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Für alle,
die mir ihre Tür geöffnet haben.

Bedingungslos.

INHALT

Joshi – WER IST DAS EIGENTLICH?

Mein planloser Plan

Unterwegs ins Abenteuer

Rasanter Ritt ans Meer

Leinen los

Gar nicht so einfach, ein Boot zu finden

Gipfelglück zwischen den Häfen

Ein Weihnachtsengel auf Teneriffa

Das wird was, ich weiß es!

Abschied, Umzug, Neubeginn

Schaukelnd über den Atlantik

Die Entdeckung der veganen Bratwurst

Karibik – das grüne Paradies?

Ab jetzt alleine

Das geschenkte Haus

Zwei Verrückte am Flughafen

Schneller als gedacht

Mit einem grummeligen Franzosen auf hoher See

Gestrandet in einer neuen Welt

Kolumbien – Land der Extreme

Ecuador – wild, rau, herzlich

Peru – ein Stempel mehr

Bolivien – vom Nachtleben und einer salzigen Wüste

Chile – am Ziel angekommen?

Der wilde Süden Südamerikas – Patagonien und Feuerland

Wenn es an der Zeit ist, nach Hause zu kommen

Muchísimas gracias!

Meine 5 ganz persönlichen Glücksformeln

Nachklang

NACHKLANG Man muss die Segel
in den unendlichen Wind stellen,
dann erst werden wir spüren,
welcher Fahrt wir fähig sind.
Alfred Delp

Joshi
WER IST DAS EIGENTLICH?

Joshi will nach Südamerika, per Anhalter über den Atlantik segeln. Bitte was?

„Das ist unmöglich!“, „Das schafft der niemals!“, waren die ersten Reaktionen. Ich dachte mir nur: „Okay, das ist stark!“

Als sein Bruder weiß ich: Joshi macht sein Ding. Das war schon immer so. In der von klaren Strukturen eingerahmten Schule hat er neue, für ihn passende Wege gefunden. So baumelte er mit der Hängematte auf dem Pausenhof oder kochte sich sein eigenes Mittagessen auf dem Spirituskocher, statt mit der Masse in der Mensa abgefertigt zu werden.

Für mich ist er der Individualspezialist höchstpersönlich. Das zeigte sich auch 2014, als wir zum ersten Mal zu zweit für eine längere Zeit, entgegen mancher Empfehlung, in die „große Wildnis“ Norditaliens aufbrachen. Wir wollten ausbrechen und tief eintauchen in das Unbekannte. Diese Woche faszinierender Wildnis und Selbstorganisation hat uns auf einer besonderen brüderlichen Ebene zusammengeschweißt. Das gegenseitige Vertrauen stand im Mittelpunkt. Wenn einer sagte, es ginge hier für ihn nicht mehr weiter, dann war klar – und da wurde nicht diskutiert –, das gilt für uns beide. Denn wir waren als „Wir“ und nicht als zwei Einzelpersonen unterwegs.

Und genau da liegt der Grundstein für die Möglichkeit, als Brüder fünf Monate, Tag und Nacht miteinander zu reisen. Wir geben uns gegenseitig Kraft. Wir hören uns zu, wollen den anderen verstehen und gemeinsam die Faszination dieser Welt erleben und von ihr lernen. Unsere Stärken und Schwächen sind Ergänzung statt Konkurrenz. Die Grenzen des anderen akzeptieren wir und sind dennoch bereit, gemeinsam unsere Komfortzone zu erweitern.

Und das geschah auf unserer Reise ständig. Wir sind miteinander und aneinander gewachsen. Es würde eine Bildungsreise werden, in vielfachem Sinn, das war von Anfang an klar. Wir wollten lernen fürs Leben, lernen, uns außerhalb der klassischen Box, des bekannten Denkmusters, zu bewegen, wollten Irritation auslösen und irritiert werden.

Es wurde eine Reise des Neuartigen, der Überraschungen, des Vertrauens und der Hoffnung, der Liebe und Emotionen.

Für diese fünf super intensiven, lehrreichen und verbindenden Monate, die wir gemeinsam durch sechs Länder Südamerikas getrampt und gewandert sind, bin ich Joshi und all den vielen Menschen mit offenen Türen unendlich dankbar.

Was Vertrauen noch alles bedeutet, konnte ich anschließend auf meiner dreimonatigen Heimreise durch die Karibik und über den Atlantik erfahren – und ich bekam eine leise Ahnung davon, was Joshi wohl auf dem Hinweg erlebt haben muss.

