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PROF. DR. MED. DR. PHIL. MICHAEL LEHOFER ist ärztlicher Direktor und Leiter einer Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Landeskrankenhaus Graz Süd-West. Er ist Psychiater, Psychologe, Psychotherapeut, Führungskräftecoach und Philosoph. Mit seinem Buch „Mit mir sein“ war er monatelang auf den österreichischen Bestsellerlisten. Er hält Vorträge und ist auch als Psychotherapeut in freier Praxis tätig.

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Impressum

 

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

 

Projektleitung: Anja Schmidt

Lektorat: Dr. Judith Schneiberg-Adameit

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Yuliia Antoniuk

 

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ISBN 978-3-8338-7220-4

1. Auflage 2020

 

Syndication: www.seasons.agency

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NEUGIER UND LEBENSMUT

Viele Menschen verschwenden enorm viel Zeit und Energie darauf, den Anschein ewigen Jungseins zu wahren. Damit leben sie ihr Leben jedoch rückwärtsgewandt und machen es zu einem Vermeidungsprojekt. Sie vermeiden das Alter und werden Nachlassverwalter ihrer Kindheit und Jugend.

Genau diese konservative Haltung ist es jedoch, die uns alt macht. Dabei entgeht uns die Fülle des Lebens, die jeden Tag neu auf uns zukommt und so Vieles für uns bereithält. Solange wir am Alten festhalten, sind unsere Hände nicht frei für das Neue. Meinen wir, dass ein Verlust unüberwindbar, eine Enttäuschung zu groß oder das Glück zu kleinlich mit uns ist, halten wir damit nur an den Vorstellungen fest, die wir von uns und der Welt haben. Das macht alt.

Wirklich jung macht uns die Neugier und der Lebensmut der Jugend: das Leben zu nehmen, wie es kommt ohne vorgefertigte Ansprüche und Pläne. Sich diese Offenheit zu bewahren, die einhergeht mit der Fähigkeit zur Begegnung mit anderen Menschen und dem Leben selbst, ist das Geheimnis. Damit gehen wir einen Prozess ein, der nie abgeschlossen ist und eine Reife verspricht, die kein Alter kennt.

VORWORT

Zwei Jahrzehnte sind nun schon vergangen, seit ich Michael Lehofer begegnet bin. Aus dieser ersten Begegnung ist sehr schnell eine Freundschaft geworden. Es ist also eine recht alte Freundschaft, die uns verbindet. Aber sie hat nichts von diesem Zauber unserer ersten Begegnung eingebüßt. Im Gegenteil! Obwohl wir uns nur ein- oder zweimal im Jahr sehen, ist diese Freundschaft so jung und lebendig, so beglückend und bereichernd geblieben wie am ersten Tag. Was wir miteinander teilen und worüber wir uns austauschen, woran wir uns gemeinsam erfreuen und worüber wir uns gelegentlich auch ärgern, wäre im Lauf der Jahre immer mehr geworden. Keiner von uns käme auf die Idee, dass unsere Freundschaft dabei gealtert wäre. Sie ist – wie wir beide ja auch – älter geworden, aber dabei doch ganz jung geblieben.

Bemerken Sie den Unterschied? Eine Freundschaft kann gar nicht altern, sie kann nur lebendig bleiben. Sonst ist es keine Freundschaft, sondern nur die Illusion einer Freundschaft.

Aber Michael Lehofer wäre nicht mein alter Freund Michael, wenn er bei dieser sehr einfachen Erkenntnis über das Altern einer Freundschaft stehen bliebe.

Das ist banal, darüber braucht man kein Buch zu schreiben. Die wirklich interessante Frage ist doch die, wie es einer einzelnen Person und damit uns allen mit dem Älterwerden geht. Und wenn dann die Antwort lautet: »Genauso wie eine Freundschaft kann auch ein Mensch nicht altern, er kann nur im Lauf des Lebens seine Lebendigkeit verlieren«, fangen die meisten an, sich innerlich gegen so eine Erkenntnis zu wehren. Die sich daraus zwangsläufig ergebende Schlussfolgerung »Alter ist eine Illusion« empfinden sie möglicherweise sogar als Provokation. Aber genau für diese Leserinnen und Leser, denke ich, hat Michael Lehofer dieses Buch geschrieben. Und liebevoller, einfühlsamer und vorsichtiger lässt sich das, was er uns zum Thema des Alterns mit auf den Weg geben will, kaum darstellen.

