Der Autor

Omri  Boehm  – Foto © Neda Navaee

Omri Boehm, geboren 1979 in Haifa, studierte in Tel Aviv und diente beim israelischen Geheimdienst Shin Bet. In Yale promovierte er über Kants Kritik an Spinoza, heute lehrt er als Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u.a. in München und Berlin geforscht und schreibt über israelische Politik in Haaretz, Die Zeit und The New York Times.
»Omri Boehm ist der bedeutendste Intellektuelle aus der ›israelischen Diaspora‹ in Europa und den USA. Sein Blick verfügt über die Schärfe des Fremden und das Mitgefühl des Zugehörigen. Dieser Doppelcharakter verleiht seiner Position ungewöhnliche moralische Kraft und gedankliche Klarheit.«
Eva Illouz

Omri Boehm

Israel - eine Utopie

Aus dem Englischen
von Michael Adrian

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de

Die Originalausgabe erscheint 2020 unter dem Titel
A Future for Israel: Beyond the Two-State Solution
bei New York Review Books, New York.
Die deutsche Übersetzung verwendet wechselweise die weibliche und männliche Form; gelegentlich werden auch beide Geschlechter benannt.

Propyläen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH
www.propylaeen-verlag.de

© Omri Boehm 2020
© der deutschsprachigen Ausgabe
2020 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Grafik-Design Büro Morian & Bayer-Eynck
Autorenfoto: © Neda Navaee
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN: 978-3-8437-2272-8

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Widmung

Für Inbal

Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen
Theodor Herzl

Vorwort
zur deutschen Ausgabe

Schweigen ermutigt den Folterknecht,
niemals den Gefolterten.
Elie Wiesel

In einem ausführlichen Interview, das Jürgen Habermas im Dezember 2012, als er die erste jährliche Martin-Buber-Vorlesung in Jerusalem hielt, der israelischen Tageszeitung Haaretz gab, wurde er auch nach seiner Meinung zur israelischen Politik gefragt. Er antwortete, dass zwar »die gegenwärtige Lage und die Grundsätze der israelischen Regierung« eine »politische Bewertung« erforderten, diese aber nicht »Sache eines privaten deutschen Bürgers meiner Generation« sei.1

Dass deutsche Intellektuelle nicht gern über Israel sprechen, ist natürlich verständlich. Sich in diesem Fall eines Kommentars zu enthalten wird vielen vor dem Hintergrund des Holocausts nur als angemessene Reaktion erscheinen. Ganz offensichtlich steht Habermas’ Schweigen für das zahlloser anderer deutscher Intellektueller, darunter auch Angehörige jüngerer Generationen. Und doch ist das Problem mit dieser Antwort und der Haltung, die sich hinter ihr verbirgt, dass Habermas nur schwerlich als ein deutscher Privatbürger zu bezeichnen sein dürfte. Wenn sich der öffentliche Intellektuelle schlechthin in die Privatsphäre flüchtet, wenn sich der Begründer einer Philosophie namens Diskursethik weigert, etwas zu sagen, dann hat das theoretische und politische Konsequenzen. Schweigen ist hier selbst ein Sprechakt, und zwar ein höchst öffentlicher.

Um die Bedeutung dieses Schweigens zu verstehen, müssen wir uns auf Kants Begriff der Aufklärung zurückbesinnen. In seinem berühmten, 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Aufsatz »Was ist Aufklärung?« definiert Kant diese als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«: ein Prozess des Erwachsenwerdens, der darin besteht, den »Mut« zu finden, sich seines »eigenen Verstandes zu bedienen«. Anders als es scheinen mag, ist der »Selbstdenkende« aber nicht in einem privaten Monolog begriffen, in einem inneren Zwiegespräch mit sich selbst. Im Gegenteil, Kant legt großen Wert darauf, dass solches Selbstdenken jemandem nur durch »den öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft«2 möglich wird, und zwar auf mindestens zwei miteinander zusammenhängende Weisen: Um sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um selbst zu denken, muss man erstens versuchen, über die Perspektive der privaten – persönlichen, historischen, beruflichen, bürgerlichen – Verpflichtungen hinauszuschauen und von dem kosmopolitischen »allgemeinen Standpunkte« aus zu urteilen. In Kants Worten: »an der Stelle jedes anderen denken«.3 Zweitens – und hiermit eng verbunden – können wir nur selbst denken, wenn wir es laut tun. Wir würden nicht sehr »viel« und nicht mit großer »Richtigkeit« denken, sagt Kant, wenn wir nicht »gleichsam in Gemeinschaft mit andern, denen wir unsere und die uns ihre Gedanken mitteilen, dächten«. Die Möglichkeit, unsere private Perspektive zu überwinden, hängt somit davon ab, ob wir unsere Meinungen »dem ganzen Publikum der Leserwelt« zur Beurteilung vorlegen4 – um durch die öffentliche Debatte eine Verständigung der »allgemeine[n] Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat«, zu erzielen.5 Adorno bringt diese kantische Auffassung in einer Vorlesung von 1959 auf den Punkt, wenn er schreibt, Aufklärung bestehe darin, »jenes fatale ›als‹« zurückzuweisen, jenes bedenkliche Wort, dem wir begegnen, »wenn etwa Menschen in Diskussionen sagen: ›ich als Deutscher kann das und das nicht akzeptieren‹, oder: ›ich als Christ muß mich in dieser Sache so und so verhalten‹«.6

