Ernst Haeckel

Die Welträtsel

Gemeinverständliche Studien über Monistische Philosophie
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2022
goodpress@okpublishing.info
EAN 4064066111182

Inhaltsverzeichnis


Erstes Kapitel . Stellung der Welträtsel.
Zweites Kapitel. Unser Körperbau.
Drittes Kapitel. Unser Leben.
Viertes Kapitel. Unsere Keimesgeschichte.
Fünftes Kapitel. Unsere Stammesgeschichte.
Sechstes Kapitel. Das Wesen der Seele.
Siebentes Kapitel. Stufenleiter der Seele.
Achtes Kapitel. Keimesgeschichte der Seele.
Neuntes Kapitel. Stammesgeschichte der Seele.
Zehntes Kapitel. Bewußtsein.
Elftes Kapitel. Unsterblichkeit der Seele.
Zwölftes Kapitel. Das Substanzgesetz.
Dreizehntes Kapitel. Entwickelungsgeschichte der Welt.
Vierzehntes Kapitel. Einheit der Natur.
Fünfzehntes Kapitel. Gott und Welt.
Sechzehntes Kapitel. Wissen und Glauben.
Siebzehntes Kapitel. Wissenschaft und Christentum.
Achtzehntes Kapitel. Unsere monistische Religion.
Neunzehntes Kapitel. Unsere monistische Sittenlehre.
Zwanzigstes Kapitel. Lösung der Welträtsel.
Schlußbetrachtung.

Erstes Kapitel.

Stellung der Welträtsel.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines Kulturbild des neunzehnten Jahrhunderts. Der Kampf der Weltanschauungen. Monismus und Dualismus.

Am Schlusse des neunzehnten Jahrhunderts bietet sich dem denkenden Beobachter eines der merkwürdigsten Schauspiele dar. Alle Gebildeten sind darüber einig, daß dieses großartige Jahrhundert in vieler Beziehung alle seine Vorgänger unendlich überflügelt und Aufgaben gelöst hat, die in seinem Anfange unlösbar erschienen. Die überraschenden theoretischen Fortschritte in der Naturerkenntnis und ihre fruchtbare praktische Verwertung in Technik, Industrie, Verkehr usw. haben unserem modernen Kulturleben ein völlig neues Gepräge gegeben. Dagegen haben wir auf wichtigen Gebieten des geistigen Lebens und der Gesellschafts-Beziehungen wenige oder gar keine Fortschritte gegen frühere Jahrhunderte aufzuweisen, vielfach sogar leider bedenkliche Rückschritte. Aus diesem offenkundigen Zwiespalt entspringt nicht nur ein unbehagliches Gefühl innerer Zerrissenheit und Unwahrheit, sondern auch die Gefahr schwerer Katastrophen auf politischem und sozialem Gebiete. Es ist daher nicht nur das gute Recht, sondern auch die heilige Pflicht jedes ehrlichen und von Menschenliebe beseelten Forschers, nach bestem Wissen zur Aufhebung jenes Zwiespaltes und zur Vermeidung der daraus entspringenden Gefahren beizutragen. Dies kann aber nach unserer Überzeugung nur durch mutiges Streben nach Erkenntnis der Wahrheit geschehen und durch Gewinnung einer klaren, fest gegründeten, naturgemäßen Weltanschauung.

Fortschritte der Naturerkenntnis. Wenn wir uns den unvollkommenen Zustand der Naturerkenntnis im Anfang des 19.Jahrhunderts vergegenwärtigen und ihn mit der glänzenden Höhe an dessen Schlusse vergleichen, so muß jedem Sachkundigen der Fortschritt erstaunlich groß erscheinen. Jeder einzelne Zweig der Naturwissenschaft darf sich rühmen, daß er innerhalb dieses Jahrhunderts Gewinne von größter Tragweite erzielt habe. In der mikroskopischen Kenntnis des Kleinsten wie in der teleskopischen Erforschung des Größten haben wir unschätzbare Einsichten gewonnen, die noch vor hundert Jahren undenkbar erschienen. Verbesserte Untersuchungsmethoden haben uns im Reiche der einzelligen Lebewesen eine »unsichtbare Welt« voll unendlichen Formenreichtums offenbart, sowie in der winzigen kleinen Zelle den gemeinsamen »Elementar-Organismus« kennen gelehrt, aus dessen sozialen Zellverbänden, den Geweben, der Körper aller vielzelligen Pflanzen und Tiere ebenso wie der des Menschen zusammengesetzt ist. Diese anatomischen Kenntnisse sind von größter Tragweite; sie werden ergänzt durch den embryologischen Nachweis, daß jeder höhere vielzellige Organismus sich aus einer einzigen einfachen Zelle entwickelt, der »befruchteten Eizelle«. Die bedeutungsvolle, hierauf gegründete Zellentheorie hat uns erst das wahre Verständnis für die geheimnisvollen Lebenserscheinungen eröffnet, zu deren Erklärung man früher eine übernatürliche »Lebenskraft« oder ein »unsterbliches Seelenwesen« annahm. Auch das eigentliche Wesen der Krankheit ist dem Arzte erst durch die damit verknüpfte Zellularpathologie klar und verständlich geworden.

Nicht minder gewaltig sind aber die Entdeckungen des 19.Jahrhunderts im Bereiche der anorganischen Natur. Die Physik hat in allen Teilen ihres Gebietes die erstaunlichsten Fortschritte gemacht; und was wichtiger ist, sie hat die Einheit der Naturkräfte im ganzen Universum nachgewiesen. Die mechanische Wärmetheorie hat gezeigt, wie eng dieselben zusammenhängen und wie jede unter bestimmten Bedingungen sich direkt in die andere verwandeln kann. Die Spektralanalyse hat uns gelehrt, daß dieselben Stoffe, welche unseren Erdkörper und seine lebendigen Bewohner aufbauen, auch die Masse der übrigen Planeten, der Sonne und der entferntesten Fixsterne zusammensetzen. Die Astrophysik hat unsere Weltanschauung im großartigsten Maßstabe erweitert, indem sie uns im unendlichen Weltraum Millionen von kreisenden Weltkörpern nachgewiesen hat, größer als unsere Erde, und gleich dieser in beständiger Umbildung begriffen, in einem ewigen Wechsel von »Werden und Vergehen«. Die Chemie hat uns mit einer Menge von neuen, früher unbekannten Stoffen bekannt gemacht, die alle aus Verbindungen von wenigen unzerlegbaren Elementen (ungefähr achtzig) bestehen. Sie hat gezeigt, daß eines von diesen Elementen, der Kohlenstoff, der wunderbare Körper ist, welcher die Bildung der unendlich mannigfaltigen organischen Verbindungen bewirkt und somit die »chemische Basis des Lebens« darstellt. Alle einzelnen Fortschritte der Physik und Chemie stehen jedoch an theoretischer Bedeutung der Erkenntnis des gewaltigen Gesetzes nach, welches alle in einem gemeinsamen Brennpunkt vereinigt, des Substanzgesetzes. Indem dieses »kosmologische Grundgesetz« die ewige Erhaltung der Kraft und des Stoffes, die allgemeine Konstanz der Energie und der Materie im ganzen Weltall nachweist, ist es der sichere Leitstern geworden, der unsere monistische Philosophie durch das gewaltige Labyrinth der Welträtsel zu deren Lösung führt.


