Pippi Langstrumpf

Erstes Kapitel

Pippi zieht in die Villa Kunterbunt ein

Am Rand der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, und in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf. Sie war neun Jahre alt, und sie wohnte ganz allein dort. Sie hatte keine Mama und keinen Papa, und eigentlich war das sehr schön, denn so gab es niemanden, der ihr sagen konnte, dass sie schlafen gehen sollte, wenn sie gerade mitten im schönsten Spiel war, und niemanden, der sie zwingen konnte, Lebertran zu nehmen, wenn sie lieber Bonbons essen wollte.

Früher hatte Pippi mal einen Papa gehabt, den sie schrecklich lieb hatte. Ja, sie hatte natürlich auch eine Mama gehabt, aber das war so lange her, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Die Mama war gestorben, als Pippi noch ein ganz kleines Ding war, das in der Wiege lag und so furchtbar schrie, dass es niemand in ihrer Nähe aushalten konnte. Pippi glaubte, dass ihre Mama nun oben im Himmel war und durch ein kleines Loch auf ihr Mädchen runterguckte, und Pippi winkte oft zu ihr hinauf und sagte:

»Hab keine Angst! Ich komm immer zurecht!«

Ihren Papa hatte Pippi nicht vergessen. Er war Kapitän und segelte über die großen Meere, und Pippi war mit ihm auf seinem Schiff gesegelt, bis er einmal bei einem Sturm ins Meer geweht worden und verschwunden war. Aber Pippi war ganz sicher, dass er eines Tages zurückkommen würde. Sie glaubte überhaupt nicht, dass er ertrunken sein könnte. Sie glaubte, dass er auf einer Insel an Land geschwemmt worden war, wo viele Eingeborene wohnten, und dass ihr Papa König über alle Eingeborenen geworden war und jeden Tag eine goldene Krone auf dem Kopf trug.

»Meine Mama ist ein Engel, und mein Papa ist ein Südseekönig. Es gibt wahrhaftig nicht viele Kinder, die so feine Eltern haben!«, pflegte Pippi sehr stolz zu sagen. »Und wenn mein Papa sich nur ein Schiff bauen kann, dann kommt er und holt mich, und dann werde ich eine Südseeprinzessin. Hei hopp, was wird das für ein Leben!«

Ihr Papa hatte dieses alte Haus, das in dem Garten stand, vor vielen Jahren gekauft. Er hatte gedacht, dass er dort mit Pippi wohnen würde, wenn er alt war und nicht mehr über die Meere segeln konnte. Aber dann passierte ja das Schreckliche, dass er ins Meer geweht wurde, und während Pippi darauf wartete, dass er zurückkam, begab sie sich geradewegs nach Hause in die Villa Kunterbunt. So hieß dieses Haus. Es stand möbliert und fertig da und wartete auf sie. An einem schönen Sommerabend hatte sie allen Matrosen auf dem Schiff ihres Papas Lebewohl gesagt. Sie hatten Pippi sehr gern, und Pippi hatte sie auch gern.

»Lebt wohl, Jungs«, sagte Pippi und gab allen der Reihe nach einen Kuss auf die Stirn. »Habt keine Angst um mich. Ich komm immer zurecht.«

Zwei Dinge nahm sie vom Schiff mit. Einen kleinen Affen, der Herr Nilsson hieß, und einen großen Handkoffer, voll mit Goldstücken, den hatte sie von ihrem Papa bekommen.

Die Matrosen standen an der Reling und schauten Pippi nach, solange sie sie sehen konnten. Sie ging mit festen Schritten davon, ohne sich umzudrehen, mit Herrn Nilsson auf der Schulter und dem Koffer in der Hand.

»Ein merkwürdiges Kind«, sagte einer der Matrosen und wischte sich eine Träne aus dem Auge, als Pippi in der Ferne verschwunden war.

Er hatte recht. Pippi war ein sehr merkwürdiges Kind. Das Allermerkwürdigste an ihr war, dass sie so stark war. Sie war so furchtbar stark, dass es auf der ganzen Welt keinen Polizisten gab, der so stark war wie sie. Sie konnte ein ganzes Pferd hochheben, wenn sie wollte. Und das wollte sie. Sie hatte ein eigenes Pferd, das sie für eines ihrer vielen Goldstücke gekauft hatte, an demselben Tag, an dem sie heimgekommen war in die Villa Kunterbunt. Sie hatte sich immer nach einem eigenen Pferd gesehnt. Und jetzt wohnte es auf der Veranda. Aber wenn Pippi ihren Nachmittagskaffee dort trinken wollte, hob sie es ohne Weiteres in den Garten hinaus.

Neben der Villa war ein anderer Garten und darin ein anderes Haus. In dem Haus wohnten ein Papa und eine Mama mit ihren beiden netten kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Der Junge hieß Tommy und das Mädchen Annika. Das waren zwei sehr liebe, wohlerzogene und artige Kinder. Niemals kaute Tommy an seinen Nägeln, immer tat er das, was ihm seine Mama sagte. Annika murrte niemals, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Sie sah immer ordentlich aus in ihren gebügelten Baumwollkleidern, und sie nahm sich sehr in Acht, dass sie sich nicht schmutzig machte. Tommy und Annika spielten brav zusammen in ihrem Garten, aber sie hatten sich oft einen Spielkameraden gewünscht, und zu der Zeit, als Pippi noch mit ihrem Papa auf den Meeren herumsegelte, standen sie manchmal am Gartenzaun und sagten: »Zu dumm, dass niemand in dieses Haus zieht. Da sollte jemand wohnen, jemand, der Kinder hat.«

An dem schönen Sommerabend, als Pippi zum ersten Mal über die Schwelle der Villa Kunterbunt schritt, waren Tommy und Annika nicht zu Hause. Sie waren für eine Woche zu Besuch zu ihrer Großmutter gereist. Sie hatten daher keine Ahnung, dass jemand in die Nachbarvilla eingezogen war, und als sie am ersten Tag nach ihrer Rückkehr an der Gartentür standen und auf die Straße schauten, wussten sie immer noch nicht, dass ganz in ihrer Nähe ein Spielkamerad war.

