Die Autorin

Paula Seifert – Foto © Jochen Schneider

PAULA SEIFERT ist das Pseudonym einer vielseitigen Bestsellerautorin. Die schöne Landschaft um Saale und Unstrut kennt sie von klein auf. Geboren 1966 in Taucha bei Leipzig, arbeitete sie nach dem Studium der Kunstgeschichte in einem Verlag und in der Deutschen Bücherei Leipzig. 1995 zog sie nach Bad Hersfeld in Hessen, wo sie heute mit Mann und Hund lebt.

Das Buch

Freyburg, 1880. Aenne Strauß darf den Mann, den sie liebt, nicht heiraten. Die Winzerfamilien im Unstruttal pflegen ihre Rivalität, Aenne jedoch hält fest an ihrem Clemens, sie liebt ihn heimlich. Als sie heiraten muss, vertraut sie sich Martin an, dessen prächtiges Haus an den Hängen der Weinberge das Weinschloss genannt wird. Von Clemens kommt sie jedoch nie los. Und so beginnt eine Familiengeschichte voller Liebe und Hass, Treue und Vertrauensbruch, Glück und schwierigen Entscheidungen.
Drei Generationen Frauen aus einer Familie, deren Schicksal eng mit der Kunst des Sektkelterns verbunden ist.

Paula Seifert

Saale Premium - Stürme über dem Weinschloss

Roman

Ullstein

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Ungekürzte Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Juli 2020
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München
Titelabbildung: Arcangel Images / © Ildiko Neer (Frau mit Hut), Mauritius Images/United Archives/ © Werner Otto (Burg), Mauritius Images/ Andreas Vittig (Landschaft)
Autorenfoto: © Jochen Schneider
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ISBN 978-3-8437-2285-8

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Teil 1

1880


Rosenbowle

4 cl Weinbrand
je 1 Flasche Rot- und Weißwein
5 ungespritzte Rosen
100 g Zucker
1 Flasche Sekt trocken


Rosenblätter mit Zucker bestreuen, Weinbrand und eine halbe Flasche Rotwein darübergießen. Für eine Stunde kühl stellen. Danach abseihen und den restlichen Wein und Sekt zugeben.


1

»Was soll nur aus dir werden?«, fragte Ernestine Strauß und betrachtete ihre jüngste Tochter. Sie sah besorgt und sogar ein wenig ärgerlich aus. Aber auch jetzt war ihr Gesicht makellos, die Augenbrauen ordentlich gezupft, das Haar aufwendig frisiert. Sie war eine stattliche Frau, wie immer elegant gekleidet, das pflaumenblaue Kleid aus Organza war am Hals hochgeschlossen und fiel bei ihr bis zu den Knöcheln herab.

»Ich weiß nicht, was ich mit dir noch machen soll. Wenn das so weitergeht, wirst du nie einen Mann finden.« Sie wartete nicht auf Antwort, sondern wandte sich direkt an ihren Mann. »Karl Theodor, jetzt rede du ihr doch auch ins Gewissen.«

Wenn die Mutter den Vater mit beiden Vornamen ansprach, war es ernst, das wusste Aenne. Was konnte sie tun? Wie die Mutter friedlich stimmen, ohne dabei aufzuhören, sie selbst zu sein?

Aenne war eine Tochter aus gutem Hause, hatte eine Ausbildung an der Höheren Töchterschule in Naumburg absolviert, hatte gelernt, wie man einen großen Haushalt führt, sie sprach Französisch, spielte ein wenig Klavier und wusste alles über die Wein- und Sektherstellung, was es nur zu wissen gab. Heute Morgen war sie wie so oft mit dem Vater durch die Weinberge der Familie gegangen. Das hatte sie schon als Kind getan. Sie liebte es, den Trauben beim Reifen zuzusehen, sie liebte die Feuer im Herbst, wenn das Laub verbrannt wurde. Sie liebte es, wenn der Vater im Weinkeller stand und die Weine verkostete. Und immer hatte er auch Aenne kosten lassen und sie gefragt: »Wie schmeckt dir der Wein? Was schmeckst du?«

Er hatte gelacht, als sie als Fünfjährige den Mund verzogen und »sauer« gesagt hatte, aber schon als Zehnjährige hatte Aenne ein gutes Gespür für die Weinqualität gehabt. Sie hatte Nuancen von Pfirsich oder Holz, von Brombeeren und sogar Leder herausgeschmeckt.

Jetzt war Sommer, der Himmel hatte sich mit weißen Federwölkchen verziert, und die Trauben hingen noch klein, aber schon saftig an den Reben. In den Weinbergen daneben waren die Arbeiter am Werk, der Sommerschnitt stand an. Aber hier, in dieser Lage, die ausschließlich mit dreijährigen Reben bestückt war, legte der Vater selbst Hand an. Wenn sie Glück hatten, würden diese Reben zum ersten Mal Trauben geben, aus denen man Wein keltern konnte. Er hatte am Morgen Aenne gefragt, ob sie ihm helfen wollte. »An die Dreijährigen kann ich nicht jeden heranlassen. Da braucht man besonderes Geschick.«

Aenne war stolz gewesen, dass der Vater ihr dieses Geschick zutraute. Und schon hatte sie sich die Leinenschürze mit der großen Vordertasche umgebunden, ein wenig Draht und die Rebschere hineingepackt und war mit ihm mitgegangen.

»Erinnerst du dich, Aenne? Diese Rebe haben wir im Frühjahr erzogen.«

»Ja, ich weiß. Wir haben die Triebe so gebunden, dass ein typisches Stockgerüst entsteht.«

Er schüttelte unzufrieden den Kopf. »Aber die Rebe gefällt mir nicht. Sie trägt zu wenig. Die Triebe sind falsch oder zu fest gebunden.«

Aenne betrachtete die Rebe, strich sanft mit der Hand über die Zweige. »Zum Glück können wir alles korrigieren. Soll ich?« Sie blickte den Vater an. Es war eine schwierige Aufgabe, verlangte sie doch einiges an Wissen darüber, wie die Rebe sich entwickeln sollte.