Da es unsere Aufgabe sein wird, in den folgenden Kapiteln eine allgemeine Übersicht über den jetzigen Stand unserer Naturerkenntnis und über ihre Fortschritte in unserem Jahrhundert zu gewinnen, wollen wir hier nicht weiter auf eine Musterung der einzelnen Gebiete eingehen. Nur einen größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, der dem Substanzgesetz ebenbürtig ist und der es ergänzt: die Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende Forscher schon seit Jahrtausenden von »Entwickelung« der Dinge gesprochen; daß aber dieser Begriff das Universum beherrscht, und daß die Welt selbst weiter nichts ist als eine ewige »Entwickelung der Substanz«, dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Erst in seiner zweiten Hälfte gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin; er legte 1859 den festen Grund für jene Abstammungslehre, welche der geniale französische Naturphilosoph Jean Lamarck schon 1809 in ihren Hauptzügen erkannt, und deren Grundgedanken unser größter deutscher Dichter und Denker, Wolfgang Goethe, schon 1790 prophetisch erfaßt hatte. Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur »Frage aller Fragen« geschenkt, zu dem großen Welträtsel von der »Stellung des Menschen in der Natur« und von seiner natürlichen Entstehung. Wenn wir heute imstande sind, die Herrschaft des Entwickelungsgesetzes im Gesamtgebiete der Natur klar zu erkennen und sie in Verbindung mit dem Substanzgesetze zur einheitlichen Erklärung aller Naturerscheinungen zu benutzen, so verdanken wir dies in erster Linie jenen drei genialen, weitblickenden Naturphilosophen, drei Sternen erster Größe unter allen anderen großen Männern des neunzehnten Jahrhunderts.

Diesen erstaunlichen Fortschritten unserer theoretischen Naturerkenntnis entspricht deren mannigfaltige praktische Anwendung auf allen Gebieten des menschlichen Kulturlebens. Wenn wir heute im »Zeitalter des Verkehrs« stehen, wenn der internationale Handel und das Reisen eine früher nicht geahnte Bedeutung erlangt haben, wenn wir mittels Telegraph und Telephon die Schranken von Raum und Zeit überwunden haben, so verdanken wir das in erster Linie den Fortschritten der technischen Physik, besonders in der Anwendung der Dampfkraft und der Elektrizität. Wenn wir durch die Photographie das Sonnenlicht zwingen, uns in einem Augenblick naturgetreue Bilder von jedem beliebigen Gegenstande zu verschaffen, wenn wir in der Landwirtschaft und in den verschiedensten Gewerben erstaunliche praktische Fortschritte gemacht haben, wenn wir in der Medizin durch Chloroform und Morphium, durch antiseptische und Serumtherapie die Leiden der Menschheit unendlich gemildert haben, so verdanken wir dies der angewandten Chemie. Durch diese und andere Erfindungen der Technik haben wir alle früheren Jahrhunderte weit überflügelt.

Fortschritte der sozialen Einrichtungen. So dürfen wir heute mit gerechtem Stolze auf die gewaltigen Fortschritte des 19.Jahrhunderts in der Naturerkenntnis und deren praktische Verwertung zurückblicken. Leider bietet sich uns ein ganz anderes und wenig erfreuliches Bild, wenn wir andere, nicht minder wichtige Gebiete des modernen Kulturlebens ins Auge fassen. Zu unserem Bedauern müssen wir da den Satz von Alfred Wallace unterschreiben: »Verglichen mit unseren erstaunlichen Fortschritten in den physikalischen Wissenschaften und ihrer praktischen Anwendung, bleibt unser System der Regierung, der administrativen Justiz, der Nationalerziehung und unsere ganze soziale und moralische Organisation in einem Zustande der Barbarei.« Um uns von der Wahrheit dieser schweren Vorwürfe zu überzeugen, brauchen wir nur einen unbefangenen Blick in unser öffentliches Leben zu werfen, oder in den Spiegel zu blicken, den uns täglich unsere Zeitung, als das Organ der öffentlichen Meinung, vorhält.

Unsere Rechtspflege. Beginnen wir unsere Rundschau mit der Justiz, dem »Fundamentum regnorum«. Niemand wird behaupten können, daß deren heutiger Zustand mit unserer fortgeschrittenen Erkenntnis des Menschen und der Welt in Einklang sei. Keine Woche vergeht, in der wir nicht von richterlichen Urteilen lesen, welche dem gesunden Menschenverstand widersprechen; viele Entscheidungen unserer höheren und niederen Gerichtshöfe erscheinen geradezu unbegreiflich. Wir sehen ganz davon ab, daß in vielen modernen Staaten — trotz der auf Papier gedruckten Verfassung — noch tatsächlich der Absolutismus herrscht und daß manche »Männer des Rechts« nicht nach ehrlicher Überzeugung urteilen, sondern entsprechend dem »höheren Wunsche von maßgebender Stelle«. Wir nehmen vielmehr an, daß die meisten Richter und Staatsanwälte nach bestem Gewissen urteilen und nur menschlich irren. Dann erklären sich wohl die meisten Irrtümer durch mangelhafte Vorbildung und durch die veraltete Gesetzgebung. Freilich herrscht vielfach die Ansicht, daß gerade die Juristen die höchste Bildung besitzen; gerade sie werden bei der Besetzung der verschiedensten Ämter vorgezogen. Allein diese vielgerühmte »juristische Bildung« ist größtenteils eine rein formale, keine reale. Den menschlichen Organismus und seine wichtigste Funktion, die Seele, lernen unsere Juristen nur oberflächlich kennen; das beweisen z.B. die wunderlichen Ansichten über »Willensfreiheit, Verantwortung« usw., denen wir täglich begegnen. Den meisten Studierenden der Jurisprudenz fällt es gar nicht ein, sich um Anthropologie, Psychologie und Entwickelungsgeschichte zu bekümmern, die ersten Vorbedingungen für richtige Beurteilung des Menschenwesens. Freilich bleibt dazu auch »keine Zeit«; diese wird leider nur zu sehr durch das gründliche Studium von Bier und Wein in Anspruch genommen, sowie das »veredelnde« Mensurenwesen; der Rest der kostbaren Studienzeit aber ist notwendig, um die Hunderte von Paragraphen der Gesetzbücher zu erlernen, deren Kenntnis den Juristen zu allen möglichen Stellungen im heutigen Kulturstaate befähigt.

