Rachel Dylan

Du bist die Nächste

Über das Buch:
Voller Engagement stürzt sich die Staatsanwältin Sophie Dawson in ihren nächsten großen Fall: Sie will Anklage gegen einen Bankangestellten erheben, der seit Jahren seine Klienten betrügt.
Als sie zufällig gleich zwei kaltblütige Morde beobachtet, steht ihr Leben schlagartig kopf. Jetzt muss sie nicht nur als Hauptzeugin aussagen, sondern zugleich um ihre Karriere und ums Überleben kämpfen. Ihr Chef macht ihr einen ungeheuren Druck und irgendjemand will sie mit aller Macht daran hindern, vor Gericht zu erscheinen.
Nicht nur für Sophie beginnen harte Zeiten. Auch für den Personenschützer Cooper Knight, den man gegen ihren Willen angeheuert hat.

Über die Autorin:
Rachel Dylan arbeitete über acht Jahre lang als Prozessanwältin für eine namhafte amerikanische Kanzlei. Heute ist sie als Justiziarin für einen der größten Automobilhersteller der USA tätig und schreibt christliche Romane, die in der Gerichtswelt spielen. Es macht ihr Spaß, spannende Geschichten aus dem Anwaltsmilieu mit Romantik zu verbinden. Zusammen mit ihrem Mann, zwei Hunden und drei Katzen lebt sie in Michigan.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96362-935-8
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2018 by Rachel Dylan
Originally published in English under the title
Lone Witness
by Bethany House Publishers, a division of Baker Publishing Group,
Grand Rapids, Michigan, 49516, USA.
All rights reserved.
German edition © 2020 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
35037 Marburg an der Lahn
Deutsch von Dorothee Dziewas
Umschlagbilder: © iStockphoto.com / MicroStockHub; rclassenlayouts
© Pixabay / ptanpm
Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
Satz und Datenkonvertierung E-Book:
Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

www.francke-buch.de

Kapitel 1

»Schuldig. Das ist das einzig mögliche Urteil. Sehr geehrte Damen und Herren Geschworenen, der Geschäftsführer der Banton Corporation, Felix Sanders, veruntreut seit fünf Jahren Gelder.« Sophie Dawson holte tief Luft und fuhr dann mit ihrem Schlussplädoyer fort. Währenddessen stellte sie Blickkontakt zu jedem einzelnen der zwölf Jurymitglieder her, die das Schicksal des betrügerischen Unternehmers besiegeln würden.

»Im Verlauf der letzten Woche haben Sie nicht nur die Zeugenaussagen von anderen Angestellten der Banton Corporation gehört, sondern auch die unserer Buchprüfungsexperten für Wirtschaftskriminalität. Wie diese Fachleute ausgesagt haben, besteht kein Zweifel daran, dass Mr Sanders Geld von den Konten etlicher Banton-Investoren abgezweigt und auf seine private Schmiergeldkasse transferiert hat, die sich auf einem Schweizer Bankkonto befindet.« Wenn sie diesen Fall verlor, hatte sie die Kündigung verdient. Die Beweise gegen Sanders waren hieb- und stichfest. Es kam nicht oft vor, dass ein Fall so wasserdicht war.

»Die Verteidigung will Sie glauben machen, dass jede einzelne dieser Transaktionen auf einen Buchungsfehler zurückzuführen ist, aber jetzt, nachdem Sie alle Beweise gehört und gesehen haben, stimmen Sie mir sicherlich zu, dass man zu diesem Schluss unmöglich kommen kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir von Hunderten Transaktionen über einen Zeitraum von fünf Jahren sprechen. Die Verteidigung verlangt von Ihnen, dass Sie jede Logik in den Wind schlagen und an ein Märchenland glauben, das es nicht gibt. Unsere Aufgabe als Staatsanwaltschaft ist es, Beweise für die Schuld des Angeklagten zu erbringen, und genau das haben wir getan.«

Dies war einer ihrer ersten wichtigen Geschworenenprozesse, seit sie in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität der Bezirksstaatsanwaltschaft von Fulton County angefangen hatte. Von den allgemeinen Straffällen in die Wirtschaftsabteilung versetzt zu werden, war eine Beförderung gewesen, aber Finanzverbrechen waren nicht ganz so aufregend wie Mord. Und in diesem konkreten Fall waren die Opfer nicht individuelle Verbraucher, sondern andere wohlhabende Hedgefonds-Manager. Trotzdem hatten sie Gerechtigkeit verdient, denn ihnen war Geld gestohlen worden. Was Sanders getan hatte, war strafbar und Sophie nahm ihre Aufgabe als Staatsanwältin sehr ernst.

Nachdem sie mit den Geschworenen die weiteren Beweise durchgegangen war, war die Verteidigung mit ihrem Schlussplädoyer an der Reihe. Sanders hatte einen bekannten Verteidiger von Peters & Gomez angeheuert, aber selbst ein teurer Staranwalt würde ihn nicht vor einer Verurteilung retten können. Während der Verteidiger redete und versuchte, Schwächen in ihrer Argumentation zu finden, schweiften Sophies Gedanken ein wenig ab. Sie fand, dass es ein strategischer Fehler des gegnerischen Anwalts war, so langatmig zu reden. Die Geschworenen saßen schon die ganze Woche hier, also waren sie so weit, dass sie ihre Meinung sagen und die Sache hinter sich bringen wollten. Aber sie war keine Verteidigerin und verspürte auch nicht das Bedürfnis, eine zu sein. Wenn das die Strategie war, die der Mann verfolgen wollte, war es nicht an ihr, ihn zu kritisieren.

Als der gegnerische Anwalt sich endlich setzte, gab der Richter den Geschworenen die nötigen Anweisungen. Dann wurden sie entlassen, um sich zu besprechen. Jetzt konnte Sophie nur noch warten. Es konnte Minuten dauern oder Stunden oder sogar Tage, bis die Geschworenen mit einem Urteil zurückkamen, doch sie hoffte, dass es schnell gehen würde. Wenn es zu lange dauerte, würde sie anfangen, sich Sorgen zu machen.

Sophie war gerade dabei, ihre Sachen zusammenzupacken, als der gegnerische Anwalt, John Gomez, auf sie zukam. Sanders bezahlte ihm, einem Partner und Mitbegründer der Kanzlei, wahrscheinlich mehr als tausend Dollar die Stunde. Ihrer Meinung nach eine absurde Summe für einen Rechtsbeistand.

»Das war ein sehr beeindruckendes Schlussplädoyer, Ms Dawson.« John Gomez strich seine maßgeschneiderte dunkelblaue Anzugjacke glatt.