»Ja. Schneide du die Triebe zurück, binde neu.«

Aenne betrachtete den Rebstock. »Ich würde die oberen Triebe ein wenig kürzen. Und dann in der Mitte ein wenig lockerer binden.«

»Gut, Aenne. Ich hätte es ebenso gemacht.« Er lächelte sie an, dann seufzte er, und Aenne wusste genau, warum er seufzte. Weil sie ein Mädchen war. Einem Sohn hätte er die Weinberge irgendwann vererben können, er hätte dafür sorgen können, dass er in seine Fußstapfen trat und sein Lebenswerk eines Tages fortführte. Aber Aenne würde heiraten. Sie würde das Weingut nicht weiterführen können. Im ganzen Saale-Unstrut-Tal gab es nicht eine einzige Frau, die ein Weingut führte. Und eigentlich fand Karl Strauß das auch richtig so. Wie sollte eine Frau die Geschäfte führen? Wer würde auf sie hören? Wie sollte sie die Verhandlungen mit den Banken, den Käufern, den Flaschenfabrikanten führen? Er könnte von Glück reden, wenn eine seiner Töchter einen Winzer heiratete oder wenigstens jemanden, der etwas vom Weinbau verstand.

Der Vater ging langsam weiter. In der Hand hielt er eine Rebschere, schnitt da und dort etwas ab. Aenne begleitete ihn. Während der Vater die linke Rebreihe abschritt, verfolgte sie die rechte Reihe, betrachtete jeden einzelnen Stock genau und schnitt ebenso konzentriert wie der Vater hin und wieder etwas ab.

Es war Mittag, als sie mit der Hälfte der Dreijährigen fertig waren. Sie gingen nebeneinander zurück zum Hotel Strauß, das der Familie gehörte und in dem bestimmt schon das Mittagessen auf sie wartete. Der Himmel hatte sich zugezogen, dicke Wolken zogen träge dahin. Der Vater sah nach oben, leckte seinen Zeigefinger an und hielt ihn in die Luft. »Der Wind kommt aus dem Westen«, erklärte er. »Es wird also wahrscheinlich regnen. Wir machen morgen weiter in den anderen Weinbergen. Heute Nachmittag kümmere ich mich um die Bücher.«

Für Aenne war das eine gute Entscheidung. Tante Oda hatte ihr einen neuen Band mit Gedichten von Bettine von Arnim geschenkt. Den würde sie am Nachmittag lesen. Und vielleicht fielen ihr dabei selbst ein paar Zeilen ein. Natürlich konnte und wollte sie sich nicht mit der Dichterin der Romantik vergleichen, aber sie ließ sich gerne anregen. »Blumen sind die Liebesgedanken der Natur«, hatte Bettine von Arnim geschrieben, und Aenne liebte diesen Satz. »Weinberge sind die Berge des guten Geschmacks«, fiel ihr ein, aber nachdem sie die Worte mehrfach leise vor sich hin gesprochen hatte, fand sie sie nicht halb so gelungen wie die Zeilen der von Arnim. Viel zu spröde. Und das mit dem Geschmack, das war ihr zu zweideutig und viel zu unromantisch. »Trauben sind die kleinsten Weingläser der Welt?« Nein, auch das hörte sich eher an wie ein Text aus einer Reklame. Aenne seufzte.

Die Naumburger Zeitung hatte vor einem Jahr ein Gedicht von ihr abgedruckt. Sie selbst hätte es nie gewagt, sich damit an die Öffentlichkeit zu wenden, aber die Mutter war von dem Gedicht ganz entzückt. Und da sie und der Chefredakteur der Zeitung in denselben Kreisen verkehrten, hatte sie ihm Aennes Werk gezeigt und sich von seiner Begeisterung anstecken lassen. Seither hatte die Naumburger immer mal wieder kleinere Artikel und das eine oder andere Gedicht veröffentlicht, die die Mutter alle aus der Zeitung ausgeschnitten und in ein Album geklebt hatte.

»Was soll ich denn dazu sagen?«, fragte der Vater und unterbrach Aennes Gedanken. »Wir erwarten von dir, dass du heiratest. Am besten einen Mann mit Wein-Verstand.« Karl Strauß saß im Salon in dem bequemen Ledersessel, auf einem kleinen Tisch daneben stand eine Tasse mit dampfendem Kaffee. Zwar hatte er schon immer gefunden, dass Heirat und Kinder Frauenthemen waren, aber wenn Ernestine seine Meinung wollte, sprach er sie aus. Jetzt stand Aenne vor ihm und blickte ein wenig beschämt, aber auch trotzig.

»Ich brauche keinen Ehemann, der mich versorgt. Ich kann im Hotel mithelfen und in den Weinbergen. Ich werde arbeiten und euch nicht auf der Tasche liegen.«

»Als ob es ums Geld ginge!« Karl Strauß zündete sich ein Zigarillo an. Das galt jetzt als schick. In Leipzig rauchten alle diese langen, dünnen Dinger. »Wir verlangen doch nichts Unmögliches von dir. Nur, dass du so bist, wie eine Frau sein sollte. Nimm dir doch mal ein Beispiel an deiner Schwester Bettina.« Dann hatte der Vater geseufzt, war aufgestanden und gegangen, und die Mutter hatte sie angeblickt, als hätte sie eine schwere Krankheit. Und Aenne hatte gedacht, dass sie ihren Eltern so gern eine Freude machen würde. Sie war gar nicht grundsätzlich gegen das Heiraten, aber bislang war sie noch nie verliebt gewesen.