In unserem Kulturkreis ist die Angst vor dem Alter sehr verbreitet. Aber ist es wirklich das Älterwerden, was uns ängstigt oder ist es nicht vielmehr unsere eigene Vorstellung von dem, was dann auf uns zukommt und wie sich unser Leben verändert, wenn wir älter werden? Diesen kleinen, aber entscheidenden Unterschied deutlich zu machen, ist das zentrale Anliegen, das Michael Lehofer mit diesem Buch verfolgt.

Dass wir uns im Lauf des Lebens ständig verändern und dabei auch körperlich älter, irgendwann vielleicht auch gebrechlich werden, ist ein ganz natürlicher Vorgang. Davor brauchen wir uns ebenso wenig zu fürchten wie vor der Pubertät oder der Menopause. Es ist ja auch gar nicht dieser natürliche Veränderungsprozess, vor dem wir Angst haben, sondern es ist unsere Vorstellung vom Alter. Und die können und sollten wir ändern, sagt Michael Lehofer.

Und es stimmt ja auch: Manchen gelingt es, ihre eigene Lebendigkeit mit jedem neuen Tag auch immer wieder neu zu spüren. Sie erleben sich als quicklebendig, egal, wie alt sie schon geworden sind. Anderen gelingt das nicht so gut. Sie verlieren, je älter sie werden, ihre Lebendigkeit. Für alle, die noch ein kleines bisschen Lust auf ein spannendes und bereicherndes Leben haben, ist dieses Buch eine Offenbarung.

Und am Ende versteht man dann auch, weshalb alles, was lebendig ist – auch eine Freundschaft –, niemals wirklich alt werden kann. Nur tiefer und inniger.

 

Gerald Hüther

Neurobiologe und Autor

EINLEITUNG

Das Alter ist ein Lebensabschnitt, den zu erreichen sich die meisten von uns erhoffen. Ein langes Leben – in fast allen Sprachen dieser Welt wünscht man so »Alles Gute zum Geburtstag«. Mit jedem Jahr, in Wirklichkeit sogar mit jedem Tag, wird unser Wunsch quasi auf leisen Sohlen mehr und mehr Realität. Altern geschieht, wenn nichts dazwischenkommt, von ganz allein. Ein Grund zur Freude, sollte man meinen. Immerhin erfüllt sich ein sehnlicher Wunsch.

Gleichermaßen haftet dem Alter jedoch ein Makel an. Das ist seit eh und je so und kein Phänomen der jüngeren Zeit. Die Suche nach dem Quell ewiger Jugend und ewiger Schönheit geht bis in die Antike zurück und damit einhergehend der Wunsch, den Nachteilen, die mit dem Älterwerden verbunden sind, zu entkommen. Es gibt schon immer einiges zu klagen über das Alter. Der Körper verfällt, das Leben wird beschwerlich. In unserem Kulturkreis ist das Alter außerdem zunehmend mit gesellschaftlicher Ausgrenzung verbunden.

Die Behauptung ist sicherlich nicht übertrieben, dass das Alter, mit solchen Vorstellungen verknüpft, zum verdrängungswürdigsten Lebensabschnitt schlechthin geworden ist. Die menschliche Gesellschaft war vermutlich zu keiner Zeit so gut aufgestellt wie heute, um diese Verdrängung zu gewährleisten. Man joggt bis zum Umfallen dagegen an, man cremt und kaut Nahrungsergänzungs- und Schmerzmittel, man lässt sich straffen, absaugen und an anderen Stellen wieder aufspritzen. Indem man das tut, hat man das Gefühl, dem Alter entkommen zu können. Man beschäftigt sich scheinbar mit der ewigen Jugend statt mit dem Alter, das einem so viel Furcht einflößt. Und wenn das Alter trotz allem unvermeidlich über einen kommt, flieht man nicht selten in den Rückzug, in die Verbitterung, in die Resignation, in die Depression.

