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ÜBER DIE AUTORIN

Charlotte Wood stammt aus New South Wales, Australien. Sie ist Journalistin und Autorin von sechs Romanen und zwei Sachbüchern. Ihren nationalen sowie internationalen Durchbruch erreichte sie 2016 mit Der natürliche Lauf der Dinge, das u.a. den Stella Prize gewann. Sie lebt in Sydney.

ÜBER DAS BUCH

Unterschiedlicher hätten die Leben der vier Freundinnen kaum verlaufen können, und doch bleiben sie sich über die Jahrzehnte hinweg treu: Jude, die kultivierte Gastronomin, deren Affäre mit dem verheirateten Daniel schon fast so lange währt wie der Freundeskreis; Adele, einst gefeierte Schauspielerin, die eben von ihrer Freundin verlassen wurde; Wendy, die feministische Intellektuelle, der das Verständnis für die eigenen Kinder nicht so leichtfällt wie das Schreiben komplexer Bücher; und schließlich die warmherzige, fürsorgliche Sylvie, der Kitt der Gruppe.

Als Sylvie stirbt, wird den drei anderen klar, dass sie ohne ihre Freundin neu definieren müssen, was sie zusammenhält. An einem gemeinsamen Wochenende in Sylvies altem Strandhaus fördern allzu viel Wein und ungebetene Gäste zudem ein wohlbehütetes Geheimnis zutage, das ihre jahrelange Freundschaft auf die Probe stellt.

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Träume und Tiere sind Schlüssel, mit deren Hilfe wir die Geheimnisse unserer eigenen Natur entdecken können.

Ralph Waldo Emerson

1.

Es geschah nicht zum ersten Mal, dieses Aufwachen im fahlen Licht des frühen Morgens, erfüllt von dem stillen, aber drängenden Wunsch, in die Kirche zu gehen. Ein Nachlassen der kognitiven Fähigkeiten, ganz zweifellos. Frontalhirnschädigung, Frömmigkeit, Angst vor dem Tod, alles ein und dasselbe. Jude hatte da keine Illusionen.

Diese Sehnsucht – war es eine Sehnsucht? Sie war ihr ein Rätsel, ein Beharren in ihrem Inneren, eine Art Schmerz, der kam und ging, vertraut und doch immer noch überraschend und mächtig, wenn er sich einstellte. Wie die Arthritis, die in ihrem Daumengelenk aufflammte. Der springende Punkt war, dass dieses Gefühl nichts mit Weihnachten oder mit sonst etwas in ihrem wachen Leben zu tun hatte. Es kam aus der Welt des Schlafes, entsprang ihrem träumenden Ich.

Anfangs hatte dieses Gefühl sie beunruhigt, aber jetzt gab Jude sich ihm hin. Am Morgen vor Heiligabend lag sie in ihrem weißen Bett und stellte sich den kühlen, dunklen Innenraum einer Kathedrale vor, wo sie vielleicht allein wäre, willkommen geheißen von einer unsichtbaren, samtigen Macht. Sie sah sich dort knien, sah sich den Kopf auf die uralte Holzbank vor sich legen und die Augen schließen. Es war friedlich, in diesem stillen Raum ihrer Vorstellung.

Frontalhirnschrumpfung, ganz zweifellos. In ihrem Alter unvermeidlich.

Sie stellte sich die weichen, grauen Halbkugeln ihres Gehirns vor und musste an Lammhirne auf einem Teller denken. Hirn hatte sie immer gern gegessen, es gehörte zu den Gerichten, die sie oft bestellte, wenn sie mit Daniel essen ging. Aber beim letzten Mal hatten die drei zarten, winzigen Dinger, angerichtet auf einem rechteckigen Teller, sie angeekelt. Sie waren so klein, dass sie auf einen Dessertlöffel gepasst hätten, und in diesem angesagten türkischen Restaurant wurden sie sozusagen schmucklos serviert, nicht versteckt unter Panaden oder Garnierungen: Einfach drei nackte, pochierte Kleckse auf Grünzeug. Sie aß, natürlich aß sie, das gehörte zu ihren Prinzipien. Man lehnte nichts Angebotenes ab, schon gar nichts selbst Gewähltes. Doch beim ersten Bissen zerschmolz das Ding in ihrem Mund, zu gehaltvoll, wie streichzarte Butter, lauwarm und blassgrau, farblich und geschmacklich wie Motten – oder wie der Tod. In jenem Augenblick zeichnete der Schock ihr ein Bild von drei Lämmern, jedes mit eigenem Bewusstsein, eigenen Empfindungen, individuellen Freuden und Leiden. Danach konnte sie nicht mehr weiteressen und überließ Daniel den Rest. »Ich will nicht sterben«, hätte sie am liebsten gesagt.

Natürlich sagte sie das nicht. Stattdessen fragte sie ihn nach dem Roman, den er gerade las. William Maxwell oder William Trevor? Sie verwechselte die beiden oft. Daniel war ein leidenschaftlicher Leser. Ein echter Leser. Der sich über Männer lustig machte, die keine Romane lasen, also über fast alle, die er kannte. Sie hätten Angst vor irgendetwas in sich selbst, sagte er. Angst, sich lächerlich zu machen, nicht zu verstehen – oder, wahrscheinlicher, Angst vor dem Gegenteil: dazu gebracht zu werden, sich selbst zu verstehen, und das sei ihnen unheimlich. Daniel schnaufte verächtlich. Sie behaupteten, keine Zeit zum Lesen zu haben, was ja wohl ein Witz war.

Jude zog das Laken bis zum Kinn hoch. Der Tag fühlte sich jetzt schon stickig an, die Baumwolle kühlte ihren klebrigen Körper.

