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Tomas Sjödin

Beginne jeden Tag
wie ein neues Leben

Von der Gewissheit, dass es hell wird

Aus dem Schwedischen von Hanna Schott

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SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Zur Erinnerung an meine Mutter
(1928 – 2019)

Inhalt

Über den Autor

Vorwort

Wie die Zeit vergeht!

Vertraue darauf, dass es hell wird

Das geht nicht vorbei

Die Bedeutung eines einzelnen Menschen

Der Mut zu bleiben

Nie gut genug

Im Gleichgewicht

»Wir müssen uns demnächst mal wiedersehen!«

Wenn die eigenen Ressourcen zur Neige gehen

Wissen, wo man ist

Die feinen Keimwurzeln

Gute Gespräche

Stell die Warum-Frage!

Anteilnahme hat Langzeitwirkung

Wort des Jahres

Die Stunde der Amateure

Sich vorsichtig voranfragen

Nicht unruhig, aber schnell

Beginne da, wo du bist

Bereit, dem Tag zu begegnen

Das Recht, sich ändern zu dürfen

Vertrauen ist eine schöpferische Kraft

Lass das Leben dazwischenkommen

Der Mut zurückzukehren

Ich würde gern ein Buch schreiben!

Die Zukunft herbeiträumen

Zeit für Käuze

Ein kleiner Hoffnungszettel

Die Abrissbirne in der Herkulesstraße

Treffen unter dem Sternenhimmel

Hat jemand irgendwas richtig gemacht?

Die letzten Enthusiasten

Im Wendekreis des Krebses

Altigkeiten

Umarmen und vereinfachen

Der schwierigste Friedensschluss

Der Name

Ein inneres, unzerstörbares Reich

Zwischen Himmel und Erde schwebend

Lieber nicht perfekt

Thermostat oder Thermometer?

Die nicht zurückkommen

Der Weg ist jetzt so kurz

Was ist deine Melodie?

Wer könnte es gewesen sein?

Die beste Art, reich zu werden

Mit Ameisenschritten zu einer besseren Welt

Jetzt beginnt das Schweigespiel

Tyrannei des Alltags?

Ein Wald der Weisheit

Das heilige Rotkehlchen

Stunden außerhalb der Zeit

Die Fähigkeit, wer auch immer zu sein

Zuwarten

Womit hast du zu kämpfen?

Das Essen ist fertig

Gemeinschaft verwandelt

Erschöpft und abgeschlagen

Das Leben spielt sich vor Ort ab

Wer am wenigsten redet

Ich will nur deine Stimme hören

Ab jetzt wird es heller

Für den Großzügigen wird die Welt immer größer

Lob des Unnützen

Wir träumen von dem, was wir schon haben

Liebevolles Kümmern

Ein tiefer Atemzug

Wir brauchen ihren Frieden

Über den Autor

Tomas Sjödin (Jg. 1959) ist Schriftsteller und Pastor und in seiner Heimat Schweden durch Bücher, Radio_ und Fernsehsendungen bekannt. Seit seinem Bestseller »Warum Ruhe unsere Rettung ist« ist er auch in Deutschland ein beliebter und erfolgreicher Autor.

LICHT. HOFFNUNG. MÖGLICHKEITEN.

»Ich übe mich darin, der Dunkelheit standzuhalten, indem ich mich morgens mit meinem Kaffeebecher eine Weile in den Sessel meines vollkommen dunklen Arbeitszimmers setze. Jeden Tag. Im wechselnden Jahreslauf sitze ich manchmal durchgehend im Dunkeln und manchmal durchgehend im Hellen. Aber an den meisten Tagen kann ich die Morgendämmerung verfolgen. Sie verkündet, dass die Dunkelheit am Ende immer als Verlierer dasteht. Immer.«
TOMAS SJÖDIN

Die Impulse von Tomas Sjödin schenken Hoffnung und bringen neue Leichtigkeit in unsere Schritte, sodass wir selbst Licht und Zuversicht zu anderen bringen können.