In einer Gesellschaft, in der die Menschen durch medizinische und hygienische Standards maximal alt werden und dennoch die Jugend derart verherrlicht wird, in einer Kultur, in der das Alter nichts gilt, außer eine Belastung zu sein, ist die Frage zentral, was es eigentlich ist, dass das Alter wirklich ausmacht. Es ist möglich, die Perspektive zu wechseln.

Vorerst ist Alter nur ein Wort. Und es ist eine Markierung, die in verschiedenen Zeiten in den unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen an anderen Punkten in der Lebenskurve eingezeichnet wurde. Außerdem hat dieser Lebensabschnitt einen entsprechend unterschiedlichen Status.

Dieses Buch geht der Frage nach, wie real das Alter eigentlich ist. Ist uns allen das Alter nicht eher eine Illusion, eine Vorstellung, die sich aus Zuschreibungen ergibt? Einerseits aus Zuschreibungen der Umgebung, die uns als alt apostrophieren; andererseits von Ideen, die wir von uns selbst haben, aufgrund eigener innerer Schemata und Konzepte von Alt und Jung. Wir sind voll von Bildern und Annahmen, die Maßstäbe setzen und sich in unserem Kopf zu scheinbar unüberwindbaren Grenzen aufgebaut haben. Innerlich haben wir vermutlich alle eine Checkliste, was alt und was jung ist. In der Jugend erleben wir erstaunlicherweise Menschen als alt, die wir später im Leben vermutlich durchaus noch als jung einschätzen würden. Vielleicht, sogar sehr wahrscheinlich, gehen wir in der Einschätzung immer von unserem Standpunkt aus: Je älter wir sind, desto jünger erscheinen uns ältere Menschen, während wir sie in unserer Jugend als älter klassifizieren.

Ich fand also, dass es interessant sein kann, darüber zu reflektieren und dem nachzuspüren, wie real das Alter, auch mein eigenes Alter wirklich ist.

Dabei gehe ich selbstverständlich nicht davon aus, dass es so etwas wie das Altern nicht gibt, das wäre absurd. Ganz im Gegenteil: Ich akzeptiere natürlich sehr wohl jene Veränderungen, die das Leben im Laufe der Jahre hinterlässt, und bemerke die unvermeidbaren Veränderungen selbstverständlich auch an mir selbst. Gerade ich als Arzt weiß überdies sehr wohl, wie mühsam und leidvoll das Leben im hohen Alter für manche Menschen sein kann. Nichtsdestotrotz muss festgestellt werden, dass das Alter keine Krankheit ist, wie auch die Jugend nicht mit Gesundheit gleichzusetzen ist. Alter ist nicht schlecht und Jugend ist nicht gut. Ich meine, dass sich Alter und Jugend allen Bewertungen entziehen, wenn man näher hinschaut.

Dabei ist ein Unterschied sehr maßgeblich: Altern ist keine Illusion. Das Alter, wie wir es uns vorstellen, ist immer eine Illusion. Es ist immer anders, als wir es erwartet haben, außer wir ermöglichen der Vorstellung, Wirklichkeit zu werden. Vorstellungen drängen die Wahrnehmung in ihre Richtung, sie sind manipulativ und suggestiv. Daher sind Vorstellungen des Alters etwas, was uns alt macht. Mehr noch, die imperativen Altersvorstellungen in uns, die unser Bild davon in eine ganz bestimmte Richtung zwingen, sind ein Zeichen des Alters, wie es kein anderes gibt. Junge Menschen lassen sich – im Gegensatz dazu – ihre Lebenserfahrungen doch nicht nehmen, indem sie ihren aufdringlichen Vorstellungen folgen.

Wenn ich es aus meiner eigenen Erfahrungswelt beurteile, ist kaum etwas so, wie ich es von vornherein eingeschätzt habe. Es ist kaum etwas so wie gedacht, außer ich bestehe darauf. Auf bestimmten Erfahrungen zu bestehen bedeutet, die Wahrnehmungen so hinzubiegen, wie man sie erwartet hat und wie man sie braucht. Wer von uns hätte nicht die Erfahrung gemacht, dass der Urlaub sich anders entwickelt hat als gedacht. Und manchmal, in Wahrheit gar nicht so selten, erweist sich gerade das Anderssein als besonderer Gewinn. Viele aber bestehen darauf, dass der Urlaub so gewesen sein muss, wie sie ihn vorher geplant haben. Ist es nicht so?

