Über das Buch:
„Ich denke an die Taten des Herrn, ja, ich denke an deine früheren Wunder.“

Angeregt durch diese Worte aus Psalm 77 erinnert sich der bekannte Autor Eckart zur Nieden an faszinierende, häufig auch humorvolle Begebenheiten aus acht Jahrzehnten seines bewegten Lebens. Es sind meist alltägliche Anekdoten, die dem Autor von klein auf Gottes Wesen vor Augen geführt haben oder für ihn zu Metaphern biblischer Wahrheiten wurden.

Eine Schatzkiste voller Geschichten aus einem erfüllten Leben, zur Ermutigung, zum Schmunzeln und zum Staunen über einen groß(artig)en Gott.

Über den Autor:
Eckart zur Nieden arbeitete nach seiner theologischen Ausbildung in einem Missionswerk und dann 35 Jahre beim Evangeliums-Rundfunk (ERF) in Wetzlar. Er schrieb viele Bücher für Kinder und Erwachsene.

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Was heute »Evangelische Hochschule Tabor« heißt, war damals, als ich dort eintrat, das »Missionsseminar Tabor«. Die Ausbildung war schlichter als heute und die »Brüder« mussten einen Teil der Kosten bestreiten, indem sie im Haus arbeiteten.

Pfarrer Erich Schnepel riet mir, dorthin zu gehen. Und weil er im Missionsseminar einen guten Ruf hatte, schickte man mir gleich, ohne dass ich mich vorgestellt hatte, eine Bestätigung, dass ich angenommen sei. Die konnte ich bei meiner Musterung vorlegen und wurde so vom Wehrdienst freigestellt.

Meinen Beginn in Tabor stelle ich mal so vor: der erste Tag, die erste Woche und der erste Monat.

Am ersten Tag – ich war gegen Mittag mit Kiste und Koffer per Bahn angereist – lief jemand durchs Haus und suchte Leute, die beim Abladen von Backsteinen helfen konnten. Am ersten Abend war mein Hemd rot.

In der ersten Woche sollte ich Kühe hüten. Die waren auf eine Wiese in einiger Entfernung zu bringen. Da ich keinerlei Erfahrung hatte, fragte ich, was ich machen müsse, um die großen Tiere dahin zu lenken, wo ich sie haben wollte. Nichts, hieß es. Die Kühe wüssten schon, wo sie hinmüssten. Ich fragte nicht, was ich dann überhaupt für eine Aufgabe hätte, da ja mit Viehdieben wie in Wildwestfilmen nicht zu rechnen war. Also folgte ich den Tieren, sah ihnen beim Grasen zu und genoss die Aussicht auf das Landgrafenschloss von Marburg. Kühe gibt es natürlich in Tabor schon lange nicht mehr und auf der schönen Wiese steht heute ein großes Studentenwohnheim.

Im ersten Monat lernte ich so manche biblischen und geistlichen Dinge, mit denen ich mich bisher noch wenig beschäftigt hatte. Da fiel mir siedendheiß etwas ein, was ich bis dahin verdrängt hatte: An meiner Arbeitsstelle in Kassel hatte ich gelegentlich für meine heimischen Bastelarbeiten etwas Messingblech und -draht mitgenommen. Nun schrieb ich einen Brief an die »Abteilung für Verkauf von Material an Werksangehörige« – ohne zu wissen, ob es so etwas gab –, entschuldigte mich und legte einen Geldschein bei, der in etwa dem Wert der gestohlenen Sachen entsprach. Auch erklärte ich, was ich jetzt machte. Nach einiger Zeit schrieb mir jemand, die Firma bedanke sich und wünsche mir für den weiteren Weg alles Gute. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen.

Gut ist es, wenn wir Gott gehören
und leben wollen ganz als Christ,
dass wir nicht untern Teppich kehren,
was bei uns nicht in Ordnung ist.
Befreiend ist’s, mit dunklen Sachen
vor Jesus reinen Tisch zu machen.

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In den drei Sommermonaten wurden die Schüler von Tabor in praktische Einsätze geschickt. Die oberste Klasse kam in Gemeinden und die vorletzte in Krankenhäuser, wo ältere Taborleute als Krankenpfleger tätig waren. Mich schickte man in ein kleines Krankenhaus nach Katzenelnbogen im Taunus.

Es gab zwar viel Schönes in der Freizeit während der drei Monate zu erwandern und auch der Dienst in der Pflege brachte manches schöne Erlebnis. Aber manchmal war es auch schwer. Besonders in ein Zimmer ging ich nicht gern. Da lag ein Sterbender, ein zweiter bekam kaum Luft und atmete ständig laut stöhnend und ein dritter war ein Simulant. Er behauptete zum Beispiel, er habe Blut im Urin. Als man es chemisch untersuchte, war es Erdbeermarmelade.