»Herrlich natürlich, auf kluge Weise fromm, mitten aus dem Leben geschrieben, zugewandt und hilfreich: So erlebe ich die kurzen, lebendigen Texte von Tomas Sjödin, von denen man gar nicht genug lesen kann …«
ULRICH EGGERS, 1. VORSITZENDER »WILLOW CREEK DEUTSCHLAND« UND HERAUSGEBER »AUFATMEN«

Vorwort

Ich habe dieses Vorwort an einigen aufeinander folgenden Morgen geschrieben, während es draußen hell wurde. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich ein Morgenmensch bin oder daran, dass mir das Dunkel Angst macht – der Tagesanbruch ist auf jeden Fall meine beste Zeit; so empfinde ich das schon seit vielen Jahren. Der Wechsel vom Dunkel zum Licht ist für mich etwas, das sich in meinen Körper eingeschrieben hat – und in die Seele, wo auch immer sie ihren Sitz haben mag. Mit meinen Augen verschlinge ich das heraufziehende Licht, als würde mir jemand ein Paket Notproviant schicken. Und vielleicht ist es ja genau das? Schließlich ist es etwas zutiefst Hoffnungsvolles, mitzuerleben, wie die Nacht in den Tag übergeht, während man den schrittweisen, fast unmerklich sich vollziehenden Sieg des Hellen über das Schwarze verfolgt. Man kann unmöglich sagen, wann genau dieser Sieg errungen wird. Eine App auf meinem Handy gibt mir auf die Minute genau die Zeit des Sonnenaufgangs an, aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Der Übergang zieht sich auf eine barmherzige Weise in die Länge.

Das vorliegende Buch ist eine Auswahl von Kolumnen, die ich in den letzten Jahren für Göteborgsposten, die große Göteburger Zeitung, geschrieben habe. In vielen der Texte werden drei große Themen angesprochen: Licht. Hoffnung. Möglichkeiten. Nicht immer werden sie beim Namen genannt, aber sie scheinen durch. Ich suche nach ihnen in der Welt um uns herum, in den Menschen, in den alltäglichen Dingen, in den Kleinigkeiten und gewohnten Abläufen, die unser Leben ausmachen. Bei allem, was ich schreibe, folge ich einem Leitgedanken: Ich möchte aufrichtig vom Leben erzählen und gleichzeitig versuchen, ein Fünkchen Hoffnung aufblitzen zu lassen. Nie das eine ohne das andere. Aufrichtigkeit und Hoffnung setzen einander voraus, und beide sind Teil der Verantwortung, die der Schreibende trägt. Bei jedem Text, der mein Arbeitszimmer verlässt, versuche ich mir das klarzumachen. Vielleicht wird das gerade im Fall der Göteborgsposten, für die ich jetzt schon seit mehr als zwanzig Jahren schreibe, am deutlichsten. Für einen so großen und vielfältigen Leserkreis zu schreiben, ist eine Herausforderung, der sich jeder Text stellen muss. Schließlich weiß man nicht, wo überall dieser Text landen wird und wie das Leben derjenigen aussieht, die ihn lesen werden. Das fordert mich am meisten heraus, hier begreife ich, wie wichtig mein Auftrag ist: im Dunkeln Begegnung zu ermöglichen und, soweit das geht, Worte für das Schwere zu finden und gemeinsam darauf zu vertrauen, dass es hell werden wird. Manchmal glaube ich, dass die Hoffnung selbst mein Auftraggeber ist und dass ich mich dem Licht gegenüber verantworten muss.

Der schönste Name für die Dämmerung heißt Morgenröte. Er hat etwas Schüchternes, nichts vom An oder Aus eines Lichtschalters, und gleicht eher der vorsichtigen Veränderung einer Situation – so behutsam, dass man es wagt, sie anzunehmen. Vielleicht darf man ja auf eine ähnliche Weise den Glauben an den Sieg des Guten entgegennehmen: in kleinen Portionen. Licht, Hoffnung und Möglichkeiten sind so starke Kräfte, dass sie einen überwältigen würden, nähme man sie in zu hoher Dosis zu sich.