Aenne hatte ein schlechtes Gewissen, aber nicht nur ihrer Eltern wegen, sondern obendrein wegen Oskar Nimmrod. Sie hatte mit ihm unter dem Maibaum getanzt, hatte ein Glas Maibowle mit ihm getrunken und wieder mit ihm getanzt. Es war ein herrlicher Abend gewesen, die Luft so lau und nach Flieder duftend, der Himmel über ihr von Tausenden funkelnden Sternen übersät. Um sie herum tanzten die jungen Mädchen und Jungen ausgelassen, und auf den Bänken unter der alten Linde hatten die Eltern Platz genommen, unterhielten sich und blickten stolz auf ihre Sprösslinge, gespannt darauf, welcher junge Mann mit welchem jungen Mädchen sprach.

Das Maifest war eine Anbahnungsveranstaltung, auch wenn sich die gute Gesellschaft Freyburgs niemals dazu herabgelassen hätte, es so zu nennen. Aber fest stand, dass sich an den Maifestabenden schon einige Paare gefunden hatten.

Und nun war Oskar Nimmrod gekommen und hatte um ihre Hand angehalten. Aenne hatte geglaubt, vor Verehrern sicher zu sein, solange ihre ältere Schwester Bettina, nun im zwanzigsten Jahr, nicht wenigstens verlobt wäre. So war es Brauch im Saale-Unstrut-Tal. Hier heiratete man der Reihe nach. Doch Oskar Nimmrod hatte sich nicht daran gehalten. Er war gemeinsam mit seinem viel älteren Bruder Martin der Besitzer des Saale-Premium-Weingutes. Früher hatte das Gut schlicht den Namen »Nimmrod« getragen, aber seit deren bester Wein mehrere Jahre hintereinander auf der Thüringer Gewerbeausstellung mit einer Goldmedaille geehrt worden war, wurde das Gut nur noch »Saale-Premium« nach dem Goldwein genannt, und die Besitzer waren es zufrieden. Das Gut war ihnen nicht etwa durch ein großes Erbe in den Schoß gefallen, wenn auch die alten Nimmrods ihren beiden Söhnen immerhin das Weinschlösschen vererbt hatten, in dem die Brüder lebten. Auch ein paar Weinberge hatten zum Erbe gehört. Nicht an der Unstrut, sondern an der Saale zwischen Freyburg und Naumburg lagen sie. Gerade mal sechs Kilometer entfernt. Die Brüder hatten hart gearbeitet. Inzwischen war der Saale-Premium-Wein überall bekannt und galt als einer der besten Tropfen der Gegend. Es war ein Weißburgunder, dem die Nimmrods ganz besondere Sorgfalt angedeihen ließen, das wusste jeder. Das Schlösschen stand auf einem Hügel ein wenig oberhalb von der Stelle, an der die Unstrut in die Saale floss, und musste eine fabelhafte Aussicht haben. Etliche der vielen Rebstöcke hatten die Brüder selbst angelegt, hatten Land urbar gemacht und mit viel Geduld und Liebe einen Wein herangezüchtet, den es im Saale-Unstrut-Tal nirgendwo sonst gab. Während Martin Nimmrod, der die vierzig weit überschritten hatte, schon beinahe zu den alten Junggesellen zählte, hatte sich der zehn Jahre jüngere Oskar nun endlich aufgemacht, eine Frau zu suchen.

Zuerst, erzählten die Leute, hatte er die Töchter aus sehr gutem Haus gesichtet. Nicht nur in Freyburg, sondern auch in Naumburg, in Kösen, und sogar in Zeitz sei er deshalb gewesen. Aber die alteingesessenen reichen Familien hatten ihn nicht gewollt. Sie rochen förmlich, wer wirklich vornehm war und wer nur so tat. Und Oskar Nimmrod, dem immer ein wenig Schmutz von den Weinbergen unter den Schuhen klebte, wurde abgetan. Nun sah er sich unter den Töchtern aus gutbürgerlichem Hause um.

Aenne Strauß gefiel ihm. Nach dem Maifest und ein paar diskreten Erkundigungen war er auf die Familie Strauß zugegangen. Er hatte bei der Hoteliersfamilie im privaten Salon gesessen, eine Flasche Saale-Premium als Mitbringsel unter dem Arm. Ungeniert sah Oskar Nimmrod sich um. Er taxierte den schweren Silberleuchter auf einem kleinen Tisch, die gefütterten Brokatvorhänge, die Anrichte aus poliertem Mahagoni, den Glasschrank mit dem kostbaren Kristall aus Böhmen, die Bücher, die kleine goldene Kaminuhr und die Ölgemälde an der Wand. Dann erst wandte er sich Aenne zu, die kerzengerade auf der Stuhlkante gesessen, die Füße am Knöchel gekreuzt, die Hände sittsam im Schoß, und Oskar Nimmrod bei seiner Inspektion zugesehen hatte.

»Fräulein Aenne, ich denke noch oft an unseren Tanz in den Mai«, sagte er. »Was Sie mir alles erzählt haben! Ich habe den Wein danach mit ganz anderen Augen gesehen und getrunken. Dabei besitze ich ein Weingut.« Er lachte. »Woher wissen Sie das nur alles?«

Aenne hatte mit den Achseln gezuckt. »Meinem Vater gehören ein paar Großlagen auf dem Schweigenberg, das wissen Sie ja. Ich war schon als kleines Kind in den Weinbergen.« Aenne taxierte nun ihn. Er war groß, größer als die meisten Männer, die sie kannte. Er hatte rötliches Haar, eine kräftige Nase und darunter einen schmalen Sichelmund, der sich gern spöttisch verzog. Sein Bauch hing fröhlich über der Hose, doch fröhlich war an Oskar Nimmrod sonst nicht viel. Er war Geschäftsmann. In jeder Beziehung. Ein Tanz unter dem Maibaum musste sich auszahlen, sonst wäre er gar nicht erst aufgestanden. Ein Kuss musste etwas einbringen. Und ein Besuch erst recht. Aenne hätte wetten können, dass er den Besitz ihrer Familie besser kannte als sie selbst.

