf dem Papier. Viele solcher Juden kamen wie ich zum Glauben an Jesus. Und seitdem bemühen sich einige von uns, dass unsere jüdischen Brüder und Schwestern sowie unsere christlichen Geschwister eine neue Sicht auf ihre Bibel bekommen und dadurch noch fester mit dem Messias, aber auch mit dem Volk Israel verbunden werden.

Gott wirkt nicht an Raum, Zeit und Kultur vorbei. Es war die einzigartige Idee Gottes, dass uns die Bibel als jüdisches Dokument überliefert wurde. Das gilt sowohl für den TeNaCH1 (das sog. Alte Testament) als auch für das Neue Testament. Obwohl viele den TeNaCH als Hebräische Bibel bezeichnen und das Neue Testament wegen der Sprache als den griechischen Teil, beinhaltet gerade das Neue Testament hauptsächlich hebräische Ideen. Und während der TeNaCH seit Jahrhunderten von jüdischen Rabbinern und christlichen Bibelwissenschaftlern kommentiert wurde, finden wir sehr selten eine jüdische Auslegung zum Neuen Testament.

Da ich sehr viel in verschiedenen christlichen Gemeinden und Kirchen unterwegs bin, wurde ich oft gefragt: Warum brauchen wir eine jüdische Sicht auf die Bergpredigt? Darauf gibt es mehrere Antworten:

• Die Bibel ist ein jüdisches Buch.

• Jesus war ein Jude.

• Seine ersten Jünger waren Juden.

• Die Schreiber der Evangelien waren fast alle Juden.

Daraus ergibt sich: Ohne die jüdische Brille verstehen wir das Neue Testament sehr einseitig. Es ist kein Geheimnis, dass viele Schriften und Kommentare in der christlichen Hermeneutik in einer heftigen Polemik mit dem Judentum entstanden sind, manche davon sind sogar antijüdisch. Das betrifft vor allem die Abhandlungen zu den Schriften des Neuen Testaments.

Andererseits haben sich die Juden bewusst von den Schriften des Neuen Testaments distanziert. Erst seit Ende des 20. Jahrhunderts ist unter Juden das Interesse daran gewachsen, allerdings hauptsächlich aus historischem Interesse, denn es gab unter den jüdischen Gelehrten nur wenige, die an Jesus glaubten.

Heute hat sich die Situation verändert. Seit fünfzig Jahren breitet sich die messianische Bewegung weltweit aus. Unter jesusgläubigen Juden gibt es manche, die sich darum bemühen, das Wort Gottes aus jüdischer Sicht zu studieren und ihre Erkenntnisse an andere weiterzugeben. Ich empfinde es als Privileg, die jüdische Auslegung zum Neuen Testament kennenzulernen, ohne dass ich dadurch die christliche abwerten möchte.

Als Nachfolger Jesu lieben wir Gott und sein Wort. Und wenn wir etwas lieben, dann wollen wir mehr davon haben. Um dieses »Mehr« geht es mir: Wie können wir noch besser verstehen, was Jesus uns in seinen Reden heute sagen möchte?

Albert Einstein wurde einmal gefragt: »Wie haben Sie es geschafft, Ihre Relativitätstheorie zu erschaffen?« Er antwortete: »Ich bin gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern den klassischen Weg der drei Gesetze Newtons gegangen. Aber an ganz banalen Stellen, wo andere in ihrer Forschung einfach weitergingen, bin ich hängen geblieben. Dadurch bekam ich einen neuen Blick auf diese Stellen und konnte die Welt anders sehen.«

So möchte ich die Bergpredigt, einen der bekanntesten Texte aus dem Neuen Testament, beleuchten und dabei an den Worten, die schon seit fast 2 000 Jahren gelesen werden, hängen bleiben und sie mit meiner jüdischen Brille betrachten. Dabei folge ich oft der Schriftauslegung von Rabbi Alex Blend, Rabbi Pinchas Polonsky und Dr. Guido Baltes. Allen drei bin ich sehr dankbar für die ausgezeichnete Bibellehre, die ich in ihren Veröffentlichungen gelesen und in persönlichen Begegnungen vernommen habe.

