Aus dem Englischen von Manfred Sanders

Impressum

Die australische Originalausgabe

The Secret Runners of New York

erschien 2019 im Verlag Hot Key Books.

Copyright © 2019 by Matthew Reilly

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-810-0

www.Festa-Verlag.de

Dieses Buch ist für alle,

die zur High School gegangen sind …

… und es überlebt haben.

Wenn man genug Geld und

einen guten Namen hat,

kann man alles tun.

Cornelia Guest

The Debutante’s Guide to Life

Warum erinnern wir uns

an die Vergangenheit

und nicht an die Zukunft?

Stephen Hawking

Eine kurze Geschichte der Zeit

Central Park, New York City

PROLOG

BECKYS LETZTER LAUF

New York City

2:35 Uhr; Datum: unbekannt

Die junge Frau im zerrissenen Brautkleid rannte durch den Central Park um ihr Leben. Dornige Zweige zerkratzten ihr die Wangen, als sie sich durch das Unterholz kämpfte. Es war spät, nach Mitternacht. Der Park und die umliegende Stadt waren dunkel und still.

Becky Taylors sonst so hübsches 17-jähriges Gesicht war mit Blut und Schmutz verschmiert. Auf ihrer Stirn stand mit rotem Lippenstift geschrieben das Wort:

BALLKÖNIGIN

Ihr Angstschweiß hatte die roten Buchstaben verlaufen lassen.

Becky zog den Kopf ein und rannte verzweifelt durch das Gestrüpp, einen Arm schützend vor dem Gesicht. Zwischen all den blutigen Kratzern auf diesem Arm befanden sich auch ein paar Markierungen in der Nähe des Handgelenks.

Vier senkrechte schwarze Striche: ||||

Über den Bäumen hinter Becky ragten als schwarze Schatten vor dem Nachthimmel die bekannten Gebäude an der Central Park West empor: das kolossale Museum für Naturkunde und einige der berühmtesten und teuersten Apartmenthäuser der Welt, das San Remo, das Majestic und das Dakota. Kein einziges Licht brannte in ihnen.

Mit hämmerndem Herzen und schmerzender Lunge hastete Becky weiter, so schnell sie konnte.

Sie hörte sie hinter sich – rennend, grunzend, jagend.

Dann brach sie durch ein letztes Dickicht, und plötzlich sah sie den Abgrund vor sich und Becky konnte gerade noch zurückspringen, um nicht zwei Meter tief hinabzustürzen.

Becky Taylor in ihrem zerrissenen Brautkleid lächelte verhalten.

Sie hatte die 79th Street Transverse erreicht.

Jetzt war sie fast da.

Rasch kletterte sie die zwei Meter hohe Mauer hinab, die die tiefer liegende Straße säumte, und rannte zur anderen Seite.

Natürlich war die Straße, auf der einst der Straßenverkehr den Central Park gekreuzt hatte, menschenleer. Genau wie überall in der dunklen Stadt herrschte auf der Straße gespenstische Stille.

Unkraut, Gras und Efeu hatten den Asphalt aufgebrochen und überwuchert. Verlassene Autos standen herum oder lagen auf der Seite, halb verschlungen vom Unkraut.

Nirgends war eine Menschenseele zu sehen.

Es gab nur Becky in dieser toten, leeren Stadt … und ihre Verfolger.

Um ihr linkes Handgelenk zog sich ein Ring aus aufgeschürfter, blutiger Haut. Als Becky zu sich gekommen war, war sie an eine Straßenlaterne gefesselt gewesen, ihre Hände mit einem Seil hinter ihrem Rücken zusammengebunden. Nach einigem schmerzhaftem Zerren und Winden hatte sie ihre linke Hand befreien können und war zu ihrer verzweifelten Flucht nach Hause aufgebrochen.

Becky sprintete über die Straße und kletterte die Steinmauer an der gegenüberliegenden Seite hoch.

Eine Minute später bog sie um eine Ecke und sah sie: die Schwedenhütte.

Die Schwedenhütte ist eine ungewöhnliche braune Holzhütte, die ein bisschen wie ein Lebkuchenhaus aussieht; sie wurde in den 1870er Jahren in Schweden gebaut und kurz darauf als ein Geschenk der schwedischen Regierung in die USA verschifft. Die Hütte steht im Central Park neben dem Shakespeare Garden, in der falschen Zeit, im falschen Stil und am falschen Ort.

Aber es war nicht die Holzhütte, zu der Becky wollte, sondern das, was sich dahinter befand.

Sie rannte um das braune Gebäude herum und gelangte auf eine freie Fläche aus festgetretener Erde.

Und dort sah sie den niedrigen Steinbrunnen.

Becky rannte zum Brunnen und kletterte sofort hinein. Sie presste ihre Hände und Füße an die nahen Wände und ließ sich langsam den engen senkrechten Schacht hinab.

Sechs Meter tiefer erreichte sie den mysteriösen Tunnel am Boden des Brunnens. Sie ließ sich den letzten Meter fallen und lief den Tunnel entlang, bis sie den uralten steinernen Torbogen sah …

… und blieb wie angewurzelt stehen.

Der Ausgang war nicht mehr offen.

Sie konnte nicht hinaus.

»Misty, Chastity … ihr Dreckstücke«, sagte Becky zu niemandem.

Ein markerschütternder männlicher Schrei von draußen ließ sie herumwirbeln.

Und dort, in jenem kalten unterirdischen Tunnel in dieser grässlichen Version von New York City, wurde Becky Taylor klar, dass sie sterben würde.

So hatte dieser Tag eigentlich nicht enden sollen.

Noch vor wenigen Stunden war sie die Königin des Balls gewesen, atemberaubend in ihrem Vera-Wang-Kleid, eine hervorragende Schülerin mit einem süßen Ballkavalier und der Welt zu ihren Füßen.

Und jetzt war sie hier.

An diesem schrecklichen Ort.

Gefangen und allein.

Bald würden seine grausamen Bewohner sie finden, und dann würden sie sie auf die langsamste und hässlichste Weise umbringen.