»Verstehen Sie sich denn auch so gut darauf, einen großen Haushalt zu führen? Mit Dienstboten?«, wollte Oskar nun wissen. »Hat man Sie zur Sparsamkeit erzogen?«

Aenne hatte da schon gewusst, dass er um ihre Hand anhalten würde, und die Stirn gerunzelt. »In Haushaltsdingen ist meine Schwester Bettina die Spezialistin. Ich werde sie gleich einmal holen.«

»Nein, warten Sie, Fräulein Aenne. Ich bin ja Ihretwegen hier.«

Da blieb Aenne sitzen, legte die Hände zurück in den Schoß und blickte an Oskar Nimmrod vorbei an die Wand. Sie hatte mit ihm getanzt, ja. Aber sie hatte auch mit anderen getanzt, ohne sich dabei etwas zu denken.

»Würden Sie denn gern einmal mit mir spazieren gehen?«, fragte Oskar. »Wir könnten auf den Schweigenberg gehen. Sie zeigen mir die Rebstöcke, und ich bestaune die Weinberge Ihrer Familie. Sie könnten mich auch einmal durch Ihren Weinkeller führen.«

»Sie kennen unsere Weinberge noch nicht?«, fragte Aenne zweifelnd. In diesem Augenblick trat ihre Mutter zu ihnen, um zu fragen, ob der Herr Nimmrod gern ein Glas Wein hätte. Eigener Anbau, versteht sich. Der Herr Nimmrod wollte, und Ernestine goss den Wein in die guten böhmischen Pokale und setzte sich dazu. Neben ihr auf dem Boden stand ein Korb mit einem Stickrahmen und einer angefangenen Stickarbeit.

»Ist es nicht schön, dass der Herr Nimmrod dich besucht?«, fragte die Mutter und tätschelte Aennes Hand.

Aenne war ebenso hochgewachsen wie ihre Mutter. Auch Ernestine hielt den Rücken stets kerzengerade, saß meist vorn auf der Stuhlkante und konnte sich zu jeder Gelegenheit das passende Lächeln ins Gesicht kleben. Aenne sah ihr an, dass sie froh war über den Besuch Nimmrods und Oskar für einen passenden Ehemann hielt.

Ernestine war nicht blind in ihre eigene Ehe gegangen, die ihre Eltern für gut und richtig gehalten und zu der sie ihr geraten hatten, sondern mit einem Plan. Ich liebe diesen Karl Theodor Strauß nicht, hatte sie gedacht, aber ich werde ihn mir so zurechtbiegen, dass ich ihn eines Tages lieben kann. Und Karl Theodor ließ sich leicht führen, das hatte sie gleich gewusst. Und nun – Ernestine war selbst überrascht – liebte sie ihn schon mehr als zwei Jahrzehnte. Es war eine Liebe, die langsam gewachsen war, aber umso tiefer reichte. Karl und Ernestine. In Freyburg war es undenkbar, nur einen der beiden Namen zu nennen, so fest gehörten sie zusammen.

»Nun sag schon, Aenne, ist es nicht ganz zauberhaft, dass der Herr Nimmrod dich besucht?«, wiederholte die Mutter, aber Aenne war anderer Meinung.

»Es kommt darauf an, was der Herr Nimmrod hier möchte«, erwiderte sie spielerisch und unterdrückte sogleich einen Aufschrei, denn Ernestine hatte ohne zu zögern gegen Aennes Schienbein getreten.

»Eigentlich wollte ich unsere Bekanntschaft ein wenig vertiefen. Ich bin auf der Suche nach einer Ehefrau, und ich glaube, dass es mit uns beiden passen könnte«, erklärte Oskar Nimmrod unromantisch und lobte sodann den Wein: »Ein guter Tropfen, wirklich.«

»Unser Schweigenberger Riesling hat ebenfalls einen Preis auf der Gewerbeausstellung bekommen«, erklärte die Mutter stolz und erwähnte nicht weiter, dass es der zweite Preis gewesen war, da der erste natürlich wieder an den Saale-Premium gegangen war. »Wir verkaufen ihn im ganzen Land. Inzwischen sogar bis nach Bayern und an die Ostsee.«

»Nicht schlecht. Ein gefälliger Wein, den man jeden Tag trinken kann.« Das war ja nun beinahe schon eine Beleidigung, denn der Wein war so gut, dass er von vielen Leuten nur zu besonderen Anlässen getrunken wurde. Ja, die meisten fanden sogar, dass er dem Saale-Premium in nichts nachstand.

»Nun, was meinen Sie, Fräulein Aenne?« Er betrachtete sie so ausgiebig, als stünde sie zum Verkauf.

Aenne schluckte. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Die Eltern waren sichtlich froh, dass sich ein Verehrer für sie gefunden hatte. Und dann noch einer der Herren vom Weinschlösschen. Aber Aenne fand so gar keinen Gefallen an Oskar Nimmrod. Und sie hatte auch nur mit ihm getanzt, weil er sie aufgefordert hatte und es unhöflich gewesen wäre, ihm einen Korb zu geben. Außerdem tanzte sie nun mal gerne.

»Ich weiß nicht, Herr Nimmrod. Eigentlich fühle ich mich noch zu jung für eine Ehe. Und meine Schwester Bettina wäre ja ohnehin vor mir dran. Wir nehmen es mit dieser Tradition sehr genau.« Das war natürlich gelogen, aber sie hatte einfach keine bessere Ausrede. Sie wollte nicht schon jetzt heiraten. Denn dann würde sie nicht mehr mit dem Vater in die Weinberge gehen und am Nachmittag Romane und Gedichte lesen können. Dann würde sie einem Haushalt vorstehen und Kinder bekommen müssen. Irgendwann, wenn sie älter war, würde sie einen Ehemann haben und eine Familie gründen. Aber sie war fest entschlossen, nur einen Mann zu heiraten, den sie auch liebte.