Unsere Staatsordnung. Das leidige Gebiet der Politik wollen wir hier nur ganz flüchtig streifen. Die unerfreulichen Zustände des modernen Staatslebens sind ja allbekannt und jedermann täglich fühlbar. Zum großen Teile erklären sich deren Mängel daraus, daß die meisten Staatsbeamten eben Juristen sind, Männer von hoher formaler Bildung, aber ohne jene gründliche Kenntnis der Menschennatur, die nur durch vergleichende Anthropologie und Psychologie erworben werden kann. »Bau und Leben des sozialen Körpers«, d.h. des Staates, lernen wir nur dann richtig verstehen, wenn wir naturwissenschaftliche Kenntnis vom »Bau und Leben« der Personen besitzen, welche den Staat zusammensetzen, und der Zellen, welche jene Personen zusammensetzen. Wenn unsere »Staatslenker« und »Volksvertreter« diese unschätzbaren biologischen und anthropologischen Vorkenntnisse besäßen, so würde unmöglich in den Zeitungen täglich jene entsetzliche Fülle von soziologischen Irrtümern und von politischer Kannegießerei zu lesen sein, welche unsere Parlamentsberichte und auch viele Regierungserlasse nicht gerade erfreulich auszeichnen. Am meisten zu beklagen ist es, daß der moderne Kulturstaat sich der kulturfeindlichen Kirche in die Arme wirft, und daß der bornierte Egoismus der Parteien, die Verblendung der kurzsichtigen Parteiführer die Hierarchie unterstützt. Dadurch entstehen so traurige Bilder, wie sie uns am Schlusse des 19.Jahrhunderts der Deutsche Reichstag vor Augen führte: die Geschicke des gebildeten deutschen Volkes in der Hand des ultramontanen Zentrums, unter der Leitung des römischen Papismus, der sein ärgster und gefährlichster Feind ist. Statt Recht und Vernunft regiert Aberglaube und Verdummung. Unsere Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von den Fesseln der Kirche befreit und wenn sie durch allgemeine naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschenkenntnis der Staatsbürger auf eine höhere Stufe hebt. Dabei kommt es gar nicht auf die besondere Staatsform an. Ob Monarchie oder Republik, ob aristokratische oder demokratische Verfassung, das sind untergeordnete Fragen gegenüber der großen Hauptfrage: Soll der moderne Kulturstaat geistlich oder weltlich sein? Soll er theokratisch, durch unvernünftige Glaubenssätze und klerikale Willkür, oder soll er nomokratisch, durch vernünftige Gesetze und bürgerliches Recht geleitet werden?

Unsere Schule. Ebenso wie unsere Rechtspflege und Staatsordnung entspricht auch unsere Jugenderziehung durchaus nicht den Anforderungen, welche die wissenschaftlichen Fortschritte des 19.Jahrhunderts an die moderne Bildung stellen. Die Naturwissenschaft, die alle anderen Wissenschaften so weit überflügelt und welche, bei Licht betrachtet, auch alle sogenannten Geisteswissenschaften in sich aufgenommen hat, wird in unseren Schulen immer noch als Aschenbrödel in die Ecke gestellt. Unseren meisten Lehrern erscheint immer noch als Hauptaufgabe jene tote Gelehrsamkeit, die aus den Klosterschulen des Mittelalters übernommen ist; im Vordergrunde steht der grammatikalische Sport und die zeitraubende »gründliche Kenntnis« der klassischen Sprachen, sowie der äußerlichen Völkergeschichte. Die Sittenlehre, der wichtigste Gegenstand der praktischen Philosophie, wird vernachlässigt und an ihre Stelle die kirchliche Konfession gesetzt. Der Glaube soll dem Wissen vorangehen; nicht jener wissenschaftliche Glaube, welcher uns zu einer monistischen Religion führt, sondern jener unvernünftige Aberglaube, der die Grundlage eines verunstalteten Christentums bildet. Während die großartigen Erkenntnisse der modernen Kosmologie und Anthropologie, der heutigen Biologie und Entwickelungslehre auf unseren höheren Schulen gar keine oder nur ganz ungenügende Verwertung finden, wird das Gedächtnis mit einer Unmasse von philologischen und historischen Tatsachen überladen, die weder für die Geistesbildung, noch für das praktische Leben von Nutzen sind. Auch die veralteten Einrichtungen und Fakultätsverhältnisse der Universitäten entsprechen der heutigen Entwickelungsstufe der natürlichen Weltanschauung ebensowenig wie der Unterricht in den Gymnasien und in den niederen Schulen.

Unsere Kirche. Im schärfsten Gegensatze zu der modernen Bildung und zu deren Grundlage, der vorgeschrittenen Naturerkenntnis, steht unstreitig die Kirche. Wir wollen hier garnicht vom ultramontanen Papismus sprechen, oder von den orthodoxen evangelischen Richtungen, welche diesem in bezug auf krassesten Aberglauben und Unkenntnis der Wirklichkeit nichts nachgeben. Vielmehr versetzen wir uns in die Predigt eines liberalen protestantischen Pfarrers, der gute Durchschnittsbildung besitzt und der Vernunft neben dem Glauben ihr gutes Recht einräumt. Da hören wir neben vortrefflichen Sittenlehren, die mit unserer monistischen Ethik (im 19.Kapitel) vollkommen harmonieren, Vorstellungen über das Wesen von Gott und Welt, von Mensch und Leben, welche allen Erkenntnissen der Naturforschung direkt widersprechen. Es ist kein Wunder, wenn Techniker und Chemiker, Ärzte und Philosophen, die gründlich über die Natur beobachtet und nachgedacht haben, solchen Predigten kein Gehör schenken wollen. Es fehlt eben unseren Theologen und Philologen, ebenso wie unseren Politikern und Juristen, an jener unentbehrlichen Naturerkenntnis, auf welche sich die monistische Entwickelungslehre gründet.