Was wäre, wenn sie eines Morgens nicht aufwachte? Wenn sie eines Nachts in ihrem Bett starb? Niemand würde es merken. Tage würden vergehen. Irgendwann würde Daniel anrufen und sie nicht erreichen. Und dann? Sie hatten nie darüber gesprochen, was zu tun wäre, wenn sie in ihrem Bett starb.

Letzte Weihnachten war Sylvie noch da, diese nicht – und jetzt sollten sie das Haus in Bittoes entrümpeln. Nehmt euch, was ihr wollt, hatte Gail aus Dublin in einer E-Mail geschrieben. Betrachtet es als Ferien. Wie man im Zusammenhang mit der Auflösung des Hauses einer toten Freundin an Ferien denken konnte, war Jude unbegreiflich. Aber es war nun mal Weihnachten, und Gail hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie nach Irland abgezischt war und es ihnen überlassen hatte. Von daher. Nehmt euch, was ihr wollt.

Es gab nichts, was Jude wollte. Von den anderen wusste sie es nicht.

Sylvie lag seit elf Monaten unter der Erde.

Die Trauerfeier hatte im Restaurant stattgefunden (nicht mehr wiederzuerkennen, nichts außer dem Namen war geblieben). Es hatte wunderbares Essen und guten Champagner gegeben, gute Reden. Wendy hatte wundervoll gesprochen, ehrlich, poetisch. Gail war von einem stummen, schrecklichen Schluchzen geschüttelt worden und Sylvies armer, trauriger Bruder Colin, der neben Gail saß, zu keiner tröstenden Geste fähig gewesen. Er war einundachtzig, hatte im Golfclub ihrer Heimatstadt als Greenkeeper gearbeitet, war dort geblieben, als der Rest der Familie das Städtchen längst verlassen hatte, und war nie darüber hinweggekommen, dass seine Schwester lesbisch war.

Zum Schluss landete Sylvie an einem Ort, den niemand erwartet hatte: Sie bekam eine altmodische Beerdigung in Mona Vale, neben ihren Eltern. Jude, Wendy und Adele waren mit Colin und Gail hingefahren, und mit Andy und Elektra von früher. Sie hatten mit dem mitfühlenden Priester (Ein Priester! Für Sylvie!) auf dem heißen Friedhof gestanden. Jude hatte eine Handvoll Erde genommen und ins Grab geworfen. Seltsam, dass sie das nach all den Jahren zum ersten Mal tat, oder auch nur sah, wie jemand es tat, außer in einem Film. Sie kam sich albern vor, als sie im Dreck niederkauerte und mit ihren lackierten Nägeln in der trockenen, kiesigen Erde scharrte, aber als sie sich aufrichtete und die Erde auf Sylvies Sarg hinabregnen ließ, ergriff sie ein furchtbarer Kummer, stieg in ihrem Körper hoch und flog hinaus in das ohrenbetäubende, helle Rauschen der Zikaden.

Sylvie war tot und empfand keinen Schmerz mehr. Sie hatten sich verabschiedet. Es gab nichts zu bedauern, trotzdem lag sie da drin, in dieser Kiste, unter dem Gewicht dieser ganzen Erde, in der ihr kalter kleiner Körper verweste.

Gail sagte, zum Schluss habe sie friedlich ausgesehen. Aber das hatte nichts mit Frieden zu tun, sondern mit dem Fehlen von Muskeltonus, von Leben. Der Tod ließ einen jünger aussehen, das war eine Tatsache. Jude hatte inzwischen sechs oder sieben Tote gesehen, und ihre Gesichter hatten sich alle geglättet, nachdem das Leben aus ihnen gewichen war, und sie hatten ausgesehen wie ihr viel jüngeres Ich. Ein oder zwei sogar wie Babys.

Wie lange brauchte ein Körper, um zu verwesen? Sylvie hätte bei dieser Frage gekreischt: Ist ja gruselig, Jude!

Der Deckenventilator in ihrem Schlafzimmer drehte sich langsam, tickend, über ihr. Ihr Leben war sauber und klar, klar wie die weißen Ventilatorblätter, die unbeirrt durch die widerstandslose Luft glitten. Das sollte ihr ein Trost sein. Es war ihr ein Trost. Die Zimmer ihrer Wohnung waren nicht mit Vergangenheit vollgerümpelt. Niemand würde sich für Jude durch staubige Kartons und Schränke voller Kram und Krempel wühlen müssen.

Sie lag in ihrem Bett und dachte an Kathedralen. Und an Tiere. Ratten unter den Bodendielen, Kakerlaken, die sich hinter den gekreuzten Knöcheln und blutenden Füßen gipserner Jesusfiguren tummelten. Sie dachte an dunkle, bösartige kleine Vögel, an die gedämpften, schwachen Geräusche von Kreaturen, die in den Hohlräumen zwischen Steinen und Verputz, Decken und Dachbalken starben. Sie dachte an deren Kot, der austrocknete und hart wurde, und daran, was wohl aus der Haut, dem Fell und den Organen wurde, die ungesegnet in den Höhlungen von Dächern verrotteten.

Natürlich würde sie nicht in die Kirche gehen, schließlich war sie weder dumm noch feige.

Stattdessen würde sie zum Fleischer fahren, danach zum Lebensmittelladen und zur Haushaltswarenhandlung, um noch ein paar letzte Putzmittel zu besorgen, und schließlich würde sie ganz ohne Hast die Autobahn zur Küste nehmen, und nachmittags würden die anderen eintreffen.