Auch bin ich Christa Jäger und Christiane Kathmann sehr dankbar, die sehr gewissenhaft meine Lücken in der deutschen Sprache ausgebügelt haben.

Ich freue mich, wenn Sie mich auf der spannenden Reise durch die Bergpredigt begleiten und dabei Ihre wertvollen Erkenntnisse über die Lehre Jesu ergänzen.

EINFÜHRUNG

Das Leben Jesu wird uns in vier Evangelien berichtet. In diesem Buch geht es um die Bergpredigt, wie sie im Matthäusevangelium überliefert ist. Manchmal zitiere ich auch andere Bibelverse aus dem Neuen Testament, meist verwende ich jedoch die Texte, die den Menschen bekannt waren, als Jesus seine berühmten Worte sprach, also Verse aus dem Alten Testament oder aus der jüdischen Tradition. Dennoch erscheint es mir notwendig, die Entstehung der Evangelien hier grundsätzlich zu erläutern.

Entstehung der Evangelien

Nach dem Tod und der Auferstehung von Jesus von Nazareth wurde seine Geschichte weitererzählt. Die mündliche Tradition war in Israel hoch entwickelt, die Weitergabe war eine richtige Wissenschaft, die man erlernen konnte. Und so wurde die Geschichte von Jesus ein Teil der jüdischen mündlichen Tradition. Wie Jesus geboren wurde, wie er seine Jünger auswählte, wie er Menschen heilte, vor allem aber, was er lehrte. Und selbstverständlich erzählte man von seinem Tod und seiner Auferstehung. Zwischen 60 und 80 n. Chr. kam zum ersten Mal das Bedürfnis auf, diese Geschichten aufzuschreiben. So entstanden die sogenannten synoptischen Evangelien (griech. syn = zusammen; ópsis = Sicht, sehen; sýnopsis = gemeinsamer Blick).

Die Evangelien sind Augenzeugenberichte, aber auch eine einzigartige literarische Gattung mit einer besonderen Struktur. Die Geschichten sind nicht fest miteinander verbunden wie in den Geschichtsberichten im Alten Testament. Aufgrund dessen eignen sie sich besonders für Predigten, weil keine Vorkenntnisse notwendig sind. Das gilt nicht nur für alle Gleichnisse, sondern auch für die Wunderheilungen, die Episode, als ein Gesetzeslehrer zu Jesus kommt, seine Fragen stellt und eine Antwort bekommt, oder das letzte Abendmahl, die Geschichte der Kreuzigung Jesu und seiner Auferstehung. Die einzelnen Geschichten sind zwar durch einen Hauptgedanken miteinander verbunden, aber trotzdem in sich vollständig. So ist auch die Bergpredigt für sich selbst eine Lehreinheit des Messias.

Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen hat Markus das erste Evangelium geschrieben. Als Matthäus dieses las, merkte er wohl, dass es ein von Gott inspiriertes Dokument ist, aber, salopp gesagt, fehlte ihm etwas. Wir wissen, dass Markus kein Apostel war, sondern eine Art Sekretär von Petrus. Höchstwahrscheinlich schrieb er sein Evangelium für Nichtjuden. Das Zentrum des Markusevangeliums sind der Tod und die Auferstehung Jesu, dies ist das Zentrale in allen vier Evangelien. Aber Markus erwähnt ein wichtiges Thema nicht, das wir im Matthäusevangelium finden: Die Lehre Jesu, von der die Bergpredigt einen sehr großen Teil ausmacht.

Matthäus schrieb sein Evangelium für die Juden und nach jüdischer Vorstellung sollte der Messias vor allem ein Lehrer der Tora sein. Dies verdeutlicht beispielsweise die Aussage der samaritischen Frau: »Ich weiß, dass der Messias kommt, der Christus genannt wird; wenn jener kommt, wird er uns alles verkündigen« (Johannes 4,25). Die Worte »alles verkündigen« beziehungsweise »die Wahrheit lehren« bedeuten im jüdischen Kontext: das Wort Gottes, die Tora, richtig erklären. Daher legte Matthäus einen Schwerpunkt auf die Lehre Jesu.