Konflikt zwischen Vernunft und Dogma. Aus diesen bedauerlichen Gegensätzen ergeben sich für unser modernes Kulturleben schwere Konflikte, deren Gefahr dringend zur Beseitigung auffordert. Unsere heutige Bildung verlangt ihr gutes Recht auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens; sie wünscht die Menschheit mittels der Vernunft auf jene höhere Stufe der Erkenntnis und damit zugleich auf jenen besseren Weg zum Glück erhoben zu sehen, welche wir unserer hoch entwickelten Naturwissenschaft verdanken. Dagegen sträuben sich mit aller Macht diejenigen einflußreichen Kreise, welche unsere Geistesbildung in den überwundenen Anschauungen des Mittelalters zurückhalten wollen; sie verharren im Banne der traditionellen Dogmen und verlangen, daß die Vernunft sich unter diese »höhere Offenbarung« beuge. Das ist der Fall in weiten Kreisen der Theologie und Philologie, der Soziologie und Jurisprudenz. Diese Rückständigkeit beruht zum größten Teile gewiß nicht auf eigennützigem Streben, sondern teils auf Unkenntnis der realen Tatsachen, teils auf der bequemen Gewohnheit der Tradition. Die gefährlichste Feindin der Vernunft und Wissenschaft ist nicht die Bosheit, sondern die Unwissenheit und vielleicht noch mehr die Trägheit. Gegen diese beiden Mächte kämpfen die Götter selbst dann noch vergebens, wenn sie die erstere glücklich überwunden haben.

Anthropismus. Eine der mächtigsten Stützen gewährt jener rückständigen Weltanschauung der Anthropismus oder die »Vermenschlichung«. Unter diesem Begriffe verstehe ich jenen mächtigen und weit verbreiteten Komplex von irrtümlichen Vorstellungen, welcher den menschlichen Organismus in Gegensatz zu der ganzen übrigen Natur stellt, ihn als vorbedachtes Endziel der organischen Schöpfung und als ein von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses einflußreichen Vorstellungskreises ergibt sich, daß er eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den anthropozentrischen, anthropomorphischen und anthropolatrischen Irrtum unterscheiden. I.Das anthropozentrische Dogma ruht auf der Vorstellung, daß der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und Endzweck alles Erdenlebens — oder in weiterer Fassung der ganzen Welt — sei. Da dieser Irrtum dem menschlichen Eigendünkel äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungsmythen und mit den Dogmen der mosaischen, christlichen und mohammedanischen Religion innig verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten Teil der Kulturwelt. — II.Das anthropomorphische Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungssagen der drei genannten, sowie vieler anderen Religionen an. Es vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunstschöpfungen eines sinnreichen Technikers und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. »Gott der Herr« als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem Denken und Handeln durchaus menschenähnlich vorgestellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Mensch gottähnlich ist. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde.« Die ältere naive Mythologie verleiht ihren Göttern Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger materialistisch sind die Vorstellungen der neueren mystischen Theosophie, welche den persönlichen Gott als »unsichtbares« Wesen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach Menschenart denken, sprechen und handeln läßt. — III.Das anthropolatrische Dogma ergibt sich aus dieser Vergleichung der menschlichen und göttlichen Seelentätigkeit von selbst; es führt zu der göttlichen Verehrung des menschlichen Organismus, zum »anthropistischen Größenwahn«. Daraus folgt wieder der hochgeschätzte »Glaube an die persönliche Unsterblichkeit der Seele«, sowie das dualistische Dogma von der Doppelnatur des Menschen, dessen »unsterbliche Seele« den sterblichen Körper nur zeitweise bewohnt. Diese drei anthropistischen Dogmen, mannigfach ausgebildet und der wechselnden Glaubensform der verschiedenen Religionen angepaßt, wurden zur Quelle der gefährlichsten Irrtümer. Die anthropistische Weltanschauung, die daraus entsprang, steht in unversöhnlichem Gegensatz zu unserer monistischen Naturerkenntnis; sie wird zunächst schon durch deren kosmologische Perspektive widerlegt.

Kosmologische Perspektive. Die Unhaltbarkeit dieser drei anthropistischen Dogmen, wie auch vieler anderer Anschauungen der dualistischen Philosophie und der orthodoxen Religion, offenbart sich, sobald wir sie aus der kosmologischen Perspektive unseres Monismus kritisch betrachten. Wir verstehen darunter jene umfassende Anschauung des Weltganzen, welche uns der höchste Standpunkt der monistischen Naturerkenntnis gewährt. Da überzeugen wir uns von der Wahrheit der folgenden wichtigen »kosmologischen Lehrsätze«:

1.Das Weltall (Universum oder Kosmos) ist ewig, unendlich und unbegrenzt. 2.Die Substanz desselben mit ihren beiden Attributen (Materie und Energie) erfüllt den unendlichen Raum und befindet sich in ewiger Bewegung. 3.Diese Bewegung verläuft in der unendlichen Zeit als eine einheitliche Entwickelung, mit periodischem Wechsel von Werden und Vergehen, von Fortbildung und Rückbildung. 4.Die unzähligen Weltkörper, welche im raumerfüllenden Äther verteilt sind, unterliegen sämtlich dem Substanzgesetz. 5.Unsere Sonne ist einer von diesen unzähligen vergänglichen Weltkörpern, und unsere Erde ist einer von den zahlreichen vergänglichen Planeten, welche diese umkreisen. 6.Unsere Erde hat einen langen Abkühlungsprozeß durchgemacht, ehe auf derselben tropfbar flüssiges Wasser und damit die erste Vorbedingung organischen Lebens entstehen konnte. 7.Der darauf folgende biogenetische Prozeß, die langsame Entwickelung und Umbildung zahlloser organischer Formen, hat viele Millionen Jahre (weit über hundert!) in Anspruch genommen. 8.Unter den verschiedenen Tierstämmen, welche sich im späteren Verlaufe des biogenetischen Prozesses auf unserer Erde entwickelten, hat der Stamm der Wirbeltiere im Wettlaufe der Entwickelung neuerdings alle anderen weit überflügelt. 9.Als der bedeutendste Zweig des Wirbeltierstammes hat sich erst spät (während der Triasperiode) aus Amphibien die Klasse der Säugetiere entwickelt. 10.Der vollkommenste und höchst entwickelte Zweig dieser Klasse ist die Ordnung der Herrentiere oder Primaten, die erst im Beginne der Tertiärzeit durch Umbildung aus niedersten Zottentieren entstanden ist. 11.Das jüngste und vollkommenste Ästchen des Primatenzweiges ist der Mensch, der erst in späterer Tertiärzeit aus einer Reihe von Menschenaffen hervorging. 12.Demnach ist die sogenannte »Weltgeschichte« eine verschwindend kurze Episode in dem langen Verlaufe der organischen Erdgeschichte, ebenso wie diese selbst ein kleines Stück von der Geschichte unseres Planetensystems; und wie unsere Mutter Erde ein vergängliches Sonnenstäubchen im unendlichen Weltall, so ist der einzelne Mensch eine vorübergehende Erscheinung in der vergänglichen organischen Natur.