Es war kein Urlaub, hatten die drei Frauen sich gegenseitig gemahnt, aber eigentlich war diese Mahnung für Adele bestimmt, die sich beim ersten Anzeichen von Arbeit verkrümeln würde. Adele würde absolut nutzlos sein, doch sie konnten sie nicht ausschließen.

Es waren nur drei Tage. Eigentlich eher zwei, da Einkäufe, Fahrt und Ankunft den größten Teil des heutigen Tages in Anspruch nehmen würden. Am zweiten Weihnachtstag würden die beiden anderen schon wieder abreisen und Daniel kommen. Jude beobachtete das geschmeidige Dahingleiten der Ventilatorblätter. Genau so würde sie sein; gleichmütig würde sie durch die Stunden gleiten, bis Adele und Wendy wieder abreisten. Sie würde die üblichen Dinge nicht an sich heranlassen; dafür waren sie alle zu alt.

Dann kam ihr der Gedanke, dass möglicherweise eine von ihnen als Nächste gehen würde. Komisch, daran hatte sie bis jetzt noch nie gedacht. Sie schlug das Laken in einer glatten weißen Woge zurück.

Als sie nach dem Duschen ihr Bett machte, meldete sich bereits ein kleiner Anflug der Verärgerung, die mit Wendy zu tun hatte. Es war, als steckte man die Hand in eine Jackentasche und suchte die Nähte mit den Fingern ab. Wenn man wollte, ließen sich dort immer ein paar winzige, irritierende Krümel finden. Wieso zum Beispiel hatte Wendy sich geweigert, bei ihr mitzufahren, und stattdessen darauf bestanden, in ihrer eigenen entsetzlichen Klapperkiste zu kommen? Jude schüttelte das Laken aus, wehrte das Gefühl der Kränkung ab, das sich einstellen würde, wenn sie Wendys geheimnistuerische Weigerung, es ihr zumindest zu erklären, an sich heranließe. Judes Freigebigkeit, nicht nur in längst vergangenen Restaurant-Zeiten, sondern generell, war allgemein bekannt und oft anerkennend erwähnt worden. Nun, da sie alle älter wurden, legte sie noch größeren Wert auf ihre Großzügigkeit, weil sie sah, dass andere Frauen in Geldangelegenheiten unangemessen ängstlich wurden, geradezu geizig. In Cafés umständlich Münzen aus ihren Portemonnaies kramten, in karitativen Secondhandläden feilschten. Die Hand ausstreckten, um sich zwanzig Cents Wechselgeld herausgeben zu lassen. Es war erschreckend, würdelos.

Aber jetzt, als sie das Laken fein säuberlich einschlug – ihr Bandscheibenvorfall drohte, sich bemerkbar zu machen, doch sie bewegte sich vorsichtig und mogelte sich darum herum –, dachte sie über die Möglichkeit nach, dass sich hinter den Komplimenten über ihre Freigebigkeit auch sarkastische Spitzen verbergen könnten. Einmal hatte ihre Schwägerin vor sich hin gemurmelt: »Wenn du es ständig erwähnen musst, ist es nicht mehr ganz so großzügig«, und Jude hatte vor stummer Wut gekocht!

Wenn sie Daniel davon erzählte, sich bei ihm über Wendy und das Auto beklagte, würde er den Kopf schütteln und sagen, sie hätte einfach zu viel Zeit.

Sie zerrte am Laken.

Wäre Sylvie noch da, könnte Jude sie anrufen und herausbekommen, was mit Wendy los war, und sie würden sich gemeinsam aufregen und sich dann darauf einigen, es nicht weiter wichtig zu nehmen. Und Jude könnte sich fassen und für den Moment wappnen, an dem Wendy in Bittoes aus ihrem dreckigen, zerbeulten Auto stieg, und sie könnte gelassen, liebenswürdig und frei von Groll sein. So aber musste sie sich allein darauf vorbereiten.

Das war etwas, worüber niemand redete: Wie kleinlich der Tod einen werden lassen konnte. Und dass man sich mit Freunden neu arrangieren und um die Lücke herumschleichen musste, die der oder die Tote hinterlassen hatte, alle plötzlich ratlos, wie sie miteinander umgehen sollten.

In anderen Freundeskreisen bedeutete ein Todesfall, in aller Stille getrennte Wege gehen zu dürfen. Nach den ersten Schocks, den frühen Todesfällen, mit vierzig oder fünfzig – den Unfällen, Selbstmorden und tragischen Krankheiten, die Kinder zu Waisen machten, den Boden unter Städten erschütterten –, gab es, wenn man die siebzig erreichte und der Verfall ernsthaft einsetzte, das nie ausgesprochene Einverständnis, dass die neueste schlimme Nachricht – von einem weiteren Schlaganfall, einem überraschenden Tod, einem Tumor oder einer Alzheimer-Diagnose – nicht die letzte bleiben würde. Ein gewisses Maß an Rückzug war erlaubt. Im angemessenen Rahmen tat man, was man tun musste, um sich selbst zu schützen. Wovor? Jude stand da und blickte hinunter auf die ebene, weiße Fläche des Betts. Vor diesen ganzen … Emotionen. Sie drehte sich um und verließ das Zimmer.

Es stimmte, die Zeit hatte allmählich eine andere Gestalt angenommen. Sie schien nicht mehr vorwärts oder rückwärts zu laufen, sondern auf und ab. Die Ablagerungen der Vergangenheit zogen sich durch einen hindurch, durch den eigenen Körper, und sickerten in Gegenwart und Zukunft ein. Sie waren deutlich zu erkennen, diese geäderten Schichten aus Erinnerungen, aus Erfahrungen – und trotzdem blieb man dieses eine Wesen, das sie alle enthielt. Wenn man hinter sich blickte, oder vor sich, war da nur Leere.