Und mit diesen grimmigen Gedanken sank Becky Taylor – in ihrem zerrissenen Brautkleid und mit dem durch Lippenstift gebrandmarkten Gesicht – zu Boden, schloss die Augen und begann leise zu weinen.

Und in exakt demselben Moment, in Beckys Zimmer in der Wohnung ihrer Familie im Majestic-Gebäude – einem ganz normalen Zimmer einer 17-Jährigen im ganz normalen New York von heute –, fanden ihre Eltern ihr Handy und darauf eine letzte Textnachricht, die sie geschrieben, aber nicht abgeschickt hatte.

Sie lautete:

LIEBE MOM, LIEBER DAD,

ICH HALTE ES EINFACH NICHT MEHR AUS: DEN DRUCK, DIE ERWARTUNGEN, DIE LAST DIESER ERWARTUNGEN.

BITTE SUCHT NICHT NACH MIR, DENN IHR WERDET MICH NICHT FINDEN. ICH WERDE AM GRUND DES FLUSSES RUHEN UND MEINEN FRIEDEN HABEN.

ICH LIEBE EUCH.

BECKY

TEIL I

DIE SCHULE, AN DER NEUE MÄDCHEN VERSCHWINDEN

Sie waren leichtfertige Menschen, Tom und Daisy – sie zerstörten Dinge und Lebewesen und zogen sich dann wieder zu ihrem Geld zurück …

F. Scott Fitzgerald

Der große Gatsby

NEUE SCHULE, NEUES LEBEN

Es war mein erster Schultag in einer neuen Stadt, aber ich glaube kaum, dass man viele Leute finden würde, die Mitleid mit mir hatten.

Auf dem Papier war mein Leben der ultimative Traum des durchschnittlichen 16-jährigen amerikanischen Mädchens.

Ich lebte in New York City an der Upper West Side, im historischen San-Remo-Gebäude in einem riesigen Apartment mit Blick auf den Central Park. Das San Remo ist einer dieser imposanten doppeltürmigen Art-déco-Genossenschaftsbauten, die in den 1930ern errichtet wurden und heute von Filmstars, Wall-Street-Superhelden, saudischen Prinzen und allen anderen bewohnt werden, die es sich leisten können, 20 Millionen Dollar in bar für ein Apartment zu bezahlen.

Aber ich fand mein Leben zum Kotzen.

Man hatte mich aus der Heimat meiner Kindheit in Memphis herausgerissen und im Alter von 16 Jahren in das schlimmste Milieu übersteigerter Teenager-Zickigkeit verpflanzt, das man sich vorstellen kann: das des ultrareichen New York.

Angemeldet an einer neuen Schule in einer neuen Stadt, fern von dem Vater, den ich liebte, mit einer Mutter zusammenlebend, die ich verachtete, und einem Stiefvater, der mich tolerierte … Ich hasste es. Der einzige Pluspunkt war, dass mein Zwillingsbruder Red – immer ruhig und unbeschwert – es mit mir zusammen durchstehen musste.

Der erste Tag an der neuen Schule fing nicht gut an.

Ich zog meine Schuluniform an: eine absolut geschlechtslose weiße Bluse unter einem marineblau und grün karierten Kleid. Die weiße Bluse hatte lange Ärmel mit steifen geknöpften Aufschlägen. Ein grünes Haarband war das einzige erlaubte Haaraccessoire. An einer so gut situierten Schule wie Monmouth kann Schmuck ein ernsthaftes Problem werden – die Mädchen können sich ganz schön in einen Wettstreit hineinsteigern, und es war absolut möglich, dass eine Schülerin Ohrringe trug, die ein paar Hunderttausend Dollar kosteten. Also war jeglicher Schmuck verboten. Das einzige weitere Accessoire, das man gestattete, war eine Armbanduhr.

Die Schlichtheit des Ganzen störte mich nicht – oder die Geschlechtslosigkeit, wenn man so will. An meiner alten Schule in Memphis – einer reinen Mädchenschule – hatte es keine Kleiderordnung gegeben, die Schülerinnen konnten tragen, was sie wollten, und so war, als die Mädchen älter wurden, jeder Tag zu einem Modewettstreit geworden. Und als die Hüften runder und die Brüste größer wurden, sanken die Taillen der Jeans tiefer und die Ausschnitte der Tops noch tiefer. In der drückenden Hitze des Tennessee-Sommers war die Menge der zur Schau gestellten Haut unfassbar.

An einem heißen Sommertag, als ich sah, wie zwei Sportlehrer die Ärsche von drei 17-jährigen Mädchen in sehr kurzen Shorts beglotzten, hörte ich eine Lehrerin murmeln: »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

An der Monmouth School gab es das nicht. Diese Schule war eine Lehranstalt, und Uniformen – für Jungen und Mädchen – waren eine der Maßnahmen, um dafür zu sorgen, dass die Schüler und Schülerinnen die Augen auf ihre Bücher richteten und nicht auf das andere Geschlecht.

Wie gesagt, mich störte es nicht. Ich hatte meine eigenen Gründe, vor allem die langärmelige Bluse zu mögen. Und ich trug immer eine Uhr an meinem linken Handgelenk – eine klobige, aber sehr zweckmäßige weiße Casio G-Shock.

Meine Mutter hingegen hatte alle möglichen Probleme mit der Kleiderordnung der Schule.

Sie postierte mich vor dem Spiegel in unserer Eingangshalle und stellte sich hinter mich, um mir die Haare neu zu richten. Sie kräuselte zwei mausbraune Strähnen über meine Schläfen.

»Streich dir nicht immer so das Haar aus dem Gesicht, Skye, Liebling«, sagte sie. »Du könntest so hübsch sein, wenn du dir nur ein bisschen Mühe geben würdest!«

Innerlich sträubte sich mir alles, aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich hatte schon Tausende solcher Bemerkungen zu hören bekommen.

Warum trägst du nicht etwas, das dir ein bisschen mehr schmeichelt?