»Sie sind achtzehn Jahre alt, liebe Aenne. Im besten Heiratsalter.«

Es sah nicht so aus, als würde sich Oskar Nimmrod schnell geschlagen geben.

»Nein, ich kann noch nicht heiraten«, wiederholte Aenne.

Oskar Nimmrod lächelte nachsichtig. »Nun, vielleicht müssen Sie sich erst ein wenig an den Gedanken gewöhnen, mein liebes Kind. Eine gewisse Bedenkzeit kann ich Ihnen schon zugestehen.«

Aenne zog die Augenbrauen in die Höhe. Hatte er sie gerade »mein liebes Kind« genannt?

»Gehört zu einer Ehe nicht auch Liebe?«, fragte sie ein wenig schnippisch und blickte Nimmrod direkt in die Augen. Er hielt ihrem Blick stand und erwiderte: »Nun, Liebe ist etwas für junge Mädchen und ältliche Fräuleins, die Liebesromane lesen. Ich dachte nicht, dass Sie dazugehören. Aber wenn Sie mir eine getreue und folgsame Gefährtin sind, die sich gut um den Haushalt und die Kinder kümmert, mir nicht in meine Angelegenheiten hineinreden und nicht klug, dafür aber anschmiegsam sind und das Geld nicht mit beiden Händen aus dem Fenster werfen, dann werde auch ich nicht mit Zuneigung geizen.«

Aenne warf der Mutter einen Hilfe suchenden Blick zu, doch Ernestine fragte nur: »Noch ein Glas Wein, lieber Herr Nimmrod?«, und goss auch schon ein.

Nimmrod trank, dann legte er eine Hand auf den Tisch und sagte: »Nun, da wir alles geklärt hätten, müssten wir uns nur noch auf einen Termin einigen.«

Da richtete sich Aenne auf. »Ich glaube, Sie haben mich nicht richtig verstanden. Und deshalb sage ich es jetzt klar und deutlich: Ich möchte nicht Ihre Frau werden.«

Nimmrod schluckte, sein Adamsapfel hüpfte. Sein Kinn wurde regelrecht kantig. »Sie geben mir einen Korb?«, fragte er, und Aenne hörte die unterdrückte Wut in seinen Worten.

»Ja!«, antwortete Aenne mit fester Stimme. Dann erhob sie sich und verließ den Raum, weil sie Oskar Nimmrod keine Minute länger ertragen konnte.

Kurz darauf hörte sie die Haustür zuschlagen. Dann rief die Mutter in einem Ton nach ihr, der jeden Widerspruch ausschloss.

Aenne seufzte und ging zurück in den Salon. Ihre Mutter saß in ihrem Lehnstuhl, noch immer das Weinglas vor sich auf dem Tisch, neben ihr saß der Vater, der gerade von den Weinbergen nach Hause gekommen war und sich noch nicht umgezogen hatte. Nur die Schuhe hatte er ausgezogen und saß in Strümpfen, denn die Mutter duldete es nicht, dass jemand in Arbeitsschuhen den Salon betrat und das gute Parkett ruinierte oder gar die persischen Läufer.

»Warum bist du nur so?«, fragte die Mutter und sah dabei ehrlich verzweifelt aus. »Warum? Warum bist du nur so naseweis? Dein Benehmen! Man könnte meinen, wir hätten dir überhaupt keine Manieren beigebracht. So wie du kann man mit einem Mann nicht reden!«

Aenne schwieg bedrückt. Sie hatte den Eltern keinen Ärger machen wollen, aber warum nur verstanden sie denn nicht, dass dieser Oskar Nimmrod ein schrecklicher Mann war? Dass sie nie im Leben mit ihm glücklich werden würde? Sie wusste genau, was den Eltern gerade durch den Kopf ging: Frauen, die immer gleich aussprachen, was sie empfanden, gaben keine guten Ehefrauen ab.

Die Mutter hatte wohl recht. Klugheit brachte Ärger, und am Ende stand man als alte Jungfer da. So wie Tante Oda. Obschon Aenne noch nie den Eindruck bekommen hatte, dass Tante Oda unter ihrem Leben litt. Im Gegenteil, sie war die fröhlichste und herzlichste Frau, die sie kannte. Und auch die klügste. Und das Leben, das Tante Oda führte, kam Aenne beinahe wie das Paradies vor.

In den Augen der Mutter stand Verzweiflung über ihre jüngere Tochter. Sie hielt den Blick fest auf Oskar Nimmrods leeres Glas geheftet, und Aenne wusste, dass sie sich wie eine Versagerin vorkam. Sie hatte ihre Tochter nicht gut erzogen, hatte ihr die Naseweisheit nicht ausgetrieben. Oder Aenne wenigstens dazu gebracht, ihr Wissen zu verstecken. Aber sie war ja nicht einmal dazu zu bewegen, ihre Leidenschaft für gelehrte Bücher zu verbergen. Heinrich Heine las sie! Dabei wusste doch jeder, dass er ein Aufrührer war. Nicht umsonst war er im Exil in Paris gestorben. Aenne konnte die Gedanken der Mutter regelrecht hören. Und sie wäre so gern anders gewesen, aber sie konnte nun mal nicht aus ihrer Haut.

Tante Oda machte, was sie wollte, und las, wann immer sie Lust dazu hatte. Sie saß dabei in ihrem bequemen Ohrensessel, auf dem Tischchen neben sich einen Kaffee oder später am Tag ein Glas Wein. Sie ließ sich Bücher aus Frankfurt am Main schicken, aber auch aus Paris. Und einmal war sogar ein Buch aus London bei ihr eingetroffen. Sie fuhr nach Leipzig, wann immer sie wollte, sah sich dort die neuesten Theaterstücke an oder ging in die Oper. Und danach kam sie stets ganz beseelt nach Freyburg zurück. Aenne konnte sich kein schöneres Leben vorstellen.