Nichts scheint mir geeigneter als diese großartige kosmologische Perspektive, um von vornherein den richtigen Maßstab und den weitsichtigen Standpunkt festzusetzen, welchen wir zur Lösung der Welträtsel einhalten müssen. Denn dadurch wird nicht nur die maßgebende »Stellung des Menschen in der Natur« klar bezeichnet, sondern auch der herrschende anthropistische Größenwahn widerlegt, die Anmaßung, mit welcher der Mensch sich dem unendlichen Universum gegenüberstellt und als wichtigsten Teil des Weltalls verherrlicht. Diese grenzenlose Selbstüberhebung des eiteln Menschen hat ihn dazu verführt, sich als »Ebenbild Gottes« zu betrachten, für seine vergängliche Person ein »ewiges Leben« in Anspruch zu nehmen und sich einzubilden, daß er unbeschränkte »Freiheit des Willens« besitzt. Der lächerliche Cäsarenwahn des Caligula ist eine spezielle Form dieser hochmütigen Selbstvergötterung des Menschen. Erst wenn wir diesen unhaltbaren Größenwahn aufgeben und die naturgemäße kosmologische Perspektive einnehmen, können wir zur Lösung der »Welträtsel« gelangen.

Zahl der Welträtsel. Der ungebildete Kulturmensch ist noch ebenso wie der rohe Naturmensch auf Schritt und Tritt von unzähligen Welträtseln umgeben. Je weiter die Kultur fortschreitet und die Wissenschaft sich entwickelt, desto mehr wird ihre Zahl beschränkt. Die monistische Philosophie wird schließlich nur ein einziges, allumfassendes Welträtsel anerkennen, das »Substanzproblem«. In der berühmten Rede, welche Emil du Bois-Reymond 1880 in der Leibniz-Sitzung der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt, unterscheidet er »sieben Welträtsel«; er führt dieselben in nachstehender Reihenfolge auf: I.das Wesen von Materie und Kraft, II.der Ursprung der Bewegung, III.die erste Entstehung des Lebens, IV.die (anscheinend absichtsvoll) zweckmäßige Einrichtung der Natur, V.das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung und des Bewußtseins, VI.das vernünftige Denken und der Ursprung der damit eng verbundenen Sprache, VII.die Frage nach der Willensfreiheit. Von diesen sieben Welträtseln erklärt der Rhetor der Berliner Akademie drei für ganz transzendent und unlösbar (das erste, zweite und fünfte); drei andere hält er zwar für schwierig, aber für lösbar (das dritte, vierte und sechste); bezüglich des siebenten und letzten »Welträtsels«, welches praktisch das wichtigste ist, nämlich der Willensfreiheit, verhält er sich unentschieden.

Nach meiner Ansicht werden die drei »transzendenten« Rätsel (I, II, V) durch unsere Auffassung der Substanz erledigt (Kapitel12); die drei anderen, schwierigen, aber lösbaren Probleme (III, IV, VI) sind durch unsere moderne Entwickelungslehre endgültig gelöst; das siebente und letzte Welträtsel, die Willensfreiheit, ist gar kein Objekt kritischer wissenschaftlicher Erklärung, da sie als reines Dogma auf bloßer Täuschung beruht und in Wirklichkeit gar nicht existiert.

Lösung der Welträtsel. Die Mittel und Wege zur Lösung der Welträtsel sind diejenigen der reinen wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt: Erfahrung und Schlußfolgerung. Die wissenschaftliche Erfahrung erwerben wir uns durch Beobachtung und Experiment, wobei in erster Linie unsere Sinnesorgane, in zweiter die »inneren Sinnesherde« unserer Großhirnrinde tätig sind. Die mikroskopischen Elementarorgane der ersteren sind die Sinneszellen, die der letzteren Gruppen von Ganglienzellen. Die Erfahrungen, welche wir von der Außenwelt durch diese unschätzbarsten Organe unseres Geisteslebens erhalten haben, werden dann durch andere Gehirnteile in Vorstellungen umgesetzt und diese wiederum durch Assoziation zu Schlüssen verknüpft. Die Bildung dieser Schlußfolgerungen erfolgt auf zwei verschiedenen Wegen, die nach meiner Überzeugung gleich wertvoll und unentbehrlich sind: Induktion und Deduktion. Die weiteren verwickelten Gehirnoperationen, die Bildung von zusammenhängenden Kettenschlüssen, die Abstraktion und Begriffsbildung, die Ergänzung des erkennenden Verstandes durch die plastische Phantasie, schließlich das Bewußtsein, das Denken und Philosophieren, sind ebenso Funktionen der Ganglienzellen der Großhirnrinde wie die vorhergehenden einfacheren Seelentätigkeiten. Alle zusammen vereinigen wir in dem höchsten Begriffe der Vernunft.

Vernunft, Gemüt und Offenbarung. Durch die Vernunft allein können wir zur wahren Naturerkenntnis und zur Lösung der Welträtsel gelangen. Indessen hat die Vernunft ihren hohen Wert erst durch die fortschreitende Kultur und Geistesbildung, durch die Entwickelung der Wissenschaft erhalten. Der ungebildete Mensch und der rohe Naturmensch sind ebensowenig (oder ebensosehr) »vernünftig« wie die nächstverwandten Säugetiere (Affen, Hunde, Elefanten usw.). Nun ist noch heute in weiten Kreisen die Ansicht verbreitet, daß es außer der Vernunft noch zwei weitere (ja sogar wichtigere!) Erkenntniswege gebe: Gemüt und Offenbarung. Diesem gefährlichen Irrtum müssen wir entschieden entgegentreten. Das Gemüt hat mit der Erkenntnis der Wahrheit garnichts zu tun. Was wir »Gemüt« nennen und hochschätzen, ist eine verwickelte Tätigkeit des Gehirns, welche sich aus Gefühlen der Lust und Unlust, aus Vorstellungen der Zuneigung und Abneigung, aus Strebungen des Begehrens und Fliehens zusammensetzt. Dabei können die verschiedensten anderen Tätigkeiten des Organismus mitspielen, Bedürfnisse der Sinne und der Muskeln, des Magens und der Geschlechtsorgane usw. Die Erkenntnis der Wahrheit fördern alle diese Gemütszustände und Gemütsbewegungen in keiner Weise; im Gegenteil stören sie oft die allein dazu befähigte Vernunft. Noch kein »Welträtsel« ist durch die Gehirnfunktion des Gemüts gelöst oder auch nur gefördert worden. Dasselbe gilt aber auch von der sogenannten »Offenbarung« und den angeblichen, dadurch erreichten »Glaubenswahrheiten«; diese beruhen sämtlich auf bewußter oder unbewußter Täuschung (vergl. das 16.Kapitel).