Halte dich nicht so krumm, zieh die Schultern nach hinten und drück deine kleinen Brüste nach vorn.

Die Augen hoch, Kind! Ehrlich, wie willst du jemals einen Jungen dazu bringen, Notiz von dir zu nehmen, wenn du nie hochschaust?

Und die bissigste Bemerkung: Weißt du, Skye, ich glaube wirklich, es könnte nicht schaden, wenn du ein bisschen abnimmst.

Natürlich war Mom schon komplett geschminkt und zurechtgemacht, auch wenn es erst 7:30 Uhr war.

Um diese Uhrzeit war sie schon seit zwei Stunden auf, und in der Zeit war sie zehn Kilometer auf ihrem Laufband gelaufen, hatte 100 Sit-ups gemacht und eine 20-minütige Achtsamkeitsmeditation absolviert. Meine Mutter war 45 und hatte den Körper einer 25-Jährigen, und heute hatte sie ihre schlanke Gestalt in ein perfekt maßgeschneidertes Prada-Kleid gehüllt. Ihr langes kastanienbraunes Haar war wie immer professionell frisiert, jede Locke und Welle sorgfältig arrangiert. (Rosa, unser Hausmädchen, das bei uns im Haus wohnte, war nicht nur die persönliche Dienerin, Vertraute und Informantin meiner Mutter, sondern hatte früher als Maskenbildnerin beim Fernsehen gearbeitet, was mit Sicherheit dazu beigetragen hatte, ihr den Job zu verschaffen.)

Oh, und meine Mutter trug High Heels, sogar in unserer Wohnung zu dieser Uhrzeit.

»Skye«, dozierte sie, »es ist eine harte Wahrheit, die niemand wahrhaben will, aber du musst lernen, wie die Welt uns Frauen beurteilt: Nicht das, was wir im Kopf haben, ist wichtig; es ist die Verpackung. Was glaubst du, wie ich mir deinen Stiefvater geangelt habe?«

Durch ein kurzes, schnelles Abtauchen unter den Restauranttisch bei eurem ersten Date?, dachte ich lieblos. Ich hatte zufällig gehört, wie Mom das ihrer besten Freundin Estelle eines Abends am Telefon verriet, nachdem sie einen Cosmopolitan zu viel gehabt hatte.

Meine Mutter Deirdre Allen (geborene Billingsley, geschiedene Rogers) – einst Ballkönigin beim Debütantinnenball der Memphis Ladies Auxiliary – hatte nur einen High-School-Abschluss vorzuweisen, aber das hatte sie nicht davon abgehalten, an die Spitze der New Yorker High Society aufzusteigen und sich ein tägliches Ritual aus Shopping, Lunch, Yoga und Cocktails anzugewöhnen.

Glücklicherweise kam in dem Moment Red die Treppe herunter, gekleidet in seine Monmouth-Uniform aus Blazer, Krawatte und Hose, und fragte: »Bist du so weit, Blue?«

Ich liebte meinen Zwillingsbruder. Sein richtiger Name war Alfred, aber seit undenklichen Zeiten nannten ihn alle Red. Mit seinem sorglos zerzausten kupferfarbenen Haar und seinem Elfengesicht – das meinem sehr ähnelte – schaffte er es irgendwie, seine Privatschuluniform cool aussehen zu lassen.

Ich weiß nicht, wie er das machte.

Teufel, manchmal konnte ich nicht einmal glauben, dass er und ich denselben Mutterleib geteilt hatten.

Gerade mal zwei Minuten älter als ich, war Red all das, was ich nicht war: locker und unerschütterlich. Nichts konnte ihn aus der Fassung bringen. »Es ist dieses kleine bisschen zusätzliche Reife«, pflegte er mich zu necken. »Denn schließlich bin ich etwas älter als du.«

Er gewann leicht und mühelos neue Freunde. Man konnte Red in einen Raum voller Fremder werfen und nach 20 Minuten plauderte und lachte er mit der Hälfte von ihnen.

Ich wünschte, ich könnte das auch.

Ich fand eigentlich, dass ich ganz gut im Small Talk war und mit den meisten Leuten gut zurechtkam.

Das Problem war immer der erste Schritt.

Ich war furchtbar schüchtern, wenn ich jemandem zum ersten Mal begegnete. Ich musste erst einmal zu einer Unterhaltung hingelangen. Dann war eigentlich alles okay, aber der Anfang war mein großes Problem.

Blue war der Spitzname, den mein Dad mir gegeben hatte – mein richtiger Dad –, so wie in ›blue sky‹. (Tatsächlich konnte ich mich nicht daran erinnern, dass er jemals meinen richtigen Namen benutzt hatte.) Na, kapiert? Red und Blue – rot und blau. Und da der Vorname meines Dads Dwight war, sagte er immer: »Seht uns drei an: Red, Dwight and Blue!«

Daddy-Witze. Man hasst sie, wenn man sie jeden Tag zu hören bekommt, aber glaubt mir: Man vermisst sie, wenn er nicht mehr da ist.

Ich sagte: »So bereit, wie man nur sein kann.«

Ich befreite mich aus dem Griff meiner Mutter und machte, dass ich davonkam.

Unsere neue Schule lag direkt auf der anderen Seite des Central Park, keinen Kilometer entfernt, deshalb gingen Red und ich zu Fuß dorthin.

Ich muss zugeben, trotz all der anderen Dinge, die ich an meinem Leben hasste, mochte ich diesen Fußmarsch.

Unser Apartmenthaus lag an der Central Park West, nicht weit vom Museum für Naturkunde entfernt, und Monmouth war auf der East Side, an der Fifth Avenue in der Nähe des Metropolitan Museum, und so gingen wir die wunderschönen, von Bäumen gesäumten Wege entlang, die über die viel befahrene 79th Street Transverse und daran entlang verliefen.

Zu dieser frühen Stunde war es dort sehr beschaulich.

