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Westend Verlag

Ebook Edition

Manni Breuckmann

Manni
Bananenflanke, ich Kopf – Tor!

Legendäre Szenen des deutschen Fußballs

Westend Verlag

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www.westendverlag.de

Überarbeitete und erweiterte Neuauflage des Buches »50 legendäre Szenen des Deutschen Fußballs« von 2010

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-779-5

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Copyright der Fotos im Innenteil: Jürgen Croy (Seite 197), Eintracht Frankfurt/Jan Hübner (Seite 218), dpa (Seite 150 und 252), alle anderen Wilfried Witters Sport-Presse-Fotos GmbH

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Der Autor möchte vorher noch was sagen
Michael Kutzop
Alles Bayerndusel, oder was?
Hans-Joachim Osmers
In dubio pro Schiedsrichter
Klaus Fischer
Die hohe Kunst der Fallrückzieher
Rudi Assauer
Gott ist neutral
Rudi Völler
Holländisch-deutscher Fußballkrieg
Manni Burgsmüller
Die Kantersiege der Liga
Andy Köpke
Elfmeterschießen – eine deutsche Erfindung
Ditmar Jakobs
Karriereende mit 36
Jens Lehmann
Dat Dörbie
Ewald Lienen
Fußball, Politik und Flügelkämpfe
Frank Mill
Brief an Fränkie Mill
Harald Schumacher
So sah ich Schumacher 1982
Deutschland gegen Italien
Jahrhundertspiel? Nein danke!
Lars Ricken
Lars Ricken: der Dortmunder an und für sich
Horst-Dieter Höttges
Wembley-Tor – ein Etappensieg im Kalten Krieg?
Jürgen Sparwasser
Sparwassers Tor für die Ewigkeit
Uli Hoeneß
Uli Hoeneß – »Emotionsbombe«
Franz Beckenbauer
Beckenbauer: Er flog nach oben
Béla Réthy
Löw, zum Erfolg verdammt
Bernd: Hölzenbein
Aus der Chronik der (fast) vergessenen deutschen Europacup-Teilnehmer
Olaf Thon
Der mit dem Wort tanzt
Uwe Reinders
Uwe Reinders hat viele Nachfolger
Christopher Keil
Trapattoni unne die andere
Mario Basler
Die Erben der Busby-Babies
Oliver Bierhoff
Der Super-Minister
Klaus Augenthaler
Augenthalers Job: leidender Angestellter
Dieter Müller
Dieter Müller und die anderen Jäger mit Riecher
Guido Winkmann
Der Videobeweis und das Ende des eruptiven Jubels
Günter Netzer
Günter Netzer – kein Außerirdischer
Edi Finger
Das Radio ist tot, es lebe das Radio
Wolfgang Seguin
Magdeburg Europapokalsieger? Im Westen hat’s keinen interessiert
Jürgen Klopp
Nur ein Karnevalsverein?
Uwe Seeler
»Uns Uwe«
Wolfgang Stark
Die »Talibane der Fußballfans« oder: Wie backe ich mir einen Skandal?
Bernd Hölzenbein
Die Schwalbe ist ein Fußball-Herdentier
Sönke Wortmann
Das Wunder von Bern half beim Vergessen
Rainer Bonhof
Alles andere als große Würfe
Ernst Huberty
FC – mer stonn zo dir!
Marcel Reif
»Ein Tor würde dem Spiel guttun.«
Kalli Feldkamp
Wunder von der Grotenburg oder Blamage beim Klassenfeind?
Bernd Heller
Krawallfernsehen im ZDF – das »Aktuelle Sportstudio« auf Abwegen
Domenico Tedesco
Fußballspektakel – der Ausgleich für großflächige Ödnis
Günther Koch
Die Mutter aller Abstiegsdramen
Matthias Sammer
Frankfurt, VFB, BVB – das 92er Meisterdrama
Jürgen Croy
»… sieben, acht, neun, zehn: Klasse!« – Fußball in der DDR
Christoph Biermann
Fußball auf Droge? Daum und andere
Dieter Hoeneß
Dieter Hoeneß, der Eisenharte
Horst Hrubesch
Wenn die Reporter nichts zu reportieren haben
Erich Rutemöller
Erich Rutemöller – ein redlicher Westfale im Haifischbecken
Fredi Bobic
Pokalhelden – alles ist möglich?
Olaf Marschall
Kaiserslautern – lauter Wahnsinnige
Jürgen Kohler
Jürgen Kohler: vom »Grobmotoriker« zum »Fußballgott«
Felix Magath
Felix Magath – König von Europa
Ulf Kirsten
Vizekusen bei den Oberbayern in Unterhaching
Hermann Gerland
Hermann Gerland – ein Ur-Westfale bei den Bayern
Heiko Herrlich
Oliver Kahn – ein Fußballleben mit zwei Halbzeiten
Jogi Löw
»Das größte Massaker in der Historie der Seleção«
Danke, danke!

Der Autor möchte vorher noch was sagen

Auf dem Buchmarkt gibt es verschiedene Möglichkeiten, um Prügel zu bitten: beispielsweise durch Bücher, in denen Frauen schlecht wegkommen; oder durch Kampfschriften gegen die terroristische Diktatur quengelnder und brüllender Kinder. Es könnte ja auch mal einer eine umfangreiche und lustvolle Abhandlung über den wertvollen Beitrag des Rauchens zur kulturellen Entwicklung Europas schreiben. Auch das wäre so etwas wie eine Aufforderung zur öffentlichen Bestrafung.

