Über das Buch:
Im Königreich Juda hat der Götzendienst Einzug gehalten. Auf Anweisung seines Vaters, König Ahas von Juda, soll sogar der junge Kronprinz Hiskia den Göttern geopfert werden. Verzweifelt setzt Königin Abi alle Hebel in Bewegung, um die Pläne ihres Mannes zu durchkreuzen. Sowohl Mutter als auch Sohn suchen in einem Land voller Gewalt und Verrat nach einer Quelle wahrer Stärke. In Todesangst begegnet Hiskia zum ersten Mal dem Gott seiner Vorfahren – Jahweh … Doch umgeben von Menschen wie seinem Hauslehrer Shebna, einem ägyptischen Intellektuellen, oder dem Hohenpriester Uria, dem der Machterhalt über alles geht, fällt es schwer, mehr über diesen längst vergessenen Gott zu erfahren.

In enger Anlehnung an die biblischen Berichte erzählt Lynn Austin von mutigen Menschen wie Königin Abi und dem Propheten Jesaja, die sich in schwierigen Zeiten von Gott gebrauchen lassen.

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Holland, Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.

Kapitel 5

Abi weinte, als sie Hiskia zu ihr brachten und ihn in ihre Arme legten. Seine Haare und Kleider stanken nach Rauch, aber sie legte die Hände um sein verrußtes Gesicht und küsste ihn immer wieder, während der Ruß sich mit ihren Tränen vermischte. Hiskia klammerte sich an sie und in seinen Augen sah sie all die Schrecken, die er mit angesehen hatte.

Wie kam es, dass er verschont worden war? Sie fragte sich, ob Uria eingegriffen hatte. Abi war entsetzt gewesen, als der Hohepriester die Söhne des Königs für das Opfer zusammengetrieben hatte. Sie hatte gehofft, als Ahas’ Berater würde Uria sich gegen seine Götzenverehrung stellen, anstatt ihm zu helfen. Aber wenn Uria ihr Flehen erhört und Hiskia errettet hatte, war alles andere nicht wichtig.

»Jahwe«, flüsterte Hiskia, seine Stimme heiser vom Schreien. »Jahwe!«

Abi verstand nicht, warum er das Wort ständig wiederholte. Jahwe war der Gott, den ihr Vater angebetet hatte. Wieso hatte ihr Sohn seinen Namen bei dem Opfer für Moloch gehört?

»Schhh, mein Kleiner. Jetzt bist du in Sicherheit«, murmelte sie. »Alles wird gut.«

Aber als sie ihr zitterndes Kind ansah, fragte sie sich, ob er jemals wieder so sein würde wie früher. Der charmante, neugierige Junge, der mit seinem Lachen die Gänge des Palastes erhellt hatte, glitt ihr durch die Finger wie feine Seide. Zu sehen, wie Eliab starb, hatte Hiskia in ein verängstigtes Kind verwandelt, das Nacht für Nacht verschreckt aufwachte und Angst hatte, wieder einzuschlafen, weil der Albtraum dann zurückkam. Aber das Opfer heute hatte die letzten Stränge von Vernunft und Vertrauen durchtrennt. Er hatte sich dafür entschieden, einer Welt zu entfliehen, zu der Moloch gehörte, und sich an einen sicheren Ort in seinem eigenen Kopf zurückzuziehen. Und Abi wusste nicht, wie sie ihn erreichen konnte. Sie klammerte sich an seinen Körper, als könnte die Macht ihrer Liebe ihn zurückholen.

Manchmal hätte sie sich auch gerne aus dieser Wirklichkeit gestohlen. Ihr Leben hatte sich so weit von dem natürlichen Lauf einer Ehe und Familie entfernt, dass es ihr schien, als stiege es allmählich in den Scheol hinab. Sie hatte einen König geheiratet, einen Nachfahren von König David … einen Mann, der dazu fähig war, seine eigenen Kinder zu töten.

»Sie werden dich mir niemals wegnehmen«, sagte sie und drückte Hiskia an sich. »Niemals.« Aber sie wusste, dass es ein leeres Versprechen war, das sie nicht würde halten können, weil es nicht in ihrer Macht lag.