Nun ja, bis auf die Verrückten und die religiösen Spinner, die auf den Bürgersteigen in der Nähe solcher Knotenpunkte wie dem Met und der Haupteingänge zum Central Park mittlerweile zu einem gewohnten Anblick geworden waren mit ihren Transparenten und Bibeln.

Die fröhlicheren Bekloppten trugen Aluhüte und tanzten herum wie Idioten. Sie trugen Schilder wie:

DIESER ST.-PATRICK’S-DAY

WIRD DER BESTE ALLER ZEITEN!

DU HÄTTEST SIE UM EIN DATE BITTEN SOLLEN.

TREIBT UNZUCHT!

VERSCHLEUDERT EUER GELD!

PLÜNDERT!

NACH DEM 17. MÄRZ SPIELT ES KEINE ROLLE MEHR!

Die religiösen Spinner waren älter und ernsthafter. Sie hielten ihre Plakate schweigend und stoisch. Ihre Schilder waren weniger schillernd:

LUKAS 21, 25-26

1 JOH 5, 19

DIE GANZE WELT LIEGT IM BÖSEN!

UND ER WIRD VERNICHTEN DIE SÜNDER! JESAJA 13,9

DIES IST GOTTES RACHE DAFÜR,

DASS SCHWULE HEIRATEN DÜRFEN.

GOTT HASST HOMOS UND JUDEN.

JETZT KOMMT DIE ABRECHNUNG!

Dieser ganze St.-Patrick’s-Day-Quatsch interessierte mich nicht besonders. Die Nachrichten waren voll davon gewesen, als dieser alte Wissenschaftler vor ungefähr einem Jahr seine Ankündigung verbreitete, aber der 17. März war immer noch sieben Monate entfernt, nach dem anfänglichen Medienhype hatten die Leute sich gelangweilt abgewandt und schon bald hatte die Sache sich in die Reihe der Weltuntergangsszenarien wie Y2K, Komet Hale-Bopp oder die 2012-Apokalypse eingereiht.

Es ging vorüber.

Viele Leute, wie meine Mutter, verglichen es mit diesem verrückten Christen, der seine Anhänger dazu gebracht hatte, all ihren Besitz zu verkaufen, weil die Welt angeblich am 21. Mai 2011 untergehen werde. Als das nicht passierte, waren viele von ihnen pleite und immer noch hier.

Und so gingen Red und ich ungerührt an dieser zusammengewürfelten Gruppe von Plakatträgern vorbei und betraten unsere neue Schule, wo sich meine eigene persönliche Hölle abspielen sollte.

Schulversammlung

Die Monmouth School ist eine Villa aus dem 19. Jahrhundert, die an der Fifth Avenue liegt und früher einmal der Familie Astor gehört hat. Über dem alten Steinbogen des Eingangs hängt ein Wappen mit dem lateinischen Motto: PRIMUM, SEMPER.

An erster Stelle, immer.

Das fasst es ungefähr zusammen.

Monmouth ist keine normale High School.

Ihre Schüler sind reich. Stinkreich. Deren Eltern sind die Art von Leuten, die man bei Galaveranstaltungen im Weißen Haus sieht. In der Upper East Side von Manhattan gelegen, mit Blick über den Central Park, ist die Schule eine der exklusivsten High Schools in Amerika. Jeder, der etwas ist, will, dass seine Nachkommenschaft auf diese Schule geht, und wird alles tun, was nötig ist, damit das auch geschieht.

Aber mit einem der größten Stiftungsfonds des Landes im Rücken ist die berühmte Rektorin von Monmouth, Miss Constance Blackman – sie ist seit 20 Jahren Schulleiterin –, absolut nicht käuflich. Wie sie es formuliert: Es gibt andere Elemente, die ein Kind zu ›Monmouth-Material‹ machen.

Diese anderen Elemente können wirklich alles sein, aber normalerweise betreffen sie nicht den Schüler selbst, sondern die Familie des Schülers. Das kann ein dauerhafter Beitrag über mehrere Jahre zum kulturellen Leben von New York City sein oder das Erringen eines alten und hochgeachteten Preises (sprich: Nobel oder Pulitzer), aber im Endeffekt übertrumpft ein Faktor alle anderen:

Die Abstammung.

Als ich dorthin kam, rühmte sich die Schule vierer Schüler, die direkte Nachkommen von Mayflower-Familien waren, und dreier mit Vorfahren, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatten.

Monmouth verschmähte die Kinder moderner Prominenter und der nouveaux riches. Miss Blackman, zeit ihres Lebens unverheiratetes Fräulein mit bescheidenen Ansprüchen und einer gemütlichen kleinen Wohnung auf dem Schulgelände, war es eine reine Freude, Bestechungen abblitzen zu lassen. Berühmt war die Geschichte, wie sie einmal eine Einladung, zusammen mit einem angehenden Elternteil die Met Gala zu besuchen, mit den Worten abgelehnt hatte: »Warum um alles in der Welt sollte ich eine Veranstaltung besuchen, die von einer Zeitschrift organisiert wird?«

Ihr Job, so behauptete sie, sei ganz einfach. Er bestehe darin, Monmouths Platz an erster Stelle in der dualen Welt der Bildung und der High Society zu bewahren.

Primum, semper.

Gleichwohl gab es eine Sache an der Monmouth School, die Miss Blackman sich alle Mühe gab, nicht zu erwähnen.

Die verschwundenen Mädchen.

In den letzten zwei Jahren waren drei Schüler – alles Mädchen, alle neu an der Schule, eine im zweiten Jahrgang, eine im dritten, eine im vierten – verschwunden.

Einfach so. Puff. Spurlos verschwunden.

Auf Nimmerwiedersehen.

Da war dieses intelligente Mädchen, Trina Miller: im zweiten High-School-Jahr mit einem Punktedurchschnitt von 4,3 und einer außerordentlich glänzenden Zukunft. Sie war im Januar letzten Jahres verschwunden, nur fünf Monate, nachdem sie an der Monmouth angefangen hatte.