»Danke.« Sophie vermutete, dass der Staranwalt in den Fünfzigern war. Seine kurzen dunklen Haare waren an den Schläfen bereits grau gesprenkelt. Sie war sich nicht sicher, warum er sie angesprochen hatte. Sie war nur eine von vielen Vertretern der Staatsanwaltschaft von Fulton County und er war einer der Top-leute in der Juristenszene. Dass er eine der angesehensten Anwaltskanzleien der Stadt mit begründet hatte, ließ die meisten Leute vor Ehrfurcht erstarren. Aber Sophie war von seiner Macht und seinem Einfluss nicht besonders beeindruckt. Andere Eigenschaften hatten mehr Wirkung auf sie.

John trat einen Schritt näher. »Sie haben sehr viel Ausstrahlung, trotz einiger Ecken und Kanten.«

»Wie bitte?« Es war nicht das erste Mal, dass ein gegnerischer Anwalt sie mit unerwünschten Kommentaren über ihr Auftreten bedachte. Als relativ junge Frau mit einem eher kindlichen Gesicht und blonden Haaren musste sie sich ständig beweisen.

»Das war ein Kompliment. Und zwar ein so ernst gemeintes, dass ich Ihnen gerne ein Angebot machen würde. Überlegen Sie sich doch mal, ob Sie nicht zu uns kommen wollen. Ich bin mir sicher, dass ich Ihr jetziges Gehalt mindestens verdreifachen kann, und wir können immer Spitzentalente mit echter Gerichtserfahrung brauchen. Bewährte Prozessanwälte sind Mangelware.« Seine dunklen Augen musterten sie.

Ihm war nicht klar, dass sie nicht wegen des Geldes Anwältin geworden war. Sie müsste überhaupt nicht arbeiten, wenn sie nicht wollte, weil sie über ein beträchtliches Treuhandvermögen verfügte, das ihr Vater für sie eingerichtet hatte. Sie war Staatsanwältin, weil sie es gerne war. »Ich weiß Ihr freundliches Angebot zu schätzen, Mr Gomez.«

»Bitte nennen Sie mich John.« Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

»Aber ich habe meine neue Stelle in der Abteilung für Wirtschaftskriminalität gerade erst angetreten und mir gefällt meine Arbeit. Ich kann mir nicht vorstellen, in eine Privatkanzlei zu wechseln.« Genau genommen würde sie das niemals in Betracht ziehen, aber sie hielt es für besser, ihre Erklärungen allgemein zu halten. Es war nicht nötig, dass sie dem Mann ihren persönlichen Hintergrund und ihre Karriereziele erläuterte.

John nickte. »Ich verstehe. Falls Sie es sich anders überlegen sollten, wissen Sie ja, wie Sie mich erreichen. Meine Tür steht Ihnen immer offen.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Und ich würde Sie gerne einmal zum Essen einladen und weiter darüber reden.«

Mit einem Mal wurde ihr unbehaglich zumute. Sophie trat einen Schritt zurück, um etwas Abstand zwischen sich und den Mann zu bringen. »Wie gesagt: Danke, aber ich habe kein Interesse. Und es tut mir leid, aber ich muss jetzt los. Es gibt da noch ein paar Dinge, die ich erledigen muss.«

»Natürlich. Wir werden ja sehen, wie lange die Geschworenen brauchen, aber es könnte gut sein, dass wir erst nächste Woche eine Entscheidung bekommen.«

»Hoffentlich nicht«, murmelte sie.

John Gomez lächelte ihr noch einmal mit seinen perfekt polierten weißen Zähnen zu und ging dann davon. Sie atmete erleichtert aus. Puh, das war unangenehm! Vielleicht hatte sie seine Signale ja auch nur falsch interpretiert, aber sie hatte den Eindruck gehabt, dass er mehr an ihr als Frau interessiert gewesen war und weniger als Anwältin. Auch das hatte sie bei männlichen Kollegen leider schon häufiger erlebt.

Konnten die Männer sie nicht einfach für die Arbeit wertschätzen, die sie machte, ohne gleich etwas anderes von ihr zu wollen? Kein Wunder, dass sie ihren Märchenprinzen noch immer nicht gefunden hatte, trotz ihrer stetigen Suche. Sophie schüttelte die Begegnung mit John Gomez ab und ging zu ihrem Büro zurück, um sich wieder in die Arbeit zu stürzen.

Sie hatte viel zu tun, aber nicht annähernd so viel wie in der allgemeinen Abteilung für Strafrecht. In den vergangenen sieben Jahren war sie beinahe jeden Tag im Gericht gewesen und hatte die Arbeit als Staatsanwältin von der Pike auf gelernt. Jetzt, mit ihrer Erfahrung, hatte sie die Chance, sich von der Menge abzuheben.

Sobald sie wieder in ihrem Büro saß, zog sie ihre neueste Prozessakte heraus. Sie hatte gerade angefangen, in einem Fall zu ermitteln, in den die Southern Investment Bank, kurz SIB, verwickelt war. Der Hauptsitz der Bank war in Atlanta und ihren Unterlagen zufolge gab es zahlreiche Klagen gegen einen der leitenden Angestellten namens Glen Shelton.

Dies war die Art Fall, in die sie sich richtig reinhängen konnte. Im Gegensatz zu dem Verfahren, das sie gerade abgeschlossen hatte, waren die Opfer hier Menschen, die es sich wirklich nicht leisten konnten, betrogen zu werden. Shelton wurde beschuldigt, seine Kunden zu bestehlen und für jede Transaktion viel zu hohe Gebühren zu berechnen, und zwar so, dass für die Kunden nicht transparent war, dass sie überhaupt Gebühren zahlten, geschweige denn, wofür. Die Klagen waren von kleineren Unternehmen und Einzelpersonen angestrengt worden, die über Shelton Privat- oder kleine Geschäftskredite aufgenommen hatten.

Diese Menschen hatten Shelton ihr Geld anvertraut, manchmal sogar ihr gesamtes Erspartes oder ihre ganze Firma, und jetzt war alles weg. Und das nur, weil ein Mann in seiner Gier nicht genug bekommen konnte.

Es gab zwar noch jede Menge Lücken in den Ermittlungen, die es zu füllen galt, aber Sophie war ganz entschieden bereit für diesen neuen Fall. Und jetzt, wo sie nicht mehr unter Aktenbergen begraben war, würde sie ihm auch endlich einen Großteil ihrer Zeit widmen können. Ein Adrenalinstoß jagte durch ihren Körper, wenn sie nur daran dachte. Wenn das, was sie über Shelton gelesen hatte, stimmte, dann musste er für sein verbrecherisches Handeln zur Rechenschaft gezogen werden.