»Die Tora nach Matthäus«

Das Original des Matthäusevangeliums wurde auf Hebräisch geschrieben, das belegen fünf wichtige historische Quellen.2 Später wurde es ins Griechische übersetzt und das hebräische Original ging verloren. Die älteste überlieferte Übersetzung ist der sogenannte Codex Sinaiticus aus dem Jahr 350, der in der Universitätsbibliothek in Leipzig aufbewahrt wird. Wenn wir heute das Matthäusevangelium auf Deutsch lesen, handelt es sich in gewissem Sinne um eine doppelte Auslegung, denn jede Übersetzung ist in sich schon eine Art Auslegung, weil der Übersetzer nicht in einem freien Kulturraum wirkt, sondern in einer Glaubens- und Auslegungstradition und es für fast jedes Wort mehrere Übersetzungsmöglichkeiten gibt.

Der Aufbau des Matthäusevangeliums entspricht nach Ansicht einiger Wissenschaftler, denen ich mich anschließe, dem Muster der fünf Bücher Mose beziehungsweise der Tora.

Die wichtigsten Themen der »matthäischen Tora« sind kurzgefasst die folgenden:

• I. Buch (Kap. 1–8): Die Richtlinien des Gottesreiches, Johannes der Täufer, Geschlechtsregister, die Taufe Jesu, die Versuchung und die Bergpredigt.

• II. Buch (Kap. 8–10): Jüngerschaft und Nachfolge.

• III. Buch (Kap. 11–13): Wer ist der Messias?

• IV. Buch (Kap. 13–19): Kehila, die Gemeinde: Der Sinn der Gemeinde, sieben Eigenschaften der Gemeinde und anderes.3

• V. Buch (Kap. 19–27): Der Weg des Kreuzes, Nachfolge, das Zweite Kommen, sieben Gleichnisse über das Gericht.

• Schluss (Kap. 27–28): Apokalyptik, Messianisches Reich, Missionsauftrag.

Warum hat Matthäus ausgerechnet diesen Aufbau für sein Evangelium gewählt?

Die Antwort auf diese Frage hängt mit einer anderen zusammen: Wer ist die wichtigste Person, die mit der Tora verbunden ist? Juden würden antworten: Mose.

Matthäus stellt den Messias als den neuen Mose vor und verwendet daher dieses stilistische Mittel.

Und tatsächlich gibt es im Leben von Jesus und Mose beziehungsweise von Jesus und dem ganzen Volk Israel unverkennbare Parallelen, von denen einige in der folgenden Tabelle aufgelistet sind:

MoseJesus
Kurz nach seiner Geburt gerät er in unmittelbare Todesgefahr. Der Pharao hat den Tod vieler unschuldiger jüdischer Kinder angeordnet. Kurz nach seiner Geburt gerät er in unmittelbare Todesgefahr. Herodes hat den Tod vieler unschuldiger jüdischer Kinder angeordnet.
Mose verbringt seine Kindheit in Ägypten. Jesus verbringt einen Teil seiner Kindheit in Ägypten.
Mose wird durch ein Wunder gerettet.Jesus wird durch ein Wunder gerettet.
Auf den Befehl von Mose wird das Meer gespalten.Jesus beherrscht das Meer.
Mose kommt aus Ägypten nach Kanaan (zukünftig: Israel). Jesus kommt aus Ägypten nach Israel.
Mose fastet 40 Tage auf dem Sinai.Jesus fastet 40 Tage in der Wüste.
Mose hat ein »Team« von siebzig Mitarbeitern.Jesus sendet siebzig Jünger aus.
Mose bekommt die Offenbarung Gottes auf einem Berg.Jesus steigt auf einen Berg und gibt die Offenbarung Gottes an Israel weiter.
Moses erlebt, dass sein Gesicht nach der Begegnung mit Gott übernatürlich strahlt.Jesus erlebt, dass die Herrlichkeit Gottes durch sein Gesicht strahlt.
Mose übt Fürbitte für sein Volk.Jesus übt Fürbitte für sein Volk.
Mose erscheint nach seinem Tod vier Personen.Jesus erscheint nach seinem Tod unzähligen Menschen.