Und dann war da Delores Barnes, die Inklusionsschülerin. Delores war ein mondgesichtiger Engel mit Downsyndrom und Teilnehmerin des ›My Little Sister‹-Programms, eines Programms, das Schüler der Monmouth mit Kindern von nahegelegenen Sonderschulen zusammen lernen ließ.

Das Programm sollte dem Zweck dienen, den Monmouth-Schülern zu zeigen, wie gut sie es hatten, aber natürlich machten die sich darüber lustig. Trotzdem arbeiteten sie mit, um diesen unverzichtbaren ›Dienst-an-der-Allgemeinheit‹-Eintrag für ihre Collegebewerbung zu bekommen. Delores war im dritten High-School-Jahr gewesen und im Dezember letzten Jahres verschwunden.

Und schließlich war da noch das jüngste Verschwinden, das von Rebecca ›Becky‹ Taylor.

Beckys Verschwinden hatte am meisten Bestürzung hervorgerufen.

Als lebhaftes und kontaktfreudiges Mädchen war Becky innerhalb eines Jahres, nachdem sie an die Monmouth gekommen war, zu einer der beliebtesten Schülerinnen der Schule geworden. Alle waren davon ausgegangen, dass sie in diesem Schuljahr zur Schülersprecherin gewählt werden würde. Doch dann, im März, am selben Abend, als sie beim East Side Cotillion – dem exklusivsten Debütantenball in New York – zur Ballkönigin gekrönt worden war, war sie verschwunden.

Sie verschwand einfach in ihrem schneeweißen Debütantinnenkleid in die Nacht und ward nie mehr gesehen.

Als einziges der verschwundenen Mädchen hatte Becky eine Nachricht hinterlassen – eine SMS –, in der sie schrieb, dass sie sich, überfordert von dem Druck, dem sie sich ausgesetzt sah, in den Fluss stürzen werde, vermutlich mit einem Gewicht beschwert, damit man sie niemals fand.

Es schockierte viele, dass eine Schülerin, die so quirlig und beliebt war wie Becky, insgeheim Selbstmordgedanken hegte. Man kann nie wissen, hieß es. Sie wurde zum Unterrichtsstoff von Selbstachtungskursen.

Natürlich waren in allen drei Fällen das NYPD alarmiert und Ermittler darauf angesetzt worden.

Miss Blackman hatte sogar einen ehemaligen FBI-Agenten angeheuert, damit der sich der Sache annahm. Die Polizei, sagte sie, »so bewundernswert ihr Dienst an der Öffentlichkeit auch ist, schenkt dieser Aufgabe möglicherweise nicht die Zeit und Anstrengung, die ihr gebührt«. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit formulierte sie es anders: »Gewöhnliche Menschen wenden sich an die Polizei. Wir bezahlen – und bekommen – eine bessere Dienstleistung.«

Aber weder die Polizei noch der Ex-FBI-Typ fanden irgendeine Spur, die zu den verschwundenen Mädchen führte – keine Handys, keine Kleiderfetzen, keine Leichen.

Nicht das Geringste.

Der FBI-Mann ging in allen drei Fällen der Möglichkeit einer Entführung nach, aber auch das verlief im Sande.

Es sei rätselhaft, sagte er, wie in diesem Zeitalter der Überwachungskameras, von Kreditkartenaufzeichnungen und Find My iPhone diese drei Schülerinnen so spurlos vom Antlitz der Erde verschwinden konnten.

Boshafte Mädchen von benachbarten Schulen ließen keine Gelegenheit aus, die Monmouth-Schüler damit aufzuziehen, und ich hörte zum ersten Mal von dieser Verschwundene-Mädchen-Geschichte, als ich beiläufig jemandem von meiner neuen Schule erzählte.

Und als ich an meinem ersten Tag unter diesem alten Steinbogen hindurchging, war ich mir überdeutlich der Tatsache bewusst, dass ich an der Schule, an der neue Mädchen verschwanden, das neue Mädchen war.

Die 280 Schülerinnen und Schüler der Monmouth School versammelten sich in der theaterähnlichen Aula der Schule, ein Meer aus blau-grün karierten Uniformen, leise murmelnd.

Ich muss sagen, dass mir jetzt, da ich sie geballt erblickte, diese Uniformsache noch mehr gefiel, hauptsächlich deswegen, weil sie mir gestattete, anonym zu bleiben. Ich wollte nicht auffallen, und mit einer Uniform konnte ich in der Menge untertauchen.

Die Mädchen, sah ich, saßen eng in Cliquen zusammen, die sich ohne Zweifel schon vor langer Zeit gebildet hatten. Die Jungs aus der zweiten Jahrgangsstufe lümmelten in den hinteren Reihen und beobachteten die Mädchen. Lehrer standen in den Gängen an den Wänden und unterhielten sich zwanglos.

Und dann Stille – plötzlich und mächtig –, als Miss Blackman die Bühne betrat.

»Ladys und Gentlemen«, sagte sie, »willkommen zu einem wundervollen neuen Schuljahr an der Monmouth School.«

Es folgten die üblichen Plattitüden: wie privilegiert wir seien, dass wir eine so großartige Institution besuchen konnten; wie Monmouth uns zur Elite von morgen machen werde; eine Ermahnung an die Schüler des neuen Abschlussjahrgangs, sich der Verantwortung würdig zu erweisen, wie man es von ihnen erwartete; bla, bla, bla.

Und dann sagte Miss Blackman einige Dinge, die mich tatsächlich interessierten.

»Lassen Sie sich nicht von diesen Zeiten der Hysterie ablenken. Im Laufe meines Lebens habe ich viele Dummköpfe erlebt, die behaupteten, das Ende der Welt sei nahe – und ich bin immer noch hier.«

»Dieses alte Streitross könnte nicht mal eine Atombombe umbringen«, flüsterte ein hübscher Junge mit welligem blondem Haar in der Reihe hinter mir. Er kicherte. »Nach dem Atomkrieg gibt es nur noch sie und die Kakerlaken.«

Ein Lehrer, der in der Nähe stand, zischte: »Mr. Summerhays! Ruhe!«

Miss Blackman fuhr fort: »Und jetzt möchte ich den Schülersprecher und die Schülersprecherin, Mr. Bo Bradford und Miss Chastity Collins, auf die Bühne bitten, um ein paar Worte an Sie zu richten.«

Zwei Schüler der Abschlussklasse, die in der ersten Reihe saßen, standen auf und traten auf die Bühne.