Benni

Mein planloser Plan

Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vorneherein ausgeschlossen ist.
Albert Einstein

2015. Es ist April. Der Frühling explodiert gerade regelrecht und ich bin mit Philipp, einem sehr guten Freund, im Wald unterwegs. Wir wollen ein Survival-Wochenende machen, sprich, einfach mal ohne Essen in den Wald gehen und schauen, was wir an Essbarem finden können. Das sieht dann folgendermaßen aus: Wir schlafen zu zweit unter einem Regenponcho, laufen nach Kompass und Karte durch den Wald, suchen Wasser und haben drei Tage lang nur eins im Sinn: Essen.

Und so ernähren wir uns an jenem April-Wochenende von Buchenblättersalat, bis wir ihn nicht mehr sehen können. Ja, richtig, wir essen die Blätter vom Baum. Liebe Förster, verzeiht uns bitte diesen kleinen „Wildverbiss“. So ist das eben mit dem „Survival“.

Sonntags gelangen wir wieder an die Bundesstraße im Mittelrheintal, doch der Fußweg scheint unerreichbar zu sein. Wir müssten nämlich noch über tiefergelegte, eingezäunte Bahngleise kraxeln, um den Weg zu erreichen. Das ist uns jedoch zu umständlich. Deshalb schlage ich Philipp vor: „Lass uns doch einfach mal ausprobieren zu trampen! Vielleicht hält ja jemand an.“ Also strecken wir kurzerhand unsere Daumen raus und warten. Das erste Auto rauscht vorbei. Das zweite Auto auch. Und dann legt das dritte Auto plötzlich gekonnt eine Vollbremsung hin. Philipp schaut mich mit begeistertem Blick an. Ich schnappe mir den Rucksack. „Der kann nur für uns sein! Auf geht’s!“, rufe ich Philipp euphorisch zu. Wir steigen ein und freuen uns. „Wow! Das ging aber schnell!“, stelle ich fest und Philipp nickt. „Ich bin bei den Pfadfindern und bin früher selbst viel getrampt. Ich heiße übrigens Christian“, stellt sich unser Fahrer vor. „Was heißt denn viel getrampt?“, frage ich neugierig zurück. „Naja, zum Beispiel bin ich mal nach Dubai getrampt.“ Krass! Das ist aber weit. „Wie lange warst denn bis dahin unterwegs?“ Mich packt die Neugier. Ich will mehr wissen. Was genau ist das, dieses Trampen? Bis wohin kann man per Anhalter reisen? Wie genau geht das? Und klappt das immer geldfrei? Ich bin fasziniert.

Auf unserer gemeinsamen gerade mal 30 Kilometer langen Autofahrt erzählt Christian uns die eine oder andere Reiseanekdote aus dem Nahen Osten. So habe ihn zum Beispiel an einer Bushaltestelle mitten in der Nacht ein Scheich mitgenommen und ihm dann seine private Insel gezeigt. Dort sei er echten Einhörnern begegnet, erzählt er. „Das glaubt mir niemand!“, lacht Christian laut auf. Auch Philipp und ich schauen uns für einen Moment ungläubig an. Aber, wer weiß?! Und mir wird eins bewusst: Die Welt steckt voller wundersamer Rätsel. Kurz darauf wirft er uns in meiner Heimatstadt raus. „Danke dir! Gute Fahrt noch!“ Und schon sind wir wieder von unserem kleinen Abenteuerwochenende zurück in Mainz.

Zu dieser Zeit bin ich 17 Jahre alt und besuche die 11. Klasse. Im darauffolgenden Jahr will ich mein Abitur machen und dann bin ich praktisch frei. Ja, frei. Ungebunden. Kann machen, was ich will. Die ganze Welt steht mir offen. Und in meinem Kopf provoziert das genau eine große Frage: Was möchte ich eigentlich nach dem Abitur machen?