In Bezug auf den Körper fällt auf, dass überraschenderweise weniger die unvermeidlichen physiologischen Veränderungen des Alters für die Befindlichkeit eines Menschen eine Rolle spielen als der Umgang mit ihnen. Kurz gesagt, es hängt nicht so sehr an der Anzahl von Jahren, es hängt an uns selbst, ob wir am Lebensalter leiden oder ob wir ihm kaum Bedeutung beimessen. Manche Menschen nehmen die Zeichen des Alterns an ihrem Körper persönlich. Andere wiederum nehmen diese so, wie man das Wetter nehmen könnte: Es gibt kein schlechtes Wetter, außer man besteht auf richtig oder falsch. Es ist nicht unbedingt schrecklich, wenn sich unsere Welt verändert, wie auch immer. Wir könnten unser Leben nehmen, wie es kommt, ohne Wenn und Aber. Das würde uns von einer Sorge befreien, die sinnlos ist: die Sorge vor dem Alter.

Worum es immer geht – darüber wird im Nachfolgenden noch viel zu lesen sein –, ist, ob wir den Begegnungserfahrungen in unserem Leben eine Chance geben. Und im Folgenden wird klar werden, dass das Altwerden sogar eine Chance in sich bergen kann, frei zu werden. Die Entwicklung des Menschen kann nur als eine Entwicklung zur Freiheit verstanden werden, als Weg zu sich selbst, sich in seiner Einzigartigkeit zu entfalten. Und es ist das Schöne, das Verblüffende und das Einfache an Entwicklungen: Wir müssen nur das in uns freilegen, was wir in Wahrheit schon sind. Das habe ich einmal für mich so formuliert: Entwicklung heißt in die eigene Größe hineinwachsen. Ist das nicht unser aller Sehnsucht, unser ganzes Leben lang: Uns derart ins Eigentliche zu wandeln? Genau das bewirken heilsame Begegnungen. Jede Begegnung, die den Namen verdient, ist heilsam. Wir wandeln uns ins Eigentliche.

Zu dieser Art der Begegnung möchte ich in diesem Buch einladen: mitzugehen, mitzuspüren, nachzuvollziehen. Ich verstehe ein Buch als ein Begegnungsangebot, wie ein Bild, ein Musik- oder ein Theaterstück. Deswegen ist dieses hier kein Buch, in dem Rezepte für »das bessere Leben« zu finden sind.

Insofern ist es kein typischer Ratgeber. Ich habe es für uns alle geschrieben, auch für mich selbst. Es erscheint mir undenkbar, jemandem etwas zu erzählen ohne mich ins Spiel zu bringen, ohne ins Gespräch zu gehen. Es ist vielmehr ein Arbeitsbuch geworden, ein Buch zur Arbeit an sich selbst. Die Arbeit, die hier gemeint ist, hat einen Namen: Ja zum Leben sagen und damit Ja zu sich selbst.

Wenn ein Buch gelungen sein sollte, löst es beim Leser eine Metamorphose (griechisch: Umgestaltung, Verwandlung) aus. Das Ergebnis einer Metamorphose ist: Man ist nicht mehr der, der man vorher war. Das ist das Ergebnis jeder Kommunikation, die als echte Begegnung zu bezeichnen ist.

Solche Begegnungen, die dazu geführt haben, dass man mehr man selbst geworden war als vorher, in denen man aufgeblüht und in jeder Weise schön geworden ist, verdienen den Begriff der Begegnung.

Dabei fallen mir jene »großen« Begegnungen in meinem Leben ein, die mich nachhaltig nicht kalt ließen. Berührungen, deren Hand auf meiner Haut vermeintlich auch noch heute spürbar sind. Begegnungen, deren Klang nie auszuklingen scheint, wie der Klang einer Glocke sich scheinbar ins Unendliche hineinbewegt und nie aufhört, wenn man genau hinhört. Aber vor allem liebe ich jene »kleinen«, sehr kurzen Begegnungen, die ich hatte. Begegnungen etwa mit einem Menschen im Zug, vielleicht nur eine Viertelstunde lang, die sich in mein Herz eingraviert haben. Diese zeigen mir wie kaum etwas anderes den Zauber der Begegnung, mehr noch, zu welchem Zauber das Leben fähig ist.