Als sie Daniel – bitterlich schluchzend und rauchend – von Sylvies Bitte bezüglich Wendy und Adele erzählte, erwiderte er mit sanft vorwurfsvollem Blick: »Aber Judo, natürlich wirst du dich kümmern, weil du sie liebst. Weil sie deine besten Freundinnen sind.«

Im Grunde genommen war Daniel ziemlich sentimental. Bei einem Mann konnte das merkwürdig anziehend sein. Wieso? Wenn sie es bei einer Frau so abstoßend fand?

Sie setzte sich an den Esstisch, um ihren Kaffee zu trinken. Es war sieben Uhr vierunddreißig. Um Viertel nach acht könnte sie beim Lebensmittelladen sein, dort fände sie um diese Uhrzeit vielleicht schnell einen Parkplatz, dann rasch zum Fleischer und zu den Haushaltswaren und schon wäre sie wieder zu Hause, könnte alles einpacken und um halb zehn losfahren. Spätestens um zehn. Sie griff nach ihrer Einkaufsliste.

Die Leute redeten ständig davon, dass der Tod die Menschen einander näherbrachte, was nicht stimmte. Der Friedhof, die steinige Erde – das war der Tod. Der Mutterboden war weggeweht worden und hatte nur das Grundgestein übrig gelassen. Es war irgendwie peinlich, so zu tun, als könnten sie zu der behaglichen Sanftheit zurückkehren, von der ihr Umgang miteinander einst gepolstert gewesen war. Obwohl die drei Frauen sich besser kannten als ihre eigenen Geschwister, hatte Sylvies Tod merkwürdige Schluchten der Distanz zwischen sie getrieben.

Sie schrieb: Putzschwämme.

Und der Tod hatte riesige Ozeane des Zorns in Jude aufgetan, was sie erschreckte. Wenn andere Leute starben, empfand sie jede diesbezügliche Erwähnung inzwischen als Zumutung. Sylvie war gestorben, Sylvie musste betrauert werden. Die Nachbarn oder Schwestern anderer Leute hatten nichts zu bedeuten, wieso erzählte man ihr davon? Sogar Daniel! Eines Abends hatte er ihre Hand genommen und gesagt, sein Cousin Andrew sei gestorben, ein Herzinfarkt auf einem Boot. Jude hatte darauf gewartet, dass er auf den Punkt kam, bis sie merkte, dass er Mitgefühl wollte. Von ihr! Sie konnte sich nur mühsam davon abhalten, auf den Boden zu spucken, musste sich die Hand vor den Mund halten, weil der Drang zu spucken so stark war. Am liebsten hätte sie geschrien: Na und? Andrew ist gestorben, natürlich ist er gestorben, was hatte Daniel erwartet? Alle starben. Aber doch nicht Sylvie.

Sie sah noch einmal auf ihre Liste. Immer wieder hatte Adele versucht, sie dazu zu überreden, die traditionelle Pavlova aus Baisermasse, Sahne und Früchten zu machen. Adele wusste zwar, dass sie nicht wegen der Feiertage hinfuhren, trotzdem ist Weihnachten, Jude. Es ist Tradition. Adele war in solchen Dingen immer schon rührselig gewesen. Die meisten Schauspieler waren Judes Erfahrung nach sentimental; wahrscheinlich mussten sie es sein, mussten an alles Mögliche glauben können.

Die Feuchtigkeit würde die Baisermasse zusammenfallen lassen; es würde so grauenhaft heiß sein. Außerdem waren sie alle sowieso zu dick, besonders Wendy. Zum Teufel mit Weihnachten, es würde Obst und Joghurt geben. Sie strich Eier durch.

Weder hatte sie auf den Boden gespuckt noch Daniel die Hand entzogen, sondern sie hatte gesagt, es tue ihr leid, obwohl sie fand, er solle sich dafür schämen, das Schicksal seines toten Cousin mit dem gleichzusetzen, was Sylvie widerfahren war.

Sie hielt inne, warf noch einen Blick auf ihre Liste. Sei nicht so hart, Jude. Sie schrieb die Eier wieder hin.

Jude hasste es, wenn in der Kathedrale, in die sie sich hin und wieder geschlichen hatte, andere Kerzen neben der brannten, die sie insgeheim als Sylvies betrachtete. Manchmal blies sie sie einfach aus.

Nichts davon konnte gesagt werden. Sie log auf alle zu erwartenden Weisen.

Wendy strich mit der Hand über Finns verschwitzten, schmalen Rücken. »Alles in Ordnung, mein Junge, alles in Ordnung.«

In ihrem zerbeulten roten Honda am Rand der Autobahn, unter dem heißen, blauen Himmel, redete sie leise auf den Hund ein, der auf den Vordersitz gekrabbelt war und nun versuchte, sich auf ihren Schoß zu krallen. Sie hatte kaum Platz, sich zur Seite zu drehen, schaffte es aber, die Sitzhalterung zu lösen: mit einem dumpfen Schleifgeräusch glitt der Sitz bis ganz nach hinten, und Finn landete mit seinem ganzen Gewicht auf ihrem Schoß. Es war so entsetzlich heiß in diesem luftlosen Auto.