Das Werk, das Sie jetzt in Händen halten, ist da harmloser: Einerseits geht es um Fußball, der für mich zwar wichtig, letztlich aber immer noch eine Nebensache ist. Daran wird sich nichts mehr ändern, da können meinetwegen Tausende und Abertausende die Liebe zu einem Fußballverein zum Wichtigsten in ihrem Leben deklarieren. Ich finde, da gibt es wesentlich wichtigere Dinge. Trotzdem wird bei der Konzeption dieses Buches das Tor für Kritik weit geöffnet. Denn wir mussten eine Auswahl treffen, und da fällt nun mal das nicht Ausgewählte hinten runter. Eine kleine, zu allem entschlossene Jury, bestehend aus Markus J. Karsten und Rüdiger Grünhagen vom Westend Verlag und mir, hat es sich angemaßt, die Wichtigkeit und Unvergesslichkeit von Fußballszenen zu bewerten. Wir haben die Dreistigkeit besessen, aus Hunderten von spektakulären Spielen und Situationen die auszuwählen, die sich besonders heftig in unserer Erinnerung eingenistet haben. Ein sehr subjektiver Prozess, eine echte oder vermeintliche Premium-Selection, die darauf angelegt ist, hochemotionale Kritik auszulösen.

Warum steht so wenig über Fortuna Düsseldorf drin? Warum wird die gigantische Meisterschaft von Eintracht Braunschweig 1967 nicht gewürdigt? Warum hat Eintracht Frankfurts Europapokalfinale gegen Real Madrid 1960 kein eigenes Kapitel? Und was ist mit Weinheims Pokalsensation von 1990 gegen die großen Bayern? Jaja, alle Kritiker haben Recht, wir sinken schuldbewusst in den Staub und küssen Füße. Aber wir sind uns ganz sicher, dass die allermeisten der ausgewählten Spiele und Szenen tatsächlich bei den Fußballfans unvergessen sind. Weil verrückte, spektakuläre Dinge passiert sind, weil der Ausgang sensationell war, weil die Spannung kaum auszuhalten war. Diese Mosaiksteine in der Geschichte des deutschen Fußballs noch mal zu beleuchten, sie von den Pro­tagonisten schildern zu lassen und das dann mit analytischen, frechen und witzigen Kommentaren zu versehen, hat uns allen einen Heidenspaß gemacht. Und deshalb sind wir uns auch sicher, dass Sie das Buch mit Gewinn lesen werden. In diesem Sinne viel Spaß und schöne Erinnerungen!

Herzlichst

Ihr Manni Breuckmann

Klaus Fischer

König der Fallrückzieher

Klaus Fischer liegt mit 268 Toren auch nach Jahrzehnten (hinter dem unerreichbaren Gerd Müller, 365 Tore) noch auf Platz zwei der ewigen Torjäger-Hitparade der Bundesliga. Berühmt sind vor allem Fischers legendäre Fallrückzieher. Einer davon wurde Tor des Monats, des Jahres und des Jahrzehnts und landete hinter Helmut Rahn auf dem zweiten Platz beim Tor des 20. Jahrhunderts.

»Mein erstes Fallrückziehertor erzielte ich in der Saison 1975/
76 im Spiel gegen Karlsruhe. Bis dahin kannte die Bundesliga diese spektakuläre Art, Tore zu schießen, so gut wie gar nicht. Später in der Kabine war für alle klar: Das wird das Tor des Monats.

Allerdings muss man wissen, dass einiges dazugehört, solche Fallrückzieher zu machen. Wichtig ist, man darf keine Angst haben, denn das Verletzungsrisiko ist hoch, wenn man schlecht oder falsch landet. Richtig trainiert habe ich diese Dinger nie, aber trotzdem, Fallrückzieher ist nicht gleich Fallrückzieher, man benötigt schon eine gewisse Technik.

In Schalke unter den Trainern Rausch und Horvath habe ich trainiert, die Seitfallzieher – Bälle von links und rechts, egal wie sie kamen, hoch, halbhoch oder flach – immer mit dem Spann zu nehmen. Und daraus entstand dann irgendwann der Fallrückzieher. Man muss natürlich auch ein bisschen Glück haben, aber damit alleine ist es nicht getan. Der entscheidende Punkt ist die Intuition, und irgendwann hatte ich diese Technik verinnerlicht. Klar, die Flanke muss auch stimmen, nicht zu hoch, aber auch nicht zu steil, und Platz braucht man. Wenn ein Gegenspieler zu nahe ist, pfeift der Schiri ab.

Mein wohl schönster Fallrückzieher wurde genau deswegen leider nicht gegeben. Das war im Freundschaftsspiel gegen die UdSSR. Nachdem ich bereits abgesprungen war, näherte sich von hinten ein Spieler der Russen, der den Ball köpfen wollte. Wir haben uns nicht mal berührt, der Ball landete im Tor, aber der Schiedsrichter pfiff wegen gefährlichen Spiels ab. Sehr schade.

v.l.: Klaus FISCHER Deutschland, PRIGODA  Deutschland - UdSSR 1:0

»Wichtig ist, man darf keine Angst haben.«

Geradezu lehrbuchartig war auch das Fallrückziehertor 1977 gegen die Schweiz, das spätere Tor des Jahrzehnts. Die Flanke kam von Abi Abramczik, der genau wusste, wie ich die Vorlage haben wollte. Und in der Nacht von Sevilla, dem Halbfinale gegen Frankreich bei der WM 1982 in Spanien, konnte ich in der Verlängerung mit einem Fallrückzieher zum 3:3 ausgleichen, dieses Mal nicht ganz so spektakulär, dafür aber superwichtig – wir gewannen das anschließende Elfmeterschießen und kamen ins Finale.