Ich wollte es nicht, aber beim Anblick der beiden riss ich die Augen auf.

Sie als ›gut aussehend‹ zu bezeichnen, würde der Sache nicht einmal ansatzweise gerecht werden. Sie waren nicht nur mit guten Genen gesegnet. Nein, sie hatten mehr als das. Diese beiden High-School-Schüler waren professionell gestylt.

Der Junge füllte seinen dunkelgrünen Blazer perfekt aus.

Er schaffte es sogar, den grellen karierten Schlips scharf aussehen zu lassen. Mit seinem akkurat rasierten kantigen Kinn, seinen symmetrischen Wangenknochen und dem messerscharf gescheitelten sandfarbenen Haar sah Bo Bradford wie jemand aus, der für Harvard ruderte und in seiner Freizeit für Ralph Lauren modelte.

Ein paar Mädchen neben mir flüsterten atemlos:

»O mein Gott, er ist so heiß, dass ich kaum …«

»Er ist so eine Sahneschnitte. Ihn würde ich wirklich alles mit mir machen lassen …«

»Na, viel Glück. Er ist praktisch seit dem Kindergarten mit Misty Collins verlobt …«

Die Schülersprecherin war etwa 17 und ähnlich attraktiv und zurechtgemacht: groß und klassisch schön, mit blonden Haaren, leichten Sommersprossen, blauen Augen und einem 1000-Watt-Lächeln, das mir ein kleines bisschen zu eingeübt erschien. Ihre Schuluniform passte ihr wie angegossen, als wäre sie nach ihren exakten Maßen geschneidert worden, was sie wahrscheinlich auch war.

Sie sprach als Erste, ihre Stimme klang munter und fröhlich.

»Hi, Leute. Falls ihr mich noch nicht kennt: Ich bin Chastity.«

Ein hellhäutiges afroamerikanisches Mädchen mit einem umwerfenden bronzefarbenen Wuschelkopf, das links von mir saß, schnaubte: »Na, da haben wir doch schon die erste Falschetikettierung in diesem Schuljahr.«

»Halt die Klappe, Jenny, du Miststück«, flüsterte ein anderes Mädchen.

Das farbige Mädchen zuckte mit den Achseln. »Ich meine … Chastity? ›Keuschheit‹? Wir wissen doch alle, dass Chastity bei den Jungs nichts anbrennen lässt.«

»Ich werde dich in den Uterus boxen, Jenny«, zischte eins der anderen Mädchen.

»Das will ich sehen, Hattie.«

»Was macht dein Job, Jenny? Kellnerst du immer noch?«

»Meine Damen …«, flüsterte eine Lehrerin, die im Gang stand. »Miss Brewster. Miss Johnson. Das reicht.«

Ich war so gefesselt von der kleinen Schlacht, die auf den billigen Plätzen ausgefochten wurde, dass ich mich ganz aus Chastity Collins’ Rede ausgeklinkt hatte.

Gerade sagte sie: »… und lasst uns nicht unsere verblichene Freundin Becky Taylor vergessen. Gott schenke ihrer Seele Frieden.«

Das Mädchen namens Jenny schnaubte erneut. »Ja, Chastity sollte Gott wirklich danken. Sie wäre nicht Schülersprecherin, wenn Becky Taylor nicht vom Planeten gehüpft wäre.«

»Miss Johnson! Du meldest dich nach dieser Veranstaltung in meinem Büro!«, flüsterte die Lehrerin im Gang.

Chastity Collins fuhr fort: »… so tragisch, eine Schülerin, die so begabt und so vielversprechend war, so jung zu verlieren.« Doch dann, in einem brillanten Übergang, hellte sich ihre ›traurige Miene‹ plötzlich auf.

»Aber jetzt zu einem erfreulicheren Thema. Dieses Schuljahr verspricht eine sehr aufregende gesellschaftliche Saison zu werden. Monmouth hat nicht weniger als drei Mädchen vorzuweisen, die bei einigen der renommiertesten Debütantenbällen der Stadt debütieren werden, darunter – und verzeiht, dass ich an dieser Stelle etwas voreingenommen bin – meine Schwester Misty, die sowohl am International Debutante Ball als auch am East Side Cotillion teilnehmen wird, und das in ihrem dritten High-School-Jahr, was wirklich eine äußerst seltene Ehre ist.«

Die beiden Schülerinnen, die mit dem Mädchen namens Jenny Spitzen ausgetauscht hatten, klopften einem dritten Mädchen auf die Schultern.

Das Mädchen war eine jüngere, kompaktere Version von Chastity Collins, mit den gleichen blonden Haaren, den gleichen Sommersprossen und blauen Augen. Aber sie hatte ein härteres Gesicht, wirkte ernsthafter. Ich hatte diese Sorte schon früher gesehen. Das jüngere Geschwister des Goldkindes und – was nur es selbst wusste – zu noch Höherem berufen.

Jenny konnte sich eine Stichelei nicht verkneifen. »Lächeln, Misty. Du musst noch ein bisschen an deinem Bitchface arbeiten.«

Misty drehte sich zu Jenny um und bedachte sie mit etwas, das man nur als gewinnendes Lächeln bezeichnen konnte.

»Vielen Dank, Jenny, ich weiß den Rat zu schätzen«, sagte sie.

Ich sah, wie Jenny für eine Mikrosekunde die Stirn runzelte, leicht aus dem Konzept gebracht, weil ihr Spott Misty nicht getroffen hatte.

Innerhalb weniger Minuten hatte ich eine spöttische Bemerkung über Nuttigkeit, einen angedrohten Boxhieb in den Uterus, etwas pseudobescheidene Prahlerei der Schülersprecherin über den sozialen Status der Schule und eine Dosis guter alter passiv-aggressiver Mädchengemeinheit von Misty miterlebt. Schule, so sinnierte ich traurig, blieb Schule, so hoch das Schulgeld auch sein mochte.