Mit zurückgelehntem Kopf lauschte sie auf das rhythmische Klicken der Warnblinkanlage und das verängstigte Winseln des Hundes und sah aus dem Fenster. Sie konnte nur den bedrohlichen Ansturm von Geisterautos sehen, die erst im Seitenspiegel auftauchten und dann vorbeibrausten, und die Grau- und Grüntöne von Buschwerk und Fahrbahn. Einen Moment lang schraubte sie sich aus ihrem Körper hinaus, weg von sich selbst und Finn und dem Auto, und blickte von hoch oben auf Busch und Straße hinab. Sie sah ihr Auto, einen winzigen roten Fleck am Fuß der gewaltigen Felswand neben der Autobahn zwischen Stadt und Küste. Dann stürzte sie wieder hinunter und spürte die Angst vor dem Aufprall im Hier und Jetzt, in ihrer gegenwärtigen Lage.

Finn winselte, leckte sich die Lefzen und kam nicht zur Ruhe, sondern versuchte, seinen großen, zottigen Körper in dem engen Raum zu drehen. Er trampelte erneut auf Wendys Oberschenkel herum, um sein Gewicht zu verlagern, wobei sich seine Krallen im dünnen Stoff ihrer Hose verfingen. In dem kleinen Auto konnte er sich nicht wie gewohnt im Kreis drehen, würde nur noch unruhiger werden und, anders als erhofft, nicht den ganzen Weg über schlafen. Bittoes war immer noch eine Stunde entfernt, und es war so stickig, dass sie kaum atmen konnte.

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Sie hatte die Nummer des Pannendienstes gefunden und angerufen, und obwohl ihre Mitgliedschaft abgelaufen war, kamen sie; Wendy hatte nur einen zusätzlichen Betrag zahlen müssen, dem Himmel sei Dank, dem Himmel sei Dank für Handys und Kreditkarten. Manchmal war die moderne Welt voller wundersamer Güte. Der Akku ihres Handys war voll. Oder zumindest halb voll. Diese tröstliche Tatsache hatte sie aus dem schuldbewussten Chaos in ihrem Inneren gefischt. Sie war kein so hoffnungsloser Fall, zu allem Überfluss auch noch mit leerem Akku loszufahren.

Das Adrenalin von vorhin rauschte immer noch durch ihren Körper, floß heiß und kalt und chemisch wie Gin oder ein Betäubungsmittel durch ihre Adern und das Mark ihrer Knochen. Sie hatte völlig vergessen, wie es sich anfühlte, bis es passierte. Der Schweißausbruch, wenn das Auto anfing, unter einem zu stottern, einfach nicht mehr zog, gerade wenn man mit Tempo hundertfünfzehn einen Hang hinauffuhr und eine endlose Reihe von Autos hinter einem drängelte. Sie hatte die Fassungslosigkeit vergessen, die über einem zusammenschlug, wenn das Auto den Geist aufgab, hatte das Geräusch der eigenen Stimme vergessen, die schrie: Nein nein bitte bitte nicht! Tu mir das nicht an, Autochen, bitte bitte halt durch, während man immer und immer wieder aufs Gas trat und sich an den Straßenrand schleppte, die Autos hinter einem gezwungen waren, plötzlich zu bremsen, und dann in gefährlichen Überholmanövern hupend an einem vorbeibretterten und die Fahrer Beschimpfungen schrien. Und die ganze Zeit flüsterte Wendy dem alten Hund, der auf seiner stinkenden karierten Decke auf dem Rücksitz lag, »Alles in Ordnung, Finny, alles in Ordnung« zu.

Aber der hatte bereits den zottigen Kopf gehoben und angefangen zu winseln und verängstigt um sich zu gucken, während Wendy mit wild hämmerndem Herz auf die Standspur fuhr und so dicht wie möglich neben der dunklen Felswand anhielt.

Jetzt mussten sie einfach nur warten. Jetzt gab es keinen Grund mehr, in Panik zu geraten. Außer dass Finn bitte bitte nicht ins Auto pinkeln sollte.

Es war so stickig. Trotz des klaren Himmels waren für die nächsten Tage Gewitter angesagt. Wendy schob diesen Gedanken in ihrem Bewusstsein ganz nach hinten, in den Sumpf der Dinge, an die sie nicht denken durfte. Finn winselte erneut. Wenn der Pannendienst nicht bald auftauchte, müsste sie mit ihm raus, damit er sein Geschäft verrichten konnte. Die junge Frau am Telefon hatte gesagt, es würde mindestens anderthalb Stunden dauern. Als Wendy daraufhin einen Schrei ausstieß, sagte sie – geduldig, als sei Wendy ein bisschen schwer von Begriff – »Es ist Weihnachten, verstehen Sie? Alle sind unterwegs«.

Das Auto erbebte erneut, als ein weiterer Riesenlaster vorbeiwummerte. Das Thermometer hatte dreißig Grad angezeigt, als sie zu Hause losgefahren waren, inzwischen war es wahrscheinlich noch heißer und die Luft völlig verbraucht, ohne Klimaanlage. Die Feuchtigkeit drückte sich durch die Ritzen der Karosserie und überzog Wendy und Finn mit einem Schweißfilm.

Er musste sicher bald pinkeln, doch wie sollte sie ihn aus dem Auto bekommen? Die Fahrerseite war unmöglich, der Weihnachtsverkehr donnerte unaufhörlich vorbei; sie sah ein flüchtiges Bild von ihren beiden zerbrechlichen, von einem Laster zerfetzten Körpern. Teile von Armen und Hinterläufen, die herabregneten. Auf der Beifahrerseite war jedoch die nackte Felswand, zu nah, um sich selbst hinauszuquetschen, und sie konnte Finn unmöglich allein aus dem Auto lassen.

Sie schaltete das Radio ein. Ein melodischer Gitarrenriff, die Pretenders, die von Weihnachten sangen. Sanft wiegte sie sich hin und her, und Finn lag in sich zusammengesunken auf ihrem Schoß, schwer, unerträglich heiß, aber still. So saß sie da.