Man übersieht meist die Konsequenzen, die diese Grundeinstellung für die israelisch-deutschen Beziehungen hat. Ein Deutscher, der in Bezug auf die israelische Politik Selbstzensur übt – der also den privaten Verpflichtungen treu bleibt, die sich aus der deutschen Vergangenheit ergeben –, weigert sich, den Standpunkt der Aufklärung einzunehmen, sobald er sich mit jüdischen Angelegenheiten beschäftigt. Er weigert sich buchstäblich, selbst zu denken. Eine solche Position würden die meisten deutschen Intellektuellen sicherlich nur ungern vertreten; und es wäre ein Fehler – der eine Freud’sche Analyse lohnen würde –, wollte man behaupten, im Fall einer Deutschen, die einen Juden kritisiert, sollte man sinnvollerweise eine Ausnahme von der aufklärerischen Grundeinstellung machen. Gerade weil das aufklärerische Denken seit seinen frühesten Anfängen vom Antisemitismus heimgesucht wurde – insbesondere aufgrund seiner permanenten Versuchung, Juden als ein mythisches »Anderes« zu behandeln –, läuft die Unterdrückung öffentlicher Kritik am jüdischen Staat Gefahr, in eine vertraute Falle zu gehen. Die Aufgabe der deutschen Intellektuellen besteht wegen und nicht trotz der deutschen Geschichte darin, sich mit Israel im Forum der öffentlichen rationalen Diskussion auseinanderzusetzen, und gerade nicht darin, es in irgendeine metaphysische Sphäre auszulagern, von der man nicht sprechen kann und über die man schweigen muss.

Der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik kommentierte eine frühere Fassung dieser Argumentation, die in der New York Times erschienen ist, mit den Worten: »An dieser Stelle ist Boehm zu korrigieren. Tatsächlich war auch der Aufklärer Kant von Antisemitismus nicht frei, tatsächlich waren auch andere Aufklärer seit Voltaire glühende Antisemiten.«7 Dieser Einwand scheint mir auf einem Missverständnis zu beruhen, denn ich stimme mit Brumlik an dieser Stelle völlig überein. Kants eigenes Denken – das der Privatperson, nicht seine Philosophie – war selbst mit Antisemitismus infiziert, aber genau das ist ja der Punkt: Er und andere Aufklärer neigten dazu, couragiert für einen aufklärerischen Universalismus einzutreten, dann aber die Juden als ein diesem Universalismus fremdes Element und damit als das »Andere« der Aufklärung zu denken. Das ist die Falle, von der ich spreche, und man sollte nicht ein zweites Mal hineintappen, indem man eine allgemeingültige Ethik formuliert und dann die Juden als Ausnahme behandelt. Tatsächlich wird dies nirgendwo deutlicher als in Habermas’ Denken selbst. Er entwickelte die Diskursethik in einer heroischen intellektuellen Anstrengung, um das aufklärerische Denken aus den Ruinen des Dritten Reiches zu bergen – um in Reaktion auf Heideggers Vorstellungen von privater Authentizität Kants Ideal des öffentlichen, universalistischen Räsonierens zu retten. Diese Rückkehr zu Kant wird nicht vollendet werden können, wenn die deutschen Intellektuellen nicht den Mut finden, aufrichtig über Israel nachzudenken und zu sprechen. Gerade wegen der historischen Beziehung zwischen dem Denken der Aufklärung und dem Antisemitismus stellt sich dies als ultimativer Test für das aufgeklärte Denken selbst dar.