Im Gebetbuch der Bibel, den Psalmen, wird poetisch vom Sonnenaufgang gesprochen, aber man ahnt den dunklen Hintergrund, der hinter der Sehnsucht nach dem Morgenrot steht. Ein Vers wie »Ich will das Morgenrot wecken« zeugt nicht von einer Nacht, in der jemand durchgeschlafen hat, ohne Wachzeiten und Grübeln. Wer so betet, will das Leben wecken in allem, was die Lage verändern kann, und das erhofft er sich vom Morgenlicht. Probleme, die in den dunkelsten Stunden der Nacht riesig wirken, verändern oft ihre Proportionen, wenn sie von den ersten Lichtstrahlen getroffen werden. Das Licht hat die Fähigkeit zurechtzurücken, was im Dunkel verzerrt erschien. Die Probleme verschwinden im Hellen nicht einfach, das darf man nicht erwarten, aber sie schrumpfen, bis sie wieder ihre normale Größe erreicht haben.

Ein anderer biblischer Psalm spricht von den »Flügeln der Morgenröte«, als könne man auf ihnen fliegen – um irgendwo zu landen, wo alle Probleme gelöst sind. Bekanntlich ist das nicht möglich, aber dieses Bild weist doch auf etwas Reales hin: dass man erleben kann, vom Licht getragen zu werden.

Ich übe mich darin, der Dunkelheit standzuhalten, indem ich morgens meinen Kaffeebecher nehme und mich eine Weile in den Sessel meines Arbeitszimmers setze. Jeden Tag. Das ganze Jahr. Im Jahreslauf bewirken die wechselnden Zeiten des Sonnenaufgangs, dass ich zu Beginn meines Tages manchmal durchgehend im Dunkeln und manchmal durchgehend im Hellen sitze, aber in den meisten Monaten kann ich die Morgendämmerung verfolgen. Jede dieser Stunden ist eine Predigt. Ein Statement. Sie verkündet und stellt fest, dass die Dunkelheit am Ende der Schlacht immer als Verlierer dasteht. Immer. Die Dunkelheit war das Erste, als unsere Welt entstand. Dann kam das Licht, und die Dunkelheit musste ihm die Herrschaft abtreten. Jede Drehung der Erde um die Sonne ist ein Echo dieses Sieges. Jeden Morgen zeigt das Licht, worauf die Schöpfung zielt.

Fast alle meine Texte sind in diesen Morgenstunden geschrieben worden. Im Warten auf das Licht. Zu manchen Jahreszeiten sind die Vögel schon vor der Sonne wach, an anderen Morgen ist es still, bis auf den Wind, der durch die Krone der alten Ulme streicht.