Früher hatte sie gewusst, wie man eine Motorhaube öffnete und die Lichtmaschine mit einem Montierhebel bearbeitete, um sie wieder zum Laufen zu bringen. Einmal war sie den ganzen Weg von Lithgow nach Dubbu gefahren, im Dunkeln, und war etwa alle fünfundvierzig Kilometer ausgestiegen, um auf das Ding einzuprügeln! Angst hatte sie überhaupt keine gehabt. Damals, vor der Zeit der Handys, waren Frauen mutiger.

Technologie und weibliche Angst, ein interessantes Thema. Könnte zu den Sachen über Abhängigkeit passen, die sie bereits geschrieben hatte. Oder in ein früheres Kapitel. Irgendwohin. Wenn sie aus dem Auto steigen könnte, würde sie gerne noch mal ausprobieren, wie sich ein Montierhebel in ihrer Hand anfühlte. Sie hatte das Gewicht so eines Dings seit Jahren nicht mehr gespürt. Die Leute benutzten es, um Gewalttaten zu begehen. Vielleicht ließe sich auch daraus etwas machen.

»Komm schon, Finny, rutsch rüber.«

Sie hob seine großen Vorderpfoten und versuchte ihn auf den Beifahrersitz zu schieben. Ihr Bein schlief unter seinem schweren Körper ein, und sie brauchte mehr Luft. Aber er rutschte nur weiter nach hinten, tiefer in ihren Schoß, stemmte die arthritischen Vorderpfoten noch fester gegen ihre Knie und grub seine Krallen in ihre Oberschenkel. Das Winseln fing wieder an, höher und verängstigter.

Wann hatte sie auf die Lichtmaschine einhämmern müssen? Sie rechnete zurück – anhand ihrer Bücher, dem Alter ihrer Kinder, den Jobs von Lance – und kam zu dem Schluss, dass sie zweiunddreißig, dreiunddreißig gewesen sein musste. Sie hatte noch den Subaru, mit den Fahrrädern der Kinder hinten drin. Claire war mittlerweile vierundfünfzig. Es war also sehr lange her. Hatten Autos überhaupt noch Lichtmaschinen? Da Wendy nicht aussteigen konnte, würde sie es wohl nie erfahren.

Finns stinkender Atem stieg ihr in die Nase. Als er noch klein war, konnte sie ihn auf ihren Unterarm legen, ihn tragen wie einen wolligen weißen Stulpenhandschuh. Jetzt war er riesig, ein heißer, unbeweglicher Klotz auf ihrem Schoß. Es war hoffnungslos. Sie drehte den Kopf, kurbelte das Fenster ein Stück herunter und tätschelte ihn tröstend, mit festen, rhythmischen Bewegungen.

Handys gaben einem das Gefühl permanenter Rettbarkeit. Offenkundig ein trügerisches Gefühl. Das würde sie in das Kapitel aufnehmen. Claire konnte sie nicht anrufen, weil Claire ihr schon seit Jahren in den Ohren lag, sich ein neues Auto anzuschaffen. Und überhaupt, was könnte sie schon tun? Es gab vieles an Claire, was Wendy verwirrte, aber ihre eiskalten, perfekten Umgangsformen waren das Schockierendste. Wo lernte eine Tochter diese aalglatte, professionelle Art mit der eigenen Mutter zu sprechen? Wenn Wendy mit ihr telefonierte, war es, als rufe sie bei einer Service-Hotline an, um etwas zu reklamieren. Praktisch angewendetes Selbstbehauptungstraining. Damit kann ich leider nicht dienen; ich kann nur Folgendes vorschlagen. Wann immer Wendy auf irgendeinem Formular eine Kontaktperson für Notfälle angeben musste, nannte sie Claire, doch als sie jetzt so hier saß, dachte sie, wie unsinnig das war, denn es war gut möglich, dass Claire nicht mal dann kommen würde, wenn ihre Mutter blutig und zermatscht auf einer Straße gefunden wurde. Sie würde ein paar Anrufe tätigen und sich wieder ihrer Arbeit zuwenden. Zur Beerdigung würde sie Blumen schicken. Was zum Teufel war aus töchterlichen Schuldgefühlen geworden? Oder aus ganz normalen familiären Verpflichtungen? Die Welt hatte sich verändert.

Aber so durfte sie nicht denken, es war die Denkweise ihrer eigenen Mutter. Ichbezogen und niederträchtig. Wendy hasste alles Konservative. Inzwischen wurden alte Leute von allen verachtet – es schien akzeptabel geworden, wurde sogar gefördert – wegen ihrer abbezahlten Hypotheken, ihrer kostenlosen Bildung, ihrer Zerstörung des Planeten. Wendy stimmte dem zu. Sie verabscheute Nostalgie, die Vergangenheit langweilte sie. Doch vor allem verabscheute sie Selbstmitleid. Und sie hatten Glück gehabt, sie waren verschwenderisch gewesen. Sie hatten es versäumt, die Zukunft zu schützen. Andererseits hatten sie und Lance nichts gehabt, als sie jung waren. Gar nichts! Das schienen die Claires dieser Welt mit ihren Europareisen, ihren Kaffeeautomaten und Klimaanlagen und ihren drei Badezimmern in jedem Haus zu vergessen. Und überhaupt konnten viele Leute, viele Frauen – Wendy spürte eine befriedigende feministische Empörung in sich aufwallen – ihre Hypotheken nicht abbezahlen und erhielten keine fetten Pensionen. Man brauchte sich nur Adele anzusehen, die praktisch mit nichts dastand.