Wie gesagt, beruht unsere Bereitschaft, der Welt zu begegnen, auf dem Wunsch und wohl auch der Notwendigkeit, »eigentlich« zu werden. Letztlich ist Begegnung das Lebenselixier schlechthin und ist überlebensnotwendig. Das kann jeder von uns bemerken. Wenn wir uns leblos fühlen und wir begegnen einem Freund, den wir gerne haben, dann sind wir auf der Stelle lebendiger. Wenn wir müde sind und ein Mensch, den wir lieben, berührt uns, sind wir sofort vitaler. Wenn wir gedanklich mit etwas nicht weiterkommen und ein anderer gibt uns Anstöße, öffnen sich uns auf einmal neue Horizonte.

Begegnungen erzeugen also Lebendigkeit. Andere Begegnungen, nennen wir sie nicht Begegnungen, sondern Kontakte, verletzen uns, weil wir in ihnen zum Objekt gemacht werden, und lassen uns gelähmt und unlebendig zurück. Als Betroffene – und das sind wir alle, jeder hat das von Kindheit an mehrfach in seinem Leben erfahren – bedarf es besonders heilsamer Begegnungen. Auch wenn uns Kontakte verletzen können, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns wieder vertrauensvoll in die Nähe von wohlmeinenden Menschen zu begeben, um uns auszuheilen. Aber auch die Natur, die Kunst, alles was die Welt ist, kann heilen. Hauptsache, man erfährt Begegnung auf eine berührende, heilsame Art.

Jede Metamorphose also, zumindest jene, die mir vorschwebt, zielt keinesfalls auf Verformung, sondern auf das Öffnen von Einschnürungen, das Lösen von Verklemmungen ab. In die Form bringen, Information eben.

Es gibt Bücher, die einen zu dem gemacht haben, der man ist, und einen nicht unverändert zurückgelassen haben. Beziehungsweise gibt es interessante Bücher, auf die diese Beschreibung nicht zutrifft? Wohl kaum. Sich diesem Prozess auszusetzen bedarf allerdings, wie schon eben gesagt, der Fähigkeit der Begegnung. Mit diesem Buch habe ich eine Hand ausgestreckt, eine Einladung dazu formuliert.

WIR LEBEN IN EINER URALTEN WELT

Ist es nicht so, dass die Welt, in der wir leben, sich modern, hip, und jung gibt und doch dem Wesen nach uralt erscheint? Es ist wirklich eigenartig, dass in meiner Jugend jedes Jahr einige unsterbliche Popsongs komponiert wurden und mittlerweile eigentlich nur noch Remakes von Remakes produziert werden. Warum ist das so? Gleichermaßen gibt es in der medizinischen Wissenschaft so viel Forschungsoutput wie noch nie. Aber in gewissen Fächern gibt es kaum Fortschritt zumindest verhältnismäßig gesehen. Warum ist das so?

In Mitteleuropa findet man Parteien des gesamten politischen Spektrums. Manche sind links, manche rechts, was immer links und rechts heißt. Dann gibt es liberale und Mitte-Politiker. Dabei funktioniert das politische System nur pseudoideologisch. Die Parteien machen Umfragen und positionieren sich entsprechend den Nischen, die von den anderen noch nicht besetzt sind. Man möchte nicht riskieren, für etwas zu sein, zu dem man die Wähler erst überzeugen muss, sondern ist gleich für das, was diese vorgeben. Man nennt diese Haltung Populismus.

Leider entsteht dadurch immer das Gleiche, Neues hat keinen Platz. Dasselbe gilt für Songwriter. Sie analysieren die Art und Weise, wie Hits aufgebaut sind, machen es genauso und schreiben daher keinen mehr. Schriftsteller lernen in Workshops, so zu schreiben, dass der Erfolg möglichst sicher ist. Was bei all dem nicht gelernt werden kann, ist Originalität.

Alle Bereiche sind einem alten Freundeskreis vergleichbar, der sich jeden Samstag zum Stammtisch trifft. Es wird das Gleiche gegessen und getrunken, über das Gleiche gesprochen und über die immer gleichen Witze gelacht, sodass ein Vergleich mit einem religiösen Ritual nicht weit hergeholt ist.