Bis vor ein paar Jahren habe ich so ein Ding immer mal wieder in meiner Fußballschule gezeigt. Danach gefragt haben meine Schützlinge aber nie. Die waren einfach zu jung und wussten nichts von meiner alten Spezialität. Ich hab’s für die Väter gemacht, die an der Außenlinie standen.«

Die hohe Kunst der Fallrückzieher

Mannis Kommentar

Einen Fallrückzieher selber zu machen ist nicht einfach, aber ihn zu erklären, das ist fast noch schwerer. Isi und Jessi (11) versuchen es auf einer Internetplattform für Kinder so: »Wenn jemand zu fallen droht, und es kommt ein anderer Spieler und zieht ihn weg.« Das ist genauso knapp neben der Wahrheit wie die Definition von Nico (12): »Wenn einer schießen wollte und rutscht aus und fällt auf den Po und schießt den Ball noch weg.« Irgendwas mit Wegschießen ist es wohl, das hat Peer (10) am besten begriffen: »Wenn ein Spieler sich hintenrüber fallen lässt und dabei den Ball wegschießt.«

Also: Sich einfach hintenrüber fallen lassen und schießen, schon rauscht die Kugel ins Tor. Das klingt nicht sehr kompliziert, aber die perfekte Durchführung gelingt wegen der hohen Fehlerquote selten: die Koordination der Körperbewegungen, der Flugwinkel des Balles, der richtige Zeitpunkt des Schusses – Klaus Fischer hat die Probleme beschrieben.

Der Fallrückzieher ist eben Kunst, hohe Schule, eine spektakuläre Aktion, die sich aus der Tiefebene des missglückten Flachpasses über acht Meter erhebt. Noch mehr als andere Varianten der Ballbehandlung birgt der Fallrückzieher das Risiko des grausamen Scheiterns, ja die Gefahr, sich furchtbar lächerlich zu machen: Der Spieler fliegt perfekt, trifft aber den Ball nicht, oder er hämmert ihn in Richtung Eckfahne, oder er landet auf dem Rücken wie ein strampelnder Maikäfer und verletzt sich vielleicht noch dabei.

Mitteleuropäische Trainer schätzen das Risiko nicht, sie wollen Kontrolle, Effizienz und perfekt choreografierte Systeme; deshalb würden manche den Fallrückzieher am liebsten verbieten. Artistik und geniale Kunst stören die »wissenschaftliche« Planbarkeit des modernen Fußballs und wurden von den Minderbegabten schon immer als »Hacke, Spitze, eins, zwei, drei« verhöhnt. Nur die ganz Großen, die sich vielleicht auch noch »in den Dienst der Mannschaft« stellen, dürfen sanktionsfrei tricksen und zaubern.

Die Champions-League-Saison 2017/18 bot zwei besonders gelungene Beispiele für schulbuchmäßige Fallrückzieher, die selbstverständlich von Ausnahmeprofis vorgeführt wurden. Cristiano Ronaldo traf im Spiel gegen seinen späteren Arbeitgeber Juventus Turin, und im Finale gegen den FC Liverpool segelte der für Real Madrid spielende Waliser Gareth Bale spektakulär durch den Strafraum. Bale war 2013 für 100 Millionen Euro von Tottenham nach Madrid gewechselt und saß anschließend, mehr als ihm lieb war, auf der Reservebank. Ein Traumtor als Protest gegen mangelnde Wertschätzung? Damit hatte der alte Klaus Fischer nie was am Hut. Er nahm die Bälle einfach so, wie sie kamen.

Hans-Joachim Osmers

Helmer und das Phantomtor von München

Am 23. April 1994 standen sich Nürnberg und ­Bayern München am drittletzten Spieltag gegenüber. In der 26. Minute bekam Thomas Helmer den Ball vor die Füße, schob ihn aber knapp am linken Pfosten vorbei. Zur Verwunderung aller entschieden Linienrichter Jablonski und Schiedsrichter Hans-Joachim Osmers jedoch auf Tor für die ­Bayern – und die gewannen das Spiel dann letztlich auch mit 2:1. Osmers äußert sich zu seiner Entscheidung.

»Es gab einen Eckball für die Münchner, der Ball flog Richtung lange Ecke, ein Bayern-Spieler veränderte per Kopf noch etwas die Flugrichtung, und dann landete die Kugel einen halben Meter vor der Torlinie vor den Füßen von Thomas Helmer. Und der bugsierte ihn dann mit der linken Wade, wie man später auf den Fernsehbildern sehen konnte, etwa dreißig Zentimeter neben das Tor. Das habe ich aber nicht wahrgenommen, ich sah nur, wie mein Assistent mit der Flagge signalisierte: Tor für Bayern!

Die Nürnberger protestierten, Helmer sagte, der war ganz klar drin, und ich gab das Tor. Noch in der Halbzeitpause meinte mein Assistent: ›Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, der Ball war klar im Tor.‹ Der Nürnberger Manni Schwabl hat dann noch kurz vor Schluss einen Elfer vergeben.