Dem Himmel sei Dank, dass Adele es geschafft hatte, sich mit Liz zusammenzutun. So sah Wendy das.

Und ja, es stimmte, für Wendy gab es keinen Grund, sich zu beklagen. Außer darüber, dass sie bei dieser Hitze mit einem dementen alten Hund am Straßenrand festsaß.

Beim Telefonat mit dem Pannendienst hatte sie erst gezögert, dann mit ruhiger, hoffnungs-, aber würdevoller Stimme hinzugefügt: »Ich bin fünfundsiebzig.« Und sich sogleich dafür gehasst, als das Mädchen keinen Augenblick aus dem Konzept geriet, sondern nur seine üblichen Floskeln wiederholte, dass der erste verfügbare Mitarbeiter – Gute Weiterfahrt – Frohe Weihnachten.

Inzwischen war es wirklich heiß.

Sie könnte Jude anrufen, die vielleicht noch hinter ihr war und mit ihrem schnittigen, dunklen Audi neben ihnen halten könnte. Doch Jude hatte etwas von einem Bestatter an sich. Immer strahlte sie eine grimmige Befriedigung aus, wenn bei anderen Leuten etwas schieflief. Außerdem war sie eingeschnappt gewesen, als Wendy die angebotene Mitfahrgelegenheit abgelehnt hatte. Judes Auto wurde alle sechs Monate gewartet, egal, ob sie damit gefahren war oder nicht. Und obwohl es die meiste Zeit in der Garage stand, wurde es alle vierzehn Tage professionell gewaschen. Alle vierzehn Tage! In Zeiten katastrophaler Klimaveränderungen. Judes Fahrzeugpapiere und Versicherungsunterlagen steckten in einer eigens dafür vorgesehenen Klarsichthülle. Natürlich wusste sie genau, wo die sich befand, und wahrscheinlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch kein einziges Mal den Pannendienst gebraucht, denn seit sie sich mit Daniel eingelassen hatte, waren all ihre Autos brandneu. Von daher, nein, Jude konnte sie nicht um Hilfe bitten.

Wendy streichelte Finns Kopf und sagte: »Wir können sie nicht fragen, nicht wahr, Finny? Nicht Jude.«

Kein Wunder, dass Jude nie Mutter geworden war, es hätte ihr Ordnungsgefühl gestört.

Sylvie hätte geholfen. Sie hätte genervt ins Telefon geschrien – Scheiße noch mal, dieses verfluchte Auto, ich hab’s dir ja immer gesagt – und hätte dann geholfen. Bei Sylvie wäre es zu einem gemeinsamen Problem geworden; sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, so etwas als Chance für Belehrungen oder Vorwürfe zu nutzen. Oder Demütigungen. Wendy vermisste sie immer mehr.

Außerdem hatte Wendy Jude noch nicht gestanden, dass sie Finn mitbrachte.

Sie tastete neben dem Sitz nach der Wasserflasche – warm, aber drei Viertel voll –, und als sie sich dabei gegen Finn lehnte, fing er an sich zu winden und gab ein eigenartiges Stöhnen von sich. Wie konnte Wendy weiterhin so viel Angst vor Jude und ihren stummen Vorwürfen haben? Sie versuchte abermals, Finn zur Seite zu schieben, aber er ließ sich nicht bewegen.

Es war anstrengend, befreundet zu sein. Hatten sie sich je die Wahrheit sagen können?

Da fing Finn an zu zittern.

»Sch – sch – ach Finny Fin Fin«, gurrte Wendy und schmiegte sich an seinen knochigen, haarigen Rücken. Wie dünn er geworden war.

Mit Mühe bekam sie die Flasche auf und trank einen Schluck von dem warmen, fast schon ein bisschen fauligen, nach Plastik schmeckenden Wasser. Denn genügend zu trinken war wichtig. Vorsichtig goß sie etwas Wasser in die Verschlusskappe und hielt sie Finn hin. Seine große, weiche Zunge kam zum Vorschein und stieß die Kappe aus ihrer Hand auf den Boden. Sein Zittern wurde schlimmer. Sie träufelte den Rest des Wassers nach und nach in ihre Hand, und Finn leckte es sanft auf, beruhigte sich etwas, und das Zittern ließ nach.

Ein weiterer Riesenlaster donnerte an ihr vorbei, das Auto schaukelte heftig.

Wendy zuckte zusammen, als ihr Telefon plötzlich schrillte und unter ihrem Oberschenkel vibrierte. Finn rappelte sich winselnd hoch, wobei ihre Beine schmerzten. Sie hatte Schwierigkeiten, das Handy hervorzuziehen, und schob seinen Kopf weg. Es war Adele.

wartest noch auf den Zug

Adele ging nicht auf ihre Frage ein, sondern wollte nur schnell wissen, ob Wendy ihr vielleicht ein bisschen was leihen könne. Nur bis nächste Woche.

Wendy umschloss Finns Schnauze fester. »Wie viel?«

Ein kleiner Verdacht baute sich in ihr auf. Adele klang beiläufig, als sei ihre Bitte etwas ganz Normales. Aber schließlich war sie Schauspielerin. Bei ihr wusste man nie, wann sie die Wahrheit sagte. Wieso fragte sie nicht Liz?

Als Adele ihr die Summe nannte, quietschte Wendy: »Fünfhundert

Finn zog die Schnauze aus Wendys Griff und stöhnte. Am anderen Ende der Leitung triumphierte Adele: »Ist das Finn? Oh mein Gott! Weiß Jude, dass du ihn mitbringst?«

Wendy musste diese Unterhaltung sofort beenden. Ja, sie könne Adele das Geld leihen, sagte sie, müsse jetzt aber Schluss machen.