Vielleicht sollte sie beten. Vielleicht sollte sie Jahwe anflehen, den Gott, an den Hiskia sich wandte. Aber war er nicht der Gott, der sie mit Ahas verheiratet hatte? Hatte die Tatsache, dass ihr Vater Jahwe anbetete, ihr nicht die Ehre eingebracht, in die königliche Familie einzuheiraten? Abi hatte Gott noch nie um irgendetwas gebeten. Sie hatte früh im Leben gelernt, keine eigenen Wünsche und Sehnsüchte zu haben.

»Du hast nichts zu wollen«, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt, »außer dem, was dein Vater für dich will. Was du willst, spielt keine Rolle.« Abi hatte das akzeptiert und war in dem Wissen aufgewachsen, dass es immer so sein würde.

Sie erinnerte sich an einen warmen Nachmittag, kurz vor ihrer Hochzeit, als Uria zum Haus ihres Vaters gekommen war. Sie hatte im Hof gesessen und er hatte gewagt, allein mit ihr zu sprechen. »Willst du Prinz Ahas heiraten?«, hatte der Schüler ihres Vaters sie gefragt.

»Mein Wille spielt keine Rolle«, hatte sie geantwortet. »Das weißt du doch sicher.«

»Nur weil König Usija deinem Vater ein Versprechen gegeben hat?«

»Nein, weil ich eine Frau bin. Ich werde in die Ehe gegeben – wie ein Geschenk. Haben Geschenke das Recht zu wählen, wer sie bekommen soll?« Sie hatte keine Bitterkeit empfunden, sondern nur die Wahrheit festgestellt.

»Und das akzeptierst du, Abi?«, fragte Uria.

»Natürlich«, erwiderte sie.

Uria hatte einen Moment lang in die Ferne gestarrt, hinauf zum goldenen Dach des Tempels, das über den Baumwipfeln und Dächern gerade eben zu sehen war. Als er sich ihr wieder zuwandte, sah sie die Sorge in seiner Miene. »Hast du dir denn noch nie etwas so sehr gewünscht, dass du bereits warst, dafür zu kämpfen?«, hatte er sie gefragt.

Abi hatte seine Frage nicht beantwortet, weil sie sie gar nicht verstanden hatte. Aber jetzt wusste sie, was er damals gemeint hatte. Und etwas in ihrer Seele, eine innere Kraft, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie besaß, sagte ihr, dass sie um Hiskia kämpfen musste. Sie durfte nicht zulassen, dass er ihr entglitt. Einen Sohn hatte sie schon verloren und sie konnte es nicht ertragen, noch einen zu verlieren.

»Komm zu mir zurück, Liebling. Bitte komm zurück«, flehte sie. Sie nahm Hiskias steife kleine Hände in ihre und klatschte sie zusammen, während sie eines der rhythmischen Lieder sang, die er früher so geliebt hatte. Doch er reagierte nicht.

»Jahwe«, schluchzte er nur.

Den restlichen Tag über kämpfte Abi um ihren Sohn und versuchte alles, was ihr einfiel, um ihn in eine Welt zurückzulocken, zu der er nicht mehr gehören wollte; eine Welt, die er fürchtete und der er nicht traute. Die Hoffnungslosigkeit dieses Kampfes machte sie müde. Sein Körper blieb steif vor Angst und seine Augen starrten vor sich hin, ohne etwas zu sehen.

Als der Nachmittag sich dem Ende zuneigte, trug sie ihn zum Fenster, aber sie blickte nicht hinaus. Bald würde das Abendopfer dargebracht und dann würde die Dunkelheit hereinbrechen und die lange Nacht voller Schrecken würde für sie beide beginnen. Sanft wiegte sie Hiskia hin und her und fühlte, wie ein Schluchzer ihn erschütterte.

»Jahwe …«

Woher hatte er diesen Namen? Welche Rolle spielte der antike Gott ihres Vaters in diesem Albtraum? Vielleicht würde sie es nie erfahren.

