Zum Buch:
Maike freut sich auf den Urlaub mit ihrem neuen Freund Arne. Statt in die Sonne, soll es jedoch plötzlich in den Schwarzwald gehen, um dort auf Arnes Oma aufzupassen. Doch damit nicht genug: Schnell erfährt Maike, dass Arne sich jedes Jahr eine neue Freundin sucht, um diese als »Oma-Sitterin« bei der alten Dame zurückzulassen!
Aber da hat er sich in Maike getäuscht, denn Rache ist süß und auch Oma Martha ist rüstiger als gedacht...
Der Auftakt eines aberwitzigen Roadtrips quer über Frankreichs Autobahnen, in dem Verfolgungsjagden und emotionale Berg- und Talfahrten weder eine Frage des Alters noch des Geschlechts sind.
Zur Autorin:
Birgit Schlieper ist Journalistin und Buchautorin im Bereich Frauen-, Jugend- und Kinderliteratur. Sie wohnt in Zürich, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mit ihrem Roman »Maike, Martha und die Männer« ist Birgit Schlieper Gewinnerin des »Bestseller von morgen«-Schreibwettbewerbs des Kirschbuch Verlags und der QualiFiction GmbH anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2019.
»Schwarzwald?«
Ich wiederhole das Wort ganz vorsichtig. Offenbar habe ich mich verhört. Wahrscheinlich hat Arne »Schwarzmeer« gesagt. Wo war das gleich? Südlich auf jeden Fall. Ist das Schwarze Meer das mit dem hohen Salzgehalt, auf dem man stundenlang herumdümpeln kann? Oder ist das das Rote Meer? Oder doch das Tote Meer?
»Genau. Schwarzwald. Es wird herrlich.«
Er lehnt sich zurück, streckt sich und entblößt oberhalb des Jeansbunds einen braunen Streifen Haut mit kleinen blonden Haaren.
Ich lehne mich nach vorne und rühre in meinem Chai Latte. Vor meinem geistigen Auge lösen sich die Bilder von Strand und Sonnenuntergängen langsam auf. Plötzlich stehen da kauende Kühe auf sattem Grün. Ich hatte mir im Internet schon so süße Bikinis angesehen und Sandalen mit bunten Steinen. Muss ich mir jetzt eine Tracht oder so etwas zulegen?
»Süße, ich weiß, dass das total langweilig und spießig klingt. Aber lass dich überraschen. Es ist einfach wunderschön da. Die Berge, die Seen, die Luft. Du wirst es lieben.«
Ich gucke ihn an und versuche ihm zu glauben.
Ich liebe das Meer und Nächte, die nicht kälter als 15 Grad werden. Ich liebe trockene Luft, die immer ein bisschen nach Sonnencreme riecht. Ich mag es, wenn ich weit gucken kann und sich kein Berg in den Weg stellt. Ich mag es, über warmen Sand zu laufen. Leider muss ich gestehen: Ich fliege gerne. Trinke sogar den halbtrockenen Sekt im Flugzeug.
Vielleicht liebe ich den Schwarzwald auch. Aber mir würde es reichen, wenn ich diese Liebe erst in 40 oder 50 Jahren entdecke. Schwarzwald klingt für mich nicht nach Urlaub, sondern nach Kur.
»In den Süden können wir auch noch über Weihnachten fliegen, wenn es hier so richtig grau und trüb ist. Dann aalen wir uns irgendwo am Strand und feiern ins neue Jahr. Wenn Du willst, können wir auch so richtig hübsch knallen«, höre ich Arne sagen. Seine Augen grinsen mich dabei an.
Das klingt doch schon viel besser. Ich nehme einen Schluck von meinem schwindelig gerührten Chai Latte. Und plötzlich wird es mir klar: Er will mich seinen Eltern vorstellen. Deswegen soll ich auf die Alm. Meine Füße werden kalt, mein Herz ganz warm. Ist das nicht ein bisschen früh? Genau genommen hat ja mein Studentenleben noch gar nicht begonnen. Das erste Semester fängt im Herbst an, ich absolviere gerade Vorbereitungskurse. Wie lange sind wir zusammen? Arne war das neulich von einem Freund gefragt worden und hatte mit »Weiß nicht genau. Ich glaube, sie hatte schon drei Mal ihre Tage« geantwortet. Das fand ich irgendwie nicht so nett. Aber ich möchte jetzt auch noch nicht die Position ‹Schwiegertochter in spe› einnehmen.
»Haben deine Eltern mich eingeladen?«, frage ich vorsichtig und so nebenbei wie möglich.
»Genau. Dich und mich. Wir haben das ganze große Haus quasi für uns alleine.«
»Sie sind also gar nicht da«, stelle ich fest.