Alle, die behaupten, im Grunde gebe es Dunkelheit gar nicht, denn Dunkelheit sei nur die Abwesenheit von Licht, haben auf der Sachebene natürlich recht. Aber auch nur da. Wer jedoch zu irgendeiner Zeit seines Lebens DUNKELHEIT erlebt hat, Dunkelheit mit Großbuchstaben, zusammengezimmert aus Wahnvorstellungen, Furcht und Einsamkeit, der weiß, dass sie so reell ist wie nur irgendetwas. Eine Kolumne in diesem Buch, die wie keine andere geteilt und weiterverbreitet wurde, erzählt davon, wie jemand ins Dunkle geht und darauf vertraut, dass es hell wird. Umkreist man die Dunkelheit, so ist sie immer noch da, egal wie groß der Bogen ist, den man darum geschlagen hat. Schließt man die Augen, dann fühlt sich die Dunkelheit, wenn man die Augen wieder öffnet, noch dunkler an als zuvor. Man muss ins Dunkle hineingehen und darauf vertrauen, dass es hell wird. Das schaffen nur sehr wenige von uns ganz allein. Und wir müssen es auch gar nicht schaffen. Wir können es gemeinsam tun. Wir können füreinander Licht und Hoffnung sein. Auffällig oft ist die Hoffnung außerhalb unserer selbst verankert. Sie nimmt in der Nähe eines Menschen Gestalt an, der gerade jetzt etwas stabiler auf der Erde steht als ich und der neben sich gerade noch Platz für mich hat. Das ist Hoffnung: ein Platz, an dem ich stehen kann, wenn alles andere vom Sturm weggeblasen wurde. Hier können wir ohne jedes Aufheben einander eine große Hilfe sein – einfach, indem wir den Platz, auf dem wir stehen, mit anderen teilen. Genau das ist eine der wichtigsten Aufgaben, die das Schreiben von Kolumnen für mich hat: diesen Platz zu benennen und denen, die es lesen, zu sagen: Hier kannst du dich ein Weilchen ausruhen. Diese Aufgabe zu erfüllen, ist für mich und meine Frau Lotta zum Spezialauftrag unseres Lebens geworden. Die Erfahrung, mit unheilbar kranken Kindern zu leben und sie zu verlieren, ist umgeschmolzen und umgeformt worden zu einer Art Bodenplatte, auf der manchmal nicht nur für uns, sondern auch für andere Platz ist. Junge Paare, die gerade einen ähnlichen Alptraum durchleben wie wir damals, hören von uns und fragen, ob wir uns treffen können. In dem Maße, wie uns das möglich ist, antworten wir mit Ja. Und es ist völlig klar, dass es nicht in erster Linie unsere Worte sind, um die es geht. Es ist der Platz. Die Quadratmeter in unserer Küche, der Dampf der Kaffeemaschine und der Flickenteppich unter unseren Füßen. Was wir zu geben haben, ist das, was unser Leben erzählt: dass wir immer noch da sind, dass das Leben wieder gut werden kann, auch nach Verlusten, von denen man glaubte, dass sie jede Freude ein für alle Mal mit sich reißen würden.

Im letzten Jahr habe ich darauf gewartet, mich einer Rückenoperation unterziehen zu können. Während der Wartezeit habe ich bei Physiotherapie und Funktionstraining eine Sache gelernt: Man kann die Schmerzen lindern, die ein irreparabler Schaden verursacht, indem man die umgebenden Muskeln stärkt. Der Schaden bleibt, aber die Muskeln, die die beschädigte Stelle umgeben, können die Schmerzen verringern und manchmal sogar für eine Weile verschwinden lassen. Der Schaden ist da, aber es gibt auch das stützende Umfeld. Dieses Umfeld habe ich in vielen meiner Texte ins Licht zu setzen versucht: Da ist der gute Wille der Mitmenschen, der Trost der Natur, die Möglichkeit des Gebets, die Konzentration auf das, was zur Verfügung steht, nicht auf das, was fehlt.

So betrachte ich auch Hoffnung. Hoffnung ist das, was es mir möglich macht zu leben, ohne dass es eine Lösung gibt. Sie lässt mich von guten Kräften umgeben sein, von Gedanken, Blicken und einem Umfeld, in das ich gehöre. Ein Umfeld, das mich willkommen heißt mit allem, womit ich kämpfe. Lügen oder aufgesetzte Munterkeit machen mich nur noch einsamer. Dagegen erlebe ich in der alltäglichen Beobachtung, wenn ich mich in die Dinge einfühle, dass ich von einer Kraft getragen werde, die nicht meine eigene ist und die ich auch nie selbst schaffen könnte. Genau deshalb heißt es ja auch, dass man sich einfühlt, nicht dass man sich eindenkt.

Bei der Art des Schreibens, der ich mich widme, geht es nicht darum, mich zu den großen Fragen zu äußern, sondern aus den kleinen Dingen des Lebens etwas zu meißeln, das an das erinnert, was uns allen gemeinsam ist, also über scheinbar Unbedeutendes zu schreiben, über Gewohnheiten und Eigenheiten, die ich an jedem erdenklichen Ort beobachtet haben könnte. Bei mir oder dir. Denn genau diese kleinen Beobachtungen sind es, die die Aufgabe der kleinen Muskeln rund um eine beschädigte Stelle übernehmen können. Das Problem ist nicht aus der Welt, aber es ist möglich geworden, mit ihm zu leben, vielleicht sogar richtig gut zu leben.