Philosophie und Naturwissenschaft. Als einen der erfreulichsten Fortschritte zur Lösung der Welträtsel müssen wir es begrüßen, daß in neuerer Zeit immer mehr die beiden einzigen dazu führenden Wege: Erfahrung und Denken (oder Empirie und Spekulation) als gleichberechtigte und sich gegenseitig ergänzende Erkenntnismethoden anerkannt worden sind. Die Philosophen haben allmählich eingesehen, daß die reine Spekulation zur wahren Erkenntnis nicht ausreicht. Und ebenso haben sich anderseits die Naturforscher überzeugt, daß die bloße Erfahrung für die Bildung einer realen Weltanschauung ungenügend ist. Die zwei großen Erkenntniswege, die sinnliche Erfahrung und das vernünftige Denken, sind zwei verschiedene Gehirnfunktionen; die erstere wird durch die Sinnesorgane und die zentralen Sinnesherde, die letztere durch die dazwischen liegenden Denkherde, die großen »Assozionszentren der Großhirnrinde« vermittelt. (Vergl. Kapitel7 und 10.) Erst durch die vereinigte Tätigkeit beider entsteht wahre Erkenntnis. Allerdings gibt es auch heute noch Philosophen, welche die Welt bloß aus ihrem Kopfe konstruieren wollen, und welche die empirische Naturerkenntnis schon deshalb verschmähen, weil sie die wirkliche Welt nicht kennen. Anderseits behaupten auch heute noch manche Naturforscher, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft das »tatsächliche Wissen, die objektive Erforschung der einzelnen Naturerscheinungen sei«; das »Zeitalter der Philosophie« sei vorüber, und an ihre Stelle sei die Naturwissenschaft getreten (Virchow 1893). Diese einseitige Überschätzung der Empirie ist ein ebenso gefährlicher Irrtum wie jene entgegengesetzte der Spekulation. Beide Erkenntniswege sind sich gegenseitig unentbehrlich. Die größten Triumphe der modernen Naturforschung, die Zellentheorie und die Wärmetheorie, die Entwickelungstheorie und das Substanzgesetz, sind philosophische Taten, aber nicht Ergebnisse der reinen Spekulation, sondern der vorausgegangenen, ausgedehntesten und gründlichsten Empirie.

Dualismus und Monismus. Alle verschiedenen Richtungen der Philosophie lassen sich, vom heutigen Standpunkte der Naturwissenschaft beurteilt, in zwei entgegengesetzte Reihen bringen, einerseits die dualistische oder zwiespältige, anderseits die monistische oder einheitliche Weltanschauung. Der Dualismus (im weitesten Sinne!) zerlegt das Universum in zwei ganz verschiedene Substanzen, die materielle Welt und den immateriellen Gott, der ihr als Schöpfer, Erhalter und Regierer gegenübersteht. Der Monismus hingegen (ebenfalls im weitesten Sinne begriffen!) erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die »Gott und Natur« zugleich ist; Körper und Geist (oder Materie und Energie) sind für sie untrennbar verbunden. Der außerweltliche »persönliche« Gott des Dualismus führt zum Theismus, der innerweltliche Gott des Monismus zum Pantheismus.

Materialismus und Spiritualismus. Sehr häufig werden auch heute noch die verschiedenen Begriffe Monismus und Materialismus und ebenso die wesentlich verschiedenen Richtungen des theoretischen und des praktischen Materialismus verwechselt. Da diese und ähnliche Begriffsverwirrungen zahlreiche Irrtümer veranlassen, wollen wir zur Vermeidung aller Mißverständnisse nur kurz noch folgendes bemerken: I.Unser reiner Monismus ist weder mit jenem Materialismus identisch, welcher den Geist leugnet und die Welt in eine Summe von toten Atomen auflöst, noch mit dem theoretischen Spiritualismus (neuerdings als Energetik bezeichnet), welcher die Materie leugnet und die Welt nur als eine räumlich geordnete Gruppe von bloßen Empfindungen und Vorstellungen (oder von Energien oder immateriellen Naturkräften) betrachtet. II.Vielmehr sind wir mit Goethe der festen Überzeugung, daß »die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann«. Wir halten fest an der monistischen Auffassung von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie), als die empfindende oder denkende Substanz, sind die beiden Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz. (Vergl. Kapitel12.)

Zweites Kapitel.

Unser Körperbau.

Inhaltsverzeichnis

Monistische Studien über menschliche und vergleichende Anatomie. Übereinstimmung in der gröberen und feineren Organisation des Menschen und der Säugetiere.

Alle biologischen Untersuchungen, alle Forschungen über die Gestaltung und Lebenstätigkeit der Organismen haben zunächst den sichtbaren Körper ins Auge zu fassen, an welchem uns die betreffenden morphologischen und physiologischen Erscheinungen entgegentreten. Dieser Grundsatz gilt ebenso für den Menschen wie für alle anderen belebten Naturkörper. Dabei darf sich die Untersuchung nicht mit der Betrachtung der äußeren Gestalt begnügen, sondern sie muß in das Innere derselben eindringen und ihre Zusammensetzung aus den gröberen und feineren Bestandteilen erforschen. Die Wissenschaft, welche diese grundlegende Untersuchung im weitesten Umfange auszuführen hat, ist die Anatomie.

Menschliche Anatomie. Die erste Anregung zur Erkenntnis des menschlichen Körperbaues ging naturgemäß von der Heilkunde aus. Da diese bei den ältesten Kulturvölkern gewöhnlich von den Priestern ausgeübt wurde, dürfen wir annehmen, daß diese höchsten Vertreter der damaligen Bildung schon im zweiten Jahrtausend vor Christo und früher über ein gewisses Maß von anatomischen Kenntnissen verfügten. Aber genauere Erfahrungen, gewonnen durch die Zergliederung von Säugetieren und von diesen übertragen auf den Menschen, finden wir erst bei den Griechen, von denen Hippokrates lange als vorzüglichste Autorität galt. Nach ihm erscheint nur noch ein bedeutender Anatom im Altertum, der Arzt Claudius Galenus. Alle diese älteren Anatomen erwarben ihre Kenntnisse zum größten Teile nicht durch die Untersuchung des menschlichen Körpers selbst — die damals noch streng verboten war! —, sondern durch diejenige der menschenähnlichsten Säugetiere, besonders der Affen; sie waren also alle eigentlich schon »vergleichende Anatomen«.