»Nee. Die fliegen im Sommer immer nach Madeira.«
So viel zum Thema, der Schwarzwald ist im Sommer einfach herrlich. Wieso fliegen die nicht im Winter gen Süden?
»Vom Schwarzwald ist es doch nach Frankreich nicht weit, oder?«
Ich hoffe, mit meiner Einschätzung nicht völlig daneben zu liegen. Offenbar habe ich Geographie doch zu früh abgewählt.
»Nicht allzu weit. Warum?«
»Dann können wir doch auch mal für ein paar Tage nach Frankreich. Wozu hatte ich seinerzeit auf der Schule Leistungskurs Französisch? Dann kannst du in den Genuss meiner enormen Formulierungskunst kommen«, grinse ich.
Ich denke an kleine Cafés, an kleine Boutiquen, französisches Flair in der Luft, an l’amour.
»Klingt verlockend. Allerdings wird daraus nichts. Ich habe meinen Eltern versprochen, dass wir uns auch ein bisschen um Oma Martha kümmern.«
»Wie bitte?«
Ich fange wieder an, in meinem Glas zu rühren. Dieses Mal mit der linken Hand. Ich habe mal gelesen, dass man damit die eher unterdrückte Gehirnhälfte aktivieren kann. Das gilt natürlich nur für Rechtshänder. Ich muss jetzt ganz dringend meine andere Gehirnhälfte in Schwung bringen und zwar die, die für die Ratio verantwortlich ist. Manchmal esse ich deswegen auch mit der linken Hand Suppe oder putze mir mit links die Zähne. Ganz interessante Erfahrungen kann man damit auch auf der Toilette machen.
Arne tut so, als hätte er mich nicht gehört und gibt der Kellnerin ein Zeichen. Ich muss wohl ein bisschen lauter werden.
»Wie bitte? Was soll das heißen, dass wir uns ein bisschen um Oma Martha kümmern? Müssen wir sie im Rollstuhl rumschieben oder reicht es, wenn wir mal auf einen Plausch in ihr überhitztes Wohnzimmer kommen?«
»Habe ich dir noch nie von ihr erzählt? Das ist die Mutter meines Vaters, die bei meinen Eltern lebt. Die können halt nur in den Urlaub fahren, wenn ich mich ein bisschen um sie kümmere. Aber mach dir darüber keine Gedanken. Oma ist steinalt. Über 80 bestimmt schon. Entweder die schläft oder sie döst vorm Fernseher oder auf der Terrasse. Die stört uns mit Sicherheit nicht. Möchtest du auch noch was?«
Die Kellnerin hat sich erbarmt und steht vor unserem Tisch. Sieht es komisch aus, wenn ich jetzt einen Schnaps bestelle? Wahrscheinlich ja. Dabei könnte ich wirklich einen gebrauchen.
Ich schüttle nur stumm den Kopf. Diese Nachrichten muss ich erst mal trocken verarbeiten.
Du fährst mit Arne in ein verschlafenes Kuhdorf, um dich da um seine senile Großmutter zu kümmern?«
Lisa sitzt im Schneidersitz auf meinem Sofa und starrt mich mit offenem Mund an.
»Du tust so, als wollte ich mit ihm in die Ukraine, um da Kriegsgräber zu pflegen.«
»So ganz groß ist der Unterschied ja nicht, oder?«
»Immerhin lebt Arnes Oma noch.«
»Nachdem du zwei Wochen für sie gekocht hast, wahrscheinlich nicht mehr. So wirst du dich in der Familie nicht sehr beliebt machen«, lacht sie.
»Ich muss für die Frau nicht kochen«, behaupte ich und bin mir gar nicht so sicher. Sie wird wohl kaum 23 Stunden dösend im Halbschlaf verbringen und dann plötzlich aufstehen, sich ein frisches Gemüsesüppchen zusammenschnippeln, um sich dann an den Esstisch zu setzen, oder? Ich muss unbedingt Arne danach fragen. Natürlich würde ich ihm am liebsten sofort eine Whatsapp schreiben, aber das bringt nichts. Arne ist ein Whatsapp-Autist. Meist antwortet er Stunden später und nur mit kryptischen Abkürzungen. Lisa hat sich inzwischen aufs Bett gelegt und kichert. »Ich stelle mir gerade vor, wie ihr drei da abends im Wohnzimmer sitzt und euch einen Rosamunde-Pilcher-Film reinzieht. Oder gab es nicht mal eine Serie über eine Schwarzwaldklinik? Die hat Oma bestimmt auf VHS.«
Ich werfe ein Kissen nach Lisa.
Doch sie hört nicht auf. »Vielleicht könnt ihr ja später alleine noch ein paar Doktorspiele machen. Aber immer schön leise sein«, prustet sie. »Zumindest so lange, bis Oma das Hörgerät abgestellt hat«.