Erstaunlich oft tritt das Licht genau auf diese Weise in unser Leben: in einem winzig kleinen, ganz kurz nur auftretenden Gefühl, das uns sagt: Du bist zu Hause. Und genau deshalb versuche ich in Tönen, die so zart sind wie die Morgenröte, über so starke Kräfte wie Glaube und Liebe zu schreiben – mir immer bewusst, dass wir alle zerbrechlich sind – und über das Licht, vorsichtig tastend, so wie der Morgen die Dunkelheit besiegt. Mich treibt der Wunsch an, den Glauben zu wecken, dass wir füreinander einen Platz schaffen können, an dem Licht, Hoffnung und Möglichkeiten zu finden sind. Vielleicht ist das ja die ganz alltägliche Bedeutung dessen, was der Apostel Johannes meinte, als er davon sprach, »im Licht zu wandeln«? Eine Art, den Lebensweg zu gehen. Ein Lebensstil. Nicht, indem man Dinge ans Licht zerrt, sondern indem man das miteinander teilt, was einem zu schaffen macht. Das große Vorbild dabei – für Johannes wie für uns – ist Jesus. Wir dürfen ins Licht treten, wie er im Licht ist. Das erklärt auch, warum die Sehnsucht nach Gott in den Psalmen als eine Sehnsucht nach der Morgendämmerung beschrieben wird.

Ich sehne mich nach dem Herrn

mehr als ein Wächter nach dem Morgengrauen,

mehr als ein Wächter sich nach dem Morgen sehnt.

Psalm 130,6 (GNB)

An diesem frühen Morgen blicke ich auf die Berge in unserer Nähe. Sie sind pechschwarz, und es wird noch lange dauern, bis das Licht sie erreicht. Ich will das Morgenrot wecken und denen, die meine Texte lesen, zuflüstern: Vertraue darauf, dass es hell wird. Leugne nicht das Dunkle, aber schätze die Kraft des Lichtes nicht zu gering.

Tomas Sjödin

Säve bei Göteburg, 29. März 2019

Wie die Zeit vergeht!

Neulich schickte mir mein unermüdlich Postkarten sammelnder Bruder ein verblichenes Bild des Stadtteils von Kramfors im Norden Schwedens, in dem ich aufgewachsen bin. Ich vertiefte mich lange in das Foto und wurde seltsam sentimental. Es war, als stürzten die gesamten Sechzigerjahre auf mich herab, und ich empfand gleichzeitig große Freude und große Traurigkeit. Ich sehnte mich plötzlich nach meinem Vater, der schon mein halbes Leben tot ist. Wenn er müde war, schielte er ein wenig – eine Eigenschaft, die er zu nutzen wusste, als er jung und verliebt war: Er konnte gleichzeitig auf meine Mutter und auf seine Angel blicken.

Ich wuchs in recht einfachen Verhältnissen auf. Man erbte das Fahrrad und man sparte auf Spielsachen. Wenn wir in den Ferien nach Öland fuhren, erschien uns das wie eine Weltreise. Das Reihenhaus, in dem wir wohnten, war klein; die einzige Möglichkeit, irgendetwas zu verändern, bestand darin, dass mein Bruder und ich unsere Zimmer im Obergeschoss tauschten. Im einen Zimmer lag ein brauner Teppichboden, im anderen ein grüner, ansonsten waren sie identisch, aber spiegelverkehrt. Im Nachbarhaus, das sich von unserem nur durch das Vorhandensein einer Garage unterschied, wohnte Per. Er ging in meine Klasse, und wir verbanden unsere Kassettenrekorder mit einer Leitung, die über das Garagendach führte. So konnten wir, wenn unsere Eltern eingeschlafen waren, einander unser selbst zusammengestelltes Musikprogramm senden, dem wir den unschlagbaren englischen Namen »Hog farm« gegeben hatten. Meine Mutter arbeitete in einer Buchhandlung. Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, war zu Hause und kümmerte sich um uns, wenn wir aus der Schule kamen.