Danach bekam ich ein gewaltiges Mediengewitter ab. Schon beim Rückflug standen vier oder fünf Kamerateams am Bremer Flughafen, ich schaffte es sogar in Sabine Christiansens Tagesthemen. Meine Frau hat am nächsten Tag die Telefonschnur aus der Wand gezogen. Am Tag der DFB-Verhandlung gab’s in Japan einen Flugzeugabsturz mit 230 Toten, in der Tagesschau war das ›Phantom-Tor‹ trotzdem der erste Beitrag. Ich wurde auf Schleichwegen ins DFB-Gebäude gebracht, als wenn ich einen totgeschlagen hätte.

Der Mediendruck war so groß, dass beim DFB eine Spielwiederholung angesetzt wurde, und das trotz einer klaren Warnung von der FIFA, die auch in diesem Fall das Prinzip der Tatsachenentscheidung gewahrt wissen wollte. Aber die Wiederholung hat den Nürnbergern ja auch nicht geholfen, sie verloren 0:5 und stiegen in der Saison ab.

Ich selber habe ein paar Wochen Pause gemacht und danach noch ein Jahr Bundesliga gepfiffen. Spätestens seit dem Helmer-Desaster bin ich der Meinung, bei der Frage ›Tor oder kein Tor‹ dürfte es ruhig elektronische Hilfsmittel geben.«

In dubio pro Schiedsrichter

Mannis Kommentar

Was für eine großartige Perle in der Kette der Schiedsrichter-Fehlentscheidungen! Ein wunderbarer Beleg für die absolute Notwendigkeit des Videobeweises. Könnte man meinen. Denn es waren ja damals vor einem Vierteljahrhundert nicht alle auf dem Platz und auf den Rängen der Meinung, Thomas Helmer hätte ein korrektes Tor erzielt. Und die Proteste der Nürnberger hätten die Kontrolleure in der Kölner Videozentrale mit Sicherheit dazu veranlasst, sich dieses »Tor« noch mal anzugucken. Wenn schon der angebliche Torschütze nicht den Mumm hatte, auf den Fehler hinzuweisen.

Also ein Paradebeispiel für eine schwerwiegende Fehlentscheidung, für die der Videobeweis ja ins Regelwerk eingefügt wurde? Nein, eben nicht. Denn hier ging es ja um die Frage »Tor oder kein Tor?«, wie der unglückliche Schiedsrichter schon treffend angemerkt hat. Also ein Fall für das »magische Auge«, für die Torlinien-Technologie, auch Hawk-Eye genannt. Dieses elektronische Hilfsmittel gibt es in der Bundesliga ja schon länger als den Videobeweis, nämlich seit Beginn der Saison 2015/16. Mit dem Hawk-Eye hatte ich persönlich nie Probleme. Weil es dabei keinen Interpreta­tionsspielraum gibt. Ob der Ball drin war, entscheidet das unbestechliche magische Auge zuverlässig und präzise; und das bei der schwerwiegendsten und wichtigsten Schiedsrichterentscheidung. Da fehlte mir schon immer jeder Sinn für diese wunderbare Romantik, am Sonntagmorgen noch mal mit viel Pro und Contra den Schiedsrichter in den Senkel zu stellen, wann immer es ging. Um anschließend zwei bis drei Mal im Jahr die Krise des deutschen Schiedsrichterwesens auszurufen. Ich war nie ein fundamentaler Gegner jeglicher technischer Hilfsmittel zur Unterstützung der Schiedsrichter. Wenn sie – wie bei der Torlinienüberwachung – perfekt funktionieren, ist aus meiner Sicht jeder Einwand sinnlos.

Anders sieht das beim allgemeinen Videobeweis aus, der 2017 in der Bundesliga in die Erprobungsphase ging. Dort werden Perfektion und absolute Gerechtigkeit nur vorgetäuscht. Und immer, wenn wir merken, dass es so etwas im Fußball im umfassenden Sinne nicht geben kann, sind Frustration und Enttäuschung vorprogrammiert. Und die Hochbegabten unter den Fußballfans rufen bei jeder Videoentscheidung gegen die eigene Mannschaft »Scheiß DFB!«. Aber das ist eine andere Geschichte und kommt erst später dran.

Rudi Assauer

»Ab heute glaube ich nicht mehr an den Fußballgott.«

Am 19. Mai 2001 hätte Schalke 04 im letzten Spiel im alten Parkstadion Deutscher Meister werden können. Das 5:3 gegen Unterhaching reichte aber nicht, die Bayern holten mit einem 1:1 in Hamburg durch einen zweifelhaften Freistoß in letzter Sekunde die Schale. Schalkes damaliger Manager Rudi Assauer erinnert sich:

»Das Drama fing ja schon am vorletzten Spieltag an, als wir in Stuttgart in der 90. Minute das 0:1 durch Balakov kassierten, und Zickler machte in der letzten Minute mit links den Siegtreffer für die Bayern gegen Lautern. Da wussten wir, jetzt stehen unsere Chancen auf den Titel bestenfalls noch bei 50:50. Ich dachte mir: ›Die Bayern holen in Hamburg mindestens den einen Punkt, den sie brauchen, der HSV ist nicht stark genug, um die in Schach zu halten.‹

Im letzten Spiel gegen die Unterhachinger sah ich bereits die Felle davonschwimmen, denn nach einer halben Stunde lagen wir ja schon mit 0:2 hinten. Und dann haben wir dieses verrückte Spiel noch mit 5:3 gewonnen. Aber in Hamburg, da spielten sie ja noch. Dieses Warten hat mich wahnsinnig gemacht. Ich höre, die Hamburger führen mit 1:0, Schalke ist Meister! Und dann kommt dieser Fuhrmann von Premiere und schreit: ›Assauer, das Spiel in Hamburg ist aus, ihr habt’s gepackt!‹

Die Leute im Stadion fingen an durchzudrehen. Ich lauf die Treppen hoch in die Kabine und denk: ›Ich krieg ’n Schlag. Die spielen noch in Hamburg!‹ Und dann pfeift der Merk diesen Freistoß, der nie einer war. Das war doch ein verunglückter Ball, keine verbotene Rückgabe auf den Torwart Schober. Und Ujfalusi vom HSV grätscht noch rein, berührt den Ball sogar leicht.

