Über das Buch:
Yorkshire, 1710:

Dem jungen Daniel Huntington wird eine Stelle als Stallmeister auf dem renommierten Gestüt des Baronets Brigham angeboten. Überwältigt von dieser einmaligen Chance willigt er ein und hat sich bald auf dem Anwesen eingelebt. Nur eines lässt ihm keine Ruhe: Unter der Dienerschaft befindet sich eine Magd, die niemals spricht und von allen gemieden wird. Fasziniert von ihrer Freundschaft zu einer Schimmelstute, die sonst niemanden an sich heranlässt, versucht Daniel herauszufinden, was es mit der jungen Frau auf sich hat. Die letzten Worte des alten Stallmeisters deuten auf ein grausiges Geheimnis hin …

Über die Autorin:
Annette Spratte, Jahrgang 1970, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in einem kleinen Dorf im Westerwald. Die Liebe zu Büchern begleitet sie in ihrem Leben schon länger als die Liebe zu Pferden und Bücher waren es auch, die ihr den Weg zum Glauben gewiesen haben, als sie noch sehr weit von Gott entfernt war. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Wenn sie gerade nicht am Computer sitzt, kann man sie im Garten oder im Pferdestall antreffen. Über einen Besuch auf ihrer Homepage oder in den sozialen Medien freut sie sich sehr.

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Brigham Hall, den 27. Dezember 1710

Liebe Mutter,

natürlich hast du recht, ich glaube auch nicht, dass dieses Mädchen verflucht ist, obwohl alle versuchen, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Wenn Gott mir auch nur einen Funken Menschenverstand mitgegeben hat, dann weiß ich sicher, dass sie ein gutes Herz hat und nichts Böses im Schilde führt. Trotzdem muss ich ihre Warnungen beherzigen – aus anderen Gründen. Der Baronet ist sehr eigen, was dieses Mädchen angeht, und lässt nicht zu, dass jemand sich ihr nähert. Sein eigener Umgang mit ihr ist dabei mehr als grausam. Er schlägt sie zwar nicht – zumindest glaube ich das nicht –, aber trotzdem hat sie furchtbare Angst vor ihm. Was mich jedoch am meisten irritiert, ist ihre Verbindung zu diesem Pferd, die der Baronet mit allen Mitteln zu unterbinden sucht. Er lässt nicht zu, dass sie in die Nähe der Stute kommt, und hat mir mehr als einmal gesagt, ich soll sie wegjagen. Dennoch kommt sie immer wieder, obwohl sie offensichtlich Angst hat, erwischt zu werden. Ich muss es zugeben: Ich bringe es nicht übers Herz, sie zu verscheuchen, auch wenn ich damit direkt gegen die Anweisungen meines Herrn verstoße. Ich verstehe es einfach nicht! Warum sollte er etwas dagegen haben, dass sie das Pferd anfasst? Oder dass ich oder sonst irgendjemand das tut? Mir will einfach kein vernünftiger Grund einfallen. Sie weiß, dass ich es ihr erlaube. Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, und auch wenn sie mir nicht geantwortet hat, so haben wir uns doch irgendwie verstanden. Wenn wir etwas mehr Zeit gehabt hätten, hätte sie mich vielleicht sogar angelächelt.

Ich kann mir schon vorstellen, wie Du mich schiltst für meine Dummheit, und ich verspreche, dass ich mich nicht in Gefahr begeben werde. Ich werde meinem Herrn nicht in die Quere kommen, da er sehr aufbrausend reagieren kann. Andererseits scheint er mich mehr und mehr ins Vertrauen zu ziehen bei unseren abendlichen Dienstbesprechungen. Meine Rechenfähigkeiten haben sich mit seiner Hilfe stark verbessert und ich kann seinen Berechnungen jetzt gut folgen. Auch habe ich einige Verbesserungsvorschläge gemacht, die bei ihm Anklang fanden. Er ist kein Mensch, der gern lobt, aber ich habe den Eindruck, dass er mit mir zufrieden ist und es nicht bereut, mich eingestellt zu haben.

Es kommen immer wieder Herrschaften, auch von weiter her, um sich die Pferde anzusehen, und wir haben schon einige verkauft, seit ich hier bin. Anfangs hat der Baronet mich häufig bei der Arbeit mit den Pferden beobachtet, aber jetzt schaut er nur noch sporadisch nach mir, was auch eine Art Lob ist. Offensichtlich habe ich mir sein Vertrauen verdient und bin stolz darauf.

Ich werde mich aber bald nach einem neuen Stallburschen umsehen müssen. Bastian macht mir immer mehr Ärger und wird früher oder später gehen müssen, weil er meine Anweisungen nicht befolgt und oft ruppig mit den Pferden umgeht. So rau der Herr mit seinen Angestellten umspringt, so viel Wert legt er auf einen sanften Umgang mit den Pferden. Der Mann ist ein wandelndes Rätsel.

Mit Weihnachten wollte er überhaupt nichts zu tun haben und tat so, als würde es das Fest gar nicht geben. Ellie hat für uns alle aber ein kleines Festmahl zubereitet. Wir haben es ein wenig ruhiger angehen lassen. In die Kirche ist niemand gegangen, es ist ja auch ein ziemlich weiter Weg und das Wetter war furchtbar – Schneeregen und ein heftiger, eiskalter Wind.

Aber drinnen war es schön warm und Ellie hatte die Küche festlich geschmückt mit Tannen- und Mistelzweigen und Rosmarin. Ich war ganz froh, in den Ställen gut zu tun zu haben, sonst hätte ich Dich zu sehr vermisst. Ob wir irgendwann wieder ein Weihnachtsfest gemeinsam feiern können? Ich würde es mir sehr wünschen.

In Liebe,

Daniel Huntington,

(hoffentlich noch lange) Stallmeister von Brigham Hall

4. Nähe

Im neuen Jahr war Daniel viel zu beschäftigt, um sich über die Magd Gedanken zu machen. Die Abfohlsaison hatte nach dem harten Winter schon früh begonnen und er verbrachte fast Tag und Nacht bei den Stuten. Überraschenderweise half ihm der Baronet sehr viel bei seiner Arbeit, nahm ihm das Training der Reitpferde ab und kümmerte sich darum, dass die Stallburschen ordentlich arbeiteten.

Der Nachteil daran war, dass Bastian immer unleidlicher wurde. Bei einem seiner abendlichen Rundgänge erwischte Daniel ihn dabei, wie er eins der Pferde mehrmals schlug, weil es nicht sofort zur Seite getreten war, als Bastian vorbeiwollte.