Aber der Fall würde Fingerspitzengefühl erfordern. Sie war schon lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass eine solche Angelegenheit leicht politisch werden konnte. Sehr politisch. Die SIB war eines der angesehensten Geldinstitute in Atlanta und hatte Unmengen an Beziehungen. Die Geschäftsführerin der SIB war eine der mächtigsten Frauen in der Stadt.

Momentan hatte Sophie nicht vor, die SIB als Ganzes anzugreifen. Ihr Ziel war lediglich einer ihrer Angestellten. Deshalb hoffte sie auf volle Mitwirkung des Unternehmens, vor allem der Unternehmensleitung, aber verlassen würde sie sich darauf lieber nicht. Jede Art von strafrechtlichen Ermittlungen würde die Geschäftsführung der SIB beunruhigen und das konnte Sophie den Leuten nicht verdenken. Aber sie musste ihre Arbeit machen und hatte nicht vor, sich von dem Ansehen und dem tadellosen Ruf der Bank einschüchtern zu lassen.

Sophie war noch immer dabei, sich an ihr neues Büro zu gewöhnen. Es war ein wenig größer als ihr altes, aber immer noch nichts Besonderes. Sie lachte leise, als sie an ihre beiden besten Freundinnen dachte, die in großen Anwaltskanzleien arbeiteten. Sie hatten riesige Büros in Hochhäusern, in denen weiche Sessel mit Blick auf die Skyline von Midtown oder in Richtung Stone Mountain standen, und genossen dazu alle Annehmlichkeiten der Welt, während sie selbst hier in einem Schuhkarton im dritten Stock saß, dessen winziges Fenster den Blick auf das Parkhaus freigab. Das Mobiliar bestand aus einem einsamen Aktenschrank, einem Schreibtisch und drei gewöhnlichen Stühlen. Zusätzlichen Luxus gab es nur, wenn man ihn selbst mitbrachte. So war das Leben als Beamter nun einmal, aber sie wollte es gar nicht anders.

Als Sophie das nächste Mal einen Blick auf die Uhr warf, sah sie, dass ihr die Zeit davongelaufen war. So war es bei ihr immer. Oft verließ sie das Büro erst spät am Abend.

Noch immer nichts von den Geschworenen, das bedeutete, die Sache würde sich definitiv bis nächste Woche hinziehen, es sei denn, die Jury beschloss, das Wochenende durchzuarbeiten – was unwahrscheinlich war, solange sie nicht ganz kurz vor einem Urteil stand. Sie sollte besser nach Hause gehen.

Als Sophie in ihrem Auto saß und den Anlasser betätigte, fing ihr Magen an zu knurren. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Sie verspürte einen plötzlichen Heißhunger auf Junkfood und beschloss, zu der Tankstelle zu fahren, bei der sie sich regelmäßig mit Chips und Schokoriegeln eindeckte. Eine ordentliche Dosis Salz und Zucker würde den Hunger besänftigen. Als sie vor dem kleinen Laden parkte, konnte sie den herrlichen Geschmack von salzigen Chips und Schokolade bereits auf der Zunge schmecken. Wenn sie schon sündigte, dann wenigstens richtig.

Aber als sie dann im Laden war und durch die Gänge lief, konnte sie sich nicht entscheiden. Vielleicht sollte sie doch vernünftig sein, sich nur eine Kleinigkeit gegen den ärgsten Hunger kaufen und anschließend versuchen, irgendwo etwas Richtiges, Gesundes zu Abend zu essen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war zehn Uhr. Da war es für eine richtige Mahlzeit sowieso zu spät.

Sie ging in den hinteren Teil des Geschäfts, um sich einen aromatisierten Eistee zu holen. Während sie die Kühlschranktür öffnete und hin und her überlegte, ob sie Himbeere oder Extra-Süß nehmen sollte, drangen von der Kasse laute Geräusche zu ihr herüber. Sophie drehte sich um und schnappte nach Luft.

Ein Mann richtete eine Waffe auf den Kassierer und die beiden brüllten einander an. Ihrem ersten Reflex folgend lief sie zu den Streithähnen, um eine Katastrophe zu verhindern, aber sie hatte erst den halben Gang zurückgelegt, als ein Schuss ertönte. Instinktiv ließ sie sich zu Boden fallen, hob die Hände schützend über ihren Kopf und rutschte hinter einen der Popcornaufsteller. Im Rahmen ihres Jobs hatte sie ein Krisentraining absolviert und so wusste sie, dass es das Beste war, sich unsichtbar zu machen. Sie spähte um den Aufsteller herum und versuchte, dabei den Großteil ihres Körpers versteckt zu halten.

Der Schütze drehte sich um und sie konnte sein Gesicht deutlich sehen. Er wirkte jung, war noch keine zwanzig, würde sie sagen. Er schien sie nicht zu bemerken, während er aus der Tankstelle rannte, die Waffe noch in der Hand.

Kaum war er durch die Tür verschwunden, sprang Sophie auf und rannte zur Kasse. Der Kassierer lag auf dem Boden in einer schnell wachsenden Blutlache. Sie hockte sich neben ihn und tastete nach seinem Puls. Nichts. Er war tot.

Dann hörte sie weitere Schüsse und blickte hinaus. Der Schütze hatte auf dem Weg aus dem Laden das Feuer eröffnet und lief jetzt zu einem mittelgroßen grauen SUV, aber links davon stand noch ein Auto. Die Frau auf der Fahrerseite war hinter dem Wagen in Deckung gegangen, die Arme über dem Kopf, aber die Frau, die auf der Beifahrerseite stand, war völlig ungeschützt und befand sich genau in der Schusslinie des Mannes.

Sophie hörte sich selbst eine Warnung schreien, aber es war zu spät.

Der Mann feuerte und traf die Frau, die seinem SUV am nächsten stand. Dann sprang er in sein Auto und raste davon.

Sophie merkte sich das Kennzeichen des Wagens, während sie hinausrannte, um nach dem Opfer zu sehen. Die andere Frau stand über ihre Freundin gebeugt da und schrie hysterisch.

»Keine Angst«, sagte Sophie in dem Versuch, sie zu beruhigen. »Rufen Sie 911 an!«

Die Frau nickte, während ihr unablässig Tränen über die geröteten Wangen liefen, und zog ihr Handy heraus.

Sophie wandte ihre Aufmerksamkeit der Frau zu, die auf dem Boden lag. Auch sie war von einer Blutlache umgeben. Jetzt, wo Sophie das Opfer genauer betrachtete, fiel ihr auf, dass die zierliche Brünette kaum älter als ein Teenager aussah. Die Kugel hatte sie in den Kopf getroffen.