Warum haut der Schober das Ding nicht auf die Tribüne? Ausgerechnet ein Ex-Schalker beschert uns so ein beklopptes Ding! Und wenn du beim Freistoß genau hinguckst, dann siehst du diesen blonden Fischer vom HSV, der steht auf der Linie direkt neben dem Pfosten, und in dem Augenblick, als Andersson ausholt, macht er einen Schritt nach links. Wäre er einfach nur stehen geblieben, dann wäre nix passiert.

Anschließend war auf Schalke nur noch totales Chaos, völliges Durcheinander. Ich hab zum ersten Mal auf einem Fußballplatz geheult, das passiert sonst nur ganz selten, vielleicht mal am Grab, wenn ein guter Freund gestorben ist. Ich dachte mir wochenlang: So nah warst du nie dran an der Meisterschaft. Vielleicht ein einziges Mal: als wir mit Borussia Dortmund 1966 am vorletzten Spieltag zu Hause gegen den späteren Meister München 1860 mit 0:2 verloren haben.«

Gott ist neutral

Mannis Kommentar

Ich stand ganz in der Nähe, als Rudi Assauer nach dem Spiel den unvergessenen Satz sprach: »Ab heute glaube ich nicht mehr an den Fußballgott.« Er war sehr ernst, da schwang keine Spur von Ironie mit. Jeder sollte glauben, dieses verbitterte Menschenkind namens Rudolf hat heute mit dem höheren Wesen gebrochen, das sonst bei Schalke immer seine Finger im Spiel hat.

Keiner traute sich nachzufragen, zum Beispiel, warum der göttliche Beistand bei den drei Abstiegen in die 2. Liga und seit 1958 regelmäßig in der Meisterschaftsfrage nie zu spüren war. Alle schwiegen betroffen, manche schickten wahrscheinlich ein Stoßgebet nach oben, zu jenem nicht mehr Existenten.

Assauer kriegte es mit den Kirchenleuten zu tun, die sich die Vereinnahmung Gottes für schnöde blau-weiße Belange verbaten. Der gläubige Christ Gerald Asamoah half sich mit dem Satz, Gott wisse schon, was er tue: »Ich glaube weiter an ihn.«

Belege für das lenkende Eingreifen des Herrn in ein Fußballspiel gibt es nicht. Nur ein einziges Mal wurde diese Behauptung auf höchster Ebene aufgestellt: WM 1986, Vier­telfinale England gegen Argentinien, das 1:0 für Argentinien, Sie erinnern sich: »die Hand Gottes«, eingeführt über das Medium Maradona. Der Hauptdarsteller brauchte nur neunzehn Jahre, um die nicht sehr fromme Lüge zuzugeben. So ein kleines bisschen sei es damals auch seine linke Faust gewesen …

Aber auch ohne göttliche Steuerungsmaßnahmen gibt es auffällige Parallelen zwischen Fußball und Religion. Das beginnt schon bei der inbrünstigen Hinwendung des Fans zu seinem Verein, mit allen Fasern seines Körpers, ganz wie ein Tiefgläubiger (»Schalke, dat is mein Leben.«).

Und ist nicht der Kult um die Stars vergleichbar mit dem Heiligenkult der katholischen Kirche? Im Fußball die Hoffnung auf die symbolische Teilhabe an Ruhm und Reichtum durch das Überstreifen eines Trikots, in der Kirche das Streben nach dem Kontakt mit der Wirklichkeit Gottes über die Verehrung eines Heiligen? Da wird die Konstruktion eines parteiischen Fußballgottes (der sich auch noch durch Kerzenspenden vor wichtigen Spielen beeinflussen lässt!) zweitrangig.

Margot Käßmann, die ehemalige Ratsvorsitzende der Evan­­gelischen Kirche in Deutschland, sieht in Gott einen neutralen Fußballfreund: »Er freut sich mit den Gewinnern und stärkt den Verlierern den Rücken.« Nach dieser Beschreibung könnte Gott auch Schiedsrichter sein. Dann hätte er aber am 19. Mai 2001 den Freistoß für die Bayern nicht gepfiffen. Wegen der Gerechtigkeit.

Der enttäuschte Rudi Assauer nahm seine Verbitterung über die entgangene Meisterschaft mit ins Grab. Bis zu Assauers Tod im Februar 2019 gelang den Schalkern weder mit noch ohne göttlichen Beistand ein Meistertitel. Es wäre der erste nach 1958 gewesen. »Ich werde es noch erleben«, hatte Assauer immer wieder beschworen. Sein größter Wunsch ist nicht in Erfüllung gegangen.