Lisa darf das. Sie ist meine beste Freundin – seit der achten Klasse schon. Damals hatten wir zusammen einen absoluten Lachflash bekommen und zwar bei dem Satz »Je vais chercher la soupe«. Das sollte heißen »Ich gehe die Suppe holen«. Aber genau genommen heißt es »Ich gehe die Suppe suchen«. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich mittags nach Hause komme und meine Mutter vom Tisch aufsteht und sagt: »Na, dann gehe ich jetzt mal die Suppe suchen. Wo habe ich sie nur heute wieder versteckt?« Mit Lisa verbinden mich einfach so viele erste Male. Auf einer Party bei ihr habe ich den ersten Zungenkuss bekommen. Sie hat mir die Haare aus dem Gesicht gehalten, als ich (auf derselben Party) später einen längeren Besuch auf dem WC einlegen musste. Sie hat zehn Minuten nachdem ES passiert war, erfahren, dass ich keine Jungfrau mehr bin. Sie hat mich nach der ersten erfolglosen Führerscheinprüfung getröstet. Lisa hat bei der Beerdigung meines Opas meine Hand gehalten. Es war die erste Beerdigung überhaupt für mich. Lisa und ich haben uns mit 17 Jahren die Haare blauschwarz gefärbt und sahen eindeutig drogenkrank aus. Damals fanden wir, dass wir geheimnisvoll und tiefgründig wirkten. Und Lisa weiß als einziger Mensch auf der ganzen Welt, dass ich mal für Mats Hummels geschwärmt habe.
Ich denke sehnsüchtig an den letzten Sommerurlaub zurück. Lisa und ich hatten ein kleines Hausboot in Amsterdam gemietet. Der ganze Urlaub war ein einziges Schaukeln. So schön.
Lisa wirft das Kissen zurück und guckt mich direkt an.
»Du bist schon ziemlich verknallt in Arne, oder?«
Ich nicke nur und in meinem Bauch kribbelt es.
Geomorphologisch wird vor allem zwischen der Ostabdachung mit weiten Hochplateaus und dem intensiv zertalten Abbruch zum Oberrheingraben hin unterschieden. Die Täler sind meist eng, oft schluchtartig, seltener beckenförmig.«
Drei Mal habe ich die Sätze schon gelesen und frage mich, was wohl ein zertalter Abbruch ist und ob ich in engen Schluchten nicht binnen kürzester Zeit in Depressionen verfallen werde. Unter die Frage »Was wird Oma essen?« schreibe ich: »Wo genau findet unser Urlaub statt? Auf einem sonnigen Plateau oder in einem finsteren Tal, wo niemals die Sonne scheint?«
Meine Mutter kommt aus dem Lachen nicht mehr raus. Ich muss das Telefon ein paar Zentimeter von meinem Ohr weghalten, um mein Trommelfell zu schonen. Ich zähle bis 67, dann endlich macht meine Mutter eine kleine Pause. Ich versuche einfach mal ein anderes Thema anzuschneiden und frage freundlich, wie es Papa denn geht. Sie ignoriert es.
»Kannst du dich noch an Österreich erinnern?«, japst sie.
»Du hast erst beim Kindersorgentelefon angerufen und dich über diese ewigen Wanderungen beschwert. Dann hast du dich mit einem roten Edding angemalt und behauptet, du hättest eine ansteckende Krankheit. Du hast das Fieberthermometer in fast kochendes Wasser gehalten.«
»Mama, damals war ich zehn oder so.«
»Du wolltest sogar in den Hungerstreik treten und hast, glaube ich, sogar wirklich eine ganze Mahlzeit ausgelassen«, kichert sie weiter.
»Ist bei euch auch das Wetter so schlecht?«, versuche ich nochmals matt das Thema zu wechseln.
»Dieser Arne muss ja wirklich ein Wahnsinns-Typ sein, dass er dich in die deutsche Bergwelt bekommt. Ich bin schon total gespannt, ihn kennenzulernen.«
»Klar, den nächsten Urlaub machen wir dann bei euch. Stellt doch schon mal eine Liege in meinem alten Zimmer auf«, gifte ich erst zurück und fange mich dann wieder: »Ich finde es gar nicht so verkehrt, das eigene Bruttoinlandsprodukt zu stärken. Urlaub im eigenen Land ist total in – allein schon wegen des Klimawandels. Kann ja sein, dass dich das nicht mehr interessiert, aber ich sorge mich um das Klima und den Erhalt der Natur.«
»Schön, dass du sogar in den Ferien patriotisch und ökonomisch denkst. Darfst du denn mit in Arnes Kinderzimmer schlafen oder musst du ins Gästezimmer? Ich könnte mir vorstellen, dass die liebe Omi erzkatholisch ist und es nicht dulden kann, wenn unter ihrem Dach vorehelicher Geschlechtsverkehr vollzogen wird.«
Mir bleibt kurz der Atem weg, ich werde aber von meiner Mutter abgelenkt, die mir weiterhin mitteilt, dass nächste Woche bei Tchibo Wandern die Themenwelt sei und mich fragt, ob sie mir eine Komplett-Ausstattung kaufen solle. Ich lehne dankend ab und notiere die Frage »Wo schlafe ich? Hast du alte Poster von zweitklassigen Fußballclubs oder Bravo-Starschnitte in deinem Zimmer hängen?« auf meiner Liste.
