Über das Buch:
Texas, 1890: In der Hoffnung auf einen Neuanfang kommt die junge Ruth Fulbright mit ihrer Tochter nach Hope Springs. Die Anstellung als Köchin in dem kleinen Kurort ist der erste Lichtblick seit dem Tod ihres Mannes und dem Verlust ihres Zuhauses. Doch wie soll sie als mittellose Witwe die Miete für eine Unterkunft in dem wohlhabenden Touristenstädtchen aufbringen?

Zwar hat Ruth eine Idee für eine Art Tauschhandel, den sie dem Vermieter anbieten kann – doch wird der sich darauf einlassen? Schließlich ist Mr Azlin ein reicher Mann, der sich unübersehbar für etwas Besseres hält …

Über die Autorin:
Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy-End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie begann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas.

Kapitel 7

In frischer Garderobe, ordentlich rasiert und vom Apfelkuchen gesättigt, trat Bo nach draußen. Gerade so unterdrückte er den Impuls, fröhlich vor sich hin zu pfeifen. Als er die Tür schloss, hörte er plötzlich Schritte über die Straße trommeln, im nächsten Moment rief eine Kinderstimme nach ihm: »Mr Azlin! Mr Azlin! Ich habe Miss Vee gefunden!«

Miss wer? Bo kannte niemanden namens Vee in Hope Springs. Umso besser kannte er dafür dieses kleine Mädchen, das einen Tag nach seinem Sturz ins Wasser mit Sicherheit nicht so stürmisch herumtollen sollte. Er drehte sich um und sah Naomi mit einem flauschigen schwarz-weißen Fellknäuel in den Armen auf sich zukommen.

»Langsam, langsam.« Schnell schloss er die Tür und lief die Stufen zu ihr hinunter. »Immer mit der Ruhe, Kaulquappe.«

Sie blieb stehen, sah zu ihm auf und lachte. »Kaulquappe – das ist ja ein lustiger Name! Nennen Sie mich so, weil ich ins Wasser gefallen bin?«

Sie wirkte kein bisschen beleidigt und Bo beäugte sie mit gespieltem Ernst. »Es erscheint mir angemessen. Gefällt dir der Spitzname oder sollen wir uns etwas anderes ausdenken?«

Naomi grinste und nickte entschieden. »Ja, er gefällt mir.« Sie senkte den Kopf und drückte ihr Kinn an die Stirn des Tiers. »Was meinst du, Miss Vee? Ist Kaulquappe ein guter Name?«

In jedem Fall ein besserer Name als Miss Vee für einen Kater! Doch dem schien diese Fehlbenennung nichts auszumachen. Er schnurrte zufrieden vor sich hin. Seine Krallen waren eingezogen und er zeigte kein Anzeichen des niederträchtigen Verhaltens, das er ganz allein für Bo reserviert zu haben schien.

»Miss Vee findet den Namen auch gut.« Naomi hob ihren Kopf und streckte ihm dann ohne Vorwarnung den Kater entgegen. »Hier. Sie ist direkt zum Café gelaufen. Ganz so, als hätte sie gehört, dass ich Ihnen versprochen habe, sie zu finden.«

Der Kater fauchte und instinktiv sprang Bo zurück. Es war offensichtlich, dass ihre Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Ich will ihn gar nicht haben.« Bo schüttelte den Kopf und trat noch einen Schritt zurück.

Naomi runzelte die Stirn. »Warum nicht? Sie ist doch Ihre Katze.«

»Ist sie nicht.« Bo schloss kurz die Augen, dann öffnete er sie wieder. »Und sie ist auch gar keine sie. Sie ist ein Kater.«

»Und warum haben Sie sie dann Miss Vee genannt?« Naomis Sommersprossen tanzten, als sie die Nase krauszog.

»Aber das habe ich doch gar nicht.« Von was redete die Kleine da eigentlich?

»Ich habe es aber gehört«, erwiderte Naomi beharrlich, »gestern Abend. In Ihrem Haus. Sie … nein, er ist im Flur an uns vorbeigerannt und Sie haben ihn Miss Vee genannt.«

Miss Vee … plötzlich war ihm alles klar. Bo gluckste, dann lachte er laut auf. Naomi lachte mit, obwohl sie nicht verstanden hatte, was er so witzig fand.