All das rief dieses Bild in mir wach, und es schien mir, als stünde über der Postkarte die Überschrift: »Wie die Zeit vergeht!«

Rasend schnell spulte sich ein Leben ab, zu dem so viel Liebe und so große Verluste gehören, für uns wie für alle anderen.

Ach, du liebe Zeit, wie nostalgisch mich das stimmte! Oder auch: wie realistisch! Denn so ist es: Heute sind wir noch hier. Morgen sind wir es nicht mehr. Wie soll man mit dieser Einsicht umgehen? Vielleicht einfach dadurch, dass wir das Leben wählen. Immer und immer wieder. Auf das setzen, was bleibt. Uns weigern, mit Liebe und Barmherzigkeit zu geizen. Großzügig sind in der Begegnung mit anderen, aber auch uns selbst gegenüber.

Manchmal, wenn wir uns überlegen, ob wir uns eine Reise leisten sollen oder ob wir uns Zeit für etwas Schönes oder Lustiges nehmen, schauen wir uns an, und dann sagt einer von uns: »Wir sind bald tot, du und ich. Wir fahren los!« Dabei muss es nicht mal um etwas gehen, das Geld kostet. Gestern hatte ich eine ultralange To-do-Liste. Ich legte mich in die Hängematte und lauschte dem Rauschen der Bäume und dem Rasenmäher unserer Nachbarn. Das funktionierte wunderbar.

Vor vielen Jahren habe ich Lotte Möllers Buch »Die Natur des Gartens« gelesen. Sie ist einer Sache auf der Spur, die nicht nur für den Garten, sondern für das Leben überhaupt gilt, wenn sie schreibt: »Um mit seinem Garten glücklich zu werden, muss man sich mit der unentrinnbaren und ständigen Veränderung alles Lebendigen versöhnt haben, mit dem Welken und dem Tod. Statt zu versuchen, die Zeit anzuhalten, gilt es, ihr Vergehen bewusst wahrzunehmen.« Genau da liegt die Herausforderung, meine ich. Wenn man begriffen hat, dass das Leben davoneilt, sollte man ihm nicht hinterherrennen, sondern achtsam werden. Das tun, was man liebt und wofür man brennt. Allzu bald ist es zu spät. Ich habe es verstanden, als ich meine gemächliche Einkaufsrunde in der Stadt drehte und jemand rief: »Mach mal voran, Opi!« Es kam mir vor, als meinte er mich.

Vertraue darauf, dass es hell wird

In dem Gebäude, in dem sich mein Büro befindet, gibt es eine Toilette, die man als Vertrauensübung verstehen kann. Vor einigen Jahren ist sie renoviert worden, und bei dieser Gelegenheit hat sie auch eine neue Beleuchtung bekommen. Die ist allerdings eine echte Herausforderung. Ein Sensor erkennt, ob jemand den Raum betritt oder verlässt, und schaltet dementsprechend das Licht an oder aus. Das funktioniert auch – allerdings immer einen kleinen Moment zu spät, was die Besucher regelmäßig irritiert.

Mein Arbeitszimmer liegt so, dass ich beide Toilettentüren im Blick habe und das Bewegungsmuster der Besucher beobachten kann: Sie gehen hinein, finden keinen Lichtschalter, gehen wieder hinaus, suchen draußen einen Schalter und finden ihn nicht. Dann gehen sie – sehr zögerlich – wieder hinein, bleiben in der geöffneten Tür stehen, sichtbar verunsichert. Das ist das Zeichen für meinen Einsatz. In diesem Moment rufe ich: »Gehen Sie einfach rein! Das Licht geht gleich an!«