Abis Dienstmädchen kam mit einem Tablett voll Essen herein und stellte es auf den kleinen Tisch neben der Sitzbank am Fenster. Ihre Augen waren voller Mitgefühl. »Du hältst ihn schon den ganzen Tag, Herrin. Du musst etwas essen. Lass mich ihn eine Weile halten.«

Abi schüttelte den Kopf. Das Essen reizte sie nicht. Angesichts der Möglichkeit, dass ihr Sohn vielleicht nie wieder gesund werden würde, drehte sich ihr der Magen um. Hiskia schien gar nicht zu hören, wenn das Mädchen hereinkam oder sprach, aber als in der Ferne ein Schofar ertönte und das Abendopfer ankündigte, fuhr er zusammen.

»Jahwe!«

In diesem Augenblick wusste Abi, was sie für ihr Kind tun musste. Wenn Hiskia nach ihm rief, dann sollte auch sie ihn anrufen. Aus irgendeinem Grund war Jahwe der Schlüssel zu seinem Geist, also würde sie diesen Schlüssel finden und seinen Geist aufschließen.

»Hiskia? Mama muss jetzt gehen«, sagte sie zu ihm und küsste ihn auf die Stirn, »aber ich werde bald wiederkommen, das verspreche ich dir. In der Zwischenzeit wird sich Deborah um dich kümmern.«

Die Magd blickte überrascht auf, als Abi aufstand und sie zu sich winkte. »Aber … wohin gehst du denn, Herrin? Du darfst doch nicht ...«

»Ich gehe zum Abendopfer in den Tempel«, sagte sie entschlossen. »Das ist erlaubt.«

Als sie versuchte, Hiskia in Deborahs Arme zu legen und er sich schreiend an sie klammerte, hätte Abi es sich beinahe anders überlegt. Aber dann löste sie vorsichtig seine Hände von ihren Armen und versprach ihm wiederzukommen. Dann bedeckte sie ihren Kopf mit einer Stola und eilte aus dem Palast. Schnellen Schrittes ging sie den königlichen Weg zum Tempel hinauf.

Nur wenige Gottesdienstbesucher hatten sich zum Abendopfer versammelt – ein Dutzend Männer, eine Handvoll Frauen. Abi sah sich unter den Leviten um, auf der Suche nach ihrem Vater, und dann suchte sie unter den Priestern nach Uria. Keinen von beiden konnte sie ausmachen. Als die Gläubigen zum Gebet niederknieten, sank auch Abi auf die Knie und flehte zum ersten Mal in ihrem Leben Jahwe an.

»Herr, du weißt, dass ich dich noch nie um etwas gebeten habe«, rief sie. »Und ich bitte auch jetzt nicht für mich selbst, sondern für meinen Sohn. Er ruft nach dir, Herr. Bitte hilf ihm … bitte zeig mir, was ich tun kann, um ihn zurückzuholen. Ich werde jeden Tag herkommen und dich anbeten – zweimal am Tag! Ich werde alles tun, Herr, wenn du nur mein Gebet erhörst und meinem Sohn hilfst.«

Lange blieb sie betend auf den Knien liegen und merkte gar nicht, dass der Gottesdienst längst beendet war. Und sie bemerkte auch nicht, dass ein Priester im weißen Gewand zu ihr getreten war, bis seine Stimme sie aufschreckte. »Möchtest du ein Opfer bringen, Herrin?«

Abi wischte schnell ihre Tränen fort. »Nein … ich …« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte Jahwe um Hilfe gebeten, aber ihr war nicht klar, was sie als Nächstes tun sollte. Der Priester verschränkte die Arme und sah sich im Vorhof um, als wartete er ungeduldig darauf, dass er seinen Dienst beenden konnte.

»Mein … mein Vater ist Secharja, der Levit«, sagte sie. »Weißt du, wo er ist? Könntest du mich bitte zu ihm bringen?«

Der Priester runzelte die Stirn, nickte dann aber. »Komm mit.«

Abi wusste nicht, warum sie nach ihrem Vater gefragt hatte. Sie wusste nur, dass ihr Sohn Jahwes Hilfe brauchte, und Jahwe war der Gott ihres Vaters. Sie würde tun, egal was Jahwe verlangte, wenn er Hiskia rettete. Sie beeilte sich, um mit dem Priester Schritt zu halten, als dieser sie in das Quartier der Leviten führte. Sie hoffte nur, dass König Ahas nie erfahren würde, was sie hier tat.