Rasch wischte Bo sich die Lachtränen ab. »Komm her, Kaulquappe.« Er setzte sich auf die Stufen seiner Veranda und klopfte auf den Platz neben sich. Das Mädchen ließ sich neben ihn fallen und hielt Miss Vee fest. »Dieser Kater mag dich viel lieber als mich. Er gerät mir ständig zwischen die Beine und versucht, mich zum Stolpern zu bringen. Gestern im Flur habe ich ihn Mistvieh genannt, weil ich frustriert war und mir Sorgen um dich gemacht habe. Weißt du, warum ich ihn so genannt habe?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Weil er mir immer Probleme macht.«

Naomi streichelte das schnurrende Tier. Es wirkte mehr als zufrieden, endlich wieder ihre volle Aufmerksamkeit zu bekommen. »Aber er macht doch gar keine Probleme. Er ist süß. Sehen Sie?« Sie schnappte sich Bos Hand – zum Glück saß sie links von ihm – und legte sie auf den Rücken des Katers. Besagtes Mistvieh öffnete warnend die grünen Augen, doch als Bo ihn zu streicheln begann, gab es seinen Protest auf und begann nur umso lauter zu schnurren. Naomi kicherte. »Er mag Sie.«

Bo hatte da so seine Zweifel, doch er spielte mit. Naomi ließ derweil seine Hand los und starrte ihm ins Gesicht. Scheinbar versuchte sie darin zu erkennen, ob er das Tier jetzt endlich auch lieb hatte. Sie war unübersehbar die Tochter ihrer Mutter. Temperamentvoll, bezaubernd und entschlossen zu gewinnen. Die braunen Augen schienen seinen Widerstand förmlich aufzulösen und ehe er sich’s versah, kraulte Bo den Kater hinter den Ohren und unter dem Kinn. Dieses weiche Fell war wirklich beruhigend. Hm … Wenn er es schaffte, dass ein widerspenstiger Streuner ihn mochte, konnte er dann nicht auch die Köchin des Cafés davon überzeugen, dass er mehr für sie sein konnte als nur ihr Vermieter oder Pfandleiher?

»Also«, sagte Bo und zog widerwillig seine Hand zurück, »wir können ihn nicht Miss Vee nennen. Er braucht einen Jungennamen. Hast du eine Idee?«

Naomi schaute in den Himmel und runzelte die Stirn. Dann setzte sie sich in den Schneidersitz. Bo vermutete, dass dies ihre Denkerpose war.

Sie machte einige Hms und Ähms und tippte sich mit dem Finger an den Mundwinkel. Bos Blick fiel auf ihre Schuhe, deren Ledersohlen abgewetzt und dünn waren. An den Seiten, wo sie vernäht waren, konnte er sogar die schwarzen Strümpfe des Kindes sehen. Es wirkte, als wäre Naomis Fuß mindestens zwei Nummern zu groß für die Schuhe, sodass er das Material nach außen drückte. Kein Wunder, dass er ihre Füße gestern nicht aus den Schuhen hatte befreien können, als sie im Matsch festgesteckt hatte.

Warum hatte Ruth nicht etwas von dem Geld, das er ihr geliehen hatte, in neue Stiefel investiert? War sie wirklich so versessen darauf, möglichst schnell ihre wertvolle Brosche zurückzubekommen, dass sie ihre Tochter leiden ließ? Das konnte er sich nicht vorstellen. Bo beäugte den Mantel, den Naomi über ihrem Kleid trug. Es war nicht der braune, den sie gestern angehabt hatte. Wahrscheinlich musste der noch trocknen. Nein, dieser Mantel hier war hellblau und an Schultern und Armen viel zu weit für das kleine Mädchen. Jetzt erinnerte Bo sich, dass Ruth exakt diesen Mantel getragen hatte, als sie bei ihm wegen des Mietvertrags vorgesprochen hatte. Normalerweise trug sie ihn nur sonntags in Kombination mit ihrem Reisekleid – eines von den drei Ensembles, das sie besaß. Bo kannte sie alle.

Nein, Ruth Fulbright war nicht geizig, wenn es um ihre Tochter ging. Sie hatte Naomi ihr bestes Kleidungsstück gegeben, solange der Mantel ihrer Kleinen trocknete. So groß die Not also sein mochte, was Naomis Schuhe betraf – es gab offensichtlich noch größere Nöte.

Nöte, die ein Mann wie er mit einem Fingerschnipsen beseitigen könnte. Nöte, die eine Frau wie Ruth aus Stolz niemals zugeben würde. Nöte, die ein Kind wie Naomi niemals erleiden sollte.