Mit jedem Monat, den das Abitur näher rückt, beschäftigt mich diese Frage mehr. Ich fange an, die Ideen in meinem Kopf zusammenzubasteln: Lacht mich nicht schon seit Jahren jenes fremde und ferne Südamerika an, das die Anden, tropischen Regenwald und herzliche Menschen beherbergen soll? Bin ich nicht jedes Mal beim Herumblättern im Atlas an einer Südamerika-Karte hängen geblieben? Hatte ich nicht genau deswegen als dritte Fremdsprache Spanisch statt Französisch gewählt? Ja, doch, so war es und so ist es: Ich will nach Südamerika! Aber ich möchte nicht ein Jahr an einem Ort verbringen. Stattdessen will ich diesen Kontinent selbstständig, frei und unabhängig kennenlernen. Mich von A nach B bewegen können, wann immer ich will. Ja, ich will Südamerika auf eigene Faust entdecken! Doch wie genau soll ich das anstellen? Und wie lange will ich überhaupt unterwegs sein?

Seitdem ich 16 Jahre alt bin, mache ich immer wieder Trekkingtouren in abgelegene Alpentäler. Auch dort bin ich stets mit einem Rucksack, bepackt mit allem Überlebensnotwendigen, unterwegs. Darum muss ich nicht lange überlegen. Das ist es! Ich werde mit einem Rucksack losziehen. Und mit meinem warmen Schlafsack kann ich ja auch praktisch überall nächtigen. Auf meiner Kursfahrt ans Veluwemeer treffe ich dann noch einen Mann, der mir workaway.info empfiehlt. Über diese und ähnliche Plattformen kann man auf der ganzen Welt für Kost und Logis arbeiten. Man verdient zwar kein Geld, aber man hat ja auch keine großen Ausgaben und vor allem einen Ort, an dem man mal durchatmen kann. Ankommen. Eine Pause machen vom ständigen Reisen. Klingt in meinen Ohren einfach perfekt.

Soweit die Gedanken. Doch wie komme ich nach Südamerika? Denn geflogen bin ich noch nie und ehrlich gesagt möchte ich es auch dieses Mal nicht tun. Warum sollte ich in wenigen Stunden auf die andere Seite des Planeten fliegen, nur um diesen zu entdecken? Was ist mit dem Weg dorthin? Und außerdem: Habe ich es eilig? Nein, das ginge mir viel zu schnell, schießt es mir durch den Kopf. Ich will die Distanz spüren. Langsam ankommen. Hinzu kommt, dass ich in Mainz aufgewachsen bin, wo tagtäglich die Flugzeuge drüber donnern. Außerdem ist die Ökobilanz eines Flugzeuges wirklich alles andere als lobenswert und ich möchte meinen ökologischen Fußabdruck so gering wie möglich halten! Nur, wenn ich nicht fliegen will, wie komme ich dann über den großen Teich? Mir kommt das Tramperlebnis aus dem April wieder in den Sinn. Wenn ich doch nur dorthin trampen könnte! Doch einen Landweg gibt es nicht. Autos werden mich wohl kaum dorthin bringen. Da ist einfach nur das Meer. Oder eben: die Luft. Der Luftweg ist aber ja schon ausgeschlossen. Also google ich „Per Anhalter über den Atlantik“. Scheint ja doch möglich zu sein, freue ich mich, als Google mir die Suchergebnisse ausspuckt.

Ich lese von einem Mann, der selbst mal in die Karibik per Anhalter gesegelt ist. In die Karibik? In meinem Kopf rattert’s. Das ist ja fast schon Südamerika! Und der gute Mann beschreibt sogar, wie es gehen soll: Man trampt einfach mit Segelbooten. Mit kleinen privaten Booten, so, als wären es schwimmende Autos. Und so kommt man dann von Insel zu Insel. Und wohl letztendlich auch über den gesamten großen Teich. Na also! Wenn er es in die Karibik schafft, dann schaff ich es auch nach Südamerika! Und damit ist die Idee geboren: Ich werde per Anhalter mit Segelbooten nach Südamerika reisen, Südamerika entdecken und weil es zu schön wäre auch noch gleich bis nach Feuerland trampen. Also bis an die Südspitze Südamerikas. Per Anhalter nach Feuerland.

Eigentlich easy, oder? Ich bin begeistert, recherchiere weiter, sammle Informationen. Und noch am selben Tag fange ich an, eine Packliste zu machen. Was muss eigentlich alles mit in den Rucksack? Für welche Eventualitäten sollte ich gewappnet sein? Was erwartet mich? Schnell stelle ich fest: Das ist wirklich schwer zu planen. Ehrlich gesagt, ich weiß es ganz und gar nicht. Malaria? Giftige Tiere? Würgeschlangen? Schnee und Eis? Wochen auf dem Meer? Seekrankheit ohne Ende? Hitze und Kälte zugleich? Mit welchen Extremen muss ich rechnen? Ich schaue mir Karten und Klimadiagramme der Regionen an, in die ich reisen möchte und merke: Ja, mich werden Kälte und Hitze erwarten, Berge und Meer, Wüste und Regenwald. Die volle Portion der Extreme. Na toll! Also einfach mal für alles gewappnet sein, denke ich und frage mich, wie das möglich sein soll. Und vor allem, wie all das in meinen Rucksack passen soll.