Diesmal brauchte Sophie nicht einmal den Puls zu fühlen. Sie wusste schon, was dabei herauskommen würde. Diese junge Frau war tot. Wahrscheinlich hatte der Kopfschuss sie sofort getötet.

Herr, sie sind beide tot. Bitte hilf mir. Lass mich die Ruhe bewahren und jetzt nicht zusammenklappen.

Es gab nichts, was sie für die getroffene Frau tun konnte, also nahm sie der anderen Frau das Telefon aus der Hand, da diese vor Schock zitterte und kaum ein Wort über die Lippen brachte. Sophie informierte die Notrufzentrale über das, was geschehen war, und gab das Kennzeichen des Fahrzeugs durch. Der Schütze würde den Wagen wahrscheinlich so schnell wie möglich loszuwerden versuchen, also hatten sie nicht viel Zeit, ihn anhand des Nummernschildes zu finden.

Sophie legte einen Arm um die Frau, die ihre Freundin verloren hatte. »Sie sind in Sicherheit. Niemand wird Ihnen etwas tun.«

Die Frau antwortete nicht, sondern schluchzte nur. Kurz darauf erfüllte der schrille Klang von Sirenen die Nachtluft. Für Sophie war ein Tatort nichts Neues. Sie hatte schon mehr davon gesehen, als sie zählen konnte. Aber das hier war etwas anderes. An diesem Abend war sie nicht als Staatsanwältin hier, sondern als Zeugin.

Zum Glück kannte sie einen der beiden Beamten, die aus dem Wagen stiegen. Officer Carlos Wall riss die Augen auf, als er sie sah.

»Sophie«, sagte er. »Wie bist du denn so schnell hierhergekommen?« Dann fiel sein Blick auf ihre Hände und ihre sandfarbene Anzugjacke, die mit leuchtend rotem Blut befleckt waren. »Sophie? Was ist passiert?«

»Ich wollte mir hier eine Kleinigkeit zu essen kaufen, Carlos. Ich habe alles gesehen.« Sie konnte hören, dass ihre Stimme brach, aber sie musste stark bleiben und dafür sorgen, dass die Polizisten alle Informationen bekamen, die sie brauchten. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Emotionen zu zeigen. Sie musste durchhalten und sich konzentrieren.

Carlos murmelte etwas und wandte sich dann an seinen Partner, der neben ihm stand. »Sie ist eine von uns«, sagte er. »Staatsanwältin.«

Sie machte sich nicht die Mühe, auf ihre Beförderung hinzuweisen. Das spielte jetzt keine Rolle.

»Ihr Name ist Sophie Dawson. Sophie, das ist Officer Peter Gray«, sagte Carlos. Dann sah er Peter an. »Du solltest Sophies Aussage aufnehmen.«

»Drinnen ist noch eine Leiche«, sagte sie leise. »Er hat zwei Menschen getötet.«

»Dann bist du also Zeugin eines Doppelmordes«, konstatierte Carlos.

Kapitel 2

Am Montagmorgen saß Sophie wie gewohnt in ihrem Büro, aber die Ereignisse vom Freitagabend machten ihr nach wie vor schwer zu schaffen. Sie hatte den Beamten am Tatort mehrfach erzählen müssen, was geschehen war, bevor man ihr erlaubt hatte, nach Hause zu fahren. Das bisschen Schlaf, das sie in der Nacht dann noch bekommen hatte, war voller Albträume von der Schießerei gewesen. Überall war Blut und jedes Mal war sie machtlos, das Töten zu verhindern.

In den frühen Morgenstunden hatte sie außerdem eine heftige Panikattacke ereilt. Ihre letzte lag mehrere Monate zurück, aber in dieser Nacht hatte es kein Entkommen gegeben. Wenigstens hatte sie am Tatort selbst keine Panikattacke gehabt. Sie hatte sich zusammengerissen, bis sie allein gewesen war, und erst dann war die Welt über ihr eingestürzt.

Inzwischen hatte sie erfahren, dass die beiden Frauen an der Georgia State University studierten beziehungsweise studiert hatten. Das Opfer war erst im zweiten Collegejahr gewesen und gerade zwanzig geworden. Der Kassierer hatte eine Frau und drei Kinder zurückgelassen.

Sophies Handy klingelte und sie sah, dass ihr Vater anrief. Er war immer noch völlig außer sich.

»Hallo, Dad«, sagte sie, als sie das Gespräch annahm.

»Wie geht es dir heute, Sophie? Letzte Nacht habe ich immer noch ganz schlecht geschlafen. Ich musste immerzu an dich denken.«

»Mir geht es gut. Natürlich ist es nicht einfach, mit einer solchen Situation umzugehen, aber ich mache einen Schritt nach dem anderen.«

»Bist du dir sicher, dass du nicht für ein paar Tage herkommen willst? Ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich wüsste, dass du jetzt nicht allein bist.«

Sie liebte ihren Vater von ganzem Herzen, aber sie befürchtete, wenn sie jetzt in ihr Elternhaus zurückkehrte, würde es ihr schwerfallen, wieder wegzugehen. Und sie musste allein klarkommen. »Danke, aber ich bleibe lieber hier.«

»Du weißt ja, dass du keine Einladung brauchst, um nach Hause zu kommen. Und wenn dir alles zu viel wird, ruf mich an, ich bin immer für dich da. Egal, wie spät es ist, Tag oder Nacht.«

»Danke.«

Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sophie wusste, dass sie zu emotional war, vor allem, was ihren Vater betraf. Er war ihr Fels. Und er hatte in ihrer Kindheit so viele verschiedene Hüte aufgehabt – er hatte gelernt, ihr die Haare zu flechten, und ihre Tränen getrocknet, als der erste Junge, in den sie verliebt gewesen war, ihr das Herz gebrochen hatte.

Ihre Mutter hatte sie nie kennengelernt. Doch von den Bildern, die sie kannte, wusste sie, dass sie ihr sehr ähnlich sah. Eine Welle der Traurigkeit schlug über Sophie zusammen, als sie jetzt daran dachte. Obwohl sie ihre kompletten zweiunddreißig Lebensjahre ohne ihre Mom verbracht hatte, war der Verlust trotzdem immer gegenwärtig.

»Ich liebe dich, Sophie. Melde dich. Ich will wissen, wie es dir geht.«

»Natürlich. Ich liebe dich auch.« Sie legte auf und schloss kurz die Augen. Ihren Vater zu beunruhigen, war das Letzte, was sie wollte, deshalb versuchte sie, um seinetwillen die Fassung zu bewahren.