»Hey!«, schrie Daniel ihn noch von der Stalltür her an. »So gehen wir hier nicht mit den Pferden um!« In wenigen Schritten war er bei Bastian angekommen. Der stemmte die Fäuste in die Hüften und warf Daniel einen verächtlichen Blick zu. »Ich behandle die Pferde so, wie ich will«, zischte er mit wütendem Blick und spuckte Daniel vor die Füße. Alles in seinen Augen forderte Daniel heraus, ihn zu maßregeln.

Daniel spürte, wie ihm angesichts dieses ungehobelten Verhaltens die Hitze in die Wangen stieg. Er holte tief Luft und bezwang seinen Ärger. Langsam atmete er aus und entspannte bewusst die Schultern und Arme. Bastian war fast so groß wie er selbst und etwas schwerer. Wenn er sich mit ihm anlegte, war es nicht sicher, ob er die Oberhand behielt. Er entschied sich, nicht das zu tun, was Bastian erwartete. »Du kassierst selbst genug Schläge«, sagte er so leise, dass Bastian ihn vermutlich kaum hören konnte. »Habe ich früher auch. Es ist nicht gut, geschlagen zu werden. Es macht einen wütend und hilflos zugleich.« Daniel war sich jetzt sicher, dass Bastian ganz genau zuhörte. Er unterbrach bewusst den Blickkontakt und schaute auf das Pferd. Mehr sagte er nicht, sondern ging an Bastian vorbei zur hinteren Weide, auf der Thunderboy, der Deckhengst des Gestüts, stand. Ob seine Ansprache etwas nützen würde, konnte er nicht sagen, aber zumindest hatte er die aktuelle Situation entschärft.

Kurz darauf hörte er Tumult aus dem Stall, Klappern und dumpfe Schläge, als würden Eimer herumgeworfen und gegen Pfosten getreten. Er wollte schon zurückeilen, als er die grimmige Gestalt des Baronets in der Tür auftauchen sah. Mit langen Schritten kam er auf Daniel zu.

»Was ist passiert?«, wollte Daniel wissen, aber der Baronet machte nur eine wegwerfende Handbewegung.

»Was macht unser Prachtkerl?«, fragte er stattdessen und bedachte den Hengst mit einem zufriedenen Lächeln.

»Alles bestens«, sagte Daniel. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, weil er sich nicht sicher war, was Bastian im Stall tat. Wenn der Baronet gerade noch einmal handgreiflich geworden war, wäre es gut möglich, dass der Junge die Beherrschung verlor. Darunter konnten die Pferde oder auch Willie und Tom leiden. Er biss sich auf die Lippe, unschlüssig, ob er Brigham darauf ansprechen sollte.

Der war mit seinen Gedanken ganz woanders. »Ich werde gleich zwei der Pferde nehmen und meine Pächterrunde drehen. Dann müssen Sie die schon mal nicht bewegen«, sagte er und wollte sich schon zum Gehen wenden.

»Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Daniel, »und eine große Hilfe. Ich wüsste sonst ehrlich gesagt nicht, wie ich das alles schaffen sollte.«

Der Baronet hielt inne. »Diese Pferde sind das Herzstück von Brigham Hall. Sie sind die besten Pferde meilenweit im Umkreis und jeder, der etwas auf sich hält, will so ein Pferd im Stall stehen haben – das gilt sogar für die Damen. Es ist Ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass nicht ein einziges Tier der diesjährigen Fohlenernte verloren geht, Mr Huntington. Ich verlange vielleicht viel von Ihnen, aber ich will Sie nicht umbringen. Mir ist bewusst, dass wir zu wenig Personal im Stall haben und Bastian seine Arbeit nicht macht. Sobald das hier vorbei ist, werden wir ihn wegschicken und einen anderen Stallburschen sowie noch einen weiteren Helfer einstellen. Ich habe die Nachricht schon in Umlauf gebracht.«

»Das freut mich zu hören, Sir«, antwortete Daniel.

»Lassen Sie Bastian nicht mit den jungen Pferden arbeiten. Der Bursche hat so viel Pferdeverstand wie ein Zaunpfosten. Mir ist lieber, sie kommen später an die Arbeit, als dass sie von diesem Idioten ruiniert werden. Sie werden mit ihnen arbeiten. Sie wissen, was Sie tun.«

Daniel blieb fast die Luft weg bei dem Lob. »In diesem Fall sollten Sie ihn so schnell wie möglich loswerden«, gab er vorsichtig zu bedenken. »Sobald ich mich umdrehe, macht er wieder irgendwas, was er nicht tun soll. Mr Higgins hält große Stücke auf sich.« Daniel ging nicht näher auf die Szene vorhin im Stall ein. Es war auch nicht nötig.

Ein leises Knurren drang aus der Kehle des Baronets. »Ich weiß«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Er wird nicht länger als unbedingt notwendig bleiben.« Damit überließ er Daniel seiner Arbeit. Der nahm den Weg über die Weiden, um zu den Stuten zu gelangen.

Nicht lange danach wackelte Ole Pete an den Zaun. Er beobachtete Daniel lange, wie er von Stute zu Stute ging.

Als er seine Begutachtung endlich beendet hatte, nahm er sich einen Moment Zeit, um mit dem alten Mann zu reden.

»Gibt es heute Nacht neue Fohlen?«, fragte Pete mit leuchtenden Augen.

»Zwei, vielleicht drei«, schätzte Daniel.

»Behalte die Rappstute im Auge. Die hat mich mehr als einmal veräppelt. Und die Braune da, die aussieht, als würde sie bald platzen?«

»Ja, die wird bestimmt heute Nacht fohlen«, erwiderte Daniel.

»Nee, frühestens nächste Woche.« Der alte Mann lachte laut, als er Daniels verdutztes Gesicht sah. »Ich habe schon nächtelang neben der gesessen, zwei Wochen lang! Und was war? Nichts! Und dann, als ich so müde war, dass ich gleich neben ihr im Stroh eingeschlafen bin, was finde ich, als ich wach werde? Das Fohlen. Die musst du in Ruhe lassen. Die macht das schon. Je mehr du nach ihr siehst, desto länger hält sie es fest. Die Hellbraune da drüben, die braucht Hilfe. Die habe ich beim ersten Fohlen fast verloren und seitdem ist sie nervös. Macht aber verdammt hübsche Föhlchen.«

Er grinste sein zahnloses Grinsen und Daniel fragte sich, wie er jemals ohne seine Weisheiten klarkommen sollte. Ole Pete kannte jedes einzelne Pferd auf dem Gestüt und die meisten von ihnen seit dem Tag ihrer Geburt. Daniel schickte ein Stoßgebet zum Himmel und bat Gott, dass er Pete noch ein paar Jahre auf der Erde schenken möge. Er hakte den alten Mann unter und half ihm, den beschwerlichen Weg zu seiner Hütte zurückzulegen.