Volk IsraelJesus
Israel geht durch das Wasser (Schilfmeer, Jordan).Jesus geht durch das Wasser (Taufe im Jordan) und auf dem Wasser (See Genezareth).
Israel wird der erstgeborene Sohn genannt (2. Mose 4,22).Jesus ist der erstgeborene Sohn.
Israel geht durch die Wüste (40 Jahre).Jesus geht in die Wüste (40 Tage).
Israel wird in der Wüste geprüft.Jesus wird in der Wüste geprüft.

Dieses Buch behandelt den letzten Teil des ersten Buchs der »Tora nach Matthäus«. Die Bergpredigt findet sich im Neuen Testament nur bei Matthäus, in der sogenannten »Feldrede« im Lukasevangelium (Lukas 6,17-49) finden sich jedoch einige Parallelen.

Ein wichtiger Hinweis steht in beiden Versionen:

Und er erhob seine Augen zu seinen Jüngern und sprach: Glückselig ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes.

Lukas 6,20

Als er aber die Volksmengen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm.

Matthäus 5,1

Beide Verse geben uns Aufschluss darüber, an wen die Bergpredigt gerichtet ist: an die Jünger Jesu, die zukünftigen Multiplikatoren. Mit anderen Worten: an die zukünftigen Lehrer. Die Bergpredigt ist keine Bundesverfassung des Himmelreichs, sie enthält keine allgemeinen Rechte und Pflichten für alle Menschen, sondern ist eine Art Betriebsanleitung für hingegebene Jünger Jesu.

Die in Matthäus erwähnte und in Lukas implizite Sitz- beziehungsweise Stehordnung ist Teil der jüdischen Tradition. Wenn ein jüdischer Lehrer zu lehren beginnt, geht er nicht auf die Kanzel, sondern er setzt sich. Unmittelbar vor dem Lehrer sitzen seine besten Jünger. Allerdings sind die besten nicht diejenigen, die alles verstanden haben, sondern diejenigen, die die meisten Fragen stellen. Und wehe, wenn einer der besten Jünger während der Lehreinheit keine Frage stellt, er wird gleich nach hinten versetzt.

Wie wichtig gute Fragen sind, verdeutlicht auch der folgende Witz:

Ein Christ fragt einen Juden: »Warum antwortet ihr Juden auf eine Frage eigentlich immer mit einer Gegenfrage?«

»Warum nicht?«

Die Bergpredigt umfasst drei Kapitel im Evangelium nach Matthäus. Ich habe mich hauptsächlich auf das fünfte Kapitel konzentriert, weil es meiner Ansicht nach das wichtigste ist. In den Kapiteln 6 und 7 kommen zwar auch bedeutende Themen vor, wie Almosengeben, Beten, Fasten, aber sie alle zu behandeln, würde den Rahmen dieses Buches sprengen und vom Wesentlichen ablenken. Aus dem sechsten Kapitel werde ich daher lediglich das Thema »Beten« herausgreifen und das wichtigste Gebet der Christen, das Vaterunser, aus jüdischer Sicht betrachten.

Teil 1

VORAUSSETZUNGEN FÜR JÜNGER

DIE SELIGPREISUNGEN

Als er aber die Volksmengen sah, stieg er auf den Berg; und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:

Glückselig die Armen im Geist,
denn ihrer ist das Reich der Himmel.

Glückselig die Trauernden,
denn sie werden getröstet werden.

Glückselig die Sanftmütigen,
denn sie werden das Land erben.

Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten,
denn sie werden gesättigt werden.

Glückselig die Barmherzigen,
denn ihnen wird Barmherzigkeit widerfahren.

Glückselig, die reinen Herzens sind,
denn sie werden Gott schauen.

Glückselig die Friedensstifter,
denn sie werden Söhne Gottes heißen.

Glückselig die um Gerechtigkeit willen Verfolgten,
denn ihrer ist das Reich der Himmel.

Glückselig seid ihr, wenn sie euch schmähen und verfolgen und alles Böse lügnerisch gegen euch reden werden um meinetwillen.

Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln; denn ebenso haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch waren.