Michel Foucault definierte den griechischen Ausdruck »Parrhesia« mit leicht kantianischem Einschlag als den Mut, »der Macht die Wahrheit zu sagen«. Die Gefahr, die damit verbunden ist, seine Pflicht als Intellektueller zu tun, indem man gegenüber einem Tyrannen oder Souverän nicht schweigt, kalkulierte er ein. Foucault übersah allerdings, dass sich die frühesten und tiefsten Ursprünge dieser Tradition nicht im griechischen Denken oder in der kantischen Aufklärung finden, sondern in der jüdischen Religion. In der hebräischen Bibel beweisen die Propheten ihre Tugend, der Macht die Wahrheit zu sagen, nicht gegenüber einem irdischen König, sondern gegenüber Gott. Abraham führt uns eine solche radikale Parrhesia am Beispiel von Sodom und Gomorra vor. Als er erfährt, dass Gott Sodom zerstören will, tritt Abraham zu Gott »herzu« und stellt dessen Entscheidung infrage: »Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? […] Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten mit dem Gottlosen, sodass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose! Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht richten?« (1. Mose 18, 23–25) Dass dies bewusst als eine Theologie der Parrhesia gedacht ist, wird zwei Sätze später deutlich, wenn Abraham betont, dass er genau um seine prekäre Position weiß: »Ach siehe, ich habe mich unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin.« (1. Mose 18, 27)8

Tatsächlich kann der Gedanke, der Macht die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, in einem sehr weiten Sinne verstanden werden: In Ausübung der Parrhesia sollte man das Risiko eingehen, gegenüber der Autorität seiner eigenen Geschichte und seiner ureigensten Überzeugungen die Wahrheit zu sagen – in Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Eindringlich hat die Soziologin Eva Illouz diese Vorstellung im Hinblick auf die komplizierte Situation reflektiert, in der sich jüdische und israelische Intellektuelle befinden: Sie sagen nicht bloß der Macht die Wahrheit, sondern auch Opfern und ihren Erben; und sie tun dies in einer Tradition, die jahrtausendelang weder über Souveränität noch über Macht gebot – und Solidarität an ihre Stelle setzte. Dementsprechend ist es trotz der tiefen jüdischen Wurzeln der Parrhesia fast ein Ding der Unmöglichkeit, diese Tugend im gegenwärtigen jüdischen Leben zu üben: Nicht mit einem Souverän oder einem Tyrannen droht sie zu brechen, sondern mit der eigenen Gruppe; einer Gruppe, die ihrem Selbstverständnis nach immer noch auf die Solidarität der Opfer angewiesen ist.9

Doch kann die Parrhesia sogar noch beunruhigender und gefährlicher werden, wenn man sich in die Lage eines deutschen Intellektuellen versetzt, der die jüdische Politik kritisiert. Manch einer befürchtet, geächtet und zensiert zu werden oder sogar seine Stelle zu verlieren – das Schicksal des im Juni 2019 zurückgetretenen Direktors des Jüdischen Museums Berlin ist noch nicht vergessen. Solcherlei Befürchtungen sind dabei nicht einmal die schlimmsten. Das Streben nach unbedingter Solidarität mit den jüdischen Überlebenden des Holocausts und ihren Erben reicht tiefer. Und eine Deutsche, die die jüdische Politik kritisiert, muss sich eine noch schmerzlichere Frage stellen: Sage ich der Macht die Wahrheit, oder stelle ich in Wirklichkeit das Opfer als die Macht dar, die es zu kritisieren gilt, und folge damit einer vertrauten Logik, die von den bekannten antisemitischen Verschwörungstheorien angesteckt ist?

Das alles sind wichtige und folgenschwere Sorgen, und es gibt nur eine mögliche, vernünftige Antwort auf sie: Äußert eure Kritik, sagt, was ihr denkt, kritisiert und lasst euch kritisieren. Lasst das Licht der öffentlichen Debatte dazu beitragen, ein rationales Urteil über den jüdischen Staat zu fällen. Es nicht zu tun, macht den Juden zum gefährlichen Anderen; die Angst, kritisiert zu werden, ist bereits mit dem Mythos von der jüdischen Macht behaftet. Nur eine vernünftige Perspektive auf den jüdischen Staat in einer Öffentlichkeit, die diesen Staat als normalen Gegenstand einer Debatte behandelt, kann den Antisemitismus überwinden. Aus dieser Perspektive wäre die einzig akzeptable Antwort, die ein Habermas der Haaretz hätte geben können, diese gewesen: Als deutscher Staatsbürger meiner Generation habe ich Folgendes zu sagen …