Die Möglichkeiten der digitalen Datenverarbeitung laden zu einer Analyse dessen ein, was bisher erfolgreich war. Nichts muss riskiert werden. Wenn man von bewährten Erfolgsrezepten ausgeht, kann man sich des Gelingens des »Kuchens« sicher sein. Allerdings werden die immer gleichen Kuchen gebacken, in minimalen Variationen. Dadurch entsteht Bewährtes. Es ist ein sehr konservatives Prinzip, das die Gewinnoptimierung im Auge hat und Neues vermeidet. Auf diese Weise funktionalisiert die Digitalisierung unsere Welt. Das lässt sie alt aussehen.

Auch die immense experimentelle Standardisierung des Wissenschaftsbetriebes führt zu einem Mangel an Kreativität. Immer mehr Wissenschaft untersucht immer genauer das stets Gleiche. Mittlerweile sind die formalen Ansprüche an wissenschaftliche Arbeiten so groß, dass man sich mit Aussicht auf Anerkennung und Erfolg nur noch an Themen heranwagen kann, die diesen Ansprüchen überhaupt Genüge tun können. Damit wird nur jener Teil der Wirklichkeit erforscht, der den Forschungskriterien entsprechen kann. Die Folge ist eine Reduktion des kreativen Raumes in der Forschung, obwohl so viel wie noch nie – sowohl personell als auch ökonomisch – in diesen Bereich investiert wird. Drastisch ist das in der Wissenschaft im Bereich meines Berufes, der Psychiatrie, zu beobachten. In ihr gibt es seit etwa zwanzig Jahren auf diese Weise praktisch kaum für den klinischen Alltag relevante neue Erkenntnisse. Die Psychiatrie ist durch die Funktionalisierung ihrer Forschung alt geworden. Es ist die Vergreisung des Faches Psychiatrie, aber nicht nur von ihr.

Das Prinzip der Funktionalisierung zielt nicht auf das Kreative, auf das Neue, sondern auf das Gängige. Es wird immer nur das, was es gibt, reproduziert. Leider kann man auf diese Weise keine neuen Erfahrungen machen. Neue Erfahrungen sind an die Notwendigkeit gebunden, der Welt offen und wissbegierig zu begegnen. Das gleiche Prinzip zeichnet fundamentalistische Religionen aus. Der Fundamentalismus bezieht sich darauf, dass es so sein muss, wie es immer schon gewesen ist, und dass es so schon von jeher gemeint war. Der Fundamentalismus ist eine durch und durch alte Eigenschaft.

Ohne den frischen Wind der Freiheit um die Nase fühlen wir uns unglücklich.

Eine dermaßen funktionalisierte Welt hat einiges an Zauberhaftigkeit verloren. Die Digitalisierung macht es möglich, dass wir vermeintlich alles kontrollieren und steuern können. Kontrolle und Steuerung sind außer Rand und Band geraten. Warum sind Kontrolle und Steuerung Phänomene, die einen im Moment, auf der Stelle alt werden lassen? Natürlich müssen wir unser Leben irgendwie unter Kontrolle haben, sonst sind wir unglücklich. Aber wenn wir uns selbst kontrollieren oder von anderen in einer Totalität kontrolliert werden, dann verlieren wir Lebensfreude und Vitalität. Man könnte sagen: Ohne den frischen Wind der Freiheit um die Nase fühlen wir uns unglücklich.

Wir Menschen halten es eben nicht aus, von uns selbst oder von anderen zum Objekt gemacht zu werden. Das ist deshalb unerträglich, weil wir dabei in unseren grundlegenden Bedürfnissen nach Bindung und Selbstwirksamkeit frustriert werden. Stellen wir uns einen Menschen vor, der sich in einer Firma durch Daten, Zahlen und Fakten vollkommen gesteuert und kontrolliert erlebt. Er hat in solch einem Fall nicht mehr das Gefühl, durch persönliche Beziehungen Sicherheit zu bekommen. Er erlebt sich anonymen Mächten ausgeliefert und kann nicht einmal die Illusion aufrechterhalten, Einfluss auf sich selbst oder seine Lebenswelt zu haben. Daher sind sein Bindungsbedürfnis und sein Selbstwirksamkeitsbedürfnis frustriert. Das erzeugt immenses Unbehagen!