»Mir fallen keine guten Namen ein«, sagte Naomi und zog an seiner Hand. »Zu allem, was schwarz-weiß ist, fällt mir nur Kuh ein oder Stinktier oder Schokoladenkuchen mit Vanillezuckerguss. Aber das sind irgendwie keine so tollen Namen für einen Kater.«

Die Erwähnung von Schokoladenkuchen weckte in Bo sofort wieder die Vorfreude auf das heutige Abendessen, doch er versuchte, sich auf Katernamen zu konzentrieren.

»Schwarz-weiß ist ein sehr guter Denkansatz«, lobte er die Kleine. Wenn er ehrlich war, fand Bo, dass Stinktier eigentlich ein sehr passender Name war. Aber das konnte er vor Naomi wohl kaum zugeben. »Weißt du, ich habe einen Onkel, der es liebt, sich nur schwarz und weiß anzuziehen. Schwarzer Anzug, weißes Hemd und weiße Krawatte zum Beispiel. Die Anzugjacke hat hinten sogar zwei lustige lange Zipfel.« Besagter Onkel war ein eingebildeter Tunichtgut, dem seine gesellschaftliche Stellung über alles ging und dem nichts wichtiger war, als sein Name auf der Gästeliste der Reichen. »Sein Name ist Theodore.«

Der Kater öffnete die Augen einen Spalt und musterte Bo, als denke er ernsthaft über diesen Namen nach.

»Theodore ist perfekt.« Naomi klatschte in die Hände. »Ich nenne ihn Teddy.« Sie hob das frisch getaufte Tier hoch und presste es an ihre Wange.

Ob sie den Kater etwas zu fest gedrückt hatte oder ob Theodore nun doch der Geduldsfaden gerissen war – er machte sich augenblicklich frei und schoss davon.

»Teddy! Komm zurück!« Naomi wollte ihm nachlaufen, doch Bo hielt sie sanft am Arm fest.

»Lass ihn laufen, Kaulquappe. Er kommt bestimmt zurück, sobald er dazu bereit ist.« Die Kleine schien sich wirklich schon vollkommen erholt zu haben. Ihre rosigen Wangen und die unbändige Energie sprachen für sich. Doch Bo hätte sich schreckliche Vorwürfe gemacht, wenn sie doch noch einen gesundheitlichen Rückfall erlitten hätte, nur weil er sie hinter diesem Streuner herrennen ließ. Außerdem gefiel es ihm, hier mit ihr zu sitzen. Mit ihr zu reden und sie kennenzulernen. Vielleicht erfuhr er so auch noch mehr über ihre Mutter. »Und, geht es dir heute besser?«, fragte er.

»Oh ja.« Ihre Augen funkelten, als sie sich wieder neben ihn setzte. »Ich habe noch nie in einem so großen und so weichen Bett geschlafen. Mama hat gesagt, dass ich so fest geschlafen habe, dass ich sie kein einziges Mal getreten habe. Und normalerweise bin ich eine richtige Wühlmaus.«

Bo grinste und ließ sich von ihrer Freude anstecken. »Ich bin froh, dass du gut geschlafen hast.«

Ihr Gesicht wurde wieder ernst und sie blickte ihn von der Seite an. »Ich habe da eine Frage, die ich Ihnen die ganze Zeit schon stellen wollte.«

»Wirklich?«

Sie nickte. »Mama hat gesagt, dass ich nicht in der Position bin, so etwas zu fragen. Aber jetzt, wo wir Freunde sind, hat sich meine Position doch geändert, oder?«

Diese Augen. Wie konnte Ruth ihrer Tochter nur irgendeinen Wunsch abschlagen?

»Auf jeden Fall sind wir Freunde«, sagte Bo. Er wollte, dass die Kleine daran nicht den geringsten Zweifel hatte. »Du kannst mich fragen, was immer du willst. Und du darfst mich Bo nennen.«

Ein strahlendes Lächeln leuchtete ihm entgegen. »Gut.« Erneut wurde sie ernst. »Ich möchte wissen, ob du immer noch mein Herz hast. Du hast es nicht verloren, oder? Es ist sehr klein, weißt du, und kann deswegen leicht in Löcher fallen. Glaub mir, ich weiß das. Mama war sehr böse, als ich einmal damit gespielt habe und dann nicht mehr wusste, wo ich es hingelegt hatte.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Sie hat sogar geweint, als sie es endlich unter dem Schreibtisch gefunden hat. Und Mama weint eigentlich nie

Da muss zweifellos eine große Geschichte hinter dieser kleinen Brosche stecken, dachte Bo bei sich, während er in die Innentasche seines Mantels griff und das Taschentuch hervorholte. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie gedankenlos er gestern mit diesem Schmuckstück umgegangen war. Er hatte einfach seinen Mantel beiseitegeworfen und war in den Teich gesprungen. Er hätte die Brosche verlieren können. Doch heute Morgen, als er sich wieder angekleidet hatte, hatte er sie sofort wieder in seiner Brusttasche verstaut. Nahe an seinem Herzen, wo er sie in letzter Zeit immer trug.