Rudi Völler

Frank Rijkaard, »het Lama«

Brisante Spiele zwischen Deutschland und den Niederlanden gab es viele. Besonders in Erinnerung geblieben ist aber vor allem das Achtelfinalspiel der WM 1990 in Mailand, in dem Frank Rijkaard in der 22. Minute Rudi Völler anspuckte und anschließend beide vom Platz gestellt wurden. Völler dazu im Interview:

Breuckmann: »Können Sie die Fragen nach Frank Rijkaard noch hören?«

Völler: »Ich muss damit leben. Aber es ist schon richtig: Ob in Leverkusen, Brasilien oder Italien, überall werde ich auch nach all den Jahren noch auf diesen Vorfall angesprochen.«

Breuckmann: »Wie kam es denn zu der Spuck-Attacke?«

Völler: »Rijkaard foult mich im Mittelfeld und sieht dafür Gelb. Er fängt mit mir an zu diskutieren, und danach spuckt er mir von seitlich hinten in die Haare. Der Schiedsrichter hat das nicht gesehen, und als ich mich beschwere, zieht er doch tatsächlich die gelbe Karte. Kurz danach habe ich einen Zusammenprall mit dem Torwart van Breukelen. Da macht Rijkaard wieder Theater, packt mich am Ohr – danach kriegt er Rot. Und ich auch! Vollkommen unbegreiflich! Und bei seinem Abgang spuckt der Holländer mich noch mal an. Später im Kabinentunnel habe ich ihn zur Rede gestellt, da gab’s dann noch ’ne kleine Rangelei.«

Breuckmann: »Deutschland spielte ja damals andauernd gegen Holland. Waren Sie mit Rijkaard verfeindet?«

Völler: »Quatsch, die Duelle mit ihm, vier oder fünf Spiele, waren immer in Ordnung. Da wurde kein schmutziger Fußball gespielt. Wir kannten uns ja auch aus der Serie A, er bei Milan, ich beim AS Rom. Für mich war es ja fast schon ein Kompliment, dass der holländische Trainer Leo Beenhakker Rijkaard als Manndecker gegen mich stellte. Normalerweise spielte der nämlich im Mittelfeld und war als Verteidiger fast verschenkt. Rijkaard hatte damals private Probleme, vielleicht erklärt das so einiges.«

Breuckmann: »Der Platzverweis scheint Sie ja mehr geärgert zu haben als die Spuckerei.«

Völler: »Na klar, ich hatte bei der WM schon drei Tore geschossen und kam durch die Sperre fürs Viertelfinale ziemlich aus dem Rhythmus. Außerdem: Ich war zwar kein Kind von Traurigkeit auf dem Platz, wusste aber immer, wo die Grenzen liegen. In achtzehn Jahren als Profi habe ich außer bei dieser Rijkaard-Nummer nur noch einmal Gelb-Rot gesehen, in Rom, und zwar fürs Ballwegschlagen.«

Rudi VOELLER / Frank RIJKAARD   Deutschland - Holland 1:2 WM '90

Zweikämpfe mit allen Mitteln: Frank Rijkaard und Rudi Völler

Breuckmann: »Die offizielle Versöhnung gab’s sechs Jahre später.«

Völler: »Ja, wir posierten in buttergelben Bademänteln für holländische Butter, und als Überschrift stand in der Anzeige: ›Alles wieder in Butter!‹ Das Honorar haben wir gemeinsam für die Mexico-Hilfe [eine von dem damaligen DFB-Präsidenten Egidius Braun 1986 initiierte DFB-Stiftung, Anm. d. Red.] gespendet.«

Holländisch-deutscher Fußballkrieg

Mannis Kommentar

Am schlimmsten war es immer in Rotterdam. Bei Fußballreisen in die Hafenstadt lagen Unsicherheit, Angst und Gewalt mit im Gepäck. Dreimal war ich da, zu Zeiten, als in anderen Ländern schon gemeinsame Fanparties gefeiert wurden – in Rotterdam gab es jedoch stets Pöbeleien und Theater.

Die Stadt und der Hafen von Rotterdam sind 1940 und noch mal 1944 von deutschen Bomben gründlich plattgemacht worden. Das prägte das Bewusstsein bis weit in die Neunzigerjahre und führte zu skurrilen Begegnungen, etwa als beim Mönchengladbacher Gastspiel 1996 ein Zwanzigjähriger mir (Jahrgang 1951) mitteilte, er habe den Krieg noch nicht vergessen. Im gleichen Jahr schämte ich mich furchtbar, als deutsche Hooligans beim Länderspiel im Rotterdamer Stadion den Hitlergruß zeigten.

2002 war es besonders gespenstisch: Dortmund spielte das UEFA-Cup-Finale gegen Feyenoord in Rotterdam, und die Sicherheitsbehörden hatten ihre Lektion gelernt: Die Fans ­beider Lager wurde so gründlich separiert wie die Ost- und Westberliner zu Zeiten der Mauer. Die Stadt war ein einziges Polizeilager. Als Begleitmusik standen lange Schlangen niederländischer Spießbürger vor dem Rotterdamer Rathaus, um sich in die Kondolenzlisten für den ermordeten ausländerfeindlichen Politiker Pim Fortuyn einzutragen.

Mittlerweile hat die hasserfüllte Rivalität nachgelassen, vielleicht auch aus Mangel an Gelegenheiten. Begonnen hat der »Krieg« (Rinus Michels) 1974, als sich der holländische Fußball aus seinem Zwergendasein erhob. Die WM-Endspiel-Niederlage wurde – mit zeitlicher Verzögerung – jenseits der Grenze als Trauma empfunden, als verpasste Möglichkeit, sich für den deutschen Überfall 1940 zu rächen.