Als sie gerade überlegten, was sie anfangen sollten und ob vielleicht heute etwas Interessantes passieren würde oder ob es so ein langweiliger Tag werden würde, wo einem nichts einfiel, gerade da wurde die Gartentür zur Villa Kunterbunt geöffnet, und ein kleines Mädchen kam heraus. Das war das merkwürdigste Mädchen, das Tommy und Annika je gesehen hatten, und es war Pippi Langstrumpf, die zu ihrem Morgenspaziergang herauskam. Sie sah so aus:

Ihr Haar hatte dieselbe Farbe wie eine Möhre und war in zwei feste Zöpfe geflochten, die gerade vom Kopf abstanden. Ihre Nase hatte dieselbe Form wie eine ganz kleine Kartoffel und war völlig von Sommersprossen übersät. Unter der Nase saß ein wirklich riesig breiter Mund mit gesunden weißen Zähnen. Ihr Kleid war auch ziemlich merkwürdig. Pippi hatte es selbst genäht. Eigentlich sollte es blau werden, aber weil der blaue Stoff nicht gereicht hatte, hatte Pippi hier und da kleine rote Stoffstückchen angenäht. An ihren langen dünnen Beinen hatte sie ein Paar lange Strümpfe, einen geringelten und einen schwarzen. Und dann trug sie ein Paar schwarze Schuhe, die genau doppelt so groß waren wie ihre Füße. Die Schuhe hatte ihr Papa in Südamerika gekauft, damit sie etwas hätte, in das sie hineinwachsen könnte, und Pippi wollte niemals andere haben.

Tommy und Annika rissen erst recht die Augen auf, als sie den Affen sahen, der auf der Schulter des fremden Mädchens saß. Es war eine kleine Meerkatze mit blauen Hosen, gelber Jacke und einem weißen Strohhut.

Pippi ging die Straße entlang. Sie ging mit dem einen Bein auf dem Bürgersteig und mit dem anderen im Rinnstein. Tommy und Annika schauten ihr nach, solange sie sie sehen konnten. Nach einer Weile kam sie zurück. Aber jetzt ging sie rückwärts. Das tat sie, damit sie sich nicht umzudrehen brauchte, wenn sie nach Hause ging. Als sie vor Tommys und Annikas Gartentür angekommen war, blieb sie stehen. Die Kinder sahen sich schweigend an. Schließlich fragte Tommy:

»Warum bist du rückwärtsgegangen?«

»Warum ich rückwärtsgegangen bin?«, sagte Pippi. »Leben wir etwa nicht in einem freien Land? Darf man nicht gehen, wie man möchte? Übrigens will ich dir sagen, dass in Ägypten alle Menschen so gehen, und niemand findet das auch nur im Geringsten merkwürdig.«

»Woher weißt du das?«, fragte Tommy. »Du bist doch wohl nicht in Ägypten gewesen?«

»Ob ich in Ägypten war? Ja, da kannst du Gift drauf nehmen! Ich war überall auf dem ganzen Erdball und hab noch viel komischere Sachen gesehen als Leute, die rückwärtsgehen. Ich möchte wissen, was du gesagt hättest, wenn ich auf den Händen gegangen wäre wie die Leute in Hinterindien.«

»Jetzt lügst du«, sagte Tommy.

Pippi überlegte einen Augenblick.

»Ja, du hast recht, ich lüge«, sagte sie traurig.

»Lügen ist hässlich«, sagte Annika, die endlich wagte, den Mund aufzumachen.

»Ja, lügen ist sehr hässlich«, sagte Pippi noch trauriger. »Aber ich vergesse es hin und wieder, weißt du. Und wie kannst du überhaupt verlangen, dass ein kleines Kind, das eine Mama hat, die ein Engel ist, und einen Papa, der Südseekönig ist, und das sein ganzes Leben lang auf dem Meer gesegelt ist, immer die Wahrheit sagen soll? Und übrigens«, fuhr sie fort, und sie strahlte über ihr ganzes sommersprossiges Gesicht, »will ich euch sagen, dass es im Kongo keinen einzigen Menschen gibt, der die Wahrheit sagt. Sie lügen den ganzen Tag. Sie fangen früh um sieben an und hören nicht eher auf, als bis die Sonne untergegangen ist. Wenn es also passieren sollte, dass ich mal lüge, so müsst ihr versuchen, mir zu verzeihen und daran zu denken, dass es nur daran liegt, weil ich etwas zu lange im Kongo war. Wir können doch trotzdem Freunde sein, nicht wahr?«

»Ja, klar«, sagte Tommy, und er wusste plötzlich, dass der Tag heute sicher keiner der langweiligen werden würde.

»Warum könnt ihr übrigens nicht bei mir frühstücken?«, fragte Pippi.

»Ja, richtig«, sagte Tommy, »warum können wir das nicht? Kommt, wir gehen!«

»Ja«, sagte Annika, »jetzt sofort.«

»Aber erst muss ich euch Herrn Nilsson vorstellen«, sagte Pippi.

Und da nahm der kleine Affe den Hut ab und grüßte höflich.

Und nun gingen sie durch die verfallene Gartentür der Villa Kunterbunt den Kiesweg entlang, an dessen Rändern alte moosbewachsene Bäume standen, richtig prima Kletterbäume, und hinauf zur Villa und auf die Veranda.

Da stand das Pferd und fraß Hafer aus einer Suppenschüssel.

»Warum in aller Welt hast du ein Pferd auf der Veranda?«, fragte Tommy.

Alle Pferde, die er kannte, wohnten in einem Stall.

»Tja«, sagte Pippi nachdenklich, »in der Küche würde es nur im Weg stehen. Und im Salon gefällt es ihm nicht.«

Tommy und Annika streichelten das Pferd und gingen dann ins Haus. Da gab es eine Küche, einen Salon und ein Schlafzimmer. Aber es sah so aus, als ob Pippi vergessen hätte, am Wochenende sauber zu machen.

Tommy und Annika sahen sich vorsichtig um, ob der Südseekönig in einer Ecke säße. Sie hatten in ihrem ganzen Leben noch keinen Südseekönig gesehen. Aber kein Papa war zu sehen und auch keine Mama, und Annika fragte ängstlich:

»Wohnst du hier ganz allein?«

»Aber nein, Herr Nilsson und das Pferd wohnen ja auch hier.«

»Ja, aber, ich meine, hast du keine Mama und keinen Papa hier?«

»Nein, gar nicht«, sagte Pippi vergnügt.

»Aber wer sagt dir, wenn du abends ins Bett gehen sollst, und all so was?«

»Das mach ich selbst«, sagte Pippi. »Erst sag ich es ganz freundlich, und wenn ich nicht gehorche, dann sag ich es noch mal streng, und wenn ich dann immer noch nicht hören will, dann gibt es Haue.«

Genau verstanden Tommy und Annika das nicht, aber sie dachten, dass es vielleicht ganz praktisch wäre. Inzwischen waren sie in die Küche gekommen, und Pippi schrie:

»Jetzt woll’n wir braten Pfannekraten!