Eines Abends kam die OP-Schwester zu mir, eine Diakonisse. Ob es stimme, dass ich Schlosser gelernt habe. Ja, sagte ich, Maschinenschlosser.

Sie fragte, ob ich ihr aus einer Notlage helfen könne: Morgen sei eine Operation geplant. Ein Nagel müsse einen gebrochenen Knochen halten. Vermutlich brauche sie einen von fünfzehn Zentimetern Länge. Sie habe aber versäumt, den rechtzeitig zu bestellen. Längere und auch kürzere habe sie. Wenn nun morgen der Chirurg, der für seinen Jähzorn bekannt war, den Nagel verlange und es sei keiner da …

Wie ich denn helfen könne, fragte ich.

Indem ich einen längeren Nagel auf die richtige Länge kürzte, war die Antwort. Es müsste aber noch heute Abend sein.

Bereitwillig sagte ich zu – ohne zu ahnen, dass ich mehrere Stunden damit zubringen würde. Das Ding war aus gehärtetem Stahl. In der kleinen Werkstatt des Hausmeisters gab es nichts zum Schleifen, nur Sägen und Feilen. Völlig erschöpft hatte ich den Nagel mit kreuzförmigem Querschnitt irgendwann spät in der Nacht zwar gekürzt, aber die Abschrägung zur Spitze hin war nicht mehr möglich. Das Resultat brachte ich gleich der ängstlichen – und betenden – Schwester, damit sie es desinfizieren konnte.

Am nächsten Abend berichtete sie mir Folgendes: Der Chirurg rief: »Nagel!« Sie gab ihm einen längeren. »Zu lang!« Sie gab ihm einen kürzeren. »Zu kurz!«. Dann gab sie ihm mein Werk. »Was ist denn das für ein Ding?« Schüchtern erklärte sie es ihm, während er weiterarbeitete. Der Patient hat überlebt.

Großmutter pflegte oft zu sagen:
Man muss sich nur zu helfen wissen.
Und trotzdem wird man Niederlagen
so manches Mal erdulden müssen.
Ich lernte: Gott ist überall,
vertrau ihm auch im Krisenfall!

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In jenem Krankenhaus, das übrigens schon lange nicht mehr besteht, gab es noch einen anderen großen Saal mit acht Betten. An einem Ende lag ein hagerer alter Mann, der den Schwestern und Pflegern mit seinem mürrischen Wesen einige Mühe machte. Der Arzt ordnete eine Darmspülung an, was der Pfleger und ich als ahnungsloser Helfer durchführen sollten. Ich stand aber mehr dabei, um zu lernen, als dass ich half.

In diesem Augenblick geschah etwas sehr Merkwürdiges. Etwas so Ungewöhnliches, dass ich mir hinterher vornahm, mir alle Einzelheiten genau einzuprägen, damit sich später in der Erinnerung nicht einiges verschob.

Ich sah ein »Etwas« vom anderen Ende des Saales auf uns zuschweben. Es war etwa so groß wie ein Kopfkissen und grün. Es flog schnell, aber nicht blitzartig, etwa eine gute Sekunde brauchte es bis zu unserem Patienten. Es landete direkt auf ihm, und in dem Moment sackte er zusammen und war tot.

Die Erscheinung war vorüber und ich war verwirrt. Später zeigte sich, dass weder der Pfleger, der ebenfalls Christ war, noch einer der Patienten etwas davon mitbekommen hatten.

Was war das gewesen?

Im Mittelalter haben sich die Menschen ja vorgestellt, dass die Seele den Menschen bei seinem Tod verlässt und davonschwebt. Aber dann flöge sie von ihm weg und nicht zu ihm hin. War das so etwas wie der personifizierte Tod? Oder ein Geist, ein Dämon? Später habe ich gelegentlich Leute mit umfangreicher Bibelkenntnis gefragt, aber sie konnten mir das Phänomen auch nicht erklären. Es blieb immer bei der Feststellung, zu der ich auch schon gekommen war: Es gibt in der jenseitigen Welt viel mehr Dinge, als wir wissen. Viel mehr, als die Heilige Schrift uns verrät. Und das wiederum heißt: Wir brauchen auch gar nicht alles zu wissen. Nicht alles, was existiert, brauchen wir zu kennen.