Das Emporblühen des Christentums und der damit verknüpften mystischen Weltanschauung bereitete der Anatomie, wie allen anderen Naturwissenschaften, den Niedergang. Die römischen Päpste waren vor allem bestrebt, die Menschheit in Unwissenheit und in blindem Aberglauben zu erhalten; sie hielten die Kenntnis des menschlichen Organismus mit Recht für ein gefährliches Mittel der Aufklärung über unser wahres Wesen. Während des langen Zeitraums von dreizehn Jahrhunderten blieben die Schriften des Galenus fast die einzige Quelle für die menschliche Anatomie, ebenso wie diejenigen des Aristoteles für die gesamte Naturgeschichte. Erst als im sechzehnten Jahrhundert n.Chr. durch die Reformation die geistige Weltherrschaft des Papismus gebrochen und durch das neue Weltsystem des Kopernikus die eng damit verknüpfte geozentrische Weltanschauung zerstört wurde, begann auch für die Erkenntnis des menschlichen Körpers eine neue Periode des Aufschwungs. Die großen Anatomen Vesalius, Eustachius und Fallopius förderten durch eigene gründliche Untersuchungen die genaue Kenntnis unseres Körperbaues so sehr, daß ihren zahlreichen Nachfolgern bezüglich der gröberen Verhältnisse hauptsächlich nur Einzelheiten festzustellen übrigblieben. Der ebenso kühne wie geistreiche Andreas Vesalius ging bahnbrechend allen voran; er vollendete schon in seinem 28.Lebensjahre das große, einheitlich durchgeführte Werk »De humani corporis fabrica« (1543) und gab der ganzen menschlichen Anatomie eine neue, selbständige Richtung und sichere Grundlage.

Vergleichende Anatomie. Die Verdienste, welche das neunzehnte Jahrhundert sich um die Erkenntnis des menschlichen Körperbaues erworben hat, bestehen vor allem in dem Ausbau von zwei neuen, überaus wichtigen Forschungsrichtungen, der »vergleichenden Anatomie« und der »Gewebelehre« oder der »mikroskopischen Anatomie«. Die erstere war allerdings schon von Anfang an mit der menschlichen Anatomie eng verknüpft gewesen; denn diese wurde solange durch die erstere ersetzt, als die Sektion menschlicher Leichen für ein todeswürdiges Verbrechen galt — und das war selbst noch im 15.Jahrhundert der Fall! Aber die zahlreichen Anatomen der folgenden drei Jahrhunderte beschränkten sich größtenteils auf die genaue Untersuchung des menschlichen Organismus. Diejenige hochentwickelte Disziplin, die wir heute vergleichende Anatomie nennen, wurde erst im Jahre1803 geboren, als der große französische Zoologe George Cuvier seine grundlegenden »Leçons sur l'Anatomie comparée« herausgab und darin zum ersten Male bestimmte Gesetze über den Körperbau des Menschen und der Tiere festzustellen suchte. Während seine Vorläufer — unter ihnen auch Goethe 1790 — hauptsächlich nur das Knochengerüst des Menschen mit demjenigen der übrigen Säugetiere eingehend verglichen hatten, umfaßte Cuviers weiter Blick die Gesamtheit der tierischen Organisation; er unterschied in derselben vier große, voneinander unabhängige Hauptformen oder Typen: Wirbeltiere, Gliedertiere, Weichtiere und Strahltiere. Für die »Frage aller Fragen« war dieser Fortschritt insofern epochemachend, als damit klar die Zugehörigkeit des Menschen zum Typus der Wirbeltiere — sowie seine Grundverschiedenheit von allen anderen Typen — ausgesprochen war. Allerdings hatte schon der scharfblickende Linné in seinem ersten »Systema naturae« (1735) dem Menschen definitiv seinen Platz in der Klasse der Säugetiere angewiesen; er vereinigte sogar in der Ordnung der Herrentiere die drei Gruppen der Halbaffen, Affen und Menschen. Aber es fehlte diesem kühnen systematischen Griffe noch jene tiefere empirische Begründung durch die vergleichende Anatomie, die erst Cuvier herbeiführte. Diese fand ihre weitere Ausführung durch die großen vergleichenden Anatomen des 19.Jahrhunderts, durch Friedrich Meckel, Johannes Müller, Richard Owen, Thomas Huxley und Carl Gegenbaur. Indem dieser letztere in seinen Grundzügen der vergleichenden Anatomie (1870) zum ersten Male die durch Darwin neu begründete Abstammungslehre auf jene Wissenschaft anwandte, erhob er sie zum ersten Range unter den biologischen Disziplinen. Seine »Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere« (1898) legte den unerschütterlichen Grund fest, auf welchem sich unsere Überzeugung von der Wirbeltiernatur des Menschen nach allen Richtungen hin klar beweisen läßt.

Gewebelehre (Histologie) und Zellenlehre (Cytologie). In ganz anderer Richtung als die vergleichende entwickelte sich im Laufe des 19.Jahrhunderts die mikroskopische Anatomie. Schon im Anfange desselben (1802) unternahm ein französischer Arzt, Bichat, den Versuch, mittels des Mikroskops die Organe des menschlichen Körpers in ihre einzelnen feineren Bestandteile zu zerlegen und die Beziehungen dieser verschiedenen Gewebe festzustellen. Aber dieser erste Versuch führte nicht weit, da ihm das gemeinsame Element für die zahlreichen, verschiedenen Gewebe unbekannt blieb. Dies wurde erst 1838 für die Pflanzen in der Zelle von Matthias Schleiden entdeckt und gleich darauf auch für die Tiere von Theodor Schwann nachgewiesen. Albert Kölliker und Rudolf Virchow führten dann im sechsten Dezennium des 19.Jahrhunderts die Zellentheorie und die darauf gegründete Gewebelehre für den gesunden und kranken Organismus des Menschen im einzelnen durch; sie wiesen nach, daß auch im Menschen, wie in allen anderen Tieren, alle Gewebe sich aus den gleichen mikroskopischen Formbestandteilen, den einfachen Zellen, zusammensetzen, und daß diese »Elementar-Organismen« die wahren, selbsttätigen Staatsbürger sind, die, zu Milliarden vereinigt, unseren Körper, den »Zellenstaat«, aufbauen. Alle diese Zellen entstehen durch oft wiederholte Teilung aus einer einzigen, einfachen Zelle, aus der »Stammzelle« oder »befruchteten Eizelle« (Cytula). Die allgemeine Struktur und Zusammensetzung der Gewebe ist beim Menschen dieselbe wie bei den übrigen Wirbeltieren. Unter diesen zeichnen sich die Säugetiere, die jüngste und höchst entwickelte Klasse, durch gewisse besondere, spät erworbene Eigentümlichkeiten aus. So ist z.B. die mikroskopische Bildung der Haare, der Hautdrüsen, der Milchdrüsen, der Blutzellen bei den Säugetieren ganz eigentümlich und verschieden von derjenigen der übrigen Wirbeltiere; der Mensch ist auch in allen diesen feinsten histologischen Beziehungen ein echtes Säugetier.