Jetzt woll’n wir essen Pfannekessen!

Jetzt woll’n wir futtern Pfannekuttern!«

Und nun holte sie drei Eier und warf sie in die Luft. Eins fiel ihr auf den Kopf und ging kaputt, sodass ihr das Eigelb in die Augen lief. Aber die anderen fing sie geschickt in einem Topf auf, und dort gingen sie dann kaputt. »Ich hab immer gehört, dass Eigelb gut für die Haare sein soll«, sagte Pippi und wischte sich die Augen aus. »Ihr sollt mal sehen: Es wächst, dass es kracht. In Brasilien laufen übrigens alle Leute mit Ei im Haar herum. Aber da gibt’s auch keine Kahlköpfe. Nur einmal war da ein Alter, der war so verrückt, dass er die Eier aufaß, anstatt sie ins Haar zu schmieren. Er bekam auch ganz richtig einen Kahlkopf, und wenn er sich auf der Straße zeigte, gab es einen solchen Auflauf, dass die Polizei anrücken musste.«

Während Pippi redete, hatte sie geschickt die Eierschalen mit den Fingern aus dem Topf gefischt. Jetzt nahm sie eine Badebürste, die an der Wand hing, und fing an, den Pfannkuchenteig zu schlagen, sodass die Wände ringsherum vollgespritzt wurden. Schließlich goss sie das, was übrig war, in eine Pfanne, die auf dem Herd stand.

Als der Pfannkuchen auf der einen Seite gebacken war, warf sie ihn hoch, sodass er sich in der Luft umdrehte, und fing ihn dann wieder in der Pfanne auf. Und als er fertig war, warf sie ihn quer durch die Küche direkt auf einen Teller, der auf dem Tisch stand.

»Esst«, rief sie, »esst, bevor er kalt wird!«

Und Tommy und Annika aßen und fanden, dass es ein sehr guter Pfannkuchen war.

Danach bat Pippi sie in den Salon. Dort stand nur ein Möbelstück. Das war eine große, große Kommode mit vielen kleinen, kleinen Schubladen. Pippi öffnete die Schubladen und zeigte Tommy und Annika all die Schätze, die sie dort verwahrt hatte. Da waren seltsame Vogeleier und merkwürdige Schneckengehäuse und Steine, kleine hübsche Schachteln, schöne silberne Spiegel und Perlenketten und vieles andere, was Pippi und ihr Papa während ihrer Reisen um die Erde gekauft hatten.

Pippi gab jedem ihrer neuen Freunde ein kleines Geschenk zum Andenken. Tommy bekam einen Dolch mit schimmerndem Perlmuttgriff und Annika ein Kästchen, dessen Deckel mit rosa Muscheln besetzt war. In dem Kästchen lag ein Ring mit einem grünen Stein.

»Am besten, ihr geht jetzt nach Hause«, sagte Pippi, »damit ihr morgen wiederkommen könnt. Denn wenn ihr nicht nach Hause geht, könnt ihr ja nicht wiederkommen. Und das wäre schade.«

Das fanden Tommy und Annika auch. Und so gingen sie nach Hause, am Pferd vorbei, das den ganzen Hafer aufgefressen hatte, und durch die Gartentür der Villa Kunterbunt. Herr Nilsson schwenkte den Hut, als sie gingen.

Zweites Kapitel

Pippi wird Sachensucher und gerät in eine Prügelei

Annika erwachte zeitig am nächsten Morgen. Sie sprang schnell aus dem Bett und schlich zu Tommy.

»Wach auf, Tommy«, sagte sie und rüttelte ihn am Arm. »Wach auf, wir wollen zu dem ulkigen Mädchen mit den großen Schuhen gehen.«

Tommy war sofort hellwach.

»Ich wusste, als ich schlief, dass heute was Lustiges kommt, ich konnte mich nur nicht daran erinnern, was es ist«, sagte er und zog seine Pyjamajacke aus. Dann gingen beide ins Badezimmer. Sie wuschen sich und putzten die Zähne viel schneller als sonst, sie zogen sich schnell und vergnügt an, und eine ganze Stunde früher, als ihre Mama gedacht hatte, kamen sie von oben auf dem Geländer heruntergerutscht und landeten genau am Frühstückstisch, wo sie sich hinsetzten und riefen, dass sie jetzt sofort ihren Kakao haben wollten.

»Was habt ihr denn vor?«, fragte ihre Mama. »Ihr habt es ja so eilig!«

»Wir wollen zu dem neuen Mädchen ins Haus nebenan gehen«, sagte Tommy.

»Wir bleiben vielleicht den ganzen Tag da«, sagte Annika.

An diesem Morgen war Pippi dabei, Pfefferkuchen zu backen.

Sie hatte eine riesengroße Menge Teig gemacht und auf dem Küchenfußboden ausgerollt.

»Denn weißt du«, sagte Pippi zu ihrem kleinen Affen, »wie weit reicht eigentlich ein Backblech, wenn man mindestens fünfhundert Pfefferkuchen backen will?«

Und da lag sie nun auf dem Fußboden und stach mit Hingabe Pfefferkuchen aus.

»Tritt nicht immer in den Teig, Herr Nilsson«, sagte sie gerade, als es klingelte.

Pippi lief zur Tür und öffnete. Sie war von oben bis unten weiß wie ein Müller, und als sie Tommy und Annika herzlich die Hände schüttelte, wurden sie von einer Mehlwolke eingehüllt.

»Wie nett, dass ihr hereinschaut«, sagte sie und schüttelte ihre Schürze, sodass eine neue Mehlwolke aufstob.

Tommy und Annika bekamen so viel Mehl in den Hals, dass sie husten mussten.

»Was tust du da?«, fragte Tommy.

»Ja, wenn ich sage, dass ich gerade dabei bin, den Schornstein zu fegen, glaubst du mir doch nicht, so schlau, wie du bist«, sagte Pippi. »Tatsache ist, dass ich backe. Aber ich bin bald fertig. Setzt euch solange auf die Brennholzkiste.«

Pippi konnte schnell arbeiten, weiß Gott! Tommy und Annika saßen auf der Holzkiste und sahen zu, wie sie auf den Pfefferkuchenteig losging und wie sie die Kuchen auf das Blech warf und wie sie die Bleche in den Ofen schleuderte. Sie fanden, dass es beinahe wie im Kino war.

»Fertig«, sagte Pippi und schlug mit einem Krach die Ofentür zu, nachdem sie das letzte Blech herausgezogen hatte.

»Was wollen wir jetzt machen?«, fragte Tommy.