Manchmal, in Momenten wie diesem, wenn die Mutter ihr gar so traurig vorkam, beneidete Aenne allerdings doch ihre ältere Schwester Bettina ein bisschen, die den Eltern weit weniger Kummer machte. Bettina war, wie eine junge Frau zu sein hatte. Sie kannte die neuesten Rezepte und die neuesten Moden, schaute entzückt in jeden Kinderwagen, konnte es gar nicht abwarten, endlich zu heiraten, und hatte Freundinnen, die ebenso dachten wie sie.

Aenne hatte nur eine Freundin, und das war Ruth Hirsch, die vor Kurzem geheiratet hatte und nun im Lebensmittelladen der Schwiegereltern arbeitete. Und dann eben noch Tante Oda, ihre Patentante, die Schwester des Vaters, die zwar viel älter war als Aenne, sie aber immer wie eine Erwachsene behandelt hatte.

»Tante Oda darf lesen und ins Theater fahren, wann immer sie mag«, hatte ihr einmal die Mutter erklärt. »Sie hat keinen Mann, keine Kinder. Zu bedauern ist sie deswegen. Soll sie wenigstens ihre Bücher haben.« Aber Aenne wusste, dass es keinen Grund gab, Tante Oda zu bedauern.

Aenne verstand sich auch mit Emma Kloss sehr gut, aber diese war die Freundin der Mutter. Emma Kloss war der Mittelpunkt der eleganten Gesellschaft in Freyburg. Sie führte einen über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Salon, in dem die Honoratioren und herausragenden Künstler der Gegend verkehrten. Sie war die Frau von Julius Kloss, einem der Gründer der Sektkellerei Kloss & Foerster, die dem Vater allerdings ein Dorn im Auge war.

Es war genau vierundzwanzig Jahre her, als die Brüder Moritz und Julius Kloss gemeinsam mit dem Jugendfreund Carl Foerster eine Weinhandlung in Freyburg gegründet hatten, die sie schon bald um eine Sektkellerei erweiterten. Karl Theodor Strauß wäre gern auch dabei gewesen, immerhin war er der größte Winzer der Stadt. Wer, wenn nicht er, wäre ein besserer Kompagnon der Kellerei gewesen? Aber die Brüder Kloss und Carl Foerster hatten kein Interesse an einem Geschäft mit ihm gehabt.

Mittlerweile waren die Foersters und Klosses reich geworden, reicher sogar als Karl Theodor Strauß. Eine Tatsache, die er auch nicht verzeihen konnte, die aber zugleich seinen Ehrgeiz anstachelte, sodass seine Weine von vorzüglicher Qualität waren, sein Hotel »Zum Strauß« erstklassig geführt wurde und die gereichten Speisen den Vergleich mit den Hotelspeisen der meisten Leipziger Hotels nicht zu scheuen brauchten.

Ja, die Speisen waren sogar so berühmt in Freyburg, dass Emma Kloss sie regelmäßig für ihren Salon bestellte, so auch heute. Ernestine hatte mit der Köchin geklärt, dass sie für den Abend gefüllte Täubchen und Weingelee vorbereiten sollte.

Ernestine sah dem Salon mit gemischten Gefühlen entgegen. Und das lag daran, wie Aenne wusste, dass die Einladung dieses Mal auch ihr galt. Einerseits war Ernestine stolz auf ihre jüngere Tochter, denn wahrlich nicht jeder wurde zum Salon geladen. Andererseits war Aenne nun einmal erst achtzehn Jahre alt, unverheiratet und ohne nennenswerte Verdienste und die anderen Herrschaften allesamt um einiges älter und erfahrener.

»Denkst du wirklich, dass meine Aenne in deinen Salon passt?«, hatte Ernestine gefragt, als Emma die Einladung ausgesprochen hatte.

»Deine Tochter ist klug und an vielen Dingen interessiert. Ich unterhalte mich gern mit ihr und denke, sie wäre für unseren Salon eine Bereicherung. Ihre Gedichte und kleinen Prosastücke entzücken mich immer wieder.«

Das hatte Ernestine gefreut und auch ein wenig beruhigt, und so würde nun heute Abend Aenne neben ihr sitzen und sie hoffentlich nicht blamieren. Wo war sie eigentlich? Vor einer Stunde hatte sie den Salon verlassen, als ihr der Vater eröffnete, dass er sich ihre Naseweisheit nicht länger gefallen lasse. »Zum Gespött der Leute machst du mich!«, hatte er gesagt. »Du bist einfach aufgestanden und hast den Herrn Nimmrod sitzen lassen. Nicht auszudenken, was er jetzt in der Gegend rumerzählt. Eine schlechte Frau kann das Geschäft schneller ruinieren als ein schlechter Wein. Was soll nur aus dir werden?«

Aenne hatte betreten zu Boden geblickt. Es war ja nicht so, dass sie gegen eine Heirat war. Nur eben noch nicht jetzt. Und einen Mann, mit dem sie das Leben teilen wollte, hatte sie bislang auch noch nicht getroffen.

Freyburg war eine kleine Stadt mit gerade mal dreitausend Einwohnern, die sich in einem Tal rechts und links neben den Fluss Unstrut duckte. Über ihr erhob sich die Neuenburg, und links und rechts neben dem Fluss zogen sich die terrassenförmigen Weinberge bis hinüber nach Naumburg. Die meisten Freyburger hatten mit Wein zu tun, besaßen Weinberge oder arbeiteten für einen der Weinbergsbesitzer.

Dann gab es noch ein paar Handwerker und Händler, die ihre Waren auf dem wöchentlichen Markt vor dem Rathaus feilboten, um den sich stattliche Bürgerhäuser zogen.