»Bis später«, kam es munter von Adele.

Wendy lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie schob das Handy wieder unter ihr Bein, und Finn machte sich aufs Neue daran, auf ihren Oberschenkeln herumzutrampeln, um seine Kreise zu drehen. Sie wünschte, sie wäre nie in dieses Auto eingestiegen. Wieso war sie nicht einfach zu Hause geblieben?

»Komm schon, Finny, guter Junge, komm schon«, beruhigte sie ihn, und kurz darauf saß er wieder, stinkend und schwer. Sie streichelte ihn ununterbrochen und fing dabei an, ihre Atemzüge zu zählen, wie der Mann aus der Meditations-App es sie gelehrt hatte, und spürte, wie Finn sich entspannte.

Als es dem Ende zuging, hatte Sylvie zu ihr gesagt, sie dürfe nicht vergessen, sich um die anderen zu kümmern, dürfe sie nicht vernachlässigen. Wendy war einen Moment gekränkt und wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber zu diesem Zeitpunkt bekam Sylvie schon eine Menge Morphium. Weinend hielt sie ihre bleiche Hand und versprach es.

Und was war mit Gail, die gleich danach nach Irland zurückgegangen war? Fast gleich danach. Das Haus in Paddington war im Handumdrehen geräumt worden, sauber gewischt wie ein Spucknapf. Die arme Gail, sagten die Leute, die Liebe ihres Lebens zu verlieren. Wendy musste jedes Mal den Blick abwenden, mit äußerster Konzentration einen Fingernagel reinigen, um nicht zu schreien: Ich! Ich habe die Liebe meines Lebens verloren!

Erst Lance, jetzt Sylvie.

Lance war gestorben – vor langer Zeit, rief sie sich streng in Erinnerung –, und jetzt Sylvie. Nur Wendy wusste, dass sie wie eine Göttin gewesen war. Es war lächerlich, unaussprechlich, aber für Wendy war Sylvie am Ende zu einer Göttin in einem goldenen Gewand geworden, die aufstieg, sich selbst abwarf, ihren Körper, die Liebe, die Angst, Krankheit und Traurigkeit. Die arme Sylvie hatte auch Gail abwerfen müssen, ihre letzte, schwerste Tat. Es war harte Arbeit gewesen, Gail zu verlassen, als schiebe sie einen großen Felsbrocken aus ihrem Weg. Arme Gail – denn Sylvie beim Sterben zuzusehen war genau, wie es für sie bei Lance gewesen war. Oder wie wenn jemand geboren wurde: Der Ur-Instinkt, die Erschöpfung, das Keuchen, die animalische Tortur. Zuzusehen, sich zu wünschen es wäre vorbei, unfähig zu ertragen, dass es weiterging.

Dann, als es schließlich vorbei war, die furchtbare neue Lawine: Er war tatsächlich fort.

Das alles hätte Wendy gern auf der Trauerfeier gesagt, aber natürlich konnte man das nicht. Deshalb sprach sie über ihre Briefe aus der Zeit, als sie sich in Oxford kennengelernt hatten, und wie großzügig Sylvie war, eine Landsmännin, so intelligent und würdevoll. Anschließend sagte sie ganz schlicht, sie werde sie vermissen (vermissen, so banal wie eine Grußkarte: pathetisch, grotesk), und trat vom Mikrofon weg. Ihre Worte waren angemessen gewesen, aber nicht das, was sie wirklich glaubte. Es hatte nichts mit dieser Kraft zu tun, die sie jetzt die ganze Zeit spürte, die Säule aus schimmerndem Gold, zu der die tote Sylvie für sie geworden war.

Wendy hatte es versprochen. Deshalb musste sie fahren und das Strandhaus entrümpeln und Adele das Geld geben, und Jude würde sich einfach mit dem verdammten Hund abfinden müssen.

Sie atmete aus, lange und langsam, Ruhe breitete sich über sie aus, und in diesem Augenblick spürte sie die grässliche, unvermeidliche Flut heißer Hundepisse ihren Schoß und ihre Hose durchtränken. »Ach Finn!« Sie hielt die Luft an, als der Urin ihres armen alten Jungen weiter nach unten sickerte und auch den Sitz unter ihr durchnässte, und das heiße Elend des Ganzen mischte sich mit dem Salz der Tränen auf ihrer Haut und der stickigen unerträglichen Hitze dieses unmöglichen Tages. Sie tätschelte den armen Finn, kurbelte das Fenster noch ein Stück weiter herunter, und machte sich wieder daran, ihre Atemzüge zu zählen.

Eine Hand auf ihrer Schulter weckte sie. Wendy fuhr zusammen, und Finn jaulte verängstigt auf. Endlich gelang es ihr, den Hund von sich herunterzuhieven, mit einem gewaltigen Ruck, der irgendwas in ihrer Schulter zerrte und einen Blitz aus Schmerz in ihren Schädel jagte, während der Mann vom Pannendienst die Tür aufzog.

Dem Himmel sei Dank!, hätte sie am liebsten gerufen und sich auf die Knie geworfen. Stattdessen schrie sie »Hallo!«, während der Mann gleichzeitig sagte: »Mein Gott, ich dachte schon, Sie sind tot!«

Vor lauter Erleichterung, ihn zu sehen, sprang Wendy aus dem Auto in den heißen, böigen Wind hinaus, wodurch sie den Mann zwang, sich flach gegen die Karosserie zu pressen. Es war ihr völlig egal, dass er ihre nasse Hose anstarrte und dachte, das Malheur sei ihr passiert.