Es klopfte laut an der Tür, und als Sophie aufsah, erblickte sie ihren Chef, den Bezirksstaatsanwalt von Fulton County, Keith Todd.

»Hast du eine Minute Zeit, Sophie?«

»Natürlich.«

Keith nahm ihr gegenüber Platz. »Erst einmal: Wie geht es dir? Ich weiß, dass du am Freitag etwas sehr Traumatisches erlebt hast.«

Sie sah in seine hellblauen Augen. »Die letzten Tage waren nicht einfach, aber ich bin dankbar dafür, dass ich am Leben bin. Ich wünschte nur, ich hätte mehr tun können.«

»Nach allem, was ich gehört habe, hast du dich bilderbuchmäßig verhalten und dich bei dem Versuch zu helfen sogar selbst in Gefahr begeben. Viele Menschen hätten sich einfach nur im Laden zusammengekauert und versteckt. Aber du bist aktiv geworden. Wir sind alle extrem stolz auf dich. Du warst sehr mutig.«

»Danke.« Keith lobte nicht oft jemanden und so freute sie sich trotz der unglücklichen Umstände über das Kompliment. Ihr Chef hatte Karrierepläne, die weit über seine jetzige Position als Bezirksstaatsanwalt hinausgingen, und war im Alter von beinahe fünfzig Jahren bereit für den nächsten großen Job.

»Ich möchte mit dir über etwas reden, damit du nicht überrumpelt wirst.«

Ihr Magen zog sich zusammen. »Was ist denn los?«

»Du wirst noch mehr darüber hören, vor allem in den Lokalnachrichten heute, aber ich wollte, dass du es zuerst von mir erfährst.«

Sie beugte sich auf ihrem Stuhl vor, weil sie spürte, dass ihr Vorgesetzter gleich eine Bombe platzen lassen würde. »Okay.«

»Der Verdächtige, den du heute Morgen bei der Gegenüberstellung als den Schützen identifiziert hast, ist ein Mann namens Ricky Wade.«

»Okay ...« Sie wusste nicht, worauf Keith hinauswollte. »Der Name sagt mir nichts.«

»Ricky ist der jüngere Bruder von Juan Wade.«

Der Name sagte ihr etwas. »Du meinst den Anführer der größten Straßengang in Atlanta? Der Juan Wade?«

»Genau der.« Keith fuhr sich mit der Hand durch das kurze blonde Haar. »Das heißt, wir haben es nicht mit einem gewöhnlichen Prozess zu tun. Verhandelt wird ein Doppelmord, der mit einer einflussreichen Gang in Verbindung steht. Ich muss dir nicht erklären, was das bedeutet.«

Sophie merkte, dass ihr schwindelig wurde. Es gab einiges zu bedenken. Vor allem, weil sie die Hauptzeugin war.

Keith räusperte sich. »Jedenfalls habe ich beschlossen, dass es sinnvoll ist, jede Befangenheit in diesem Fall von vornherein auszuschließen. Deshalb ernenne ich einen Sonderermittler dafür.«

»Wen?«

»Den stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt Patrick Hunt vom Büro in Dekalb County. Kennst du ihn?«

Sie schüttelte den Kopf. »Den Namen habe ich schon gehört, aber ich bin dem Kollegen nie begegnet.«

»Gut. Damit können wir jeden Vorwurf eines Interessenkonflikts abwehren. Ich wollte nicht, dass jemand aus unserem Bezirk dich in den Zeugenstand rufen muss. So ist es für alle Beteiligten besser, auch für dich.«

Sophie sah einen groß gewachsenen Mann in den Türrahmen treten. Er hatte kurze dunkle Haare und sah aus wie Mitte oder Ende dreißig.

»Hallo«, sagte er. »Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Patrick.« Keith erhob sich von seinem Stuhl. »Gut, dass du da bist.« Er gab Patrick die Hand. »Darf ich dir Sophie Dawson vorstellen?«

Sophie erhob sich und ging um ihren Schreibtisch herum, um Patrick zu begrüßen. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Staatsanwalt.«

»Bitte nennen Sie mich Patrick. Das muss eine schwierige Situation für Sie sein, Sophie«, sagte Hunt, »aber ich werde tun, was ich kann, damit die Sache so glatt wie möglich läuft.«

»Dann lasse ich euch beide mal ungestört reden«, sagte Keith. »Sophie, wenn du irgendetwas brauchst, sag Bescheid. Und wenn wir dir etwas Arbeit abnehmen sollen, dann ist das kein Problem.«

Sie wusste das Angebot zu schätzen, aber auf keinen Fall würde sie einen ihrer Fälle abgeben. Sie wollte nicht, dass der Prozess gegen Ricky Wade mehr Auswirkungen auf ihr Leben hatte als nötig.

Nachdem Keith gegangen war, lehnte Patrick Hunt sich an Sophies Schreibtisch. »Zunächst einmal würde ich gerne alles hören, was am Freitagabend geschehen ist.«

»Natürlich.« Es würde ein langer Vormittag werden. Sie starrte auf ihren leeren Kaffeebecher und überlegte, ob sie sich Nachschub holen sollte. »Was ist mit der anderen Frau am Tatort? Der Collegestudentin?«

Patrick runzelte die Stirn. »Sie ist natürlich ziemlich durch den Wind. Sie hat sich fallen lassen, als sie die Schüsse gehört hat. Weil sie den Kopf unten hatte, hat sie den Schützen gar nicht gesehen.«

»Sie muss völlig traumatisiert sein. Es war schrecklich.« Sophie hatte in ihrer Zeit als Justizbeamtin schon vieles gesehen, was schwer zu verdauen war, aber sie konnte nur erahnen, was diese junge Frau gerade durchmachte.

»Sie nimmt psychologische Hilfe in Anspruch.« Patrick zögerte. »Ich will ja keinen zusätzlichen Druck aufbauen, aber Sie sind in diesem Fall der Dreh- und Angelpunkt, Sophie.«

»Haben wir denn keine Aufnahmen von den Überwachungskameras der Tankstelle?«

Der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt atmete geräuschvoll aus. »Wir haben gar nichts. Von all den Kameras funktioniert überhaupt nur eine und die war auf die Zapfsäulen gerichtet. Sie hat keine brauchbaren Bilder von dem Schützen festgehalten – hat nichts aufgezeichnet, was wir zur Identifizierung nutzen könnten.«

Sophies Herz schlug schneller, als ihr bewusst wurde, was das bedeutete. »Das heißt, der ganze Prozess baut auf Zeugenaussagen auf? Auf meinen Aussagen?« Ihre Stimme klang schrill.