Dieses sich wiederholende Bild schreit förmlich danach, gedeutet zu werden. Die Situation ist mir zu vertraut, als dass ich der Versuchung widerstehen könnte, sie nicht in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Mir fallen all die Situationen ein, in denen das Licht nicht rechtzeitig anging, in denen ich nichts als Dunkelheit vor Augen hatte. Und dabei befinde ich mich in guter Gesellschaft. Der Literaturnobelpreisträger Tomas Tranströmer kleidet diesen Gedanken in einem seiner bekanntesten und beliebtesten Gedichte, »Schubertiana«, in Worte: »Auf wie viel wir uns verlassen müssen, um unseren Alltag leben zu können, ohne durch die Erde zu sinken! (…) So, wie wenn im Treppenhaus das Licht ausgeht und die Hand – vertrauensvoll – dem blinden Geländer folgt, das durchs Dunkel führt.«1

Immer wieder wird man zu der Einsicht gezwungen, dass unser Lebensweg nicht durch eine Reihe von Entscheidungen bestimmt wird, die wir in aller Ruhe und nach gründlichem Überlegen – Was ist richtig, was ist das Beste? – treffen. Früher oder später kommen wir an einen Abschnitt des Wegs, auf dem wir, aus welchem Grund auch immer, ohne Licht dastehen und der nächste Schritt alles andere als selbstverständlich ist. Weit und breit kein Lichtschalter, weder innen noch außen. Jetzt weiterzugehen erfordert einen Mut, den man nicht zu haben meint. Wer an diesem Punkt ist oder war, weiß, was ich meine.

Bei Tranströmer finden wir aber nicht nur das plötzlich dunkle Treppenhaus, sondern auch das Geländer. Es kann für Gott stehen – oder auch für jeden von uns. An dieser Stelle kommen nämlich wir ins Spiel, Menschen, die selbst an diesem Punkt standen und eine ähnliche Strecke durch die Dunkelheit gehen mussten. Wir sind viele, und wir sind alle keine Experten für Nachtsicht. Eigentlich haben wir nichts zu geben als unsere Erfahrung. Dennoch können wir einander Geländer sein, eine stellvertretende Hoffnung für alle, die gerade überhaupt keinen Lichtschein sehen. »Wir müssen darauf vertrauen, dass es hell wird!«, dürfen wir einander zuflüstern. Das schwedische Wort für »Vertrauen« (tillit) ist ein Palindrom, d.h. eine Buchstabenfolge, die von vorne wie von hinten gelesen dasselbe Wort ergibt. Das macht es zu einem besonders schönen, fast ein bisschen unheimlichen Wort. Wenn ich es höre, sehe ich einen Menschen, der erst vor Kurzem mein Freund geworden ist, er steht unschlüssig und etwas verwirrt in der Türöffnung, und ich sage zu ihm: »Man muss einfach ins Dunkel gehen und darauf vertrauen, dass es hell wird.«

Das geht nicht vorbei

Ausgerechnet in den Ferien habe ich mir einen Bandscheibenvorfall zugezogen. Ich hatte mein Alter unter- und meine Kräfte überschätzt. In der Folge gab es für mich nur noch eine erträgliche Position: in Rückenlage auf dem Boden liegend, mit den Unterschenkeln auf der Küchenbank. Es scheint, dass es jeden oder jeden zweiten irgendwann im Leben einmal trifft, deshalb gibt es nichts herumzulamentieren oder groß zu erklären. Wenn ich dennoch etwas darüber schreibe, liegt das an der unfreiwilligen Positionsveränderung. Man liegt ja nicht so oft auf dem Boden, jedenfalls nicht mehrere Wochen lang.

Ein guter Freund von mir sagt immer: Unsere Position entscheidet darüber, was wir sehen. Jetzt weiß ich, was er meint. Ich habe in diesen Wochen jede Menge Dinge gesehen, die ich vorher nie genau betrachtet hatte. Gutes und weniger Gutes: Deckenleisten, die mal gestrichen werden müssten, die Unterseite von Dingen, die man immer nur von oben gesehen hat, und das unermüdliche Hoch- und Runterrennen des Kleibers auf dem Stamm der Ulme vor unserem Fenster. Nichts Neues, immer das Alte, aber aus einem anderen Blickwinkel betrachtet.

 genau so