Als sie dort ankamen, hatte die stumme Magd schon das Abendessen für ihn bereitgestellt und war damit beschäftigt, seinen Nachttopf auszuleeren. Daniel schob den Stuhl zurecht und half Ole Pete, sich an den Tisch zu setzen. Pete sackte in sich zusammen, sobald er saß, und murmelte kopfschüttelnd vor sich hin.

»Was ist?«, fragte Daniel.

»Sollte sie nicht tun, nee«, brummelte Pete, die Stirn in tiefe Falten gelegt.

»Was tun?« Aber Pete reagierte nicht. Er kippte zur Seite und Daniel musste ihn schnell packen, damit er nicht vom Stuhl fiel.

»Ich glaube, du legst dich besser hin«, sagte er sanft.

Pete schüttelte noch immer den Kopf und murmelte vor sich hin, aber er wehrte sich nicht, als Daniel ihn wieder auf die Füße hievte und zum Bett führte. Er zog ihm die Stiefel aus und deckte ihn zu. Als er sich umdrehte, war die Magd mit einer Schüssel voll Brühe für den alten Mann zurück.

»Soll ich ihm noch ein Kissen in den Rücken stecken, damit er etwas aufrechter sitzt?«, fragte Daniel. Sie nickte leicht und wandte ihren Blick nicht von seinen Augen ab. Obwohl ihr Gesicht ernst war, spürte er, dass sie ihm für seine Freundlichkeit dankbar war. Sie schien dem alten Mann sehr zugetan zu sein.

Als er ging, hörte Daniel ihn wieder grummeln. »Solltest das nicht tun, kann ich selbst, armes, süßes Mädchen, du solltest das nicht ...«

Daniel warf noch einen Blick über die Schulter. Das Mädchen lehnte sich nah an Ole Pete heran und hielt die Schüssel für ihn, während er aß. Das Bild war unglaublich friedvoll.

* * *

Es war Mitte April, als der Wind von West auf Nord drehte und einen fürchterlichen Sturm vor sich hertrieb. Daniel fand keine Ruhe. Die Böen waren so heftig, dass er Angst hatte, das Dach würde mitgerissen. Er saß bei brennender Lampe auf seinem Bett und spürte, wie es in seinen Eingeweiden rumorte. Er hatte auf Gewitter immer so reagiert, schon als Kind, und wusste, dass er bald den Abort würde aufsuchen müssen. Kein Gebet half dagegen. Er ging, auch wenn er es hasste. In der kleinen Holzhütte fühlte er sich noch unsicherer. Hoffentlich schlug der Blitz nicht ein. Er beeilte sich und verfluchte sich selbst auf dem Weg zurück zum Stall, weil er keinen Schutz gegen den Regen mitgenommen hatte. Ein Schrei ließ ihn auf halbem Weg erstarren. Das grelle Licht eines Blitzes zerriss für einen Sekundenbruchteil die Dunkelheit und gab eine weiße Gestalt preis, die gegen den Pfosten des Dienstboteneingangs prallte. Der folgende Donner konnte einen weiteren panischen Schrei nicht übertönen. Daniel stand da wie gelähmt. Sein ganzer Körper war von Gänsehaut überzogen. Plötzlich war er nicht mehr gänzlich überzeugt davon, dass die Geistergeschichten frei erfunden waren. Alles in ihm wollte fliehen, aber er stand wie angewurzelt im Regen. Plötzlich hörte er direkt vor sich jämmerliches Schluchzen und dann krachte etwas mit Schwung gegen ihn. Der nächste Blitz enthüllte die namenlose Magd, ihre Augen vor Angst weit aufgerissen. Reflexartig fing Daniel sie auf, unsagbar erleichtert, dass sie kein Gespenst war. Sie fing wieder an zu schreien und kämpfte, um loszukommen. Sie schien gar nicht wirklich bei Sinnen zu sein.

»Hör auf, ich bin es, Daniel!«, rief er über den Sturm hinweg, aber sie hörte nicht. Ohne lange zu überlegen, packte er sie einfach um die Mitte und trug sie in den Stall.

Als ob sie eine magische Grenze überschritten hätten, hörte sie plötzlich auf, sich zu wehren. Daniel stellte sie wieder auf die Füße. Im schwachen Licht der Lampe, die er neben der Tür abgestellt hatte, sah er, dass sie im Unterkleid vor ihm stand, ihre Füße nackt und dreckig. Einen Augenblick lang sah sie ihn stumm an, dann brach sie wieder in Tränen aus. Er zog die durchnässte, zitternde Gestalt in seine Arme und murmelte beruhigenden Unfug, während sein Gehirn auf Hochtouren lief.

Warum um alles in der Welt war sie so in den Regen hinausgelaufen? Er schüttelte den Kopf und brachte sie zu einer Kiste, auf die sie sich setzen konnte, aber ihr Zittern und Weinen wurde so heftig, dass sie einfach zusammenbrach. Erneut fing er sie auf und setzte sie auf seinen Schoß. Dann zog er eine Pferdedecke um sie beide, um sie zu wärmen. Sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte und weinte.

Daniel wusste nicht, was er tun sollte, außer sie zu halten und zu warten. Ein Teil von ihm wünschte sich, er wäre nicht zum Abort gegangen, sondern einfach ins Stroh zu den Pferden, um sich zu erleichtern. Dann wäre sie ihm nicht in die Arme gelaufen und dieses Gefühlschaos wäre ihm erspart geblieben. Gleichzeitig empfand ein anderer Teil von ihm die zarte, weibliche Gestalt in seinen Armen als sehr aufregend, wie sie sich so eng an ihn schmiegte und ihn reichlich verwirrte.

Nach einer halben Ewigkeit ließ die Tränenflut endlich nach. Das Mädchen bewegte sich jedoch nicht, sondern blieb auf seinem Schoß sitzen, den Kopf an sein wild klopfendes Herz gelehnt. Er wollte gern ihr nasses, zerzaustes Haar streicheln. Bevor er das jedoch tun konnte, hob sie langsam den Blick und sah ihm in die Augen. Er schluckte. Noch nie in seinem Leben hatte er eine so abgrundtief schmerzerfüllte Traurigkeit gesehen. Sie blinzelte und ein kleiner Funke Dankbarkeit leuchtete in ihren Augen auf, dann legte sie zögernd eine Hand an seine Wange. Ihre kalten Finger hatten seine Haut kaum berührt, ehe sie von seinem Schoß rutschte und wieder in der stürmischen Dunkelheit verschwand. Er stand auf und folgte ihr, blieb aber im Torbogen stehen, als er beim nächsten Blitz sah, wie der Baronet sie am Arm zurück in die Küche zerrte. Er musste sie gesucht haben. Wie hätte er wohl reagiert, wenn er sie auf Daniels Schoß gefunden hätte? Nach Russells Erzählungen wollte er das lieber nicht wissen.