Der Höhepunkt der symbolischen Überfrachtung des niederländisch-deutschen Fußballkonfliktes war das Jahr 1988. Oranje warf Deutschland in Hamburg aus der EM, neun von fünfzehn Millionen Holländern tanzten danach auf den Straßen und sangen: »1940 kamen sie, 1988 kamen wir, holadije, holadio!« Und Ronald Koeman wischte sich mit Olaf Thons Deutschlandtrikot symbolisch den Hintern ab.

David gegen Goliath, kleines, unterdrücktes Volk gegen brutale Besatzer, schöner Multi-Kulti-Fußball gegen Grätsch-Monster-Gebolze – Bilder, die die Holländer sorgsam pflegten, die aber nicht in jeder Beziehung die Wirklichkeit widerspiegelten. Die Deutschen holzten erst 1990 zurück, dann aber richtig, nicht nur in Gestalt prügelnder Skins, sondern auch in Person des großmäuligen Loddar, der beim Oktoberfest einem Holländer bedeutete: »Du bist wohl vergessen worden vom Adolf!«

Der gleiche Matthäus bekam im Jahr 2000 vor einem Länderspiel in Amsterdam für sein 144. Spiel im deutschen Dress (internationaler Rekord) von Edgar Davids Blumen überreicht. Und die meisten Zuschauer klatschten Beifall. Ob’s den Richtigen getroffen hat, sei offengelassen, aber immerhin war der Applaus ein schöner Beitrag zum Abbau alter Feindbilder. Im neuen Jahrtausend wird zwar immer wieder gerne medial versucht, niederländisch-deutsche Begegnungen anzuheizen, aber die Flammen, sie wollen nicht mehr so recht lodern. Das Spucken, das Treten und das Hetzen – all das gehört in eine dunkle, fast vergessene Vergangenheit.

Michael Kutzop

Ein Pfosten zwischen Werder und der Meisterschale

Weserstadion Bremen, 22. April 1986: Werder ­Bremen spielt gegen Bayern München und kann sich durch einen Sieg am vorletzten Spieltag vorzeitig die Meisterschaft holen. Zwei Minuten vor Schluss gibt es einen Elfmeter für Werder. Michael Kutzop vergibt die Riesenchance und setzt den Ball an den rechten Pfosten. Der ansonsten sichere ­Elfmeterschütze ­erinnert sich:

»Nach dem Elfer muss es im Weserstadion ganz still gewesen sein. Das habe ich aber nicht so richtig mitgekriegt, ich lief wie in Trance im Mittelfeld rum, hinterher haben sie mich durch einen Seitenausgang nach Hause gebracht. Der Sekt für die Meisterschaft stand schon bereit, und ich hab’s vermasselt!

Es war ein Handelfmeter, Sören Lerby sprang der Ball angeblich im Strafraum an die Hand. Ich will es mal so sagen: Keiner hätte es Schiedsrichter Volker Roth übel nehmen können, wenn er nicht gepfiffen hätte.

Die 88. Spielminute lief, mach ich das Ding rein, ist Werder Deutscher Meister. Und dann verzögerte sich alles, weil der Bayern-Co-Trainer Egon Cordes wutentbrannt den Ball weggeschlagen hatte. Damals gab es noch keine Ersatzbälle; es dauerte zwölf Minuten, bis der Spielball auf dem Elfmeterpunkt lag. Genug Zeit für die Bayern-Spieler, mir ›Freundlichkeiten‹ zuzuflüstern und mich mit Schubsern zu traktieren. Die Konzentration war dahin. Trotzdem habe ich es richtig gemacht: Erst mal warten, bis Jean-Marie Pfaff sich in eine Ecke wirft, dann die andere anvisieren und losballern. Aber der Ball ging an den rechten Pfosten! Ich höre ihn heute noch dagegenklatschen. Aus der Traum!

Michael Kutzop - verschiesst Elfmeter   Hans Pfluegler  Roland Wohlfarth jubeln  SV Werder Bremen - FC  Bayern Muenchen 0:0

Bremer Fassungslosigkeit und Münchner Jubel nach dem Fehlschuss von Kutzop

Wir hätten es vier Tage später trotzdem packen können: Ein Punkt beim Auswärtsspiel in Stuttgart, und wir hätten die Schale gehabt. Aber der Elfer-Genickschlag hat unsere Moral gebrochen, dagegen konnte selbst der Motivationsweltmeister Otto Rehhagel nichts ausrichten. Stuttgart gewann gegen uns mit 2:1, zweimal Allgöwer, und die Bayern fegten Gladbach mit 6:0 weg.

Ich habe vom Trainer, von den Mitspielern und von allen anderen im Verein keinen ernsthaften Vorwurf gehört. Nur Johnny Otten hat später mal im Spaß gesagt, ich hätte ihn um ein Einfamilienhaus gebracht. Es passte gut, dass wir nach der Saison mit der Mannschaft eine Weltreise machten, da haben sie mich wieder aus dem seelischen Tal geholt. Otto Rehhagel sagte: ›Da oben gibt es den Fußballgott, und der wird dir das wieder zurückgeben, was du an dem Dienstagabend verloren hast.‹ Tatsächlich sind wir ja zwei Jahre später doch noch Meister geworden; Völler, Pezzey und Möhlmann waren aber nicht mehr dabei.