Auf einer Geburtstagsfeier im Februar 2016 bekomme ich schon mal einen Vorgeschmack auf die Reise und darauf, wie wichtig es ist, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, ihnen zuzuhören und auch von sich selbst zu erzählen. Denn so lerne ich Anna kennen. Sie will nach Costa Rica. „Willst du nicht einfach mit mir kommen? Ich will nämlich auch in diese Richtung. Aber ich werde trampen, mit Segelbooten über den Atlantik.“ Die zuerst ungläubig dreinblickenden Augen wirken schnell begeistert. Überrascht. Neugierig. „Ja, ich hätte voll Lust!“ Anna ist dabei. Perfekt! Ich freue mich. Bald legen wir den 4. Oktober 2016 als Startdatum fest. Dann wird gepackt. Monatelang. Nach und nach optimiere ich meine Packliste. Dann noch eine Impfung gegen Hepatitis A und eine gegen Gelbfieber, denn diese ist in manchen Gebieten obligatorisch, und dann geht es in ganz großen Schritten auf den 4. Oktober zu.

Wenn ich Freunden und Bekannten von meinem Plan erzähle, ernte ich nur zweifelnde Blicke. „Aber was ist, wenn du gar kein Boot findest? Was machst du dann?“, „Was ist dein Plan B?“, „Und wie findet man denn bitte so ein Boot?“, „Wie lange willst du überhaupt unterwegs sein?“, „Und was ist, wenn du ausgeraubt wirst?“, „Hast du überhaupt genügend Geld?“, „Was machst du, wenn du dich plötzlich mit Anna nicht mehr verträgst?“, „Was passiert, wenn du krank wirst?“, „Ist Südamerika nicht mega gefährlich?“ Fragen über Fragen, auf die ich keine Antworten habe. „Keine Ahnung“, sage ich dann. „Du bist doch naiv!“ Mir wird der Spiegel vorgehalten. Und meine Freundin sagt zu mir: „Du bist doch verrückt! Du hast einen planlosen Plan!“ Ja, das ist es! Danke! Endlich verstehe ich. Ich kann gar nicht planen, ich kann nur träumen. Warum soll ich mir auch ewig den Kopf über Dinge zerbrechen, die noch – sowohl geografisch als auch zeitlich – so fern liegen?

Von nun an träume ich, anstatt zu planen. Auf die Frage meiner Mama, wie lange ich denn unterwegs sein will, antworte ich ganz lapidar: „Zehn Monate. Dann komme ich wieder. Einfach mal nach Feuerland und wieder zurück.“ Warum genau zehn Monate? Keine Ahnung. Aber es fühlt sich gut an, einen Zeitrahmen abgesteckt zu haben, auch wenn ich wirklich keine Ahnung habe, was zehn Monate Reisen bedeutet.

Früh fange ich an, meinen Eltern deutlich zu machen, dass mein bisher größter Lebenstraum vor der Tür steht. Und vor allem, dass ich das ganz dringende Bedürfnis verspüre, diesen Traum zu leben, ihn am Kragen zu packen, nicht länger warten zu lassen. Meine Eltern haben Verständnis. Ich erfahre Rückenstärkung. Statt Sorgen geben sie mir Mut mit auf den Weg. Sie geben mir ihren Segen und lassen mich in ihrem Vertrauen ziehen. Eine wundervolle Gewissheit.