Während er in den Stall zurückging, fragte er sich zum hundertsten Mal, was es mit diesem Mädchen auf sich hatte. Sie erschien ihm jetzt doch älter, als er zunächst gedacht hatte, kein junges Ding von fünfzehn, sondern eher um die zwanzig. Das war eine Überraschung. Durch ihre zierliche Gestalt wirkte sie mädchenhaft, doch der Ausdruck in ihren Augen hatte eine Tiefe, die von deutlich mehr Lebenserfahrung sprach. Er musste mehr über sie herausfinden. Vielleicht konnte Ole Pete ihm doch etwas erzählen. Keiner der anderen Angestellten hatte ihm Näheres sagen können. Außerdem machten alle einen großen Bogen um sie. Er sollte wirklich das Gleiche tun, aber sein verfluchtes, mitfühlendes Herz ließ es nicht zu. Ebenso wie seine Neugier.

Er hob die Lampe auf und schloss die Tür, dann faltete er die Decke wieder ordentlich zusammen. Plötzlich traf es ihn wie einer der Blitze, die draußen noch immer zuckten. Sie hatte geschrien. Hatte sie etwa doch eine Stimme? Und wenn ja, warum sprach sie dann nicht? Er schüttelte verwirrt den Kopf.

Ihre Augen waren grün mit goldenen Flecken darin. Er war sich sicher, dass sie funkelten, wenn sie lächelte. Würde er sie jemals lächeln sehen?

Brigham Hall, den 9. Mai 1711

Liebe Mutter,

herzlichsten Dank für den langen Brief und die Neuigkeiten von meinen Brüdern und Schwestern. Ich freue mich zu hören, dass Mary sich erholt hat. Bitte übermittle ihr meine Grüße und besten Wünsche. Mir geht es zum Glück sehr gut, ich erfreue mich bester Gesundheit und es gab auch keine Unfälle.

Wie durch ein Wunder sind alle Fohlen ohne Komplikationen zur Welt gekommen und es ist eine wahre Freude, sie auf der Weide herumtoben zu sehen. Es wird dich erleichtern zu hören, dass ich jetzt auch wieder ausreichend Schlaf bekomme. Meine Arbeitslast hat sich deutlich verringert, da der Baronet Wort gehalten und Bastian entlassen hat. Dafür hat er einen erfahrenen Stallburschen eingestellt, der etwas älter ist als ich und sehr umgänglich. Die beiden Jungs, Willie und Tom, lassen sich auch viel besser führen, jetzt wo Bastian weg ist.

Es kostet mich noch Überwindung, dem neuen Mann, Oliver, Anweisungen zu geben, aber wir kommen wirklich gut miteinander aus und der Herr sucht weiter nach Ersatz für Bastian. Oliver schafft doppelt so viel Arbeit wie Bastian und scheint auch ganz zufrieden damit zu sein, sich um die Ställe zu kümmern, während ich mit den Pferden arbeite. Die kleinen Burschen haben wir unter uns aufgeteilt, sodass sie sich auch nicht mehr gegenseitig von der Arbeit abhalten. Alles in allem eine sehr zufriedenstellende Lösung.

Bezüglich des Rätsels um die stumme Magd gibt es nichts Neues, außer der Vermutung, dass sie doch sprechen kann. Ich habe sie während eines furchtbaren Gewitters schreien hören, Blitz und Donner müssen sie verängstigt haben. Sie kommt die Schimmelstute auch weiterhin so oft wie möglich besuchen, aber wenn der Baronet in der Nähe ist, wagt sie sich nicht heran. Ich habe mir angewöhnt, immer etwas trockenes Brot oder einen Apfel in der Tasche zu haben, womit sie das Pferd füttern kann. Sie scheint sich darüber sehr zu freuen und ich habe sogar schon mal die Spur eines Lächelns auf ihrem sonst so ernsten Gesicht entdeckt. Ich weiß, dass ich damit gegen die Anweisungen meines Herrn verstoße, aber ich kann nicht anders. Es scheint so irrational, wie er sie behandelt. Ich gebe aber acht, dass es niemand mitbekommt.

Während der Baronet normalerweise ein zielstrebiger und intelligenter Mann mit klaren Vorstellungen ist, lässt mich sein Verhalten doch manchmal an seinem Verstand zweifeln. Gestern Abend, beispielsweise, wollte ich wie immer sein Arbeitszimmer betreten, als ich ihn drinnen laut wettern hörte. »Wie hat er es gemacht?«, brüllte er. »Seine Methoden waren ineffektiv, er hat Zeit verschwendet und das Geld in den Wind geschossen und trotzdem waren seine Erträge besser! Es ist unmöglich.« Dann hörte ich ein lautes Rumsen. Ich wollte schon gehen, aber just in dem Moment wurde die Tür aufgerissen. »Da sind Sie ja«, sagte Brigham zu mir und zog mich förmlich in den Raum. Er ging mit energischen Schritten zu seinem Schreibtisch und schlug mit der flachen Hand auf das Buch, das darauf lag. »Schauen Sie sich das an und sagen Sie mir, was ich übersehe.«

Ich war sprachlos und er muss meine Verwirrung bemerkt haben. »Das ist eins der Bücher meines Vorgängers. Er hat das Anwesen ganz anders geführt als ich. Ich bin mir sicher, dass ich viele Verbesserungen vorgenommen habe, den Fruchtwechsel zum Beispiel. Ich habe Klee und Rüben eingeführt, dadurch werden die Böden verbessert und wir haben sogar Winterfutter für das Vieh! Aber die Zahlen zeigen es nicht. Ich bin überzeugt, dass ich viel mehr verdienen müsste, als er es je getan hat, aber das tue ich nicht. Schauen Sie es sich an, Huntington«, wiederholte er. »Sagen Sie mir, was ich übersehe.«

Ich versprach ihm, mein Bestes zu tun, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm helfen kann. Bisher hatte ich kaum Gelegenheit, das Buch wirklich zu studieren, aber ich bin neugierig, das muss ich zugeben. Das Brigham-Anwesen floriert, die Pächter produzieren einen guten Ertrag und die Verkäufe aus der Zucht steuern ebenfalls gutes Geld bei. Da der Baronet nicht verheiratet ist, gibt es auch keine Frau, die ein Vermögen für Kleider und die Bewirtung von Gästen ausgibt. Der Baronet selbst scheint an den üblichen sozialen Kreisen kein Interesse zu haben und empfängt Besucher nur zu Geschäftszwecken. Es gibt noch ein kleines Darlehen, das voraussichtlich im Laufe des nächsten Jahres zurückgezahlt wird. Es ist für mich also überhaupt nicht nachzuvollziehen, warum der Baronet so in Rage geraten sollte. Warum hat er das Gefühl, er müsste seinen Vorgänger übertrumpfen?

Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie Du Deinen Kopf schüttelst und mir Vorwürfe machst. Ich weiß, dass es mich nichts angeht. Aber er hat mich involviert, wie soll ich mir da keine Gedanken machen? Ich wünsche mir so sehr, Dich wiederzusehen, liebe Mutter, und all diese seltsamen Vorgänge mit Dir zu besprechen.

Mit liebsten Grüßen,

Dein Sohn Daniel

5. Erfindung

Es war ein herrlicher Maitag, als Daniel eine Kutsche in den Innenhof der Stallungen rumpeln hörte. Bevor Willie neugierig aus dem Stall verschwinden konnte, packte Daniel ihn am Kragen und drehte ihn zu sich um. »Erst wird das Pferd fertig abgerieben und getränkt. Die Hufe müssen auch noch kontrolliert werden. Dann bindest du ihn ordentlich fest, nicht wie das letzte Mal, wo er die halbe Nacht durch den Stall gewandert ist und Unfug getrieben hat. Und dann – aber erst dann – kannst du nachsehen, wer da angekommen ist, verstanden?«

Willie sah betreten zu Boden und kaute auf seiner Unterlippe. Daniel gab ihm einen ermunternden Klaps auf den Rücken und trat selber in den Hof hinaus. Unter den ausladenden Ästen der Kastanie hatte ein lang gestreckter Wagen angehalten. Russell hatte den Besucher in Empfang genommen und wollte gerade losgehen, um den Baronet zu holen, doch der kam bereits mit langen Schritten herbeigeeilt. »Bringen Sie mir eine Lieferung?«, rief er schon von Weitem, ein ungewohnt erwartungsvolles Leuchten in den Augen.

»Ja, wenn Sie eine Sämaschine von Mr Tull bestellt haben, Sir?«, erwiderte der Mann, der die Rückwand der Ladefläche herunterklappte und dann zwei Planken anlegte.

Brigham rieb sich die Hände. »Das habe ich in der Tat«, sagte er zufrieden und beobachtete, wie der Mann auf den Wagen kletterte. »Vorsicht mit dem guten Stück, es hat mich ein Vermögen gekostet«, ermahnte er ihn sicherheitshalber.

Daniel trat neugierig näher. Der Mann schob ein eigentümliches Gerät an den Rand der Ladefläche und versuchte, dessen Räder auf die Planken zu rollen.

»Komm Russell, pack mal mit an«, forderte Daniel den Lakaien auf und gemeinsam bugsierten sie die Maschine auf den sicheren Boden.

»Sehr schön, sehr schön«, murmelte Brigham und wanderte lächelnd um das Gerät herum. Es hatte einen Doppelgriff, an dem man es schieben konnte. Vorn waren zwei Räder und hinten eine kleinere Walze. In der Mitte befand sich ein größerer Behälter und untendrunter waren mehrere pflugähnliche Dornen angebracht.

»Wozu soll das Teil gut sein?«, fragte Russell vollkommen ratlos.

»Damit kann man wesentlich effektiver säen«, antwortete Brigham. »Die Maschine macht eine Furche in den Boden. Durch dieses Rohr ...«, Brigham bückte sich und deutete mit seinem langen Arm auf eine Röhre, die unten an dem Behälter befestigt war, »… fallen die Samen in die Furche. Mit den Dornen hier werden sie mit Erde bedeckt und die Walze hinten drückt den Boden fest. Es wird kein Samen mehr verschwendet, weil er zu weit geworfen wird oder obenauf liegen bleibt. Es ist fantastisch!«

Daniel hatte Brigham noch nie so begeistert gesehen. Er freute sich wie ein kleiner Junge über ein Spielzeug.

»Russell, bring den Herrn in die Küche, damit er sich stärken kann. Mr Huntington, versorgen Sie die Pferde.«

»Soll ich ausspannen, Sir?«, fragte Daniel mit einem Blick auf den Lieferanten.

»Nein, geben Sie ihnen Wasser und eine Schippe Hafer. Ich werde gleich wieder aufbrechen«, erwiderte der und folgte Russell dann in die Küche.

Daniel holte Eimer und Futtersäcke aus dem Stall und bot den dankbaren Pferden Wasser an. Dann hängte er ihnen die Futtersäcke um und gesellte sich wieder zu Brigham.

»Es ist jetzt schon zu spät, es zu testen, oder nicht?«, bemerkte er.

Brigham zog die Stirn kraus. »Ja, leider. Ich hatte sie schon im letzten Herbst bestellt, gleich nachdem ich von dieser Erfindung erfahren hatte. Es gibt sie seit 1701, sie ist also schon erprobt und die Berichte sind überwältigend. Man sagt, die Pflanzen gedeihen viel besser als mit der herkömmlichen Sämethode.« Er strich mit den Händen über die Griffe und untersuchte dann jedes einzelne Detail der Maschine ganz genau. »Sehen Sie sich das hier an!« Er zeigte auf eine Stange, die seitlich abstand und ebenfalls mit einem Dorn versehen war. »Damit markieren Sie, wo die nächste Reihe anfängt. So bekommen Sie wunderbar gleichmäßige Abstände, kein Verziehen mehr, weil die Pflanzen zu eng stehen. Einfach ein perfekt ausgeklügeltes System.« Brigham sah Daniel an. »Was sagen Sie?«

Daniel lachte überrascht. Wollte er wirklich seine Meinung hören? »Ich kann mir kaum vorstellen, wie das funktionieren soll, ehrlich gesagt. Man muss es ausprobieren.« Er zuckte mit den Schultern.

»Recht haben Sie«, sagte Brigham voller Elan. »Und das werden wir trotz allem. Reiten Sie zu Miller runter. Der war im Herbst krank und hat bestimmt ein Feld brach liegen. Sagen Sie ihm, dass ihm die große Ehre zuteilwird, dass noch in diesem Jahr die neue Erfindung bei ihm getestet wird. Nein, warten Sie. Satteln Sie zwei Pferde. Wir reiten gemeinsam hin. Und sagen Sie den Bengeln, sie sollen um Himmels willen die Finger von der Maschine lassen!« Brigham eilte zum Haus.

»Nicht anfassen! Du hast den Herrn gehört«, ermahnte Daniel Willie, der mit großen Augen in der Stalltür stand und alles beobachtet hatte. »Mach schon mal Thunderboy fertig. Ich denke, der Herr wird gleich losreiten wollen.«

Daniel holte sich eins der jüngeren Pferde vom Auslauf, einen Wallach, der zu viel Energie hatte. Dem würde ein langer, schneller Ritt guttun und hoffentlich ein paar Flausen aus dem Kopf treiben.