Nicht wenige Unternehmen funktionieren nach den Prinzipien einer (digitalisierten) Steuerung. Was entsteht, ist eine eigenartige Mischung aus Lähmung und Agitation, die keine Kreativität aufweist. Manager kommen dann zuweilen auf die Idee, man müsse die Agilität in Unternehmen fördern. Die Idee ist verständlich, jedoch absurd, ist doch der charakteristische, als respektlos erlebte Unternehmensstil fundamental schuld an der Lähmung. Es liegt in diesem Fall keinesfalls an den Mitarbeitern. Eine solche Idee beruht auf einem Missverstehen der Situation.

Ein ähnliches Unbehagen wird erzeugt, wenn wir uns selbst total steuern wollen. Wie viele Menschen das versuchen! Sie haben Pläne, die sie projektmäßig abarbeiten. Sie haben Ziele, deren Erreichung sie penibel evaluieren. Sie haben in ihrem Leben einen Businessplan. Und sie fühlen sich alt, sehr alt an. Ziele sind notwendig, aber wir dürfen nicht Opfer unserer Ziele werden. Es ist grundsätzlich nicht einfach, mit der Dialektik im Umgang mit Zielen zurechtzukommen.

Der Glaube, dass Selbstverwirklichung bedeutet, in seinem Leben alles leben können zu müssen, und zwar zu jeder Zeit, ist zum Beispiel so ein Ziel, bei dem man nicht nur sich selbst, sondern auch sein Umfeld funktionalisiert. Wie oft sitzen wir zum Beispiel in Partnerschaften dem Irrtum auf, dass uns der andere alles sein muss, für sexuelle und geistige Nähe zuständig ist und am besten alles optimal befriedigt. Was dadurch geschieht, ist, dass wir unser Gegenüber zum Objekt machen. Doch Partnerschaften sind keine Jobs, Partnerschaften sind Berufungen. Ob sie gelingen oder nicht, hängt einzig und allein davon ab, ob wir Möglichkeiten finden, dem anderen zu begegnen – wie auch immer.

Davon hängt es nämlich ab, ob die Beziehung lebt oder nicht, und nicht davon, ob die eigenen Bedürfnisse in ihrer Ganzheit befriedigt werden. Affären oder letztendlich Beziehungsabbrüche sind oft die kalte Konsequenz in funktionalisierten Beziehungen, in denen es nicht um die Wärme der Begegnung geht.

Wenn wir andere zum Objekt machen oder wir selbst zu Objekten gemacht werden, von uns oder anderen, erstarren wir und die Welt um uns herum ebenso. Wir sind wie Marionetten, vielleicht hübsch anzusehen, aber in Wahrheit lassen wir jede Form eigener Lebendigkeit vermissen. So kann Alter – nüchtern betrachtet – in jedem Lebensalter keine Illusion sein, sondern vielmehr scheinbar unumgehbare Wirklichkeit. Das gilt für gesellschaftliche wie auch für persönliche Aspekte. Wir erzeugen das Alter, das wir so sehr fürchten, indem wir Sicherheit in unserem Leben haben wollen und die Welt so auslegen, wie wir sie immer schon ausgelegt haben.

Ich habe einmal ein Seminar besucht, in dem uns ein Unternehmensberater aufforderte, eine Lebenskurve zu zeichnen. Auf der Abszisse, also auf der waagrechten Linie waren die Lebensjahre eingezeichnet und auf der Ordinate, der senkrechten Linie, waren oben die besten Zeiten und unten die schlechtesten Zeiten einzutragen. So entstand eine Linie, die etwa so aussehen konnte: Die Lebenslinie war am Anfang oben, wenn ihr Zeichner die Idee einer glücklichen frühen Kindheit hatte, sie sackte dann plötzlich durch ein Lebensereignis wie die Scheidung der Eltern mit allen ihren Auswirkungen ab. In der Folge mäanderte die Linie quasi durch das Leben. Die meiste Zeit befand sie sich bei allen irgendwo im Mittelbereich.