»Was ihr machen wollt, weiß ich nicht«, sagte Pippi. »Ich werde jedenfalls nicht auf der faulen Haut liegen. Ich bin nämlich ein Sachensucher, und da hat man niemals eine freie Stunde.«

»Was hast du gesagt, was du bist?«, fragte Annika.

»Ein Sachensucher.«

»Was ist das?«, fragte Tommy.

»Jemand, der Sachen findet, wisst ihr. Was soll es anderes sein?«, sagte Pippi, während sie die Mehlreste zu einem kleinen Haufen zusammenfegte. »Die ganze Welt ist voll von Sachen, und es ist wirklich nötig, dass jemand sie findet. Und das gerade, das tun die Sachensucher.«

»Was sind das denn für Sachen?«, fragte Annika.

»Ach, alles Mögliche«, sagte Pippi. »Goldklumpen und Straußenfedern und tote Ratten und Knallbonbons und ganz kleine Schraubenmuttern und all so was.«

Tommy und Annika fanden, dass es ganz nett klang, und wollten auch gern Sachensucher werden, aber Tommy sagte, er hoffe, dass er einen Goldklumpen und nicht nur eine kleine Schraubenmutter finden würde.

»Wir werden ja sehen«, sagte Pippi. »Etwas findet man immer. Aber jetzt müssen wir uns beeilen, damit nicht andere Sachensucher kommen, die alle Goldklumpen, die es hier in der Gegend gibt, aufheben.«

Alle drei Sachensucher machten sich nun auf den Weg. Sie meinten, dass es am besten wäre, in der Nähe um die Villen herum anzufangen. Denn Pippi sagte, es könne zwar leicht passieren, dass man eine Schraubenmutter tief drinnen im Wald finde, aber die besten Sachen finde man fast immer da, wo Menschen in der Nähe wohnen.

»Aber immerhin«, sagte sie, »ich habe auch schon Beispiele vom Gegenteil erlebt. Ich erinnere mich an ein Mal, als ich in den Dschungeln von Borneo nach Sachen suchte. Genau mittendrin im Urwald, wo niemals ein Mensch seinen Fuß hingesetzt hatte, was glaubt ihr, was ich da gefunden habe? Ein prima Holzbein. Ich hab es später einem alten Mann geschenkt, der nur ein Bein hatte, und er sagte, dass man so ein Holzbein nicht für Geld kaufen könnte.«

Tommy und Annika beobachteten Pippi, um zu sehen, wie ein Sachensucher sich zu verhalten hat. Und Pippi lief von einem Straßenrand zum anderen, legte die Hand über die Augen und suchte und suchte. Manchmal kroch sie auf den Knien und steckte die Hand zwischen die Latten eines Zaunes und sagte enttäuscht:

»Merkwürdig! Ich dachte bestimmt, ich hätte einen Goldklumpen gesehen!«

»Darf man wirklich alles nehmen, was man findet?«, fragte Annika.

»Ja, alles, was auf der Erde liegt«, sagte Pippi.

Ein Stück weiter lag ein alter Herr auf dem Rasen vor seiner Villa und schlief.

»Der da liegt auf der Erde«, sagte Pippi, »und wir haben ihn gefunden. Wir nehmen ihn!«

Tommy und Annika erschraken furchtbar.

»Nein, nein, Pippi, einen Mann können wir nicht nehmen, das geht nicht«, sagte Tommy. »Was sollten wir übrigens auch mit ihm?«

»Was wir mit ihm sollten? Den könnte man zu vielerlei gebrauchen. Wir könnten ihn anstelle eines Kaninchens in einen kleinen Kaninchenkäfig stecken und ihn mit Löwenzahnblättern füttern. Aber wenn ihr nicht wollt, lassen wir’s bleiben, meinetwegen. Obwohl es mich ärgert, dass vielleicht ein anderer Sachensucher kommt und ihn klaut.«

Sie gingen weiter. Plötzlich stieß Pippi ein lautes Geheul aus.

»Nein, so was hab ich noch nie gesehen!«, schrie sie und hob eine alte rostige Blechbüchse vom Boden auf. »So ein Fund, so ein Fund! Büchsen kann man nie genug haben.«

Tommy sah die Büchse etwas misstrauisch an und sagte:

»Wozu kann man die gebrauchen?«

»Oh, die kann man zu vielem gebrauchen«, sagte Pippi. »Wenn man Kekse reinlegt, dann ist es eine prima ›Büchse Mit Keksen‹. Wenn man keine Kekse reinlegt, dann ist es eine ›Büchse Ohne Kekse‹, und das ist natürlich nicht ganz so schön, aber so kann man sie auch gut gebrauchen.«

Sie musterte die Büchse, die wirklich sehr rostig war und außerdem ein Loch im Boden hatte.

»Es sieht beinah so aus, als ob es eine ›Büchse Ohne Kekse‹ werden wird«, sagte sie nachdenklich. »Aber man kann sie auch übern Kopf stülpen und spielen, dass es mitten in der Nacht ist.«

Und das tat sie. Mit der Büchse auf dem Kopf wanderte sie durch das Villenviertel wie ein kleiner Blechturm, und sie blieb nicht eher stehen, bis sie über einen Drahtzaun stolperte und auf den Bauch fiel. Es machte einen furchtbaren Krach, als die Blechbüchse auf der Erde aufschlug.

»Da könnt ihr mal sehen«, sagte Pippi und nahm die Büchse vom Kopf. »Wenn ich die nicht aufgehabt hätte, wäre ich direkt auf dem Gesicht gelandet und hätte es mir blau geschlagen.«

»Ja, aber«, sagte Annika, »wenn du nicht die Büchse aufgehabt hättest, wärst du auch nicht über den Stacheldrahtzaun gestolpert.«

Aber ehe sie zu Ende sprechen konnte, ertönte ein neues Geheul von Pippi, die triumphierend eine leere Garnrolle hochhielt.

»Heute scheint mein Glückstag zu sein«, sagte sie. »So eine kleine, süße Garnrolle, mit der man Seifenblasen machen oder die man an einer Schnur um den Hals als Kette tragen kann. Ich will nach Hause und das sofort ausprobieren.«

In dem Augenblick wurde eine Gartentür geöffnet, und ein Junge kam herausgestürmt. Er sah ängstlich aus, und das war kein Wunder, denn dicht auf den Fersen folgten ihm fünf Jungen. Sie hatten ihn bald und drängten ihn gegen einen Zaun, wo sie alle auf ihn losgingen. Alle fünf auf einmal fingen an, ihn zu boxen und zu schlagen. Er weinte und hielt die Arme vors Gesicht, um sich zu schützen.