Bo hielt Naomi das Tuch hin und schlug es auf. »Hier ist es«, sagte er. »Heil und sicher.«

Überraschenderweise machte sie keine Anstalten, den feinen Schmuck zu berühren. Stattdessen nickte sie und warf ihm einen anerkennenden Blick zu. »Ich wollte nur sichergehen.«

Der purpurne Amethyst strahlte in der Sonne, als Bo die Brosche auf seinem Bein ablegte. Anstatt sie gleich wieder zu verstauen, fuhr er die zarten Linien der Verzierungen mit dem Finger nach. »Warum ist dieses Schmuckstück so wichtig für dich und deine Mutter?«

»Weil es dem, der es besitzt, die wahre Liebe bringt.«

Bo zog die Hand zurück, als hätte er sich an der Brosche verbrannt. »Was?«

Die praktisch veranlagte Ruth – eine Frau, die so hart arbeitete – hielt dieses Schmuckstück wegen eines Märchens in Ehren? Nein, das konnte nicht stimmen. Vielleicht hatte sie diese Geschichte nur ihrer Tochter erzählt.

»Mach dir keine Sorgen.« Naomi tätschelte sein Knie. »Mama hat gesagt, dass es eher eine Tradition ist als etwas Magisches. Du wirst jetzt nicht von einem Amorpfeil abgeschossen oder so.« Die Kleine grinste und entblößte dabei ihre Zahnlücke.

»Da bin ich aber erleichtert.« Obwohl er sich sicher war, dass dieser Pfeil sein Ziel schon längst gefunden hatte.

Naomi umfasste ihre Knöchel und wippte munter vor und zurück. »Es ging los mit Ururoma Densbury. Sie war eine vornehme englische Dame, die mit ihrem Liebsten aus Schottland weggegangen ist. Er hat ihr diese Brosche als Zeichen seiner Zugneigung geschenkt.«

Bo unterdrückte ein Lachen. »Zuneigung, denke ich. Als Zeichen seiner Zuneigung.«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern, als spielte das keine Rolle, dann fuhr sie mit der Geschichte fort. »Lady Densbury hat diese Brosche ihrer Dienerin Sarah gegeben, als die ihren Sohn geheiratet hat. Uroma Sarah hat die Brosche Oma Rosemary weitergegeben, die sich in Alexander verliebt hat, obwohl er ein Südstaatler war. Dann hat Mama die Brosche bekommen und Daddy geheiratet. Vier Frauen, die durch die Brosche ihre große Liebe gefunden haben. Mama sagt, ich werde Nummer fünf sein.«

Bo zwang sich zu einem Lächeln und verbarg die Brosche wieder in dem Tuch. Vier Liebesgeschichten. Ruth und ihr verstorbener Ehemann waren eine davon. Nun, mit einem Toten konnte man schlecht konkurrieren. Und wenn Naomi die Nächste war, die mit dieser Brosche ihr Glück finden sollte … Bedeutete das, dass Ruth mit der Liebe abgeschlossen hatte? Wenn sie ihr Herz vor ihm verschloss, würde dies sein Werben noch viel mühsamer machen, als er erwartet hatte. Es sei denn …

Rein technisch gesehen gehörte die Brosche im Augenblick ihm. Vielleicht würde Naomi ja die Nummer sechs werden.

Und vielleicht gibt es ja wirklich Wunderlampen mit Dschinns, die Wünsche erfüllen.

Hör auf mit diesen Hirngespinsten, du Dummkopf! Wenn du Ruth wirklich für dich gewinnen willst, brauchst du einen Plan, der auf der Realität gründet und nicht auf irgendwelchen Märchen.

Wieder beäugte Bo Naomis abgetragene Schuhe. Dann wanderte sein Blick über den Weg zum Haus, wo ihre Fußabdrücke zu sehen waren.

Was gab es Realistischeres als Schuhleder?