Wie lagen nun die Dinge im Fall von Günter Grass’ berüchtigtem Gedicht »Was gesagt werden muss«? »Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes« [gemeint ist die mutmaßliche Existenz von Atomwaffen in Israel], schreibt Grass, »dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, / empfinde ich als belastende Lüge  und Zwang […].« Und er fährt fort: »Jetzt aber, weil aus meinem Land, / das von ureigenen Verbrechen, / die ohne Vergleich sind, / Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, / […] / ein weiteres U-Boot nach Israel / geliefert werden soll, […] / sage ich, was gesagt werden muß.«10

Im Haaretz-Interview nach Grass gefragt, antwortet Habermas, er könne keine »plausible Entschuldigung« für ein solches Verhalten sehen. »Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass Günter Grass kein Antisemit ist«, betont Habermas, »aber«, wiederholt er seine frühere Aussage, »es gibt Dinge, die Deutsche unserer Generation nicht sagen sollten«.

Damit macht er es Grass wohl zu leicht. Trotz seines Titels »Was gesagt werden muss« sagt das Gedicht so gut wie nichts über Israel. Besorgniserregend an Grass’ Intervention ist nicht ihr Inhalt, sondern ihre Form: Das Gedicht beklagt ein Schweigen, hat aber nichts zu bieten, das dieses Schweigen brechen könnte. Grass verurteilt die Selbstzensur derer, die befürchten, als Antisemiten bezeichnet zu werden, hat aber nicht den Mut, den jüdischen Staat mit den freimütigen Mitteln einer normalen Diskussion zu thematisieren. Das Ergebnis ist als Kritik an Israel völlig ungeeignet, verbreitet jedoch kräftig Ressentiments. Damit möchte ich keinesfalls bestreiten, dass Kunst einen Beitrag zum öffentlichen Nachdenken leisten kann – »Was gesagt werden muss« ist allerdings nicht Grass’ bedeutendste künstlerische Leistung. Habermas’ Schweigen über Israel ist nicht nur kritischer, sondern auch poetischer.

Unter den gegenwärtigen Umständen ist der Preis des Schweigens hoch. Nach dreiundfünfzig Jahren militärischer Besatzung und einer zehnjährigen Blockade des Gazastreifens, die von periodischen Luftangriffen begleitet wird –ohne dass irgendwelche Pläne für eine Veränderung zum Besseren zu erkennen wären –, machen sich deutsche Intellektuelle, die sich weigern, das Wort zu ergreifen, de facto diverse Annahmen zu eigen, die sie eigentlich entschieden ablehnen sollten. Zum Beispiel die, dass die deutsche Geschichte sie den – vom Staate Israel repräsentierten – Juden gegenüber verpflichte und nicht dem universalen Humanismus. Es gibt eine vernünftige Entgegnung auf diese Behauptung, nämlich dass die Deutschen beidem verpflichtet sind und dass darin kein Widerspruch liegt. Dieser grundsoliden Überzeugung jedoch kann man sich guten Gewissens nur anschließen, wenn man Israels massive Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte verurteilt und zugleich darauf besteht, dass einzig und allein die Verteidigung des universalen Humanismus Minderheiten schützen kann – einschließlich der Juden. Während sich Israels Politik und Vorgehensweise zunehmend radikalisieren und seine stramm rechten Führer Bündnisse mit Donald Trump und europäischen Neofaschisten eingehen, ja während Europa an der Unterscheidung zwischen Antisemitismus und Israelkritik langsam verrückt wird, entzieht sich Deutschland nicht nur seiner Verantwortung, wenn es nicht auf den schieren, gleichen, humanistischen Grundsätzen besteht und auch Juden in deren Namen kritisiert. Es konterkariert darüber hinaus auch die politische Bedeutung des Holocausts.