Matthäus 5,1-12

Ganz am Anfang der Bergpredigt stehen die Seligpreisungen. Beim Studium dieser Verse ist es wichtig, so weit wie möglich in die Schuhe der damaligen Zuhörer zu schlüpfen. Leider wissen wir nicht allzu viel über sie. Nur zwei Dinge sind sicher:

1. Sie sprachen Hebräisch, aber vor allem Aramäisch.

2. Sie kannten ihre Bibel sehr gut (viele auch auswendig).

Das heißt: Hebräische und aramäische Ausdrücke weckten bei den jüdischen Zuhörern aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. bestimmte Bilder und Assoziationen, da sie an Verse aus dem Alten Testament erinnern. Als Beispiel sei das erste Wort dieser Predigt genannt:

Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel.

Matthäus 5,3

Das hebräische Wort für glückselig ist aschrei. Menschen, die mit der Hebräischen Bibel vertraut sind, wissen, was dies bedeutet. In der Tora finden wir folgende Ausdrücke:

Da sprach Lea: Zu meinem Glück! Denn glücklich preisen mich die Töchter. Und sie gab ihm den Namen Asser.

1. Mose 30,13

Glücklich der Mann, der nicht folgt dem Rat der Gottlosen, den Weg der Sünder nicht betritt und nicht im Kreis der Spötter sitzt

Psalm 1,1

Glücklich oder selig bedeutet erfolgreich und fruchtbar zu sein beziehungsweise zuverlässig und entschlossen den rechten Weg zu gehen. Selig sind die Menschen, die ihr Ziel im Auge behalten und es auch erreichen. Doch warum stehen die Seligpreisungen gerade hier, am Anfang der Lehre Jesu? Wozu sind sie da?

In den Seligpreisungen erklärt Jesus, was er von seinen Jüngern erwartet. Es war damals für jüdische Lehrer typisch, so anzufangen. Rabbi Tarfon sagte beispielsweise: »Nur der, der sich vom Fleisch enthält, kann ein Jünger werden.« Alle seine Predigten begann er auf diese Weise. Somit wusste der Zuhörer, woran er mit ihm war, und musste sich entscheiden, ob er bereit war, vegetarisch zu leben, um ein Jünger von Rabbi Tarfon zu werden. Ein anderer Lehrer, Rabbi Akiwa, begann seine Predigt, indem er auf die beiden wichtigsten Gebote hinwies: Liebe Gott und liebe deinen Nächsten. Dadurch wusste der Zuhörer sofort, was von ihm erwartet wurde.4

Jesus macht es ebenso. Am Anfang seiner Lehre erklärt er seinen Jüngern, was auf sie zukommt. Ein harter Weg und kein attraktiver Lohn im Diesseits! Aber das ist der Weg, um ein Jünger Jesu zu werden und von ihm zu lernen.

Glückselig die Armen im Geist

Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel.

Oder anders ausgedrückt: Selig sind die Menschen, die vor Gott arm sind, die aber auf dem rechten Weg zu den Reichtümern Gottes in seinem Herrschaftsbereich sind.

Den Begriff (aniej ruach), geistlich arm, kennen wir von den Essenern. So nannten sich die Qumranleute. In den rabbinischen Schriften und den Qumranschriften sind »geistlich Arme« Menschen, die demütig auf den Tag des Herrn warten und ständig auf das Kommen des Messias harren.

Meiner Ansicht nach gibt »ihrer ist das Himmelreich« die Aussage von Jesus nicht ganz korrekt wieder. Wir können das Reich nicht besitzen, es gehört uns nicht, sondern dem Schöpfer. Hier sollte stehen: »aus diesen« beziehungsweise »aus solchen wie diesen« besteht das Himmelreich. Es sind Menschen, die die Nähe Gottes suchen und darunter leiden, dass sie noch relativ fern von Gott sind.

Was bedeutet nun aber »Glückselig die Armen im Geist, denn ihrer ist das Reich der Himmel«? Wenn wir in den TeNaCH schauen, stellen wir fest, dass dieser Gedanke nicht neu ist:

Denn so spricht der Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt und dessen Name der Heilige ist: In der Höhe und im Heiligen wohne ich und bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen.