Kurz darauf beendete Chastity ihre Rede und der gut aussehende Schülersprecher erzählte irgendwelches Blech. Dann übernahm Miss Blackman wieder das Mikrofon und ging ein paar administrative Dinge durch, und ich schaltete mehr oder weniger ab, bis sie etwas sagte, das mir das Blut gefrieren ließ.

»… freue ich mich, zwei neue Schüler der dritten Jahrgangsstufe begrüßen zu dürfen, die aus Memphis, Tennessee, zu uns gekommen sind …«

O Gott, nein!

»… Mr. Alfred und Miss Skye Rogers …«

Als ich meinen Namen durch die Aula hallen hörte, sank ich auf meinem Stuhl zusammen. Am liebsten hätte ich mich in eine Ecke verkrochen und wäre gestorben.

Bitte zwing uns nicht aufzustehen. Bitte nicht. Bitte nicht.

Miss Blackman lächelte Red und mich freundlich an. »Ich möchte Sie bitten, kurz zu mir auf die Bühne zu kommen, damit wir alle einen Blick auf Sie werfen können.«

Natürlich sprang Red sofort von seinem Platz auf und eilte auf die Bühne, um fröhlich der versammelten Schülerschaft zuzuwinken.

Ich schob mich aus meiner Reihe und schlurfte die Stufen hinauf, den Kopf gesenkt, die Schultern hängend, um eine so kleine Silhouette wie möglich abzugeben.

Und dann stolperte ich über die oberste Stufe und fiel vornüber auf die Bühne wie der größte Tollpatsch in ganz Amerika.

Red – Gott segne ihn – fing mich Zentimeter über dem Boden auf, aber der Schaden war schon angerichtet.

Ein Kichern wanderte durch das Publikum.

Knallrot vor Demütigung rappelte ich mich wieder auf und begrüßte das Publikum mit einem schwachen Nicken.

Miss Blackman bedeutete uns, die Bühne wieder zu verlassen, und ich war weg wie der Blitz.

Als ich meinen Platz wieder einnahm, hörte ich sie:

»Hast du gesehen, wie sie gestolpert ist? Wie peinlich …«

»O mein Gott, ich glaube, ich wäre gestorben …«

Und dann eine Stimme direkt hinter mir: »Netter Gesichtsklatscher, Memphis.«

Weiteres Kichern.

Verdammt, ich hasse Mädchen.

Die Versammlung endete.

Und als ich zusah, wie meine Mitschüler den Saal verließen, plaudernd und lärmend, sich abklatschend und mit dem Finger zeigend, da dachte ich: Auch in einer karierten Uniform ist die Schule ein Dschungel.

Das nahende Ende

Ich sollte vielleicht diese St.-Patrick’s-Day-Geschichte erklären, von der schon die Rede war.

Kurz gesagt: Keiner wusste so recht, was er davon halten sollte.

Alles hatte letzten August begonnen, als ein alternder Wissenschaftler vom Caltech namens Dr. Harold Finkelstein einen Artikel in einer akademischen Zeitschrift, die Astrophysical Journal hieß, veröffentlicht hatte, in dem er ein Phänomen beschrieb, das er im Weltraum entdeckt hatte.

Er nannte es eine Wolke aus hoch verdichteter ultrakurzwellenionisierter Gammastrahlung, was die Medien schnell als ›Gammawolke‹ abkürzten.

Im Prinzip war es eine Wolke aus elektromagnetischer Energie, die unser Sonnensystem durchquerte. Als Dr. Finkelstein sie entdeckte, passierte sie gerade den Jupiter, und seinen Berechnungen zufolge würde die Erde – auf ihrem Weg um die Sonne – am 17. März des nächsten Jahres durch die Wolke hindurchfliegen.

Und das, was mit der Erde und allem darauf geschehen würde, wenn dieses Ereignis eintrat, wurde schon bald zum Thema hitziger Debatten in der wissenschaftlichen Welt, in Fernsehtalkshows und bei der allgemeinen Bevölkerung.

Denn Finkelstein vertrat die Ansicht, dass es zu einem globalen Massensterben kommen werde.

Und es würde nicht schön werden. Es würden 24 Stunden des Grauens und des Elends werden.

Denn Gammastrahlung war nicht sehr freundlich zum empfindlichen menschlichen Körper. Sie würde ihm auf drastische Weise schaden.

Der Elektromagnetismus der Wolke werde die Menschheit praktisch ausrotten, meinte Finkelstein.

Fast jede Zelle in unserem Körper stützt sich auf elektrische Impulse, um zu überleben. Das menschliche Gehirn verwendet Elektrizität, um Signale an den Rest des Körpers zu senden. Getroffen von der Gammawolke, würde das Gehirn eines Menschen ausbrennen und der Mensch würde praktisch auf der Stelle tot umfallen.

Das werde 99,5 % der Weltbevölkerung umbringen.

Aber die Gammawolke war, so Finkelstein, nicht überall von gleicher Dichte und Intensität; an manchen Stellen war sie intensiver, an anderen schwächer.

Das bedeutete, dass verschiedene Orte auf der Erde unterschiedlich stark betroffen sein würden, was wiederum hieß, dass manche Menschen – weil sie von weniger starker Gammastrahlung getroffen wurden oder vielleicht auch eine höhere natürliche Resistenz dagegen besaßen – die Todeswelle, die über den Planeten schwappte, überleben würden.

Aber diese Überlebenden würden keinen besonders lebensfreundlichen Planeten erben.

Denn die gleichen elektromagnetischen Kräfte, die die Gehirne der meisten Menschen auf der Erde rösten würden, würden auch eine verheerende Wirkung auf jeden elektrischen Schaltkreis auf dem Planeten haben.