* * *

Als Secharja die Augen aufschlug, war er allein und lag ausgestreckt auf dem Boden seiner Kammer. Er wusste nicht mehr, wie er dorthin gekommen war. Wie spät war es? Welcher Tag? Er konnte sich nicht erinnern. Dann sah er den leeren Weinschlauch und ihm fiel wieder ein, dass er gebetet hatte, sterben zu dürfen. Aber Jahwe hatte sein Gebet nicht erhört.

Langsam stand Secharja auf, wobei er sich auf seinem Bett abstützte. Durch die Ritzen der Fensterläden konnte er sehen, dass die Sonne im Westen tief am Himmel stand. Er hatte den ganzen Tag seinen Rausch ausgeschlafen und jetzt war er wieder nüchtern. Die betäubende Wirkung des Weines war vergangen und hatte ihn machtlos zurückgelassen. Wie sollte er sich seiner Schuld und seinem Versagen stellen, wie der Erinnerung an das Molochopfer? Er sah sich in dem Durcheinander seines Zimmers um, auf der Suche nach etwas zu trinken, aber die Weinschläuche waren alle leer. Und er war zu wackelig auf den Beinen, um neuen Wein zu kaufen. Stattdessen sank er auf sein Bett und schlug die Hände vors Gesicht.

Wenn er in die Vergangenheit reisen und all die Fehler, die er gemacht hatte, ungeschehen machen könnte, würde er es tun. Auf der Stelle. Aber Secharja konnte nicht zurückgehen. Und jetzt hatte Eliab für diese Fehler mit seinem Leben bezahlt. Es war genau so, wie es in der Schrift hieß: »Wenn sich jemand gegen mich wendet, dann bestrafe ich dafür noch seine Kinder und Enkel bis in die dritte und vierte Generation.«9

»Nein ...«, stöhnte er. »Bitte nicht ... nicht noch mehr! Hab Erbarmen, Herr. Hab Erbarmen!«

Als die Trompete plötzlich das Abendopfer ankündigte, erschrak Secharja, als hätte die Stimme Gottes anklagend seinen Namen gerufen. Dann drang der Gesang der Leviten in sein Zimmer. Secharja murmelte die Worte vor sich hin, während der Chor sang, verzweifelt bemüht, die schmerzlichen Bilder vom Opfer an Moloch zu verdrängen: »Aus der Tiefe meiner Not schreie ich zu dir. Herr, höre mich doch! ... Wenn du Vergehen anrechnen wolltest, Herr, wer könnte vor dir bestehen? Aber bei dir finden wir Vergebung ...«10

Secharja verstummte. Er hatte diese Worte sein Leben lang gesungen, ohne sie wirklich zu hören. Konnten sie wirklich wahr sein? Würde der Allmächtige sich tatsächlich zu ihm herablassen und ihm vergeben? Plötzlich bäumte sich das Bild von Moloch vor Secharja auf und es schien die Worte des Psalmisten zu verhöhnen. Secharja sprach den Text weiter, um das Bild zu vertreiben: »Ich setze meine ganze Hoffnung auf den Herrn, ich warte auf sein helfendes Wort ... «

Secharja erinnerte sich daran, wie er früher einem helfenden, vergebenden Gott gedient hatte. Wenn Jahwes Vergebung doch diesen bitteren Teufelskreis von Sünde und Strafe und Tod für Secharjas Kinder und Kindeskinder durchbrechen könnte! Danach sehnte sich seine Seele – mehr als nach dem Leben selbst. Er schloss die Augen und sprach mit dem Chor: »Volk Israel, hoffe auf den Herrn! Denn er ist gut zu uns und immer bereit, uns zu retten ... Ja, er wird Israel retten von aller Schuld!«11

Gerettet von aller Schuld. Plötzlich wurde Secharja bewusst, dass die Rettung die Brücke war, die ihn über den Abgrund der Sünde zurückführen und wieder zu Gott bringen würde. Und Jahwe selbst würde diese Brücke bauen. Secharja fiel vor ihm nieder und flehte Gott an, ihm zu vergeben, was er getan hatte.