Nehmen wir nur den Gedanken – der auch jenseits antideutscher Kreise verbreitet ist –, dass die jüdische Politik bedingungslos zu unterstützen sei. Der Politikwissenschaftler Stephan Grigat kleidet ihn in die verdrehte kantianische Formel eines »materialistisch zu interpretierenden zionistischen kategorischen Imperativs«. Dessen zentrale Maxime verlange, »alles zu tun, um die Möglichkeiten reagierender und präventiver Selbstverteidigung des Staates der Shoahüberlebenden aufrecht zu erhalten«.11

Ein »zionistischer kategorischer Imperativ« ist nicht nur eine widersinnige Idee; er ist eine beschämende Entstellung des humanistischen Denkens, angeblich den Juden zuliebe. Was sich als unbedingte Solidarität mit den Juden ausgibt, ist in Wirklichkeit Verrat an ihnen – weil es sie von der Teilhabe an der gemeinsamen Menschlichkeit ausschließt. Wenn Kants kategorischer Imperativ, die Krönung des humanistischen Denkens, bestimmt, dass Menschen an sich immer als »Zwecke« – nie bloß als »Mittel« – behandelt werden sollen, dann stellt dieser angebliche »zionistische kategorische Imperativ« Juden als Wesen dar, die über dem Rest der Menschheit stehen. Nach diesem Grundsatz werden die jüdische Politik und Macht (»Möglichkeiten reagierender und präventiver Selbstverteidigung«) zu einem unbedingten, kategorischen Zweck; daraus folgt, dass es in Ordnung sei, Nichtjuden als bloße Mittel zu behandeln – im Dienst des unbedingten Zwecks der jüdischen Politik. Juden sollten einen solchen Grundsatz energisch zurückweisen. Allzu leicht schließt er im Übrigen an die schlimmsten antisemitischen Verschwörungstheorien an.

2014 prüfte und verwarf die Studierendenvertretung einer Londoner Universität den Vorschlag eines HolocaustGedenkens mit dem Argument, ein solches Gedenken sei zu »eurozentrisch« und »kolonialistisch«. Wie berichtet wurde, hatte ein jüngerer Student, der Nachkomme eines Wehrmachtsoffiziers, den Vorschlag unterbreitet und auch als einziger unterstützt – die Abstimmung ging sechzig zu eins aus.12 Es ist kaum zu bezweifeln, dass dieses Resultat auch auf Denkverweigerung und Antisemitismus beruht, doch wäre es kurzsichtig und verfehlt, es allein darauf zu reduzieren. In Zeiten, da Israels Botschafter in Deutschland die öffentliche Meinung mit der Behauptung zu manipulieren versuchte, in Berlin würden »Juden verfolgt wie 1938«, schlimmer noch, in Zeiten, da der Friedensnobelpreisträger und engagierte Holocaust-Zeuge Elie Wiesel als Vorsitzender der mächtigsten Siedlerorganisation Israels diente, begehen jene, die sich dem Holocaust-Gedenken verweigern, weil dies zu »kolonialistisch« sei, einen gefährlichen Fehler – sie sind aber nicht bloß irrational oder antisemitisch.

Die deutschen Intellektuellen sollten sich sicherlich an einer kommunikativen Anstrengung beteiligen, diesen Fehler zu korrigieren. Wenn sie sich aber weigern, die Wahrheit über Israel zu sagen, dann können sie gar nicht erst mitreden. Man kann sich in diese öffentliche Diskussion beim besten Willen nicht einbringen, ohne zugleich zu einer Reihe von Punkten Stellung zu beziehen: zur »Nakba« (also zur Vertreibung von Palästinensern im Zuge der israelischen Staatsgründung), zum Recht der Palästinenser auf Rückkehr, zu den Bombenangriffen auf Gaza und grundsätzlichen Fragen wie der, ob ein explizit jüdischer Staat wirklich eine liberale Demokratie sein kann. Wer Israel aus Verantwortung für die deutsche Vergangenheit nicht kritisieren will, kann auch nicht gegen jene argumentieren, die sich dem Holocaust-Gedenken aufgrund ihrer Verpflichtung auf universale Menschenrechte verweigern.

Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf BDS. Der Bewegung »Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegen Israel« ist es in den vergangenen Jahren mit einigem Erfolg gelungen, einen intellektuellen Boykott über Israel zu verhängen. Zu denen, die ihre Beziehungen zu Israel oder israelischen Institutionen eingefroren haben, gehören die American Studies Organisation, Wissenschaftler wie Judith Butler und Künstler wie Emma Thompson, Annie Lennox oder Jean-Luc Godard. Man möchte meinen, die deutschen Intellektuellen müssten sich davon zu einer Reaktion herausgefordert fühlen, doch eine klare Haltung ist von ihnen nicht zu erwarten. Und so wurde die Auseinandersetzung um BDS überwiegend als Schreiduell zwischen Israel-Liebhabern und Israel-Hassern geführt, während die besonnene Mitte das Schweigen wahrte oder allenfalls Petitionen unterzeichnete. Man kann nicht rational über den Boykott Israels diskutieren, ohne zugleich in einer ganzen Reihe von Punkten Farbe zu bekennen. Dazu gehört die Gründung einer Forschungsuniversität auf besetztem palästinensischem Territorium genauso wie die Frage, ob Israel nicht ein Staat »all seiner Bürgerinnen und Bürger« sein sollte, aber auch der Vergleich zwischen der südafrikanischen Apartheid und Israels dualem Rechtssystem im Westjordanland – einem für die Juden, einem für die Palästinenser. Kurz gesagt: Schweigen und Selbstzensur konterkarieren sich selbst. Man wollte schweigen, weil man sich als Deutscher der historischen Erfahrung des Holocausts verpflichtet fühlt, doch zwingt einen dieses Schweigen dazu, eine gleichgelagerte Verpflichtung zu missachten. Die Logik der Selbstzensur in Bezug auf Israel ist dieselbe wie die der BDS-Bewegung: Die Weigerung, offen über Israel zu sprechen, gleicht dem Boykott der Israelis. Die Weigerung, die Wahrheit über jemanden oder zu jemandem zu sagen, ist gleichbedeutend mit der Weigerung, einen echten Dialog mit ihm zu führen.

1964 erhielt Hannah Arendt Hans Magnus Enzensbergers Politik und Verbrechen zur Besprechung zugeschickt. Sie las das Buch »mit ausgesprochenem Vergnügen«, wie sie später schrieb, und war von seinem Verfasser sichtlich beeindruckt. Sie wandte sich aber entschieden gegen Enzensbergers These, Auschwitz habe »die Wurzeln aller bisherigen Politik bloßgelegt«. So etwas zu behaupten, protestierte sie, »das ist wie: das ganze Menschengeschlecht ist schuldig. Und wo alle schuldig sind, hat keiner Schuld. […] Wenn ein Deutscher das schreibt, ist es bedenklich. Es heißt: nicht unsere Väter, sondern alle Menschen haben das Unglück angerichtet« (meine Hervorhebung).13

Enzensbergers Antwort verdient unsere Aufmerksamkeit. Unmissverständlich hält er fest: »Die Deutschen und nur die Deutschen sind an Auschwitz schuld.« Arendts »argumentum ad nationem« allerdings weist er nachdrücklich zurück. Ein Satz könne nicht »bedenklicher werden, als er ohnedies ist, dadurch daß ihn ein Deutscher […] geschrieben hat«, wendet er ein. »Er ist bedenklich, oder er ist es nicht.« In einer Passage, die Habermasianern zusagen dürfte, erklärt er, Arendts auf die Nationalität bezogenes Argument betreffe »nicht das Gespräch selber, sondern seine Voraussetzungen«:


Ohne ein Minimum von Vertrauen ist kein Dialog möglich. Vertrauen aber ist etwas, was nur geschenkt werden kann. Das argumentum ad nationem nimmt dieses Geschenk zurück und macht das Zwiegespräch zum Monolog; denn wie soll einer mitreden, dessen Worte jederzeit untergehen in seiner Herkunft? Alles, was er sagt, wird dann zum bloßen Appendix seiner Nationalität; er könnte nur noch als »Vertreter« eines Kollektivs und nicht mehr als Person reden; er wäre bloß noch Sprachrohr von etwas, und wie jedes Sprachrohr, selber stumm und mundtot.14


Es ist schwer, sich einen kühneren Ausdruck von »Mündigkeit« in dem strengen Sinn vorzustellen, den Kant dem Begriff gab. Enzensberger hält an seinen privaten historischen Verpflichtungen als Deutscher fest: »Die Deutschen und nur die Deutschen sind an Auschwitz schuld.« Nicht einmal diese historische Verpflichtung aber ließe er als Schritt in einem argumentum ad nationem gelten, das das öffentliche Selbstdenken untergraben würde. Wenn Enzensbergers Position voreilig erscheint – und in gewisser Weise sollte sie das –, dann deshalb, weil man in diesem Kontext die Aufklärung selbst nicht zu einfach voraussetzen sollte. Das Problem mit Enzensbergers Antwort an Arendt und mit der Aufklärung selbst besteht darin, dass Vertrauen, wie er sagt, etwas ist, was nur geschenkt werden kann: Niemand sollte davon ausgehen, dass er ein Recht darauf hat. Wenn wir einander ein Minimum an Vertrauen entgegenbringen und das im Gegenzug auch erwarten, dann tun wir dies, weil wir normalerweise Vertrauen in die Welt haben. Im speziellen Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, zwischen Juden und der Welt, zwischen Deutschen und der Welt – vielleicht auch zwischen Deutschen und Deutschen – ist genau dieses für eine vernünftige Diskussion unerlässliche Vertrauen erschüttert worden.