Kurz gesagt, die Gammawolke werde dazu führen, dass alle elektrischen Geräte – Fernseher, Computer, Lampen, Kraftwerke – durchbrannten. Die Menschheit werde in die Steinzeit zurückkatapultiert.

Es war alles ziemlich düsteres Zeug.

24 Stunden Tod und Leiden und der Untergang der Zivilisation, wie wir sie kannten – das war der Grund, weshalb all die Verrückten, religiöse und sonstige, so aus dem Häuschen waren.

Natürlich waren die Medien voll darauf angesprungen.

Die Late-Night-Comedians waren in ihrem Element – vor allem bei dem Datum, das Finkelstein für die nahende Apokalypse genannt hatte: der 17. März, St. Patrick’s Day. Es war eine irische Verschwörung, witzelte Stephen Colbert, um den Iren eine Gelegenheit zu geben, mehr Bier zu trinken.

Jede Talkshow präsentierte einen Experten, meist Astrophysiker von überall auf der Welt, die ihre Teleskope in den Himmel gerichtet hatten. Viele gaben Finkelstein recht, aber fast genauso viele waren anderer Meinung.

Und selbst die, die ihm zustimmten, argumentierten, dass die Wolke uns genauso gut verfehlen konnte. Bei Kometen geschah das ständig.

Aber Dr. Finkelstein beharrte hartnäckig darauf, dass seine Berechnungen korrekt seien.

Und natürlich geriet der 72-jährige Wissenschaftler selbst ins Visier einer gründlichen privaten und beruflichen Durchleuchtung.

Jeder Aufsatz und jeder Artikel, den er jemals verfasst hatte, wurde seziert. Ein Plagiatsvorwurf aus seiner Studentenzeit vor 50 Jahren wurde ausgegraben. Sogar einen Vorwurf der sexuellen Belästigung – er war freigesprochen worden – fand man.

Rivalisierende Astrophysiker warfen ihm vor, nur ein verbitterter alter Mann zu sein, der im Herbst seiner Karriere verzweifelt nach Aufmerksamkeit heischte.

Und dann, vielleicht wegen der intensiven Medienaufmerksamkeit und der Spekulationen, tat Dr. Harold Finkelstein etwas vollkommen Unerwartetes.

Er starb.

Er hatte gerade ein Interview mit George Stephanopoulos in Good Morning America beendet und nahm sein Knopflochmikrofon ab, als er sich plötzlich an die Brust fasste, sein Gesicht zu einer Maske des Schmerzes verzerrte und auf dem Studioboden zusammenbrach. Ein tödlicher Herzanfall.

Die Kameras verpassten seinen Sturz, aber die Bilder von ihm, auf dem Boden des Studios liegend, gingen innerhalb von Minuten um die Welt.

Und als nun der Hauptverfechter der Weltuntergangstheorie tot war und genügend Gegenstimmen an seine Stelle traten, geriet die Theorie nach und nach aus dem Rampenlicht der Medien und sank zu einer bloßen weiteren Spinnertheorie herab, und – abgesehen von den Aluhutträgern und religiösen Endzeitpropheten – die Welt drehte sich weiter.

Zumindest bis der 17. März in Sichtweite kam, und dann begannen die Leute wieder darüber zu reden, nur für den Fall, dass Finkelstein doch recht gehabt hatte.

Meine eigenen Gefühle, das Ende der Welt betreffend, waren gemischt.

War da etwas dran? Oder war es nur Schwachsinn? Nachdem die Medien es vorwärts und rückwärts durchgekaut hatten, wusste der Normalbürger nicht mehr, was er denken sollte. Wenn die New York Times einem vorschlägt, alle Möglichkeiten abzuwägen, und der National Enquirer rät, einen unterirdischen Bunker zu kaufen und die Wände mit 30 Zentimeter dickem Blei auszukleiden – wem will man glauben?

Wie die meisten Leute neigte ich eher zur Wird-schon-alles-gut-gehen-Seite, bis ich mit meinem Dad darüber redete – also meinem richtigen Dad.

Dr. Dwight R. Rogers war früher Dekan der medizinischen Fakultät an der Universität von Tennessee gewesen – sein Fachgebiet: Nuklearmedizin – und bei meinem letzten Besuch in Memphis hatte er mir erzählt, dass er sich Finkelsteins Arbeit angesehen hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass der Mann kein Spinner gewesen war. Er hatte recht.

Dad sagte mir, dass man den Flug durch die Gammawolke überleben konnte, wenn man sich innerhalb einer Kammer mit Vakuumwänden befand oder wenn man ein auf natürliche oder künstliche Weise verstärktes Immunsystem besaß, das die elektrische Leitfähigkeit des Körpers schützte, vor allem im Gehirn.

»Beschafft euch Kalzium und Phosphor«, riet er mir in seiner ultrapräzisen, ernsthaften Weise. »Sie sind unerlässlich für die Nervenimpulsübertragung im Körper und im Gehirn, was genau das ist, was die Gammastrahlung stört. Aber hauptsächlich Kalzium, nicht zu viel Phosphor. Vollmilch, Joghurt, Sardinen – jaja, jede Menge Sardinen – und alle Kalziumpräparate, die ihr in einer Apotheke finden könnt. Haltet euch mit kohlensäurehaltigen Getränken zurück, denn das hemmt die Kalziumaufnahme. Und versucht, irgendwelche antipsychotischen Medikamente zu bekommen, solche Sachen wie Risperdal oder Zyprexa, die auf die Neurotransmitter wirken. ADHS-Medikamente oder Antidepressiva gehen auch.«

Er fing an zu plappern, sein Gehirn arbeitete schneller als sein Mund, wie so oft. Ich nickte nur ermutigend.

Neben mir verdrehte Red die Augen.

Er war ein wundervoller Mann, mein Dad, und wirklich brillant – bis zu seinem Nervenzusammenbruch.

Ich verstand Reds Gesichtspunkt: Es ist schwer, einen Rat zum Überleben des Weltuntergangs von jemandem anzunehmen, der in einer Nervenheilanstalt in Memphis, Tennessee, sitzt.