Im Juli dann halte ich das Abiturzeugnis in den Händen. In meinem Bauch kribbelt’s. Jetzt wird es langsam ernst. Der Countdown läuft. Bald wird diese naive Idee greifbar werden. Und mit einem Mal scheinen sich die Zeiger der Uhr schneller zu drehen. Noch einmal optimiere ich die Packliste, überlege, was kann ich vielleicht doch noch dalassen? Habe ich noch etwas vergessen? Wie sieht es mit meinen finanziellen Mitteln aus? Ich meine, für Transport und Unterkunft dürfte ich ja kein Geld brauchen. Ich werde trampen und auf der Straße oder in der Natur schlafen. Je nachdem, wo ich halt am Abend ankommen werde. Nur eben nicht in Hostels, Hotels oder Herbergen. Aber für etwas Essen müsste ich ja schon Geld mitnehmen. Ich blicke auf meinen Kontostand: Etwa 700 Euro für zehn Monate. Das muss reichen. Mehr habe ich halt nicht. Eine Freundin, die auch nach Mittelamerika will, guckt mich etwas irritiert an. „700 Euro? Also ich würde mal mindestens 2000, eher 3000 Euro für ein Jahr rechnen.“ Ich lache. Mir ist das Geld irgendwie nicht wichtig. Ich spüre, dass ich einen anderen Weg finden werde. Einen weniger materiellen. Es wird sich schon ein Weg zeigen, der mich zu meinem Traum führt. Mir geht es nicht darum, luxuriös oder besonders komfortabel zu leben und zu reisen. Nein, wirklich nicht. Ich schließe sogar ganz bewusst die Tür des Komforts, um zu schauen, welche neuen Türen sich öffnen werden.

Freitags feiere ich dann noch eine Abschiedsparty, sage meinen Freunden Auf Wiedersehen, dienstags soll es losgehen. Endgültig. Mit oder ohne Boot. Ich habe in den vergangenen Wochen über das deutschsprachige Forum „Hand gegen Koje“ bereits Ausschau nach einem Segelboot Richtung Südamerika gehalten und tatsächlich einen Kapitän gefunden, der auf die Kanarischen Inseln segeln würde. Dort befindet sich so etwas ähnliches wie ein Drehkreuz, ein Knotenpunkt. Wer auf die andere Seite des großen Teiches will, macht hier noch mal Halt. Es ist also ein strategisch guter Ort, um ein Boot für die Weiterreise zu finden.

Es ist Samstag. Nur noch drei Tage bis zur Abfahrt. Plötzlich klingelt das Telefon. „Moin! Bernhard hier.“ Bernhard? Ich versuche, ihn gedanklich zuzuordnen. Wer war das noch gleich? „Ich nehme euch mit!“ Ach was! Jetzt machts Klick. Klar, Bernhard, der österreichische Kapitän, der Richtung Kanaren unterwegs ist. „Hi Bernhard! Was hast du gerade gesagt?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn gerade richtig verstanden habe. „Ich habe mich für euch entschieden. Für Anna und dich“, wiederholt der 55-Jährige. „Waaas?! Das ist ja unglaublich! Vielen, vielen lieben Dank!“ Ich raste vor Freude aus. „Das ist ja Wahnsinn! Großartig! Danke!“ Sobald ich aufgelegt habe, renne ich im gesamten Haus hoch und runter, bis es wirklich jeder kapiert hat: Anna und ich haben ein Boot! Und das, noch bevor die Reise überhaupt begonnen hat. Anfängerglück? Wir freuen uns auf jeden Fall riesig! Am 7.Oktober wollen wir uns bei Calpe/Alicante im Hafen treffen. So haben wir also drei Tage Zeit, um von Mainz nach Spanien zu trampen. Etwa 1300 Kilometer. Sollte passen!

Unterwegs ins Abenteuer

Es war keine fremde, sondern eine neue Welt.
Schließlich war es genau das, was er immer gewollt hatte: neue Welten kennenlernen.
Paulo Coelho

Es ist noch dunkel, als Mama, Papa, meine Schwester und mein kleiner Bruder gemeinsam mit mir das Haus verlassen. Es ist der 4. Oktober 2016. Wir fahren zu Anna. Gleich geht die Reise los, ich bin angespannt. Dann machen wir ein letztes Familienfoto, drücken uns noch mal ganz fest und Papa zeichnet mir wie gewohnt ein Kreuz auf die Stirn. „Gott segne und beschütze dich.“

Annas Vater fährt uns noch auf den Rasthof bei Grünstadt, dann sind wir auf uns allein gestellt. Nun liegt es ganz in unserer Hand, wo uns die Reise hinführt.