Diesen Mittelbereich kann man als Komfortzone bezeichnen, während die Extrembereiche jene sind, in denen wir vom Leben gebeutelt sind: Im positiven und im negativen Sinn. Wenn wir etwa verliebt sind, sind wir ganz oben, wenn wir Liebeskummer haben, ganz unten. Man könnte auch sagen: Wenn wir glücklich oder unglücklich sind, befinden wir uns in den Extrembereichen.

Das Gemeinsame der zwei Extrembereiche ist, dass wir das Leben nicht im Griff haben, wenn wir uns in ihnen »aufhalten«. Es fehlt uns die Kontrolle über unser eigenes Leben. Dagegen können wir in der Komfortzone die Idee aufrechterhalten, Frau oder Herr unseres eigenen Lebens zu sein.

Wenn der Mensch sein Leben nicht im Griff hat, ist er lebendig.

Nun gibt es kaum einen Roman, kein Theaterstück, schon gar keine Oper, die sich mit der Komfortzone des Lebens auseinandersetzt. Wir sehnen uns danach, an den Lebensentwürfen der Extrembereiche teilzuhaben. Warum? Weil wir nie so lebendig sind wie in ihnen. Wenn der Mensch sein Leben nicht im Griff hat, ist er lebendig. Kein Kind, kein Jugendlicher glaubt im tiefsten Herzen, und das ist der wahre Kern ihres Jungseins, dass sie ihr Leben im Griff haben könnten. Das Leben ist für sie ein großes Abenteuer. So wie das Leben eben wirklich ist. Die Illusion der Selbstkontrolle, die man später – nach dem frühen Lebensalter – aus Sicherheitsgründen anstrebt, formt sich als Leben in der Komfortzone aus. So ein Leben ist eines mit eingeschränkter Lebendigkeit.

Nichtsdestotrotz kann sich niemand immer in den Extremzonen des Lebens aufhalten. Genau genommen kann man das Leben in den Extremzonen auch gar nicht wollen, es nur annehmen, wenn es passiert. Aber man kann auch jenseits der Extremzonen offen bleiben, und um Gottes willen nicht annehmen, man hätte sein eigenes Leben im Griff.

Dabei ist es trotzdem keine schlechte Idee, zu planen und sich im Leben Ziele zu setzen. Doch man sollte seine eigenen Ziele in entspannter Leidenschaftlichkeit verfolgen. Alles andere kostet Lebendigkeit. Schreiben wir einen Roman des eigenen Lebens, den man selbst gerne liest. Das nennt man Lebenskunst. Ein Werk ist dann künstlerisch, wenn es etwas Überraschendes für den Rezipienten in sich birgt.

Die Welt, unsere Gesellschaft, ist leider alt, denn sie ist durchgeplant bis ins Letzte. Nichts charakterisiert sie mehr als das Durchgeplantsein. Nicht von Ungefähr ist in letzter Zeit der Begriff der Resonanz erstaunlich modern geworden. Sie ist als Heilmittel gegen ein lebensfeindliches Umfeld entdeckt worden, das sich stolz und absurd als »moderne Lebenswelt« bezeichnet. Es ist, als ob die Welt nach dem, was Resonanz umschreibt, gelechzt hätte. Dieser Begriff hat sehr viel mit dem zu tun, was wir vorher als Begegnungskompetenz beschrieben haben. Er beschreibt ein Mitschwingen mit dem anderen und der Welt und dafür muss man sich berühren lassen.

Jeder muss sich fragen: Fühle ich mich in meinen Beziehungen beantwortet?

Ich glaube nicht, dass wir aus der Nummer der Überfunktionalisierung in einer Welt des sogenannten digitalen Fortschritts entkommen können. Außer wir verstehen, dass das Thema der Resonanz, nämlich dass wir uns beantwortet fühlen und selbst Antwort sein können in der Welt, aktiv immer wichtiger genommen wird. Die Frage, der sich jeder selbst stellen muss, ist: Fühle ich mich in meinen Beziehungen beantwortet, fühle ich mich zu Antworten eingeladen? Die resonante Lebensweise gewährleistet auch in unserer Welt, auch in einer zukünftigen, möglicherweise durch artifizielle Intelligenz geprägten Welt jene innere Lebendigkeit, die wir brauchen, um nicht alt und in Wahrheit sogar tot zu sein.