»Ja. Und ich muss Ihnen nicht erklären, vor welche Herausforderungen uns das stellt.«

»Weil Augenzeugen oft so unzuverlässig sind.«

Patrick nickte. »Außerdem wird die Verteidigung argumentieren, dass Sie befangen seien.«

»Ich weiß, was ich gesehen habe.« Und davon würde sie sich nicht abbringen lassen.

»Sie sind ein Profi, aber Sie sind es nicht gewohnt, auf dieser Seite zu stehen. Es könnte sich als sehr viel schwieriger erweisen, als Sie glauben.«

»Ich verspreche, dass ich mich zurückhalten und nicht meinen werde, alles besser zu wissen.«

»Darauf wollte ich gar nicht hinaus. Dass Sie mein juristisches Vorgehen hinterfragen, macht mir nichts aus.«

»Was denn dann?«

Patrick holte tief Luft und sah ihr direkt in die Augen. »Sie haben eine riesige Zielscheibe auf dem Rücken. Und Juan Wade schießt nicht daneben.«

Kapitel 3

Cooper Knight hielt sich im Hintergrund und beobachtete, wie Sophie Dawson das Bezirksgericht von Fulton County verließ. Die große Blondine sah nicht aus wie eine Staatsanwältin, aber er hatte bereits vor Jahren als Polizist gelernt, dass man die Leute nie nach ihrem Aussehen beurteilen sollte.

Er war Sophie vor gut einem Jahr schon einmal begegnet – bei ihrer Geburtstagsfeier. Einer seiner besten Freunde und Geschäftspartner, Landon James, würde demnächst Kate Sullivan heiraten, und die wiederum war Sophies beste Freundin. Die beiden hatten sich bei Sophies Geburtstagsfeier verlobt und deshalb war auch Cooper eingeladen gewesen.

Sophie hatte ihn an jenem Abend ziemlich beeindruckt. So sehr, dass er sie beinahe nach ihrer Nummer gefragt hätte. Aber dann hatte er es sich doch anders überlegt. Er war nicht auf eine feste Beziehung aus und hielt es für keine gute Idee, mit einer von Kates engsten Freundinnen auszugehen, ohne ernste Absichten zu haben. Er mochte es unkompliziert und zwischen ihnen bestanden einfach zu viele Verbindungen.

Also hatte er beschlossen, sich lediglich nett mit ihr zu unterhalten und dann nicht mehr an sie zu denken. Jetzt stellte er fest, dass Sophie sogar noch schöner aussah, als er sie in Erinnerung hatte. Doch es war nicht nur ihre Attraktivität gewesen, die ihn für sie eingenommen hatte, sondern vor allem ihr Tiefgang. Sie hatten eine richtig gute Unterhaltung geführt. Aber romantische Beziehungen waren nichts für ihn. Er war nicht wie sein Kumpel Landon. Zu heiraten und eine Familie zu gründen, war für ihn keine Option.

Da er und Sophie sich bereits begegnet waren, achtete Cooper jetzt darauf, genug Abstand zu ihr zu halten. Er wollte nicht, dass sie ihn sah. Jedenfalls jetzt noch nicht.

Gestern Abend hatte er einen Anruf von Randall Dawson erhalten, Sophies Vater. Randall machte sich große Sorgen um seine Tochter, weil diese offenbar die einzige Zeugin bei einem Doppelmord war, der mit einer der berüchtigsten Straßengangs von Atlanta zu tun hatte. Nachdem er gehört hatte, was Randall zu berichten wusste, konnte Cooper es dem Mann nicht verübeln, dass er alles tun wollte, um sein Kind zu beschützen. Cooper wusste genau, wie gefährlich die Gangszene in Atlanta war, immerhin hatte er zwei Jahre lang in einer entsprechenden Polizeieinheit gearbeitet.

Im Moment lautete sein Auftrag, sich im Hintergrund zu halten. Sophie sollte nicht wissen, dass er sie im Auge behielt. Randall hatte zu ihm gesagt, wenn Sophie das herausfände, würde sie alles andere als begeistert sein. Seit seinem Telefonat mit Randall hatte Cooper einige Hintergrundrecherchen angestellt. Sophie hatte ihren Collegeabschluss und das anschließende Jurastudium an der Emory University absolviert. Sie war zweiunddreißig Jahre alt, Single und mit Leib und Seele Staatsanwältin.

Das fand er vor allem deshalb interessant, weil er bei seinen Nachforschungen festgestellt hatte, dass Sophie aus einer wohlhabenden Familie kam – die Dawsons verfügten seit Generationen über ein beträchtliches Vermögen. Sophies Vater war außerdem ein in der Stadt äußerst angesehener Geschäftsmann mit einer gut gehenden Immobiliengesellschaft.

Sein Telefon klingelte und er nahm den Anruf entgegen. »Cooper hier.«

»Ich bin’s, Landon. Du wolltest, dass ich dich zurückrufe.«

»Bist du allein?« Er musste Landon etwas fragen und wollte sich vergewissern, dass seine Verlobte nicht in der Nähe war.

»Ja, ich fahre gerade nach Hause.«

»Hör mal, ich habe eine neue Klientin, und zwar Sophie Dawson.«

»Kates Sophie?«, fragte Landon.

»Ja. Deshalb wollte ich mit dir sprechen, bevor du den neuen Ordner auf unserem Serverlaufwerk siehst und Kate gegenüber womöglich etwas erwähnst.«

»Was ist denn mit Sophie?«

Er erzählte Landon, was er wusste, ohne Sophies Auto aus dem Blick zu lassen. Momentan war ihr Wagen genau vier Fahrzeuge vor ihm.

»Klingt so, als könnte Sophie tatsächlich Personenschutz brauchen«, sagte Landon. »Ich weiß, dass wir es manchmal mit Situationen zu tun haben, in denen Angehörige oder Geschäftspartner überreagieren, aber mit einer Gang ist nicht zu spaßen. Vor allem, wenn es um den Bruder des Anführers geht. Das ist wirklich nicht gut. Es gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Sehe ich auch so.«

»Brauchst du meine Hilfe?«, fragte Landon.