Jesaja 57,15

Hat doch meine Hand dies alles gemacht, und alles dies ist geworden, spricht der HERR. Aber auf den will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist und der da zittert vor meinem Wort.

Jesaja 66,2

Die Opfer Gottes sind ein zerbrochener Geist; ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verachten.

Psalm 51,19

Das Gegenteil zu den geistlich armen sind geistlich reiche Menschen. Geistlich reich sind Leute, die ihrer Ansicht nach so gut sind, dass Gott ihnen als Gegenleistung mindestens ein gutes Leben geben muss. Es gibt sehr viele fromme Menschen, die glauben, dass sie geistlich reich sind. Mehr Bibellesen, mehr Gebet, mehr Demut, meinen sie, führe zu geistlichen Reichtümern. An sich sind das wichtige und gute Dinge. Aber die Denkweise selbst ist ein Irrweg, denn was wirklich zählt, ist unsere Haltung vor Gott. Nicht umsonst sagte Jesus:

Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. … Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.

Matthäus 9,12-13

Die Quelle der geistlichen Armut ist die Gottesbeziehung. Die Quelle des geistlichen Reichtums ist fromme Selbstzufriedenheit.

Wenn ein Mensch »geistlich reich« ist, hat er zu viel Ego. Über einen solchen Menschen steht in Sprüche 16,5:

Ein Gräuel für den HERRN ist jeder Hochmütige. Die Hand darauf! Er bleibt nicht ungestraft.

Ein stolzes Herz wird von einem Geist gesteuert, der mit dem Geist Gottes nicht zusammenleben kann. Um dem Messias nachzufolgen, muss unser Geist arm sein. Das ist der Anfang unserer Jüngerschaft. Wenn wir meinen, dass wir geistlich reich sind, denken wir, wir müssten nichts mehr lernen. Wir haben doch schon alles! Um zu lernen, müssen wir einen Mangel empfinden und begreifen, dass uns etwas fehlt.

Glückselig die Trauernden

Glückselig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.

Viele Menschen denken bei dem Wort »Trauernde« an Tod und Beerdigung. Doch geht es tatsächlich um diese Art Trauer? Wo in der Hebräischen Bibel findet man die Trauer als ein Kriterium für Auserwähltsein?

Und der HERR sprach zu ihm: Geh mitten durch die Stadt, mitten durch Jerusalem, und zeichne ein Kennzeichen an die Stirnen der Männer, die seufzen und stöhnen über all die Gräuel, die in ihrer Mitte geschehen!

Hesekiel 9,4

Im hebräischen Text steht: (wehitwita Taw) – »und zeichne den Buchstaben Taw«. Dies ist der Buchstabe Taw aus dem hebräischen Alphabet:

Dieses Alphabet haben die Juden jedoch erst aus Babylon mitgebracht. Als Hesekiel sein Buch schrieb, verwendete er ein anderes Alphabet, bei dem der Buchstabe Taw folgendermaßen aussah:

Das heißt, Hesekiel musste den trauernden Menschen ein Kreuz auf die Stirn malen! Ein Midrasch5 erzählt, dass das Kreuz mit Blut gezeichnet werden sollte. Die Menschen, die das Zeichen hatten, wurden gerettet. Das Weinen und Trauern wurde zum Trost und zur Rettung! Später sagt Jesus:

Wenn jemand mir nachkommen will, verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir nach!

Matthäus 16,24

Die jüdische Auslegung zu Hesekiel 9,4 erklärt, dass das Zeichen gemacht wurde, damit der Todesengel die Trauernden verschonen würde, während alle Menschen, die Gottes Weg verlassen hatten, bestraft werden würden.

Einen anderen Aspekt für Menschen, die trauern, finden wir bei Jesaja:

Der Geist des Herrn, HERRN, ist auf mir; denn der HERR hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, den Elenden frohe Botschaft zu bringen, zu verbinden, die gebrochenen Herzens sind, Freilassung auszurufen den Gefangenen und Öffnung des Kerkers den Gebundenen, auszurufen das Gnadenjahr des HERRNERRN

Jesaja 61,1-3