»Gebt’s ihm, Jungs!«, schrie der größte und kräftigste der Jungen. »Dass er nie mehr wagt, sich in dieser Straße hier zu zeigen.«

»Oh«, sagte Annika, »das ist Ville, den sie da verhauen. Wie können die nur so gemein sein!«

»Das ist dieser schreckliche Bengt. Immer muss er sich prügeln«, sagte Tommy. »Und fünf gegen einen, solche Feiglinge!«

Pippi ging zu den Jungen hin und tippte Bengt mit dem Zeigefinger auf den Rücken.

»Heda«, sagte sie. »Wollt ihr etwa Mus aus dem kleinen Ville machen, weil ihr alle fünf auf einmal auf ihn losgeht?«

Bengt drehte sich um und sah ein Mädchen, das er niemals vorher gesehen hatte, ein wildfremdes Mädchen, das es wagte, ihn anzutippen. Zuerst gaffte er nur eine Weile vor lauter Verwunderung, und dann zog ein breites Grinsen über sein Gesicht.

»Jungs«, rief er, »Jungs! Lasst Ville los und schaut euch das Mädchen hier an. So was habt ihr in eurem ganzen Leben noch nicht gesehen!«

Er schlug sich auf die Knie und lachte. Und im Nu hatten sie Pippi umringt, alle außer Ville, der seine Tränen trocknete und sich vorsichtig neben Tommy stellte.

»Habt ihr gesehen, was für Haare die hat? Das reine Feuer! Und solche Schuhe! Kann ich nicht einen davon leihen? Ich möchte so gern mal rudern, aber ich hab keinen Kahn.«

Dann griff er einen von Pippis Zöpfen, ließ ihn aber schnell wieder los und schrie:

»Au, ich hab mich verbrannt!«

Und dann umringten alle fünf Jungen Pippi und sprangen herum und schrien:

»Rotkäppchen! Rotkäppchen!«

Pippi stand mitten im Kreis und lachte ganz freundlich. Bengt hatte gehofft, dass sie böse werden oder anfangen würde zu weinen.

Wenigstens ängstlich aussehen müsste sie. Als nichts half, gab er ihr einen Schubs.

»Ich finde, dass du kein besonders feines Benehmen Damen gegenüber hast«, sagte Pippi.

Und nun hob sie ihn mit ihren starken Armen hoch in die Luft und trug ihn zu einer Birke, die da stand, und hängte ihn quer über einen Ast. Dann nahm sie den nächsten Jungen und hängte ihn auf einen anderen Ast. Und dann nahm sie den dritten und setzte ihn auf einen Torpfosten vor einer Villa, und dann nahm sie den vierten und warf ihn über einen Zaun, dass er mitten in einem Blumenbeet landete. Und den letzten der Raufbolde setzte sie in eine ganz kleine Spielzeugkarre, die am Weg stand. Dann standen Pippi und Tommy und Annika und Ville da und sahen die Jungen eine Weile an, und die Jungen waren vollkommen stumm vor Staunen. Pippi sagte:

»Ihr seid feige. Ihr geht zu fünft auf einen einzigen Jungen los. Das ist feige. Und dann fangt ihr auch noch an, ein kleines, wehrloses Mädchen zu puffen. Pfui, wie hässlich! Kommt jetzt, wir gehn nach Hause«, sagte sie zu Tommy und Annika. Und zu Ville sagte sie:

»Wenn sie noch mal versuchen, dich zu hauen, dann sag es mir.« Und zu Bengt, der oben im Baum saß und sich nicht zu rühren wagte, sagte sie:

»Wenn du noch mehr über meine Haare oder meine Schuhe zu sagen hast, dann sag es am besten gleich, bevor ich nach Hause geh.«

Aber Bengt hatte nichts mehr über Pippis Schuhe zu sagen und auch nicht über ihre Haare. Und so nahm Pippi ihre Blechbüchse in die eine Hand und die Garnrolle in die andere und ging davon, und Tommy und Annika folgten ihr.

Als sie in Pippis Garten kamen, sagte Pippi:

»Ach, meine Lieben, wie schade! Ich hab zwei so tolle Sachen gefunden, und ihr habt nichts bekommen. Ihr müsst noch ein bisschen weitersuchen. Tommy, warum guckst du nicht in diesen alten Baum da? Alte Bäume sind gewöhnlich die allerbesten Stellen für einen Sachensucher.«

Tommy sagte, er glaube nicht, dass er und Annika jemals etwas finden würden, aber um Pippi den Gefallen zu tun, steckte er die Hand in eine Vertiefung des Baumstamms.

»Na, so was!«, sagte er ganz erstaunt und zog die Hand heraus. Und darin hielt er ein feines Notizbuch mit einem Lederdeckel. In einer Hülse steckte ein kleiner silberner Bleistift.

»Das ist ja komisch«, sagte Tommy.

»Da kannst du mal sehen!«, sagte Pippi. »Es gibt nichts Schöneres, als Sachensucher zu sein. Und man muss sich nur wundern, dass nicht mehr Leute sich auf diesen Beruf werfen. Tischler und Schuhmacher und Schornsteinfeger und all so was – das können sie werden, aber Sachensucher, ach wo, das ist nichts für sie.« Und dann sagte sie zu Annika:

»Warum gehst du nicht zu dem alten Baumstumpf und fasst da hinein? Man findet wirklich fast immer Sachen in alten Baumstümpfen.«

Annika griff hinein und hatte beinahe sofort eine rote Korallenkette in der Hand. Tommy und sie standen bloß da und gafften eine Weile, so erstaunt waren sie. Und sie dachten, dass sie jetzt jeden Tag Sachensucher sein wollten.

Pippi war die halbe Nacht auf gewesen und hatte Ball gespielt, und nun wurde sie plötzlich müde.

»Ich glaube, ich muss mich mal hinlegen«, sagte sie. »Könnt ihr nicht mit reinkommen und mich zudecken?«

Als Pippi auf dem Bettrand saß und ihre Schuhe auszog, schaute sie sie nachdenklich an und sagte:

»Er wollte Kahn fahren, hat er gesagt, dieser Bengt. Puh!« Sie schnaubte verächtlich. »Ich werd ihn schon Kahn fahren lehren – ein anderes Mal!«

»Sag mal, Pippi«, fragte Tommy ehrfürchtig, »warum hast du eigentlich so große Schuhe?«

»Damit ich mit den Zehen wackeln kann, weißt du«, antwortete sie. Dann legte sie sich zum Schlafen hin.

Sie schlief immer mit den Füßen auf dem Kopfkissen und mit dem Kopf tief unter der Decke.