»Im Moment nicht, aber ich wollte, dass du Bescheid weißt. Bisher kenne ich weder den Zeitplan für das Gerichtsverfahren noch weiß ich, ob es irgendwelche Deals mit der Polizei gibt. Für den Moment behalte ich sie einfach nur im Auge und alles Weitere wird sich finden.«

»Sag Bescheid, wenn ich irgendetwas machen soll.«

»Ich bin wirklich froh, dass du jetzt zu unserem Team gehörst, Landon.«

»Das bin ich auch. Ich habe den Eindruck, genau am richtigen Platz zu sein.«

Landon hatte seine eigene Privatdetektei vor mehr als einem Jahr aufgegeben und war ihr Partner bei K & R Security geworden. Nach seinem letzten Militäreinsatz und seiner Entlassung aus der Armee hatte er eine schwierige Phase durchgemacht, aber jetzt hatte er sein Leben wieder im Griff, was er zu einem großen Teil seiner Verlobten zu verdanken hatte. Cooper war wirklich froh, seinen Freund wiederzuhaben.

»Ich halte dich auf dem Laufenden. Tust du mir einen Gefallen und sagst Noah Bescheid, damit er auch weiß, was los ist?«

»Klar, mach ich.«

Cooper beendete das Gespräch, während er Sophies schwarzen Ford Escape unablässig im Auge behielt. Dafür, dass sie so viel Geld hatte, schien sie nicht viel Wert auf Äußerlichkeiten zu legen. Sie hätte locker einen Luxuswagen fahren können.

Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, aus einem reichen Elternhaus zu kommen – oder auch nur aus einer Familie mit normalem Einkommen. Seine Eltern hatten Mühe gehabt, genug Essen auf den Tisch zu bringen, wobei ein Hauptgrund dafür die Sucht seines Vaters gewesen war. Mit einem gewalttätigen Alkoholiker aufzuwachsen, hatte seinen Tribut von Cooper gefordert. Das wusste er. Er brauchte keinen Seelenklempner, der ihm das erklärte. Selbst wenn er noch so viele Therapiestunden absolvierte, würden sie ihn nicht von seiner Vergangenheit heilen.

Vor ungefähr fünf Jahren war sein Vater trocken geworden und darüber war Cooper froh. Aber da war der Schaden bereits angerichtet gewesen. Und irreversibel.

Herr, ich will jetzt nicht daran denken.

Es kam ihm so vor, als hätte er dieses Gebet schon eine Million Mal gesprochen.

* * *

Der stellvertretende Bezirksstaatsanwalt Patrick Hunt betrat den Gerichtssaal in der Hoffnung, dass es eine ganz gewöhnliche Anhörung sein würde. Leider hatte er bislang jedoch die Erfahrung gemacht, dass nichts an dem Fall Wade gewöhnlich war. Angefangen mit der Tatsache, dass seine einzige Augenzeugin bei einem Doppelmord eine Kollegin war. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit für so etwas statistisch gesehen? Jedenfalls würde es ihm seine Arbeit deutlich erschweren.

Man hatte ihn aus dem benachbarten Bezirk Dekalb hinzugezogen, damit die Verteidigung keinen Interessenkonflikt bemängeln konnte. Und als er erfahren hatte, wer die Verteidigung übernommen hatte … Mann, war er da froh gewesen, dass Keith ihn gebeten hatte einzuspringen.

Ashley Murphy vertrat die Schlimmsten der Schlimmen. Gangs, Vergewaltiger, Drogenbosse und andere gewalttätige Verbrecher. Er hatte keine Ahnung, wie die Frau nachts überhaupt schlafen konnte. Durch ihre Adern musste Eis fließen.

Heute würde er Ashley gegenüberstehen. Es war nicht das erste Mal und es würde auch nicht das letzte Mal sein. Er konnte nur ahnen, was die Gang ihr zahlte. Mit Sicherheit war es eine hübsche Summe, denn Ashley war nicht billig. Sie vertrat ihre Mandanten nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern aus dem Wunsch heraus, ihr Portemonnaie zu füllen.

Wenn bei der Anhörung alles nach Plan lief, würde er den ermittelnden Polizeibeamten in den Zeugenstand rufen, die Aussage bekommen, die er für einen hinreichenden Tatverdacht brauchte, und sich dann an die Arbeit machen können.

Als Patrick zu seinem Tisch vorne im Gerichtssaal ging, sah er, dass seine Augenzeugin zu Beobachtungszwecken in der hintersten Reihe saß. Heute würde ihr Name der Verteidigung und der Öffentlichkeit bekannt gegeben werden. Dagegen konnte er nichts unternehmen, aber es verschärfte die Situation.

Er nickte Sophie zu und legte seinen Aktenkoffer auf den Tisch der Staatsanwaltschaft. Ashley Murphy saß bereits am Tisch der Verteidigung und machte sich Notizen auf einem Block. Als sie ihn sah, legte sie den Stift fort und kam zu ihm herüber. Ihre hellbraunen Haare waren zu einem Knoten zurückgebunden. Sie trug immer eine randlose Brille, aber aus irgendeinem Grund war er fest davon überzeugt, dass sie eigentlich gar keine Brille brauchte und sie nur aufsetzte, um ernsthafter zu wirken.

»Du hast dich da in etwas verrannt«, sagte Ashley.

»Freut mich auch, dich zu sehen, Ashley.«

Sie stemmte die rechte Hand in die Hüfte. »Komm schon, Patrick. Du weißt doch, wie so etwas läuft. Du hast nichts gegen meinen Mandanten in der Hand. Du willst nur – mal wieder – versuchen, Juan Wade an den Karren zu fahren. Aber das wird nicht passieren. Ich werde nicht zulassen, dass du den Namen dieses jungen Mannes in den Schmutz ziehst.«

In Patrick stiegen gemischte Gefühle auf. Am liebsten hätte er ihr gleich hier und jetzt den Wind aus den Segeln genommen. Aber er beherrschte sich. Ashley würde noch früh genug erfahren, wer seine Zeugin war. Dann würde sie vor Wut kochen und ein Teil von ihm wollte das sehen. Er wusste, dass er nicht so denken sollte, aber der Schock, wenn sie erfuhr, wer den Doppelmord mit angesehen hatte, würde unbezahlbar sein. Ashley glaubte, alle Karten in der Hand zu halten, aber da irrte sie sich.

»Du siehst das völlig falsch, Ashley. Vielleicht solltest du dir erst einmal anhören, welche Beweise ich gegen deinen Mandanten habe, bevor du irgendwelche voreiligen Schlussfolgerungen ziehst, die nicht auf Tatsachen beruhen.«

Ihre grünen Augen verengten sich. »Was geht hier vor sich, Patrick? Verschweigst du mir etwas?«

Seine Haltung hatte bei ihr Alarm ausgelöst. »Bringen wir es einfach hinter uns, okay?«

»Gut.« Sie drehte sich um und ging, warf ihm aber über die Schulter noch einen Blick zu.