»Gott, du bist reich an Liebe und Güte; darum erbarme dich über mich ... Nimm meine ganze Schuld von mir, wasche mich rein von meiner Sünde! ... Gegen dich selbst habe ich gesündigt, ich habe getan, was du verabscheust ...«12

Jetzt verstand Secharja es. Sein Leben war Jahwe gewidmet und geweiht gewesen, aber er hatte nur für sich selbst gelebt. Das war seine größte Sünde – dass er das Leben, das Gott gehörte, verschwendete. Aus tiefstem Herzen sprach Secharja das Bußgebet, das König David einst gebetet hatte. »Wasche mich, dann werde ich weiß wie Schnee! Lass mich wieder Freude erleben ... Sieh nicht auf meine Verfehlungen, tilge meine ganze Schuld! ... Mach mich doch wieder froh durch deine Hilfe ... dann ... dann ...«13

Secharja hielt inne, stolperte über die Worte. Draußen versank die Sonne rasch hinter den Hügeln im Westen. Das Licht schwand, die Schatten wurden länger. Ihm war, als hätte er nicht mehr viel Zeit.

»Dann ... dann ...« Was war dann? Was konnte Secharja Gott schon versprechen, um all seine Sünden wiedergutzumachen? »Tieropfer willst du nicht, ich würde sie dir gerne geben; aus Brandopfern machst du dir nichts ...«14 Das Blut von tausend Lämmern und Ziegen konnte Eliab nicht wieder lebendig machen oder Secharja ein neues Leben schenken, damit er es noch einmal lebte. Er kämpfte gegen den Schmerz in seinem Herzen an, um sich an den restlichen Psalm zu erinnern. »… Alle, die dir nicht gehorchen, will ich an deine Gebote erinnern, damit sie umkehren und tun, was dir gefällt.«15

»Oh Gott, vergib mir!«, flehte er. »Vergib mir und gib mir noch eine Chance. Lass mich die Sünden, die ich begangen habe, wiedergutmachen. Ich werde die Menschen an deine Gebote erinnern, Jahwe. Bitte gib mir noch eine Gelegenheit, dir zu dienen. Ich flehe dich an!«

Wieder erklang das Schofarhorn in der Ferne und verkündete das Ende des Opfers. Als Secharja die Augen aufschlug und sich umsah, fiel ihm auf, dass die Bilder von Moloch alle entfleucht waren. Er blieb auf dem Boden liegen und weidete sich an dem Frieden, den er jetzt verspürte, voller Angst, ihn zu verscheuchen – bis er ein leises Klopfen an seiner Tür hörte. Er erhob sich und stolperte durch die Kammer. Hatte er etwas vergessen? Sollte er im Tempel Dienst tun?

Er öffnete die Tür und sah seine Tochter Abi vor sich stehen. Ihr liebliches Antlitz war tränenüberströmt und ihre Augen waren rot vom Kummer. Secharja wich zurück, weil er Hass und Vorwürfe erwartete für die Rolle, die er bei Eliabs Tod gespielt hatte, aber stattdessen sank Abi in seine Arme.

»Bitte hilf meinem Sohn Hiskia, Abba!«, flehte sie. »Nacht für Nacht träumt er von dem Opfer an Moloch. Und jetzt, nachdem er es ein zweites Mal mit angesehen hat, ist er ... Ich weiß nicht, ob er jemals wieder so sein wird wie vorher.«

Secharja fröstelte. Wochenlang hatten die Bilder von dem Feuergott seine eigenen Gedanken gequält. Wie viel schlimmer musste es für ein Kind sein.

»Er ist nicht mehr bei Verstand«, sagte Abi. »Die Angst frisst ihn auf. Bitte hilf ihm, Abba.«

»Ich ... ihm helfen?«, stammelte Secharja. »Ich weiß wirklich nicht, wie.«

»Ich weiß es auch nicht. Aber er ruft immer wieder nach Jahwe, deinem Gott, und ich weiß nicht, warum.«

Jahwe – sein Gott. Der Gott der Vergebung und unerschütterlichen Liebe. Secharja fühlte sich so hilflos, so unwürdig. Er konnte seinem Enkel nicht helfen. Er wusste nicht, wie. Und er brauchte unbedingt etwas zu trinken. »Was soll ich tun?«, fragte er und ließ Abi los.