In der Mitte des Marktplatzes befand sich das Reiterstandbild des Herzogs Christian von Sachsen-Weißenfels und darauf die Inschriften: »Bleibe stehen, Wanderer, und sende fromme Bitten empor zu Gott für Christian.« Und: »Lieber, bester Fürst, lebe so Gott will noch lange für uns.« Aenne hatte die beiden Chronogramme schon oft gelesen, fand sie aber nicht mehr zeitgemäß. Sie fand, auf dem Sockel sollte besser stehen: »Bacchus, wir beten zu dir für guten Wein.« Und: »Liebe, beste Reblaus, lebe so Gott will, aber nicht bei uns.«

Es gab eine Düngemittelhandlung, einen Steinmetz, mehrere Fassbauer, auch Böttcher genannt, den Künstlerkeller, das Hospital St. Laurentius, eine Apotheke, die Poststation, einen Sattler und Tapezierer, die Brauerei A. Seibt in der Schützenstraße, die Gärtnerlehranstalt, die Badeanstalt an der Unstrut, eine Schule und sehr viele Vereine, unter denen die Schützengilde die älteste war.

Aenne fiel dabei kein Mann in der Stadt ein, mit dem sie sich hätte vorstellen können, vor den Altar zu treten.

2

Nach dem Desaster mit Herrn Nimmrod hatte Ernestine ihr aufgetragen, sich für den Abend in Emma Kloss‘ Salon mit Bettinas Hilfe ein wenig hübsch herzurichten. Der Vater war zuerst dagegen, dass Aenne sie zu dem Salon begleitete, aber die Mutter hatte ihm energisch erklärt, dass sich vielleicht dort ein passender Verehrer für Aenne finden könnte, und schließlich hatte Karl Theodor Strauß brummend genickt.

Bettina war begeistert von ihrer Aufgabe gewesen, denn sie war im Hause Strauß die Expertin in Sachen Schönheit und Mode. Sie war etwas kleiner als Aenne, hatte ein Puppengesicht mit großen blauen Augen und helles Haar. Sie war wirklich hübsch und hatte ein heiteres Gemüt, und wie Aenne hatte sie eine Ausbildung an der Höheren Töchterschule in Naumburg abgeschlossen. Besonders im Rechnen war sie gut gewesen, auch das Fach Haushaltsführung hatte ihr gelegen. Alles in Bettina drängte zur Eheschließung, nur war der Richtige auch für sie noch nicht aufgetaucht. Bettina hatte Ansprüche, wenn auch ganz andere als Aenne. Ihr Mann sollte wohlhabend sein. Er sollte etwas darstellen, sollte Einfluss haben und Macht. Das Hotel ihres Vaters war gut und schön, aber nichts, das sie sich für ihr Leben wünschte. Ein Hotel machte wirklich gar so viel Arbeit. Da mussten Leute eingestellt werden, da mussten die Zimmermädchen kontrolliert werden, da musste man in der Küche nach dem Rechten sehen. Da musste man sich um die Speisepläne kümmern und darum, dass immer genügend Vorräte im Haus waren, und sobald irgendein Gast ein Anliegen hatte, musste man zur Stelle sein. Nein, für Bettina war so ein Leben nicht das Richtige.

»Sieh nur, das blassgelbe Kleid würde dir bestimmt gut stehen. Ich habe noch blassgelbe Handschuhe dazu und natürlich den passenden Hut. Probiere doch mal«, bat Bettina.

Aenne nahm das Kleid, zupfte an den Halsrüschen und schüttelte den Kopf. »Darin sehe ich aus wie eine Geburtstagstorte. Hast du nichts, was ein wenig schlichter ist?«

Bettina seufzte, kramte in ihrem Schrank herum, ließ die Kleiderbügel auf der Stange kratzen. »Das Grüne wolltest du nicht, das Rosafarbene hat dir nicht gefallen, das Blassgelbe sagt dir auch nicht zu. Herrgott, ich bin doch kein Kaufhaus. Sei froh, dass ich dir überhaupt etwas leihe und dich nicht in deinem dunkelblauen Leinenkleid gehen lasse, in dem du aussiehst wie eine Handwerkertochter.«

Aenne sah an sich herunter. Ihr Kleid war schlicht, aber aus bestem Leinen. Es hatte weder Spitzenbesätze noch Bänder oder Schleifen. Die Schneiderin in Naumburg hatte es nach Aennes Wünschen genäht. Die Mutter hatte ein wenig die Augen verdreht, aber sie war es wohl müde, mit ihrer jüngeren Tochter darüber zu streiten.

Plötzlich hielt Bettina inne: »Warum hast du den Oskar Nimmrod weggeschickt?«

Aenne zuckte mit den Achseln. »Weil ich ihn nicht liebe und weil ich ihn noch nicht einmal mag.«

Bettina schürzte die Lippen. »Ich hätte ihn genommen«, sagte sie und blickte sehnsüchtig aus dem Fenster. »Er ist der Besitzer des Weinschlösschens. Kannst du dir etwas Schöneres vorstellen, als in einem Schlösschen zu leben?«

»Ja«, gab Aenne zu.

»Manchmal verstehe ich dich nicht«, erklärte Bettina.

Aenne zuckte mit den Schultern. »Dann heirate du ihn doch, wenn du ihn so toll findest.«

Bettina blickte sie an, dann nickte sie langsam und sagte: »Vielleicht tue ich das sogar.« Sie wandte sich wieder dem Kleiderschrank zu. »Ein cremefarbenes Kleid würde dir auch sehr gut stehen«, sagte sie.

»Mein blaues Leinenkleid ist mir am liebsten«, erwiderte Aenne, doch im selben Augenblick warf Bettina ihr eine Kreation aus himmelblauer Seide zu. »Probiere das an. Das ist mein letzter Vorschlag. Wenn dir das auch nicht gefällt, dann weiß ich nicht weiter.«

Aenne stöhnte auf, zog sich aber gehorsam ihr Leinenkleid über den Kopf und schlüpfte in Bettinas himmelblaues. »Wenigstens ist es oben herum nicht so eng geschnitten wie deine anderen Kleider«, sagte sie und zupfte am Mieder herum.