»So schlafen sie in Guatemala«, versicherte sie. »Das ist die einzig richtige Art zu schlafen. Und so kann ich auch mit den Zehen wackeln, wenn ich schlafe. Könnt ihr ohne Wiegenlied einschlafen?«, fuhr sie fort. »Ich muss mir immer erst eine Weile was vorsingen, sonst krieg ich kein Auge zu.«

Tommy und Annika hörten es unter der Decke brummen. Das war Pippi, die sich in den Schlaf sang. Leise und vorsichtig schlichen sie hinaus, um sie nicht zu stören. An der Tür drehten sie sich um und warfen einen letzten Blick auf das Bett. Sie sahen nichts anderes als Pippis Füße auf dem Kopfkissen.

So lag sie da und wackelte nachdrücklich mit den Zehen.

Und Tommy und Annika hüpften nach Hause. Annika hielt ihre Korallenkette fest in der Hand.

»Komisch ist es aber doch«, sagte sie. »Tommy, du glaubst doch wohl nicht – meinst du, dass Pippi die Sachen vorher hineingelegt hat?«

»Das weiß man nicht«, sagte Tommy. »Bei Pippi weiß man eigentlich nie was.«

Drittes Kapitel

Pippi spielt Fangen mit Polizisten

In der kleinen Stadt wurde es bald allgemein bekannt, dass ein neunjähriges Mädchen allein in der Villa Kunterbunt wohnte. Die Tanten und Onkel der Stadt fanden, dass das durchaus nicht ginge. Alle Kinder müssten doch jemanden haben, der sie ermahnt, und alle Kinder müssten in die Schule gehen und rechnen lernen. Und darum bestimmten alle Mütter und Väter, dass das kleine Mädchen in der Villa Kunterbunt sofort in ein Kinderheim solle.

Eines schönen Nachmittags hatte Pippi Tommy und Annika zu Kaffee und Pfefferkuchen eingeladen. Sie deckte zum Kaffee auf der Verandatreppe. Da war es so sonnig und schön, und alle Blumen in Pippis Garten dufteten. Herr Nilsson kletterte am Verandageländer rauf und runter. Und hin und wieder reckte das Pferd sein Maul vor, um einen Pfefferkuchen zu kriegen.

»Wie schön ist es doch zu leben«, sagte Pippi und streckte ihre Beine weit von sich.

In dem Augenblick kamen zwei Polizisten in voller Uniform durch die Gartentür.

»Oh«, sagte Pippi, »ich muss heute wieder einen Glückstag haben. Polizisten sind das Beste, was ich kenne – gleich nach Rhabarbergrütze.« Sie ging den Polizisten entgegen und strahlte vor Entzücken über das ganze Gesicht.

»Bist du das Mädchen, das in die Villa Kunterbunt eingezogen ist?«, fragte einer der Polizisten.

»Im Gegenteil«, sagte Pippi. »Ich bin eine ganz kleine Tante, die in der dritten Etage am anderen Ende der Stadt wohnt.«

Pippi sagte das nur, weil sie einen Spaß machen wollte. Aber die Polizisten fanden das durchaus nicht lustig. Sie sagten, Pippi solle nicht versuchen, Witze zu machen. Und dann erzählten sie, gute Menschen in der Stadt hätten dafür gesorgt, dass Pippi einen Platz in einem Kinderheim bekäme.

»Ich hab schon einen Platz in einem Kinderheim«, sagte Pippi.

»Was sagst du, ist das schon geregelt?«, fragte der eine Polizist. »Wo ist das Kinderheim?«

»Hier«, sagte Pippi stolz. »Ich bin ein Kind, und das hier ist mein Heim, also ist es ein Kinderheim. Und Platz habe ich hier. Reichlich Platz.«

»Liebes Kind«, sagte der Polizist und lachte, »das verstehst du nicht. Du musst in ein richtiges Kinderheim und brauchst jemanden, der sich um dich kümmert.«

»Kann man in eurem Kinderheim Pferde haben?«, fragte Pippi.

»Nein, natürlich nicht«, sagte der Polizist.

»Das hab ich mir gedacht«, sagte Pippi düster. »Na, aber Affen?«

»Natürlich nicht, das musst du doch verstehen.«

»Ja«, sagte Pippi, »dann müsst ihr euch von anderswoher Kinder für euer Kinderheim besorgen. Ich habe nicht die Absicht, dahin zu gehen.«

»Aber begreifst du nicht, dass du in die Schule gehen musst?«, sagte der Polizist.

»Wozu muss man in die Schule gehen?«

»Um alles Mögliche zu lernen natürlich.«

»Was alles?«, fragte Pippi.

»Vieles«, sagte der Polizist, »eine ganze Menge nützlicher Sachen, zum Beispiel Multiplikation, weißt du, das Einmaleins.«

»Ich bin gut neun Jahre ohne Plutimikation zurechtgekommen«, sagte Pippi, »da wird es auch weiter so gehen.«

»Ja, aber stell dir vor, wie unangenehm es für dich sein wird, so wenig zu wissen, wenn du mal groß bist. Vielleicht fragt dich dann jemand, wie die Hauptstadt von Portugal heißt, und du kannst keine Antwort geben.«

»Doch kann ich eine Antwort geben«, sagte Pippi. »Ich antworte nur: Wenn es so verzweifelt wichtig für dich ist, zu wissen, wie die Hauptstadt von Portugal heißt, dann schreib doch direkt nach Portugal und frage!«

»Ja, aber glaubst du nicht, dass es dir unangenehm sein würde, dass du es nicht selbst weißt?«

»Kann schon sein«, sagte Pippi. »Vielleicht würde ich manchmal abends wach liegen und fragen und fragen: Wie in aller Welt heißt die Hauptstadt von Portugal? Na ja, man kann nicht immer nur Spaß haben«, sagte Pippi und stellte sich ein bisschen auf die Hände. »Übrigens war ich mit meinem Papa in Lissabon«, fuhr sie fort, während sie noch auf den Händen stand, denn auch so konnte sie reden.