Rasanter Ritt ans Meer

Vergiss nie, dass alles ein Ganzes ist.
Vergiss die Sprache der Zeichen nicht.
Und vor allem vergiss nicht,
deinen persönlichen Lebensweg zu gehen.
Paulo Coelho

Von Zuhause habe ich eine Pappe und Eddings mitgebracht. Bereits im ersten Auto, sprich, bei Annas Vater, lasse ich die noch leere Pappe zu einem wegweisenden Schild werden. Es wird mich zukünftig immer wieder an meinen großen Traum erinnern. „-> SPAIN -> CHILE“ male ich in großen Buchstaben darauf. Und damit ist mein Ziel klar: Nach Chile soll es gehen. Falls du dich jetzt fragst: „Hä? Wollte der nicht nach Feuerland?“, kann ich Folgendes antworten: „Stimmt, und tatsächlich gehört ein Teil Feuerlands zu Chile.“ Hinzu kommt, dass Chile so einen wunderbar kurzen Namen hat, der natürlich viel besser auf die Pappe passt als Feuerland. Und außerdem zieht mich Chile irgendwie so unbeschreiblich an. Strahlt so eine ganz eigene, starke Magie auf mich aus. Warum? Das weiß ich auch nicht. Ich habe herzlich wenig Ahnung von diesem Land, doch ja, es zieht mich nahezu magnetisch an. Glücklicherweise habe ich zu einer besonders robusten Pappe gegriffen. Ein Umstand, der sich später noch auszahlen wird.

Hoch motiviert und voller Reiselust trampen Anna und ich an jenem Dienstag über die französische Grenze gen Süden. Mit dabei meine 30 Kilo schwere Ausrüstung, die sich auf eine acht Kilo schwere Reisetasche und einen 78-Liter-Trekkingrucksack verteilen. Ich wiege zwar selbst nur etwa 57 Kilo, aber was solls. Wo ein Wille, da ein Weg!

10 Monate – 1 Vision, lautet mein erster Tagebucheintrag. Von nun an habe ich nur noch Chile im Kopf und es kann mir gar nicht schnell genug gehen. Ich will einfach dort ankommen. Doch eins ist gesetzt: Ich reise ausschließlich per Anhalter! Und dementsprechend geben wir halt beim Trampen Gas. Ja, das funktioniert. Man kann schnell oder langsam trampen. Etwas südlich von Dijon sprechen wir einen Mann mit Kölner Autokennzeichen an. „Fährst du gen Süden?“, fragt Anna. „Was heißt denn ‚gen Süden‘?“, erwidert der Kölner. „Naja, wir wollen nach Spanien“, lächelt Anna. „Hmmm … Joa, also gut. Ausnahmsweise.“ So richtig begeistert wirkt er zwar nicht, aber dafür nimmt er uns doch ganz schön weit mit. Mal eben sechs Stunden lang. Das sind über 600 Kilometer. Dankeschön!

Es ist 20 Uhr, als uns nur noch 1,5 Stunden Autofahrt bis zur spanischen Grenze fehlen. Wir stehen auf einer Raststätte. Ein Schweizer Pärchen hat uns bis hierher mitgenommen. Das Pärchen schläft in ihrem Kleinbus, Anna und ich in der Hängematte am Rand der Raststätte. Sie wollen uns morgen mit nach Spanien nehmen. Großartig! Aber nur, wenn wir nicht verschlafen. Denn um 4.15 Uhr geht es schon wieder weiter. Und noch mal gute 600 Kilometer gen Süden. Nach noch nicht einmal 24 Stunden Trampen sind Anna und ich bereits in Spanien. Rasant, würde ich sagen. Eigentlich zu rasant. Wir haben ja drei Tage Zeit für diese Strecke.

Wieder stehen wir auf einer Raststätte. „Lass uns mal schauen, ob wir hier nicht einfach bleiben können“, sage ich hoffnungsvoll zu Anna. „Also Strom gibt’s hier“, stellt sie freudig fest, „und WLAN scheinbar auch!“ Diese Argumente reichen uns. Zwischen Autobahn und Autobahnauffahrt, an der Spitze der Raststätte, spannen wir inmitten von Palmen unsere Hängematten auf. Das hat ja fast schon Karibikcharakter. Nur den Straßenlärm sollte man ausblenden. Wir bleiben zwei Nächte an diesem „idyllischen“ Ort.