»Ich weiß nicht. Setz dich zu ihm, rede mit ihm. Vielleicht kannst du herausfinden, warum er nach Jahwe fragt und was er von deinem Gott will. Bitte komm und rede mit ihm.«

»Kommen? Wohin?«

»In den Palast.«

»Nein«, sagte Secharja abrupt. »Nein, ich kann nicht in den Palast zurückkehren.« Als er im Palast des Königs gelebt hatte, war sein Leben doch erst auf die schiefe Bahn geraten.

Abi fing an zu weinen und ihr Kummer zerriss Secharja das Herz. »Ich habe niemanden, an den ich mich sonst wenden kann, Abba. Mein Sohn Eliab ist tot und ich weiß nicht, wie ich weiterleben soll, wenn ich Hiskia auch noch verliere. Bitte hilf mir!«

Secharja sah seiner Tochter in die Augen und erkannte, dass sie ihm seine Rolle bei Eliabs Tod nicht vorwarf – oder die Tatsache, dass er sie mit einem Götzenverehrer verheiratet hatte. Es war, als hätte sie ihm alle seine früheren Fehler schon vergeben und wollte nur seine Hilfe. Und da wusste Secharja, dass Jahwe sein Gebet erhört hatte. Auch Jahwe würde ihm vergeben. Secharja konnte Buße für seine Sünden tun, indem er Hiskia half. Der Weg zurück zum Palast schien ihm plötzlich wie eine schmale Brücke, die über den Abgrund hinweg zu Gott zurückführte.

»Ich komme mit«, sagte Secharja schließlich mit heiserer Stimme. »Ich werde tun, was ich kann.« Seine Finger zitterten, als er Abis Hand ergriff, ihr aus der Kammer folgte und die Tür hinter sich schloss.

Secharja ging den Berg hinunter zum Palast, dorthin, wo sein Leben aus der Bahn geraten war, als ribbelte er einen Wandteppich wieder auf, der nichts geworden war. Er würde an den Ort zurückkehren, an dem er seinen ersten Fehler gemacht hatte, und noch einmal von vorne anfangen. Er würde sich dem Durcheinander stellen, das er aus seinem Leben gemacht hatte, das wie ein Haufen Wolle zu seinen Füßen lag. Er würde neu beginnen, nicht an der Seite von König Usija im Prunk des königlichen Thronsaals, sondern bei seinem Enkel im Kinderzimmer des Palasts.

Als die Wache sie einließ, fragte Secharja sich, wann er das letzte Mal hier gewesen war. Es war viele Jahre her, aber die bitteren Erinnerungen waren so frisch, als wäre es erst gestern gewesen. Er hatte seinen Gott enttäuscht. Und seinen König.

Abi führte Secharja durch die vertrauten Gänge und dann eine Treppe hinauf, die er nicht kannte. Er war niemals in der Nähe des verbotenen Harems oder der Kinderstube des Palastes gewesen und jetzt fragte er sich, ob man ihn aufhalten und fortschicken würde. König Ahas würde seine Einmischung gewiss nicht gutheißen, wenn er davon erfuhr. Secharja zögerte und überlegte, ob er wieder gehen sollte, aber dann hörte er in der Ferne ein Kind weinen und folgte Abi, während sie die letzten Meter zum Schlafgemach ihres Sohnes rannte.

Das Dienstmädchen war erschöpft von ihren Bemühungen, Hiskia zu beruhigen, und Abi nahm ihn ihr schnell aus den Armen. Der Junge klammerte sich an seine Mutter und starrte mit großen, verängstigten Augen geradewegs durch Secharja hindurch, als wäre er gar nicht da. Das einzige Wort, das er sagte, war »Jahwe« und es war nur ein heiseres Flüstern.

Das habe ich ihm angetan, dachte Secharja. Das ist alles meine Schuld. Die Tora befahl, dass sie nicht sein sollten wie andere Völker – die ihre Kinder den Götzen opfern. Aber er hatte nicht auf die Warnung gehört. Jetzt sank er auf das Bett neben dem von Hiskia und betete um Vergebung, während Abi ihren Sohn hin und her wiegte, um ihn zu beruhigen.