Fast wäre ihm der Jungspund durchgegangen, doch Thunderboy war sich seiner Rolle als Lieblingspferd des Herrn auf Brigham mehr als bewusst und trat dem jungen Wallach kräftig gegen die Brust, als der ihn überholen wollte. Brigham lachte laut auf und klopfte seinem Pferd den Hals, während sie in flottem Tempo weitergaloppierten. Daniel lachte nicht, da der Wallach ein paar erschrockene Bocksprünge machte, doch dann ordnete er sich brav hinter dem älteren Pferd ein. Nach etwas über der Hälfte der Strecke ging ihm die Kraft aus und Daniel musste den Baronet bitten, das Tempo zu drosseln.

»Warum mussten Sie unbedingt den Grünschnabel nehmen?«, fragte Brigham ungeduldig, doch als Daniel ihm seine Beweggründe erklärte, nickte er anerkennend. »Nicht dumm, Huntington, nicht dumm.« Er betrachtete amüsiert das geläuterte Gesicht des Wallachs. »Sieht aus, als hätte er seine Lektion gelernt.«

Jetzt konnte auch Daniel sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Manchmal braucht man einfach ein anderes Pferd, um ein Pferd zu erziehen. Ich wusste, ich kann mich auf Thunderboy verlassen.«

Der Pächter Miller wirkte nicht sehr begeistert, als der Baronet persönlich bei seiner Hütte auftauchte. Er verneigte sich kurz und sah seinen Herrn misstrauisch an.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Felder brach liegen haben?«, fragte Brigham ohne Umschweife, noch während er sich vom Pferd schwang. Er warf einem kleinen Jungen die Zügel zu und baute sich mit verschränkten Armen vor dem Bauern auf.

»Zwei Drittel habe ich bestellt«, erwiderte der Bauer trotzig. »Der Rest brauchte sowieso eine Pause.« Seine Frau trat an seine Seite und legte den Arm um ihn. »Er hat wirklich schwer geschuftet, Herr, das müssen Sie glauben!«, sagte sie ängstlich. »Die Kinder und ich haben alle mit angepackt, aber sie sind noch so klein ...«

Der Baronet wischte ihre Bemerkungen mit einer Handbewegung weg. »Ich habe gute Neuigkeiten für Sie, Miller. Zeigen Sie mir die Brachen. Ich habe eine neue Maschine angeschafft, mit der die Arbeit viel besser zu bewältigen ist. Wir werden sie auf Ihren Feldern testen. Ich selbst werde das in die Wege leiten und beaufsichtigen. Wenn es gut klappt, wovon ich ausgehe, dann werden Sie im Herbst der Erste sein, der damit säen darf.«

»Eine Maschine zum Säen? So was habe ich ja noch nie gehört«, brummte der Bauer unwirsch, aber der Baronet war schon wieder dabei aufzusteigen.

Miller schickte seinen Sohn los, um dem Herrn die Felder zu zeigen. Der Junge rannte vor den Pferden her und führte sie zu zwei größeren Parzellen, die von einer niedrigen Steinmauer umgeben waren.

»Sind hier viele Steine im Boden?«, fragte Daniel.

Der Junge nickte. »Pa sagt immer, die wachsen hier besser als jedes Korn.«

»Könnte das die Maschine beeinträchtigen?«, fragte Daniel an den Baronet gewandt.

Der runzelte einen Moment die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wie Sie schon sagten, wir müssen es ausprobieren.«

Der Rückweg dauerte deutlich länger als der Hinweg, denn sie wollten das junge Pferd nicht überanstrengen. Dadurch ergab sich ein für Daniel überraschend persönliches Gespräch mit seinem Herrn.

»Sie haben sich vielleicht schon gefragt, warum ich Sie eingestellt habe, Huntington«, sagte der Baronet zielsicher. »Einen dahergelaufenen Burschen, der nichts als seinen Verstand vorzuweisen hat.«

Daniel schluckte. Nachdem er vom Baronet in letzter Zeit öfter mal ein Lob für seine Arbeit eingeheimst hatte, war diese Beschreibung mehr als ernüchternd.

Brigham brach in schallendes Gelächter aus. »Nehmen Sie’s mir nicht übel, wenn ich die Dinge beim Namen nenne, aber ich weiß genau, wie Sie sich fühlen, glauben Sie mir.« Ein geheimnisvolles Lächeln huschte über sein Gesicht und Daniel fragte sich, was der Mann verbarg. »Sie sind klug, Huntington, und Sie haben eine hervorragende Beobachtungsgabe. Und dadurch mehr Pferdeverstand als so mancher, der sich selbst einen Kenner nennt. In gewisser Weise bin ich ganz froh, dass Sie nie in der Schule waren, denn damit hat man Ihnen Ihre natürliche Neugier nie aberzogen.«

Daniel wusste darauf nichts zu sagen.

»Es gibt nicht viele Menschen, mit denen ich mich gern unterhalte, wissen Sie«, fuhr der Baronet nachdenklich fort. »Die meisten sind so schrecklich einfältig. Fantasielos. Dumm. Hach«, machte er dann und spuckte einmal kräftig ins Gras. »Sie hingegen haben sich eine gewisse Offenheit bewahrt, auch wenn ich mir sicher bin, dass man sehr intensiv versucht hat, sie Ihnen auszuprügeln. Habe ich nicht recht?« Er warf Daniel einen prüfenden Blick zu.

»Ich bin mir nicht sicher, was man versucht hat, mir auszuprügeln, aber Prügel gab’s reichlich«, gab Daniel zu. Erst von seinem Vater, dann von seinem Herrn. Und von den anderen Stallburschen.

»Entspannen Sie sich, Huntington. Von mir bekommen Sie keine Prügel. Ich respektiere Sie. Und ich würde mehr mit Ihnen reden, wenn Sie nicht immer so vor mir kriechen würden. Das macht mich wütend. Lassen Sie das, verstanden?«

»Ja, Sir«, erwiderte Daniel.

»Ja, Sir?«, echote Brigham.

In dem Moment wurde Daniel bewusst, wie widersprüchlich seine Äußerung war, und die Schamesröte stieg ihm ins Gesicht. Diese Situation war so außergewöhnlich, dass er überhaupt nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Gleichzeitig musste er unwillkürlich lachen. Brigham stimmte ein mit seiner seltsam hohen Stimme und Daniel wusste auf einmal mit völliger Klarheit, dass Baronet Brigham ein sehr einsamer Mann war. Schon seit langer Zeit.