Ich habe auch weiter die Freistöße und Elfer geschossen. Über vierzig Elfmeter sind es in meiner Karriere gewesen, nur zweimal habe ich gepatzt: einmal in der Zweiten Liga gegen Solingen und dann dieses blöde Ding gegen Bayern München.«

Alles Bayerndusel, oder was?

Mannis Kommentar

Bei meinem Abschied vom WDR-Mikrofon erreichten mich zahllose hymnische Lobpreisungen, in denen meine Dynamik, meine präzise Spielschilderung, meine Originalität und meine sonore Stimme auf gottgleiche Höhe gehoben wurden. Immer wenn ich beginnen wollte, mich für das Zentrum der Medienwelt zu halten, griff ich – als Gegentherapie sozusagen – zu den Briefen, die mich als mieses Bayernhasser-Schwein brandmarkten.

»Jetzt wirst du nie wieder die Möglichkeit haben, den erfolgreichsten deutschen Club mit deinen widerlichen Tiraden zu besudeln«, schrieb einer. Widerliche Tiraden? Besudeln? Auf Ehre und Gewissen: habe ich nie gemacht! Als Objekt pseudoreligiöser Verehrung scheiden die Bayern für mich allerdings schon deswegen aus, weil ich aus dem Ruhrpott und nicht aus dem Süden stamme. »Support your local team«, sagen die Engländer, und zwar mit Recht, wie ich finde. Denn die Unterstützung eines Fußballclubs hat auch etwas mit Heimat und Identität zu tun. Aber für meine Reportagen war es ohnehin nicht relevant, welchem Club ich anhänge. Oder welchen ich nicht mag. Denn zur professionellen Leistung am Mikrofon gehört auch Neutralität. Und der habe ich mich verpflichtet gefühlt.

Die großen sportlichen Leistungen des Rekordmeisters habe ich immer in den höchsten Tönen gelobt – dabei aber gleichzeitig die arrogante Überheblichkeit der Bayern scharf gebrandmarkt. Nie habe ich mich dazu hinreißen lassen, den »Bayern-Dusel« als eine der Ursachen für die vielen Erfolge ins Schaufenster zu stellen. Weil’s nicht stimmt! Wenn Michael Kutzop oder sonst ein gegnerischer Elfmeterschütze den Strafstoß vergeigt, was hat das mit Glück zu tun?

Vielleicht ist es ja nur die Konsequenz aus dem selbstbewussten »Mir-san-mir«-Auftreten der Bayern? Sie signalisieren dem Schützen mit einem lockeren Spruch oder per Körpersprache: »Gegen uns wird das nix mit deinem Elfer!« Die Wirkung auf den Gegner nennen nicht nur Bielefelder den Dr.-Oetker-Effekt: Er erzeugt Pudding in den Beinen.

Und wenn die Bayern in den letzten Minuten die entscheidenden Tore schießen, dann deshalb, weil sie einfach weitermachen. Du hast sie erst im Sack, wenn der Schiedsrichter abpfeift, keine einzige Sekunde eher.

Das isses, und sonst nix. Die magische Wirkung lässt aber sehr schnell nach, wenn die Bayern Verwundbarkeit zeigen. Dann bleiben die Puddingbeine beim Gegner mal gerne aus. Übernatürlich ist das alles nicht. Den parteiischen Fußballgott, der das Glück über die frommen Bayern ausschüttet, den lassen wir lieber mal in der Sakristei mit den Vorurteilen.

Manni Burgsmüller

12:0 – die Packung aller Packungen

Am letzten Spieltag der Saison 1977/78 schlug Borussia Mönchengladbach Borussia Dortmund vor 38 000 Zuschauern im Düsseldorfer Rheinstadion mit 12:0. Der höchste Sieg in der Geschichte der Bundesliga nutzte den Gladbachern im Kampf um die Deutsche Meisterschaft nichts, weil gleichzeitig Köln in St. Pauli mit 5:0 gewann und sich so den Titel sicherte. Köln und Mönchengladbach waren punktgleich in den 34. Spieltag gegangen, die Kölner hatten eine um zehn Tore bessere Tordifferenz. Manni Burgsmüller, damaliger Kapitän des BVB (gestorben im Mai 2019 im Alter von nur 69 Jahren), mit seinen Erinnerungen an diesen schwarzen Tag:

»Eines muss ich gleich am Anfang feststellen: Diese Packung war für den BVB ein einziges Desaster, aber das Spiel war weder verschoben noch hat es vorher irgendwelche Mauscheleien gegeben. Es war einfach ein Tag, an dem für uns alles schiefgelaufen ist, und den Gladbachern gelang jede Aktion. Vielleicht waren wir nicht mehr so spritzig, weil es für Dortmund um nichts mehr ging; aber wir sind genau so in die Zweikämpfe gegangen wie sonst auch und hatten sogar einige Torchancen: Es hätte auch 15:7 ausgehen können.

Nehmen wir nur einmal Jupp Heynckes: Der hat an dem Tag fünf Tore geschossen; dabei war er verletzt und lief mit einem dick bandagierten Knie herum. Aber sein Gegenspieler, unser Verteidiger Amand Theis, wirklich kein Kind von Traurigkeit, sah oft aus wie ein Anfänger. Irgendeiner schlug den Ball in den Strafraum, und bumms, von Heynckes’ Bein prallte er ins Tor.