Es dauerte lange, bis der Junge einschlief, und Secharja konnte sehen, wie erschöpft Abi war. »Ich bleibe und gebe auf ihn acht«, sagte Secharja, als sie ihn schließlich in sein Bett legte. »Dann kannst du dich hinlegen und ein wenig schlafen.«

Zuerst wollte sie nicht. »Wir müssen ihm helfen, Abba. Er hat entsetzliche Angst.«

»Ich weiß. Bei mir wird er in Sicherheit sein.«

»Und was ist, wenn er wieder aufwacht?«

»Wenn er nach dir ruft, schicke ich eine Magd, um dich zu holen.«

Am Ende gelang es Secharja, sie zu überreden. Aber als Abi gegangen war, setzte er sich wieder auf das leere Bett und fragte sich, was er für seinen kleinen Enkel tun konnte. Auf keinen Fall war er stark genug, um sich gegen die Soldaten von Ahas zur Wehr zu setzen, falls sie zurückkamen – obwohl er wusste, dass er eher sterben würde, als zuzulassen, dass Ahas dieses Kind opferte.

Mit der Zeit verlosch das Licht in den Öllampen und der Raum wurde dunkler. Eine sanfte Brise wehte durchs offene Fenster und brachte nach dem heißen, trockenen Tag kühlere Luft mit. Außer dem gleichmäßigen Atmen von Hiskia war im Zimmer nichts zu hören. Aber Secharja war nicht schläfrig. Er brauchte etwas zu trinken. Er wusste, wo im Palast der Weinkeller war und wo er den Verwalter finden würde. Wenn er nur kurz hinausging, konnte er mit einem Weinschlauch wiederkommen. Er erhob sich und schlurfte zur Tür.

Plötzlich zerriss Hiskias Schrei die Stille. Secharja erschrak so sehr, dass er schon fürchtete, das Herz könnte ihm aus dem Leib springen. Einen Augenblick lang wusste er nicht, was er tun sollte. Dann drehte er sich um und sah Hiskia schreiend im Bett sitzen. Schnell nahm Secharja den Jungen in den Arm und Hiskia klammerte sich schluchzend an ihn.

»Jahwe! Jahwe!«

Er wirkte so klein, so verletzlich, dass Secharja die Tränen kamen. Er spürte die schwere Schuld, die auch er an Hiskias Albtraum trug, aber er wusste nicht, wie er dem Jungen helfen sollte. »Schhh ... schhh ...«, murmelte er, während er Hiskia über die Locken strich. »Jahwe ist hier bei uns. Jahwe ist hier ...«

Und dann, weil er ratlos war, was er sonst tun könnte, begann Secharja aus den Psalmen zu rezitieren. Irgendwo in seinem Gedächtnis fand er die beinahe vergessenen Worte. »Jahwe ist mein Licht, er befreit mich und hilft mir; darum habe ich keine Angst. Bei ihm bin ich sicher wie in einer Burg; darum zittere ich vor niemand.«16

Beinahe unmerklich begann Hiskia, sich zu entspannen. Seine Schluchzer erstarben zu einem leisen Wimmern. Secharja schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter und sprach weiter: »Wenn schlimme Tage kommen, nimmt der Herr mich bei sich auf, er gibt mir Schutz unter seinem Dach und stellt mich auf sicheren Felsengrund ...«17

Irgendwann schlief Hiskia in Secharjas Armen ein. Die Öllampen flackerten und erloschen irgendwann. Aber Secharja rezitierte die ganze lange Nacht hindurch, bis die ersten sanften Sonnenstrahlen den Raum erhellten. »Jahwe ist mein Hirte; darum leide ich keine Not ... Und muss ich auch durchs finstere Tal – ich fürchte kein Unheil! Du, Herr, bist ja bei mir; du schützt mich und du führst mich, das macht mir Mut.«18

9 2. Mose 34,7

10 Aus Psalm 130

11 Psalm 130,7-8

12 Aus Psalm 51

13 Psalm 51,9ff.

14 Psalm 51,18

15 Psalm 51,15

16 Psalm 27,1

17 Psalm 27,5

18 aus Psalm 23