Aber jetzt sagte einer der Polizisten, Pippi solle nicht glauben, dass sie machen könne, was sie wolle. Sie habe mit ins Kinderheim zu kommen, und das augenblicklich! Er ging auf sie zu und griff sie am Arm. Aber Pippi machte sich schnell los, tippte ihn ein bisschen an und sagte: »Fang mich!«

Und ehe er sich’s versah, hatte sie einen Sprung auf das Verandageländer gemacht. Mit ein paar Sätzen war sie oben auf dem Balkon, der über der Veranda war. Die Polizisten hatten keine Lust, ihr auf dem gleichen Weg nachzuklettern. Sie liefen ins Haus und in das obere Stockwerk hinauf. Aber als sie auf den Balkon kamen, war Pippi schon halb auf dem Dach. Sie kletterte ungefähr so, als ob sie ein Affe wäre. Im Nu stand sie auf dem Dachfirst und sprang schnell auf den Schornstein. Unten auf dem Balkon standen die beiden Polizisten und rauften sich die Haare, und auf dem Rasen standen Tommy und Annika und schauten zu Pippi hinauf.

»Ist das lustig, Fangen zu spielen!«, schrie Pippi. »Und wie nett von euch, herzukommen. Auch heute hab ich meinen Glückstag, das ist klar.«

Nachdem die Polizisten eine Weile überlegt hatten, gingen sie eine Leiter holen, die sie gegen den Hausgiebel lehnten. Und nun kletterten sie hinauf, zuerst der eine und dann der andere, um Pippi runterzuholen. Doch sie sahen etwas ängstlich aus, als sie auf dem Dachfirst ankamen und auf Pippi zubalancierten.

»Habt keine Angst«, rief Pippi, »es ist nicht gefährlich! Nur lustig!«

Als die Polizisten noch zwei Schritte von Pippi entfernt waren, sprang sie schnell vom Schornstein runter, und unter Geschrei und Gelächter lief sie den Dachfirst entlang zum anderen Giebel. Ein paar Meter vom Haus entfernt stand ein Baum.

»Jetzt tauche ich!«, schrie Pippi, und dann sprang sie direkt in die grüne Baumkrone hinunter, hängte sich an einen Ast, schaukelte ein bisschen hin und her und ließ sich schließlich auf die Erde fallen. Und dann schoss sie zum anderen Giebel und nahm die Leiter weg.

Die Polizisten hatten etwas verdutzt ausgesehen, als Pippi sprang, aber noch verdutzter, als sie auf dem Dachfirst entlang zurückbalanciert waren und die Leiter wieder runterklettern wollten. Jetzt wurden sie furchtbar böse und riefen Pippi, die unten stand und sie anschaute, zu, sie solle sofort die Leiter wieder hinstellen, sonst würde sie etwas erleben.

»Warum seid ihr so böse?«, fragte Pippi vorwurfsvoll. »Wir spielen ja bloß Fangen, und da soll man sich doch vertragen, finde ich.«

Die Polizisten überlegten eine Weile, und schließlich sagte der eine mit verlegener Stimme:

»Also hör mal, willst du nicht so nett sein und die Leiter hinstellen, dass wir runterkommen können?«

»Klar will ich das«, sagte Pippi und stellte die Leiter sofort hin. »Und dann können wir wohl Kaffee trinken und es uns ein bisschen gemütlich machen.«

Aber die Polizisten waren wirklich hinterlistig, denn sobald sie unten waren, stürzten sie sich auf Pippi und schrien:

»Jetzt kriegst du’s aber, du abscheuliches Ding!«

Aber Pippi sagte:

»Nein, jetzt hab ich keine Zeit mehr, weiterzuspielen. Obwohl es ja ganz lustig ist, das geb ich zu.«

Und sie packte die beiden Polizisten am Gürtel und trug sie den Gartenweg entlang durch die Gartentür auf die Straße hinaus. Da setzte sie sie ab, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie so weit waren, dass sie sich bewegen konnten.

»Wartet mal!«, rief Pippi und lief in die Küche. Sie kam mit ein paar Pfefferkuchenherzen zurück.

»Wollt ihr probieren?«, fragte sie freundlich. »Es macht wohl nichts, dass sie ein bisschen verbrannt sind?«

Dann ging sie zurück zu Tommy und Annika, die mit aufgerissenen Augen dastanden und nur staunten. Und die Polizisten beeilten sich, dass sie in die Stadt zurückkamen, und erzählten allen Müttern und Vätern, Pippi wäre nicht richtig für ein Kinderheim geeignet. Sie sagten nichts davon, dass sie oben auf dem Dach gewesen waren. Und die Mütter und Väter meinten, es wäre wohl am besten, Pippi in der Villa Kunterbunt wohnen zu lassen. Und wenn sie in die Schule gehen wollte, könnte sie ja selbst dafür sorgen.

Pippi und Tommy und Annika hatten einen richtig gemütli- chen Nachmittag. Sie setzten das unterbrochene Kaffeetrinken fort. Pippi stopfte vierzehn Pfefferkuchen in sich hinein, und dann sagte sie:

»Die waren nicht das, was ich unter richtigen Polizisten verstehe. Nee! Viel zu viel Gerede von Kinderheim und Plutimikation und Lissabon.«

Dann hob sie das Pferd von der Veranda, und sie ritten alle drei auf ihm. Annika hatte zuerst Angst und wollte nicht, aber als sie sah, wie viel Spaß Tommy und Pippi hatten, durfte Pippi sie auch auf den Pferderücken heben. Und das Pferd trabte im Garten herum, immer rundherum, und Tommy sang: »Hier kommen die Schweden mit Krach und Radau!«

Als Tommy und Annika abends ins Bett gegangen waren, sagte Tommy:

»Annika, findest du es nicht schön, dass Pippi hierhergezogen ist?«

»Klar, das finde ich«, sagte Annika.

»Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was wir vorher gespielt haben, bevor sie herkam. Erinnerst du dich?«

»Tja, wir haben Krocket und all so was gespielt«, sagte Annika. »Aber ich finde, es ist viel lustiger mit Pippi. Und mit Pferden und Affen.«

Viertes Kapitel

Pippi geht in die Schule

Tommy und Annika gingen natürlich in die Schule. Jeden Morgen um acht Uhr trabten sie, die Schulbücher unterm Arm, Hand in Hand los.

Während dieser Zeit war Pippi meistens damit beschäftigt, ihr Pferd zu striegeln oder Herrn Nilsson seinen kleinen Anzug anzuziehen. Oder sie machte ihre Morgengymnastik. Das ging so: Sie stellte sich kerzengerade auf den Fußboden und machte dann dreiundvierzig Überschläge hintereinander. Danach setzte sie sich auf den Küchentisch und trank in aller Seelenruhe eine große Tasse Kaffee und aß ein Käsebrot.

Tommy und Annika schauten immer sehnsüchtig zur Villa Kunterbunt, wenn sie morgens zur Schule gingen. Sie wären viel lieber hineingegangen und hätten mit Pippi gespielt. Wenn Pippi wenigstens mit in die Schule gekommen wäre, dann hätte es einigermaßen Spaß gemacht.