Brigham Hall, den 28. Mai 1711

Liebe Mutter,

Du wirst aus dem Staunen nicht herauskommen, wenn ich Dir berichte, wie sich die Dinge hier entwickelt haben. Der Baronet zieht mich immer mehr ins Vertrauen. Anfangs war ich sehr skeptisch und fragte mich fortwährend, was er wohl vorhat. Ihm ist so eine unterschwellig berechnende Art zu eigen, die mich immer wieder verunsichert. Dennoch scheint mir sein Interesse an mir aufrichtig zu sein. Er baut auf meine Hilfe und Unterstützung und bespricht neuerdings viele Angelegenheiten mit mir bei unseren allabendlichen Treffen, zum Beispiel wie man die Bauern überzeugen kann, die neue Sämaschine zu nutzen, die er angeschafft hat. Einen Pächter hat er gezwungen, zwei Felder damit einzusäen, obwohl es die völlig falsche Jahreszeit ist. Letztendlich hat der Baronet selbst Hand angelegt, damit die Maschine benutzt wurde, was sich bei den Pächtern herumgesprochen hat wie ein Lauffeuer. Ich habe auf meinen Trainingsrunden mit den Pferden eine Menge Gespött gehört und war einigermaßen erschüttert über die Art, wie die Pächter über ihren Lehnsherren denken. Sie verachten ihn und haben gleichzeitig Angst vor ihm, denn sein aufbrausendes Wesen ist allen bekannt.

Bisher habe ich ihm davon nichts gesagt. Ich denke aber, dass es ihm bewusst ist. Nicht umsonst sucht er den Kontakt zu mir, um endlich einmal jemanden zu haben, mit dem er sich austauschen kann. Er fördert mich auch und erklärt mir vieles, sodass ich die Zusammenhänge des ganzen Anwesens mit seinen Bediensteten, der Pferdezucht und den Pächtern immer besser verstehe. Es ist ein komplexes Gebilde, fast wie ein lebender Organismus, wo alles miteinander verwachsen ist.

Er fragte mich auch nach dem Buch seines Vorgängers, aber ich war noch nicht dazu gekommen, es mir anzusehen. Lange sollte ich das aber nicht mehr vor mir herschieben, denn ich spüre seine Ungeduld. Er will meine Meinung dazu hören und warten fällt ihm schwer.

Ihn nach der stummen Magd zu fragen, habe ich bisher nicht gewagt. Mehrfach habe ich beobachtet, wie er einerseits über sie wacht, als wäre sie ein wertvoller Schatz, nur um sie andererseits mit wenigen groben Worten in Angst und Schrecken zu versetzen. Ich bin mir sicher, dass es Vorfälle in der Vergangenheit gab, die ihre Angst begründen, auch wenn es derzeit bei reinen Drohungen bleibt. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen, aber wie?

In Liebe,

Daniel

6. Ausbruch

Daniel war gerade dabei einzuschlafen, als das Klappern von Pferdehufen auf Steinen an seine Ohren drang. Nicht das scharfe Klirren von Hufeisen, sondern das sachte Klopfen von unbeschlagenen Hufen. Eine der Zuchtstuten? Daniel setzte sich auf und lauschte angestrengt. Ja, nur ein einzelnes Pferd. Er stieg aus dem Bett und stellte sich ans Fenster, von dem aus er den Innenhof zwischen den Stallgebäuden und ein Stück des Weges sehen konnte, der bis zum Eingang der Weiden gepflastert war. Dahinter ging er in einen grasbewachsenen Feldweg über. Die Nacht war mondlos und dunkel und er konnte nur vage zwei weiße Formen wahrnehmen, die sich auf der Straße bewegten. Erschrocken fuhr er zurück. Davon hatte Russell ihm doch erzählt! Weiße Gestalten, die nachts um die Weiden schlichen! Einen Moment lang stand er mit klopfendem Herzen mitten im Raum. Doch dann trat er wieder ans Fenster, denn er wollte keinesfalls so enden wie sein Vorgänger. Er starrte so angestrengt in die Dunkelheit, dass er das Gefühl hatte, seine Augäpfel würden bald die Fensterscheibe berühren. Schließlich erkannte er, dass es sich um eine Person und ein Pferd handeln musste, eine kleine Person, die ein Kleid trug. War das vielleicht die Magd? Sie machte irgendetwas am Kopf des Pferdes. Daniel beobachtete ihre Bewegungen und ihm wurde klar, dass sie das lose Ende des Führstrickes am Halfter festknotete, um dadurch Zügel zu bekommen. Daniel schüttelte ungläubig den Kopf. Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, ritt ein Pferd ohne Gebiss im Maul. Das Tier kniete sich plötzlich hin, sodass sie problemlos auf den Rücken klettern konnte. Sobald sie oben saß, richtete sich das Pferd wieder auf und setzte sich in Bewegung. Als sie den Feldweg erreicht hatten, galoppierte es an und verschwand in der Dunkelheit.

Einen Moment lang fragte sich Daniel, ob er sich die beiden nur eingebildet hatte. Er entzündete seine Lampe und rannte hinunter in den Stall. Als Erstes ging er in die Sattelkammer, aber alle Sättel und Trensen hingen an ihrem gewohnten Platz. Sie ritt offensichtlich ohne Sattel, was für ein Mädchen äußerst ungewöhnlich war. Wenn es ein Mädchen war. Etwas zögerlich ging er hinaus zur Weide. Mit der Lampe war es zwar nicht stockfinster, trotzdem war ihm leicht mulmig zumute. »Geister klauen doch keine Pferde ...«, murmelte er leise vor sich hin. Der Klang seiner Stimme ließ die helle Gestalt in seinem Kopf gleich weniger gespensterhaft erscheinen. Auf diesem Weideabschnitt gab es nur einen Schimmel und das war die kleine weiße Stute, die niemand anfassen durfte. Er konnte sie nirgends entdecken. Mit häufigen Blicken über die Schulter ging er zurück und blieb an der Stalltür stehen, unschlüssig, was er tun sollte. In die Küche gehen? Wenn die stumme Magd nicht dort auf der Bank schlief, bestand kein Zweifel mehr, wer sich die Schimmelstute für einen Mitternachtsritt ausgeliehen hatte.

Er ging. Er musste es nicht nur herausfinden, um seine eigene Neugier zu befriedigen. Einer seiner vierbeinigen Schützlinge war weg und es war seine Verantwortung, den Übeltäter zu ermitteln.

Daniel trat leise in die Küche und hielt seine Lampe hoch. Er bewegte sich um den Tisch herum, fand aber beide Bänke leer vor. Das Mädchen war weg und auch ihre Kleider lagen nicht auf dem Boden. Ein erleichterter Seufzer entfuhr ihm. Er wollte gerade wieder hinausgehen, als der Baronet von der anderen Seite aus die Küche betrat.

Er brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, um die Situation zu erfassen. »Wo ist sie?«, zischte er und funkelte Daniel wütend an.

»Sie hat das Pferd genommen«, antwortete Daniel.