Was wir dagegen wissen müssen, um Gottes Kinder zu werden, zu bleiben und uns als solche zu bewähren, das ist unmissverständlich klar.

Mich trieb damals die Frage um: Wie wird es mit meinem Ende sein? Welche Macht hat dann die Gewalt über mich? Mose betete im Psalm neunzig: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.«

Wenn unser Blick zuweilen fällt,
wie durch ’ne angelehnte Tür,
auf Welten hinter dieser Welt –
was soll’s? Es bleibt dabei, dass wir
aus Gottes Wort zu wissen kriegen,
was nötig ist. Das soll genügen.

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Nach meiner theologischen Ausbildung war ich für fünfeinhalb Jahre bei einer Missionsgruppe beschäftigt, die sich »Missionstrupp Frohe Botschaft« nannte, abgekürzt MFB. Dort lernte ich auch meine Frau Edeltraud kennen. Junge Christen stellten ein Jahr für die Mission zur Verfügung – manche auch nur einen dreiwöchigen Urlaub – und halfen mit bei sogenannten Mannschaftsevangelisationen. Während dieser Einsätze wohnten sie in Privatwohnungen der Gemeindemitglieder und machten Hausbesuche, Straßeneinsätze, hielten Kinderstunden und halfen bei den abendlichen Veranstaltungen mit Sketchen, Chorliedern und Einzelgesprächen.

Da die meisten von uns keine Profis auf diesem Gebiet waren, war das alles sehr schlicht gehalten. Heute würden diese Veranstaltungen dem kulturellen Anspruch der meisten Gemeinden nicht mehr genügen. Aber damals war dieses Konzept noch neu. Die Begeisterung der jungen Leute wirkte ansteckend und weckte das Interesse der Besucher. Und schließlich legte Gott seine Hand auf den Einsatz und so mancher kam dadurch zum Glauben an ihn.

Natürlich gab es manchmal auch Widerstand. Zum Beispiel, als wir in der »Glocke«, einem Stadtsaal in Bremen, Gottes Botschaft verkündigten. Wir schrieben zwar erst das Jahr 1966, es herrschte aber schon die Stimmung der 68er-Jahre. Eine Truppe von Revoluzzern hatte die Empore besetzt und machte einen gewaltigen Lärm, rief Protestparolen und ließ Spruchbänder von oben herunterflattern. So konnten wir unser Programm nicht weiterführen und versuchten stattdessen, uns mit dem Singen von Chorälen gegen ihren Lärm zu behaupten.

Aber das war eine Ausnahme. Meistens stießen unsere Veranstaltungen auf viel Zustimmung. Auch wegen des abwechslungsreichen Programms und der kurzen Predigten von bekannten Rednern.

Gelegentlich zeigten wir Filme als Hinführung zur Predigt. Das Gerät dafür mussten wir uns immer erst bei der zuständigen Kreisbildstelle ausleihen, und die 16-Millimeter-Filme wurden mit der Post geschickt, was leider dazu führte, dass manchmal ein Film nicht rechtzeitig eintraf.

Ich erinnere mich noch, wie einmal eine Filmrolle in einer Kirche von der oberen Empore fiel und den ganzen Mittelgang entlangrollte, bis fast vor den Altar. Da lag der Film – abgerollt in der Kirche. Nachdem wir aber die Beulen in der Spule gerade geklopft und den Film wieder aufgerollt hatten, stand der Vorführung nichts mehr im Wege.

Jemand hatte uns für einen Sonderpreis einen Verstärker gebaut. Nicht mit Transistoren, wie das heute üblich ist, sondern mit Röhren. Dadurch war dieses Ding ungeheuer schwer.

Einmal war Wolfgang, unser Chef und Gründer des MFB, zusammen mit vier Mädchen aus unserer Gruppe auf der Autobahn unterwegs, als er plötzlich feststellen musste, dass das Benzin alle war. Zwar gab es einen Ersatzkanister, der lag aber unter dem Verstärker. Und den konnte ein einzelner Mann, auch wenn er vier Mädchen zur Hilfe hatte, nicht herausheben. Daher schickte Wolfgang zwei Mädchen zu Fuß zu einer Tankstelle, die man glücklicherweise in der Ferne schon sehen konnte.

Nach langem Warten hielt ein Polizeiauto hinter ihnen. Die Beamten stiegen aus. »Sie wissen, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie hier auf dem Standstreifen stehen bleiben?«

Wolfgang versuchte, die Situation wortreich zu erklären und sich zu entschuldigen. »Die Mädchen konnten mir nicht helfen, an den Kanister heranzukommen…«

»So, einen Mädchenhandel haben Sie auch noch?«