»Stell dir bloß mal vor, was für einen Spaß wir zusammen auf dem Weg nach Hause haben könnten«, sagte Tommy.

»Ja, auch wenn wir zusammen hingingen«, meinte Annika.

Und je mehr sie daran dachten, desto langweiliger fanden sie es, dass Pippi nicht in die Schule ging, und sie beschlossen, sie zu überreden, mit in die Schule zu kommen.

»Du ahnst nicht, was für eine nette Lehrerin wir haben«, sagte Tommy eines Nachmittags listig zu Pippi, als sie zu Besuch in die Villa Kunterbunt kamen, nachdem sie erst ordentlich ihre Schularbeiten gemacht hatten.

»Wenn du wüsstest, wie lustig es in der Schule ist«, beteuerte Annika.

»Ich würde verrückt werden, wenn ich nicht hingehen dürfte.«

Pippi saß auf einem Hocker und war dabei, ihre Füße in einer Schüssel zu waschen. Sie sagte nichts, sie wackelte bloß ein bisschen mit den Zehen, dass das Wasser nur so spritzte.

»Man braucht nicht so schrecklich lange dazubleiben, nur bis zwei Uhr«, fuhr Tommy fort.

»Ja, und dann bekommt man Weihnachtsferien und Osterferien und Sommerferien«, sagte Annika.

Pippi biss sich nachdenklich in ihre große Zehe, saß aber weiter schweigend da. Plötzlich schüttete sie entschlossen das ganze Wasser auf den Fußboden, sodass Herrn Nilssons Hosen ganz nass wurden, denn er hatte dagesessen und mit einem Spiegel gespielt.

»Das ist ungerecht«, sagte Pippi streng, ohne sich um Herrn Nilssons Verzweiflung über die nassen Hosen zu kümmern. »Das ist absolut ungerecht! Ich lass mir das nicht gefallen!«

»Was denn?«, fragte Tommy.

»In vier Monaten ist Weihnachten, und da kriegt ihr Weihnachtsferien. Aber ich, was krieg ich?« Pippis Stimme klang traurig. »Keine Weihnachtsferien, nicht das allerkleinste bisschen Weihnachtsferien«, sagte sie klagend. »Das muss anders werden. Morgen gehe ich in die Schule.«

Tommy und Annika klatschten vor Begeisterung in die Hände. »Hurra! Dann warten wir um acht Uhr vor unserer Tür auf dich.«

»Nee, nee«, sagte Pippi, »so früh kann ich nicht. Und übrigens reite ich zur Schule.«

Und das tat sie. Pünktlich um zehn Uhr am nächsten Tag hob sie ihr Pferd von der Veranda, und eine Weile später stürzten alle Leute in der kleinen Stadt an die Fenster, um zu sehen, was für ein Pferd da durchgegangen war. Das heißt, sie glaubten, dass es durchgegangen wäre. Aber das war es nicht. Es war nur Pippi, die es etwas eilig hatte, in die Schule zu kommen.

In rasendem Galopp sprengte sie auf den Schulhof, sprang mitten im Galopp vom Pferd, band es an einen Baum und riss die Tür zum Klassenzimmer mit einem Ruck auf, sodass Tommy und Annika und ihre netten Klassenkameraden in ihren Bänken aufsprangen.

»Hallihallo!«, grölte Pippi und schwenkte ihren großen Hut. »Komme ich gerade richtig zur Plutimikation?«

Tommy und Annika hatten ihrer Lehrerin erzählt, dass ein neues Mädchen kommen würde, das Pippi Langstrumpf hieß. Und die Lehrerin hatte in der Stadt schon von Pippi reden hören. Und da sie eine sehr liebe und nette Lehrerin war, hatte sie beschlossen, alles zu tun, damit es Pippi in der Schule gefiel.

Pippi warf sich auf eine leere Bank, ohne dass sie jemand dazu aufgefordert hatte. Aber die Lehrerin kümmerte sich nicht um ihre lässige Art. Sie sagte nur ganz freundlich:

»Willkommen in der Schule, kleine Pippi. Ich hoffe, dass es dir gefällt und dass du recht viel lernst.«

»Ja, und ich hoffe, dass ich Weihnachtsferien krieg«, sagte Pippi. »Deshalb bin ich hergekommen. Gerechtigkeit vor allem!«

»Wenn du mir jetzt erst einmal deinen vollständigen Namen sagen willst, dann schreibe ich dich in das Klassenbuch ein.«

»Ich heiße Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf, Tochter von Kapitän Efraim Langstrumpf, früher der Schrecken der Meere, jetzt Südseekönig. Pippi ist eigentlich nur mein Kosename, denn Papa meinte, Pippilotta wäre zu lang.«

»Aha«, sagte die Lehrerin. »Dann wollen wir dich also auch Pippi nennen. Aber was meinst du, wollen wir jetzt nicht mal sehen, was du weißt? Du bist ja ein großes Mädchen und kannst sicher schon eine ganze Menge. Wir wollen mit Rechnen anfangen. Na, Pippi, kannst du mir sagen, wie viel 7 und 5 ist?«

Pippi sah die Lehrerin erstaunt und ärgerlich an. Dann sagte sie:

»Ja, wenn du das nicht selbst weißt, denk ja nicht, dass ich es dir sage.«

Alle Kinder starrten Pippi entsetzt an. Und die Lehrerin erklärte ihr, dass man in der Schule solche Antworten nicht geben dürfe. Man dürfe die Lehrerin auch nicht mit »Du« anreden, sondern man müsse »Fräulein« und »Sie« sagen.

»Ich bitte sehr um Verzeihung«, sagte Pippi reumütig. »Das wusste ich nicht. Ich will es nicht wieder tun.«

»Nein, das will ich hoffen«, sagte die Lehrerin. »Und jetzt will ich dir sagen: 7 und 5 ist 12

»Sieh mal an«, sagte Pippi, »du wusstest es ja. Warum fragst du dann? Ach, ich Schaf, jetzt sag ich schon wieder ›Du‹ zu dir. Verzeihung«, sagte sie und kniff sich selbst ordentlich ins Ohr.

Die Lehrerin beschloss, darüber hinwegzugehen, und setzte die Prüfung fort.

»Na, Pippi, wie viel, glaubst du, ist 8 und 4

»So ungefähr 67«, meinte Pippi.

»Aber nein«, sagte die Lehrerin, »8 und 4 ist 12

»Nee, meine Liebe, das geht zu weit«, sagte Pippi. »Eben erst hast du gesagt, 7 und 5 ist 12wieder