Bettina half ihr bei den letzten Griffen. »Ein bisschen groß ist es schon. Deine Brüste kommen gar nicht richtig zur Geltung.«

»Das sollen sie auch gar nicht. Ich hasse Kleider, in denen die Brüste wie Äpfel in der Auslage liegen«, rief Aenne.

»Das ist ja das Problem« erwiderte Bettina. »Du weißt einfach nicht um deine Vorzüge und verstehst es nicht, sie richtig einzusetzen. Du kannst ruhig ein wenig Ausschnitt zeigen. Oder wenigstens eine Kette tragen, die die Aufmerksamkeit auf deine Brüste lenkt.«

Aenne verzog den Mund. »Bloß das nicht. Ich nehme das Himmelblaue. Ohne Kette, ohne Ohrgehänge.«

»Und was machst du mit deinem Haar?«

Bettina griff nach dem Zopf der Schwester. »Ich kann dir eine Hochsteckfrisur machen. Und Löckchen neben den Wangen. Das trägt man jetzt so.«

»Ich werde mir den Zopf neu flechten und fertig.«

Bettina stöhnte auf. »Mama hat gesagt, ich soll dich für eine Abendgesellschaft ein wenig herrichten. Also wenn du partout keine Löckchen haben willst, dann lass mich dir wenigstens das Haar hochstecken. Du kannst dafür sogar meinen kleinen Schildpattkamm benutzen.«

»Würdest du eigentlich auch gerne zum Kloss’schen Salon gehen?«, fragte Aenne. Sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, aber Bettina war nicht eingeladen, und nun würde sie auch noch ihr Kleid und ihr Kämmchen tragen.

»Ach nein, wirklich nicht. Ich gehe nachher zu Klärchen Stippak. Sie hat ein paar neue Zeitschriften aus Leipzig mitgebracht. Die wollen wir uns anschauen.«

Aenne war beruhigt, dann ließ sie sich in den Stuhl vor Bettinas Frisiertisch sinken. Ein halbes Dutzend Döschen mit verschiedenen Cremes standen darauf, eine silberne Maniküre, verschiedene Haarbürsten aus England und eine silberne Schale mit Klammern und Spangen, mit kleinen Kämmen und Haarbändern. Über dem Frisiertisch hing ein Spiegel in einem schweren goldenen Rahmen, und darin erblickte Aenne das Zimmer der Schwester. Ein kleines Rosenmuster zierte die Tapeten, auf dem Boden lagen Läufer aus bester Schurwolle. Direkt hinter Aenne befand sich das weiß lackierte Bett mit dem rosafarbenen Überwurf. Die ebenfalls rosafarbenen Vorhänge bauschten sich leicht im Wind, der durch das offene Fenster drang. Links hinter ihr stand der weiße Schleiflackschrank mit offenen Türen. Vor dem Fenster war ein kleiner Tisch, auf dem immer eine gut gefüllte Schale mit Pralinen stand. Der Duft nach weißem Flieder erfüllte den Raum.

Bettina griff nach der Bürste mit dem Elfenbeingriff und machte sich an Aennes Haar. Aenne ließ die Prozedur geduldig über sich ergehen und musste hinterher überrascht zugeben, dass die Frisur gut gelungen war. Die Schwestern schauten gemeinsam in den Spiegel, Aennes Blick suchte die Augen der älteren.

»Danke. Für das Kleid und alles.«

Die Mutter würde zufrieden sein, sich beim Salon nicht für sie schämen müssen, und Aenne fühlte sich unerwartet gut in der schönen Aufmachung.

Sie hatte schon so viel von dieser Zusammenkunft gehört. Sogar im Kolonialwarengeschäft von Frau Hirsch sprach man darüber. »Es heißt«, hatte die alte Frau Hirsch gesagt, »die Damen dort reden gar über Politik!« Sie sprach das Wort ein wenig vorsichtig aus, aber Ruth Hirsch, ihre Schwiegertochter, lachte. »Natürlich tun sie das, aber nicht nur. Sie lesen sich die neuesten Gedichte vor, sprechen über Romane und darüber, was in der Leipziger Oper gespielt wird. Und es sind nicht nur Damen anwesend.«

»So viel Zeit möchte ich einmal haben«, seufzte die alte Frau Hirsch und reichte Aenne aus Gewohnheit ein Bonbon aus dem großen Glas, wie sie es schon immer getan hatte.

Aenne nahm das Bonbon – es war ein Himbeerbonbon, das sie schon als Kind am liebsten gemocht hatte – und steckte es sofort in den Mund.

»Ich gehe heute auch zum Salon«, erzählte sie stolz, und die junge Frau Hirsch strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich wünschte, ich könnte auch einmal die ganze Pracht im Hause Kloss bewundern, aber unsereins kommt ja immer nur bis in die Küche.«

»Ich erzähle dir alles, wenn du magst«, versprach Aenne. Sie kannte Ruth Hirsch schon seit Schultagen, und sie hatten sich immer gut verstanden, auch wenn Ruth Hirsch ein ganz anderes Leben führte als Aenne. Aber Ruth Hirsch war auch eine von den Frauen, die gern Bücher lasen und in der Zeitung mehr als nur die Todesanzeigen. Aenne bedauerte es sehr, dass Ruth nun, da sie verheiratet war und im Lebensmittelladen arbeitete, nur noch sehr wenig Zeit hatte, um mit Aenne spazieren zu gehen und zu plaudern.

»Wollen wir uns mal wieder treffen?«, fragte sie. »Hast du Zeit, zu uns zu kommen?«

Ruth schluckte. »Wir haben gerade im Laden unheimlich viel zu tun. Sobald ich etwas Luft habe, komme ich.«