»Warum haben Sie sie nicht aufgehalten?«, wollte Brigham wissen und eilte an ihm vorbei.

Daniel schluckte. »Ich dachte, ich hätte ein Gespenst gesehen«, erwiderte er tonlos.

Brigham schnaubte nur und duckte sich durch die niedrige Küchentür. Daniel folgte ihm. Als er den Baronet am Weidetor einholte, stapfte der Mann wutschnaubend davor auf und ab, während er vor sich hin fluchte.

»Wenigstens haben Sie nachgesehen«, sagte er bitter, als Daniel bei ihm ankam. »Der letzte Idiot hat sich unter seinem Bett versteckt.«

Daniel antwortete nicht, aber im Stillen war er sehr froh, seine Furcht überwunden zu haben.

Sie mussten nicht sehr lange warten, bis sie die dumpfen Hufschläge wieder den Feldweg heraufkommen hörten. Sie verlangsamten sich vom Galopp zum Schritt und schließlich brachte das Mädchen die Stute außerhalb des Lichtscheins von Daniels Lampe zum Stehen. In drei langen Schritten erreichte der Baronet das Pferd, packte das Halfter und zerrte zugleich mit der anderen Hand das Mädchen herunter. Sie schlug mit einem Schmerzensschrei auf dem Boden auf. Die Stute stieg erschrocken, aber der eiserne Griff des Baronets zwang ihre Vorderbeine wieder auf den Boden. Er führte das tänzelnde Pferd zu Daniel und drückte ihm den Führstrick in die Hand.

»Bringen Sie sie zurück auf die Weide«, befahl er und drehte sich wieder zu dem Mädchen um.

Daniel hatte alle Hände voll zu tun, das aufgeregte Tier zu bändigen. Es schnaubte und stampfte, drängte sich abwechselnd gegen ihn und sprang dann wieder weg. Mit einer gehörigen Portion Glück schaffte er es, das Weidetor zu öffnen, die Stute hindurchzubugsieren und das Halfter abzumachen, ohne dabei gebissen oder getreten zu werden. Er sprang gerade noch rechtzeitig zurück, als die Stute ihre Hinterbeine in seine Richtung feuerte und dann zu den anderen Pferden donnerte.

Ein Klatschen, gefolgt von einem Aufschrei, brachte seine Aufmerksamkeit zum Baronet und dem Mädchen zurück. Der Mann stand über ihr. Er hatte sie fest genug geschlagen, dass sie blutete. Daniel erwartete, dass sie weinen und Angst haben würde, aber stattdessen rappelte sie sich auf, ihr Gesicht eine Maske der Wut. Sie stürzte sich auf den Baronet und fing an, ihre Fäuste in seinen Bauch zu hämmern. Ein Schlag musste eine empfindliche Stelle getroffen haben, denn Daniel hörte ihn aufstöhnen. Dann fegte er sie mit einem Fluch von den Füßen, warf ihre zierliche Gestalt über die Schulter und trug sie zurück zum Haus.

Daniel folgte ihm. Er konnte nicht zulassen, dass der Baronet dem Mädchen etwas antat. Vor der niedrigen Küchentür setzte der Baronet sie ab und schubste sie dann vor sich her, während er sich selbst hindurchduckte.

»Das wird Konsequenzen haben!«, hörte Daniel ihn schimpfen, dann knallte eine Tür. Vorsichtig spähte er in die Küche. Der Baronet war nirgends zu sehen. Die Magd saß am Tisch und hielt sich beide Hände vors Gesicht, soweit Daniel das im Dunkeln erkennen konnte.

Plötzlich ging die Tür zum Flur wieder auf. Die Magd fuhr erschrocken herum, aber es war nicht der Baronet, sondern Lizzie, die mit einer Kerze in der Hand vorsichtig in die Küche kam.

»Oh, du armes Ding«, flüsterte sie, als sie das Gesicht der Magd sah. Sie holte eine Schüssel mit Wasser und ein Tuch und begann, ihr das Blut abzuwaschen.

Mit zitternden Händen schloss Daniel leise die Tür. Es war sicher besser, wenn die andere Magd sich um das Mädchen kümmerte. Wenn der Baronet Verdacht schöpfte, dass Daniel der stummen Magd half, wäre das vermutlich sofort das Ende ihres guten Verhältnisses. Langsam ging er zum Stall zurück, wo Oliver hinter dem Tor stand.

»Was war denn da los?«, fragte der Stallknecht.

»Das stumme Mädchen hat den Schimmel genommen und ist reiten gegangen«, antwortete Daniel zögernd. Er fühlte sich hilflos und hatte keine wirkliche Erklärung für den Vorfall.

»Der Herr hat sie geschlagen?«, vermutete Oliver.

Daniels Magen zog sich bei der Frage zusammen. Er nickte. Der Baronet wäre durchaus in der Lage, das Mädchen zu verkrüppeln, wenn er wollte. Daniel schickte ein stilles Gebet nach oben. Es erleichterte ihn ungemein, dass der Baronet sie in der Küche gelassen hatte und Lizzie sich jetzt um sie kümmerte. Etwas Derartiges hatte er noch nie zuvor beobachtet.

»Ich hoffe, er tut ihr nichts. Sie ist ein hübsches kleines Ding. Glaubst du auch, sie ist verflucht? Russell hat so was gesagt.« Oliver schien unschlüssig, was er von der Behauptung halten sollte.

»Glaub ich nicht«, erwiderte Daniel und verzog sich in seine Kammer. Er war zu verwirrt, um mit Oliver über das Geschehene zu sprechen. Fragen fluteten seinen Kopf. Wer war dieses Mädchen? Warum konnte sie ein Pferd ohne Sattel reiten, das niemanden sonst an sich heranließ? Was hatte der Baronet damit zu tun? Warum reagierte er so heftig? Und warum sprach das Mädchen nicht, wenn sie doch schreien und weinen konnte? An etwas wie einen Fluch glaubte er immer noch nicht. Sicher gab es eine andere Erklärung für ihr Schweigen.

Unter den gegebenen Umständen war das, was sie heute Nacht getan hatte, der schiere Wahnsinn inklusive ihres verzweifelten Wutausbruchs. Eines war klar: Er musste der Sache auf den Grund gehen, sonst würde er noch irre werden.

Während er sich wieder auf seinem Bett ausstreckte, beschloss er, endlich Ole Pete nach dem Mädchen zu fragen. Hoffentlich konnte der alte Mann etwas Licht in die Angelegenheit bringen. In den letzten Wochen war er in schlechter Verfassung gewesen und kaum aus seiner Hütte herausgekommen. Daniel hatte keine Gelegenheit gehabt, ihn zu besuchen. Morgen würde er sich die Zeit nehmen.

* * *