Wirbeltiernatur des Menschen. Unser gesamter Körperbau zeigt sowohl in der gröberen als in der feineren Zusammensetzung den charakteristischen Typus der Wirbeltiere (Vertebrata). Diese höchst entwickelte Hauptgruppe des Tierreichs wurde in ihrer natürlichen Einheit zuerst 1801 von dem großen Lamarck erkannt; er faßte unter diesem Begriffe die vier höheren Tierklassen von Linné zusammen: Säugetiere, Vögel, Amphibien und Fische. Die beiden niederen Klassen: Insekten und Würmer, stellte er jenen als »Wirbellose« (Invertebrata) gegenüber. Cuvier bestätigte (1812) die Einheit des Vertebratentypus und begründete sie fester durch seine vergleichende Anatomie. In der Tat stimmen alle Wirbeltiere, von den Fischen aufwärts bis zum Menschen, in allen wesentlichen Hauptmerkmalen überein; sie besitzen alle ein festes inneres Skelett, Knorpel- und Knochengerüst, und dieses besteht überall aus einer Wirbelsäule und einem Schädel; die verwickelte Zusammensetzung des letzteren ist zwar im einzelnen sehr mannigfaltig, aber im allgemeinen stets auf dieselbe Urform zurückzuführen. Ferner liegt bei allen Wirbeltieren auf der Rückenseite dieses Achsenskeletts das »Seelenorgan«, das zentrale Nervensystem, in Gestalt eines Rückenmarks und eines Gehirns. Auch von diesem wichtigen Gehirn gilt dasselbe wie von der es umschließenden Knochenkapsel, dem Schädel; im einzelnen ist seine Ausbildung und Größe höchst mannigfaltig abgestuft; im großen und ganzen bleibt die charakteristische Zusammensetzung dieselbe.

Die gleiche Erscheinung zeigt sich auch, wenn wir die übrigen Organe unseres Körpers mit denen der anderen Wirbeltiere vergleichen: überall bleibt infolge von Vererbung die ursprüngliche Anlage und die relative Lagerung der Organe dieselbe, obgleich die Größe und Ausbildung der einzelnen Teile höchst mannigfaltig sich sondert, entsprechend der Anpassung an sehr verschiedene Lebensbedingungen. So sehen wir, daß überall das Blut in zwei Hauptröhren kreist, von denen die eine (Aorta) über dem Darm, die andere (Prinzipalvene) unter dem Darm verläuft, und daß durch Erweiterung der letzteren an einer ganz bestimmten Stelle das Herz entsteht; dieses »Ventralherz« ist für alle Wirbeltiere ebenso charakteristisch wie umgekehrt das Rückengefäß oder »Dorsalherz« für die Gliedertiere und Weichtiere. Nicht minder eigentümlich ist bei allen Vertebraten die frühzeitige Scheidung des Darmrohres in einen zur Atmung dienenden Kopfdarm (oder »Kiemendarm«) und einen die Verdauung bewirkenden Rumpfdarm mit der Leber (daher »Leberdarm«); ferner die Gliederung des Muskelsystems, die besondere Bildung der Harn- und Geschlechtsorgane usw. In allen diesen anatomischen Beziehungen ist der Mensch ein echtes Wirbeltier.

Tetrapodennatur des Menschen. Mit der Bezeichnung Vierfüßler (Tetrapoda) hatte schon Aristoteles alle jene höheren, blutführenden Tiere belegt, welche sich durch den Besitz von zwei Beinpaaren auszeichnen. Später wurde dieser Begriff erweitert, nachdem Cuvier gezeigt hatte, daß auch die »zweibeinigen« Vögel und Menschen eigentlich Vierfüßler sind; er wies nach, daß das innere Knochengerüst der vier Beine bei allen höheren landbewohnenden Wirbeltieren, von den Amphibien aufwärts bis zum Menschen, ursprünglich in gleicher Weise aus einer bestimmten Zahl von Gliedern zusammengesetzt ist. Auch die »Arme« des Menschen, die »Flügel« der Fledermäuse und Vögel zeigen denselben typischen Skelettbau wie die »Vorderbeine« der laufenden, eigentlich vierfüßigen Tiere.

Diese anatomische Einheit des verwickelten Knochengerüstes in den vier Gliedmaßen aller Tetrapoden ist sehr wichtig. Um sich wirklich davon zu überzeugen, braucht man bloß das Skelett eines Salamanders oder Frosches mit demjenigen eines Affen oder Menschen aufmerksam zu vergleichen. Da sieht man sofort, daß vorn der Schultergürtel und hinten der Beckengürtel aus denselben Hauptstücken zusammengesetzt ist wie bei den übrigen »Vierfüßlern«. Überall sehen wir, daß das erste Glied des eigentlichen Beines nur einen einzigen starken Röhrenknochen enthält (vorn den Oberarm, hinten den Oberschenkel); dagegen wird das zweite Glied ursprünglich stets durch zwei Knochen gestützt (vorn Ellbogen und Speiche, hinten Wadenbein und Schienbein). Vergleichen wir dann weiter den verwickelten Bau des eigentlichen Fußes, so überrascht uns die Wahrnehmung, daß die zahlreichen, denselben zusammensetzenden, kleinen Knochen ebenfalls überall ähnlich angeordnet und gesondert sind; vorn entsprechen sich in allen Klassen der Tetrapoden die drei Knochengruppen des Vorderfußes (oder der »Hand«): I.Handwurzel, II.Mittelhand und III.fünf Finger; ebenso hinten die drei Knochengruppen des Hinterfußes: I.Fußwurzel, II.Mittelfuß und III.fünf Zehen. Sehr schwierig war die Aufgabe, alte diese zahlreichen kleinen Knochen, die im einzelnen höchst mannigfaltig gestaltet und umgebildet, teilweise oft verschmolzen oder verschwunden sind, auf eine und dieselbe Urform zurückzuführen, sowie die Gleichwertigkeit der einzelnen Teile überall festzustellen. Diese wichtige Aufgabe wurde erst vollständig von Carl Gegenbaur gelöst. Er zeigte in seinen »Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere« (1864), wie diese charakteristische »fünfzehige Beinform« der landbewohnenden Vierfüßler ursprünglich (erst in der Steinkohlenperiode) aus der vielstrahligen »Flosse« (Brustflosse oder Bauchflosse) der älteren, wasserbewohnenden Fische entstanden ist. In gleicher Weise leitete er in seinen »Untersuchungen über das Kopfskelett der Wirbeltiere« (1872) den jüngeren Schädel der Tetrapoden aus der älteren Schädelform der Fische ab.

Besonders bemerkenswert ist noch, daß die ursprüngliche, zuerst bei den alten Amphibien der Steinkohlenzeit entstandene Fünfzahl der Zehen an allen vier Füßen sich infolge strenger Vererbung noch beim Menschen bis auf den heutigen Tag erhalten hat. Selbstverständlich ist dementsprechend auch die typische Bildung der Gelenke und Bänder, der Muskeln und Nerven der zwei Beinpaare, in der Hauptsache dieselbe geblieben wie bei den übrigen »Vierfüßlern«; auch in diesen wichtigen Beziehungen ist der Mensch ein echter Tetrapode.