Kurz darauf wurde ihr Mandant, Ricky Wade, von einem Beamten in den Gerichtssaal geführt. Mit seinem Babyface und den großen braunen Augen wirkte er sogar noch jünger als seine neunzehn Jahre. Ricky war ungefähr eins achtzig groß und von schlaksiger Gestalt. Patrick fragte sich, ob Rickys Aussehen die Geschworenen positiv beeinflussen würde. Er war eindeutig alt genug, um nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt zu werden, aber dieses kindliche Gesicht könnte sich als Vorteil für die Verteidigung erweisen. Als bräuchte er im Moment noch eine Herausforderung.

Patrick hatte Sophie gegenüber nicht durchblicken lassen, für wie schwierig er diesen Fall hielt. Sie schien felsenfest davon überzeugt zu sein, dass Ricky der Schütze war, aber um das zu beweisen, würden sie eine ganze Reihe von Hindernissen überwinden müssen. Und das schon unter den bestmöglichen Voraussetzungen, ohne dass Juan sich einmischte.

Patrick tat so, als würde er seine Unterlagen ordnen, während er aufstand und um den Tisch herumging, aber er bekam trotzdem mit, dass Ricky Ashley einige unflätige Bemerkungen an den Kopf warf. War dem Jungen nicht klar, dass sie hier war, um ihm zu helfen? Es war erstaunlich, dass Ashley sich ein solches Betragen gefallen ließ. Aber sie zeigte keinerlei Unbehagen, sondern antwortete mit ruhiger Stimme und versicherte Ricky, dass sie alles im Griff habe.

Wenige Minuten später nahm Richter Edward Turner seinen Platz ein – jetzt ging es los. Turner war ein gemäßigter Richter, der für seine ruhige Art bekannt war. Er ließ sich nicht leicht provozieren.

»Bitte rufen Sie Ihren ersten Zeugen auf, Mr Hunt.«

»Die Staatsanwaltschaft ruft Detective Harley Scott in den Zeugenstand.« Scott war der leitende Ermittler in diesem Fall und würde die nötigen Beweise präsentieren, um einen hinreichenden Tatverdacht zu begründen. Er war ein erfahrener Beamter und hatte Hunderte solcher Anhörungen mitgemacht.

Patrick ging mit dem Beamten die Ereignisse vom Abend der Schießerei durch. Dann stellte er die entscheidende Frage: »Und, Detective Scott, haben Sie einen Augenzeugen, der die Ereignisse, die Sie gerade beschrieben haben, bestätigen wird?«

»Ja, Sir, den habe ich.«

Patrick würde nicht derjenige sein, der Sophies Namen bei einer öffentlichen Verhandlung offenlegte. Er war sich sicher, dass Ashley nach dem Namen fragen würde, also beließ er es dabei und setzte sich. »Ihr Zeuge, Kollegin.«

Ashley ging zum Zeugenstand und rückte ihre Brille zurecht. Patrick vermutete, dass dies eine nervöse Angewohnheit war.

»Detective Scott, wie lautet der Name Ihres Augenzeugen?«

»Die Zeugin heißt Sophie Dawson.«

Ashley wandte sich um und sah Patrick mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Mund war vor Überraschung leicht geöffnet. Dann wanderte ihr Blick in die hinteren Reihen des Gerichtssaals. »Detective Scott, Sie meinen die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Sophie Dawson?«

Überall im Saal sogen Zuhörer hörbar die Luft ein. Es war nicht besonders voll, aber angesichts der Tatsache, dass der Fall öffentlichkeitswirksam war und mit einer Straßengang zu tun hatte, waren Vertreter der Lokalmedien anwesend.

»Sie wollen also sagen, dass Ihre Augenzeugin in diesem Verfahren gegen meinen Mandanten eine Staatsanwältin hier in Fulton County ist?«

»So ist es, Ma’am«, sagte der Beamte, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Das ist ja sehr praktisch, Detective.«

Patrick fuhr von seinem Stuhl auf. »Einspruch, Euer Ehren. Ich finde nicht, dass die Bemerkung der Verteidigung angemessen ist.«

Der Richter nickte. »Beschränken Sie sich bitte auf die Fragen, Frau Anwältin. Bei einer ersten Anhörung ist keine Theatralik notwendig. Es gibt keine Geschworenen als Publikum.«

Patrick unterdrückte ein spöttisches Grinsen.

Ashley wandte sich um und sah Sophie an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Richter zuwandte. Einen Moment lang sagte sie nichts, aber Patrick konnte sehen, dass sie etwas im Schilde führte.

»Euer Ehren, da ich sehe, dass Ms Dawson heute im Gerichtssaal anwesend ist, würde ich sie gerne in den Zeugenstand rufen und ihre Aussage von ihr selbst hören.«

Wieder erhob Patrick sich. »Euer Ehren, es wäre ausgesprochen ungewöhnlich, die Augenzeugin bei einer ersten Anhörung aussagen zu lassen – noch dazu auf Wunsch der Verteidigung.«

»Ihre Erwiderung, Ms Murphy?«

»Nichts an diesem Fall scheint normal zu sein, Euer Ehren. Ich möchte vorbringen, dass ich das Recht habe, Ms Dawsons Zeugenaussage heute zu hören. Sie sitzt hier, also ist es weder für sie noch für das Gericht eine besondere Zumutung.«

»Was das betrifft, so hat Ms Murphy recht. Ungewöhnlich ist es, das ist wahr, aber es spricht nichts dagegen. Ms Dawson, wenn Sie tatsächlich im Saal sind, erheben Sie sich bitte.«

Patrick hätte wissen müssen, dass Ashley irgendetwas Verrücktes in dieser Art tun würde. Er hätte sich selbst dafür ohrfeigen können, dass er sich für diesen Fall keinen Plan B zurechtgelegt hatte. Bislang hatte er Sophie nicht auf ihre Aussage vorbereitet, er hatte keinen einzigen der Probedurchläufe gemacht, die er normalerweise mit ihr durchgeführt hätte, bevor sie in den Zeugenstand gerufen wurde. Jetzt konnte er nur hoffen, dass sein Fall sich nicht in Luft auflöste.

* * *

Nachdem der Richter sie dazu aufgefordert hatte, stand Sophie auf. Sie spürte, wie sich alle Augen im Saal auf sie richteten. Auch wenn sie es gewohnt war, vor einem Gericht zu sprechen, war es diesmal etwas anderes. Ihre Handflächen wurden feucht und sie merkte, dass ihre Wangen sich röteten. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für eine Panikattacke.

Du schaffst das, Sophie. Du warst schon eine Million Mal bei Gericht.