Es wäre töricht, würde ein Israeli meiner Generation das Unbehagen unterschätzen, mit dem deutsche Intellektuelle konfrontiert sind, sobald sie zu Israel Stellung beziehen sollen. Wenn aber aufgeklärtes Denken als politische Antwort auf Deutschlands Vergangenheit und als Kompass für seine Rolle in der Gegenwart dienen kann, werden die Deutschen auch dann wahrheitsgemäß mit den Israelis und über sie sprechen müssen, wenn eine Vertrauensbasis durchaus nicht gegeben ist. Schweigen und Selbstzensur überlassen die öffentliche Diskussion in Deutschland jenen beiden Extrempolen, die sich gegenseitig anbrüllen und dabei doch in ewigem Misstrauen verbunden sind: denen, die die Juden lieben, und denen, die sie hassen. Solange ihre Stimmen alles übertönen, ist eine nüchterne, wahrhaftige Diskussion über die israelische Lage nicht möglich. Die öffentliche Debatte kann dann ihre reinigende und erhellende Wirkung nicht entfalten.

In den vergangenen Jahren haben einige renommierte israelische Autoren die optimistische Hoffnung geäußert, dass sich der Humanismus der Linken – oder dessen, was von ihr geblieben ist – gerade in dem scheinbar verzweifelten Stadium ihres Kampfes um die bloße Demokratie, um die grundlegendsten Menschenrechte am Ende doch durchsetzen werde. Avraham Burg, ein früherer Knesset-Präsident, argumentiert in seinem jüngsten Buch in diese Richtung, so wie der prominente Menschenrechtsanwalt Michael Sfard in seinen Kommentaren für die Haaretz. Auch Eva Illouz bekennt sich in ihrem bereits erwähnten Buch Israel im Kapitel »Am Ende wird die Linke siegen« zu einem solchen Optimismus: »Allein moralische Institutionen verhelfen zu wahrer politischer Macht.«15

Der Optimismus dieser Autorinnen und Autoren verdankt sich gewiss nicht ihrer Analyse des aktuellen Zustands der israelischen Politik. Er hängt direkt oder indirekt von einer grundsätzlicheren Annahme ab, die wir aus der Philosophiegeschichte kennen, nämlich dem Glauben an die Idee, dass wir einer elementaren humanistischen Aufklärung entgegenschreiten. Besonders in dem zitierten Satz von Illouz wird dieser Glaube deutlich.

Die Grundlage dieser Gleichsetzung von Moral und Macht und des damit verbundenen Fortschrittsglaubens mag theologisch (»Gott hat die Natur mit einer Teleologie zum Guten versehen«) oder in einem weiteren Sinne metaphysisch sein (»die Menschenrechte folgen notwendig aus der menschlichen Natur«). Doch so unerlässlich eine hoffnungsfrohe, optimistische Perspektive für eine fortschrittliche Politik zweifellos ist – zumal in einem utopischen Buch wie diesem –, liegen wir mit einem metaphysisch naiven Aufklärungsoptimismus gewiss falsch. Hoffnung lässt sich nicht auf Gottvertrauen gründen; und ich bin mir sicher, die genannten drei Autoren wären mit mir einer Meinung, dass jeglicher Optimismus hier nur »postmetaphysisch« sein kann: Der letztliche Sieg der Demokratie ist keine Frage der Natur oder der Geschichte und aus diesem Grund auch nicht zwangsläufig. Er wird durch öffentliches politisches Handeln erreicht werden müssen und ist deshalb alles andere als gesichert.