Dann trampen wir am 7.Oktober noch das letzte Stück nach Benidorm/Calpe, wo wir unseren ersten Kapitän treffen werden. Nämlich Bernhard, geborener Österreicher und selbsternannter „Crazy Captain“. Na, das kann ja lustig werden. „Bist du auch ein bisschen aufgeregt?“, fragt mich Anna, als wir zum Boot laufen. „Oh ja! Schon! Mal schauen, was uns erwartet.“ Dann erblicken wir „unser“ Boot. Zumindest für die kommenden fünf Wochen wird es unser zukünftiges Gefährt und Zuhause sein. Es ist zehn Meter lang, heißt „Safira“ und ist ein Stahlboot. Robust und etwas rostig. Neben Bernhard ist auch Stefan mit an Bord. Er ist ein Freund von Bernhards Sohn und wandert eigentlich zurzeit quer durch Europa. Zu Fuß. Jetzt macht er halt mal eine kleine Pause und begleitet Bernhard für ein paar Wochen. Bernhard ist in der Türkei gestartet und segelt nun durchs gesamte Mittelmeer Richtung Kanaren. Und genau da wollen wir auch hin!

An Bord werden wir täglich einen kleinen Betrag in eine sogenannte Bordkasse einzahlen, da durch die vielen Häfen und das Essen ja doch einige Kosten entstehen. Ansonsten habe ich mir vorgenommen, Bernhard am Ende noch ein kleines Filmchen über die gemeinsame Segelreise zusammenzuschneiden, und das wir helfen werden, wo immer wir können, versteht sich praktisch von selbst. Es heißt ja nicht umsonst: „Hand gegen Koje“.

Es ist der erste Abend an Bord, als ich folgende Zeilen in meinem Tagebuch notiere. Durchatme. Alles sacken lasse.

Irgendwann abends.

So schön. So atmosphärisch. So besonders. So eigen.

Schwingungen.

Wellen.

Wellen der Freude,

der Freunde,

des Bootes – unserem Treffpunkt – unserem Wohnzimmer.

So schön.

Leise Musik im Hintergrund.

Das Plätschern, vielmehr ein Rauschen des Meeres im Stereosound.

Egal, wohin ich höre.

Ich bin wahrlich von Freude erfüllt! Nachts wache ich um 4 Uhr auf und notiere abermals: so schön.

Leinen los

Die Vergangenheit ist Geschichte,
die Gegenwart Geschenk und
die Zukunft Überraschung.

Unbekannt

Am 9. Oktober geht es dann endlich so richtig los. Ehrlich gesagt bin ich bisher noch nie wirklich gesegelt, zumindest nicht auf hoher See. Zwar habe ich mal innerhalb einer Woche einen kleinen Katamaran-Segelschein gemacht, um über das brusttiefe Meer in den Niederlanden zu sausen, aber das hier ist doch eine ganz andere Nummer. Und auch sonst bin ich eher der, der auf Berggipfel steigt und die Wälder liebt, als am Meer zu verweilen. Klingt das nicht fast schon etwas zu ironisch, dass ich nun die Segelboote als Mittel und das Meer als Weg gewählt habe? Tja, eine andere Wahl hatte ich ja nicht. Und außerdem: Für Neues und ein bisschen Abenteuer bin ich doch immer zu haben. Neuland entdecken und den Horizont erweitern – das wollte ich doch! Also ist es vielleicht sogar genau das Richtige. Und so beginnt der erste Segeltag.

„Uiuiuiuiuiui!“, murmelt Bernhard etwas enttäuscht vor sich hin. „So gut wie gar kein Wind eigentlich.“ Das geht doch ruhig los. Langsam treiben wir entlang der spanischen Mittelmeerküste. Dass wir am zweiten Tag gleich mal stürmische See haben werden, ahnen wir noch nicht. Dass mir speiübel werden wird auch nicht. Ein gelungener Start! Wir haben hier unter Deck aber auch eine wirklich herrliche Geruchskombination: Motorgerüche kombiniert mit totem Fisch. Das beißt. Insbesondere in der Magengegend. Dazu das fröhliche Geschaukel – willkommen auf See! Die Wellen im Mittelmeer sind übrigens besonders tückisch, da sie sehr kurz sind. So wird das Boot schneller hin- und hergeworfen, während man auf dem Atlantik meist sehr lange Wellen hat, die etwas magenschonender sind.

Doch die Entlohnung lässt nicht lange auf sich warten: Nach ein paar weiteren stürmischen Tagen genießen wir einen ganz besonders schönen Sonnenuntergang und ich entdecke zum ersten Mal Delfine in freier Wildbahn. Traumhaft. Wie die sich ums Boot winden, abtauchen, dann wieder aus dem Wasser springen. Verspielte Gesellen.