Genau aus diesem Grund aber sollten wir uns der Tendenz widersetzen, Israel als einen gleichsam der Ktitik enthobenen Staat zu behandeln, der nicht auf herkömmlicher, legitim zu hinterfragender und zu diskutierender Politik beruht, sondern auf einem quasi sakralisierten Holocaust-Gedenken. Dass sich das Land durch das Andenken an den Holocaust in einer Sphäre jenseits des normalen öffentlichen Diskurses verortet, immunisiert seine Politik gegenüber jenen Kräften, die den Sieg humanistischer Werte fördern könnten. Wo Zensur und Schweigen herrschen, kann man nicht vernünftigerweise darauf hoffen, dass nur »moralische Institutionen« zu »wahrer politischer Macht« verhelfen, sondern müsste allein auf Gott oder die Natur vertrauen. Wir müssen erkennen, dass die Erinnerung an den Holocaust nicht zwangsläufig, nicht an sich schon ein Mittel zur Beförderung des Humanismus und eines echten Lernens aus der Vergangenheit ist; das Erinnern an den Holocaust kann auch davon losgelöst werden, und es ist unsere Aufgabe, sicherzustellen, dass dies nicht geschieht.

Das vorliegende Buch ist mit demselben Optimismus und derselben Liebe zu Israel geschrieben, die auch Autorinnen und Autoren wie Burg, Sfard und Illouz teilen; es ist sogar bereit, ihren Optimismus um eine utopische Vorstellungskraft zu ergänzen. Es soll aber auch daran erinnern, dass in diesem Zusammenhang allenfalls ein schwacher Optimismus angebracht ist, der auf wackligen Beinen steht. Der Fortschritt ist nicht sicher. Es ist alles andere als offensichtlich, dass sich so etwas wie ein demokratischer Humanismus durchsetzen wird, und sein Sieg hängt von politischem Handeln in einem Kontext ab, in dem die öffentliche Diskussion über die Kraft verfügt, gegen Barbarei zu immunisieren. Im Moment ist das leider nicht der Kontext, in dem wir uns befinden. Das ist der Kampf, den wir führen müssen, um die Hoffnung aufrechtzuerhalten.

In ihrem Essay »Wahrheit und Politik« spricht Hannah Arendt von der merkwürdigen Tendenz moderner Gesellschaften, »öffentlich bekannt[e]« Tatsachen« als »Geheimnisse« zu behandeln. Dieselbe Öffentlichkeit, die diese Tatsachen kenne, bringe es fertig, dass diese »mit bestem Erfolg und häufig sogar spontan zu Tabus erklärt« würden. Sie dennoch laut und deutlich auszusprechen könne dann so gefährlich sein wie »die Verkündigung gewisser Häresien in früheren Zeiten«.16

So könnte man wohl die öffentliche Diskussion über Israel beschreiben. Zweifellos beschäftigen sich Intellektuelle, Journalistinnen, Künstlerinnen, Filmemacherinnen und viele andere mit Israel – und zweifellos auch kritisch. Doch tun sie dies überwiegend in Ausdrucksformen, in denen sie sich des Urteils enthalten können17; und wo Autoren doch einmal über die gegenwärtige Situation urteilen, verfallen sie in die irreführenden, anerkannten Formeln der Selbstzensur. Anders, als man auf den ersten Blick meinen könnte, gilt eine aufrichtige Diskussion über die israelische Politik derzeit kaum als legitim. Es hätte zum Beispiel offensichtlich sein müssen, und das nicht nur für radikale Anti-Israelis, dass ein Staat, der ausdrücklich darauf besteht, die Souveränität des jüdischen Volks und nicht die Souveränität seiner Bürgerinnen und Bürger zu behaupten, keine liberale Demokratie sein kann. Wir müssen die gegebene Situation bekämpfen, in der einen das Aussprechen einer solchen Wahrheit zum Radikalen macht, zum Antisemiten oder ressentimentgeladenen Anti-Zionisten. Wenn Hoffnung für Israels Zukunft mehr sein soll als blinder Optimismus, dann würde sie unter anderem von Intellektuellen abhängen, die sich eine Sprache bewahren, in der eine unverfälschte Diskussion über das Land möglich ist. Einstweilen besteht das Problem nicht darin, dass wir dabei sind, diesen Kampf zu verlieren; offen gesagt besteht es darin, dass wir ihn noch gar nicht geführt haben. Heute ist es an der Zeit, dass die Deutschen, die aus Habermas’ Generation und die jüngeren, sich freimütig äußern: Das ist es, was ich als Deutscher zu sagen habe.

Wir können immer noch auf eine lebenswerte Zukunft für Israel hoffen. Dafür müssen wir uns aber zu der Einsicht durchringen, dass sich einiges im Lande grundlegend zu ändern hat. Es ist noch nicht zu spät.


Omri Boehm
Berlin/New York, im Februar 2020