Exakt eine Stunde nach dem Telefonat mit meiner Mutter meldet sich Merle.
»Ich habe gehört, dass du verreist. Kann ich in der Zeit in deine Studentenbude kommen? Hier ist die Situation gerade etwas angespannt. Ich muss mich mal irgendwie aus der Schusslinie bringen. Ein bisschen räumliche Distanz zwischen Mama, Papa und mir wäre da bestimmt sehr hilfreich.«
»Die Situation zwischen Mama, Papa und dir ist seit Jahren angespannt. Da helfen dir zwei Wochen Köln nicht weiter«, erkläre ich meiner großen Schwester.
»Immerhin bist du nicht ganz unschuldig an der Stimmung. Seitdem du weg bist, stürzen die sich mit ihren ganzen verspäteten Erziehungsversuchen auf mich. Das ist nicht auszuhalten.«
»Du tust so, als hätte ich dich mit einem Rudel hungriger Wölfe in Sibirien zurückgelassen. Kleiner Tipp: Du kannst auch ausziehen. Du überlegst dir einfach endlich, was du wirklich studieren willst, mietest dir auch ein hübsches kleines Studentenzimmer und schon haben sich 80 Prozent deiner Probleme erledigt.«
»Fängst du jetzt auch an? Ich will nicht studieren. Das habe ich versucht. Das ist nichts für mich. Im Herbst machen wir eine kleine Tour. Und wenn wir erstmal die erste CD auf dem Markt haben, werden Mama und Papa sich auch entspannen. Bis dahin muss ich durchhalten.«
Aus dem Hintergrund höre ich meine Mutter mit einem wütenden »Merle, warst du das?«.
»Was hast du gemacht?«, frage ich neugierig.
»Ich habe unsere Mülltonnen angemalt. Dieses Grau hat mich ganz melancholisch gemacht. Ich hatte nur noch ganz düstere Gedanken, wenn ich die gesehen habe. Offenbar gefällt es Mama nicht«, stöhnt sie.
»Dann noch einen schönen Abend«, wünsche ich ihr.
Keine Frage: Ich liebe meine Schwester. Aber auf Dauer ist sie mir einfach zu lebendig. Sie ist eine einzige Wundertüte. Jeder, der sich einsam und verlassen fühlt, sollte zwei Tage mit meiner Schwester verbringen und wird feststellen, dass alleine zu sein gar nicht so schlimm ist. Merle ist wie der weibliche Julien Bam auf Ecstasy. Sie macht immer drei Sachen gleichzeitig, zieht sich viermal am Tag um und redet ununterbrochen. Parallel postet sie alles, was sie denkt und meint, auf Instagram und Facebook. Hauptberuflich ist sie Sängerin bei der Kinderband mit dem Namen ‹Bandsalat›. Zusammen mit einem zerzauselten Keyboarder und einer Schlagzeugerin, für die die Bezeichnung ‹Kampflesbe› erfunden wurde, macht sie echt gute Kinderrockmusik. Eine Mischung aus Rolf Zuckowski und Metallica. Eigentlich ist das nur ein Hobby. Aber da sie beruflich gerade gar nichts macht, gibt sie das als Beruf an. Zwei Mal schon hat Merle ein Studium begonnen. Weil sie Kinder nun mal so mag, hatte sie es mit Grundschulpädagogik probiert. Es war mir klar, dass sie zwischen diesen anderen Primarmäusen vor Langeweile stirbt. Dann hatte sie sich auf Sozialpädagogik gestürzt. Nach vier Wochen hatte sie behauptet, eine akute Allergie gegen Strickpullover, Jutesäcke, Selbstgebatiktem und Filzbroschen zu haben. Um sich von dem Schock zu erholen, hatte sie für ein Jahr als Au-pair-Mädchen gearbeitet. In Finnland. Seitdem ist sie sehr trinkfest, kann Holz hacken und auf Finnisch fluchen. Das bringt einen beruflich in Deutschland nur eben auch nicht weiter. Ich bin ein bisschen zielstrebiger als sie. Die Tinte auf meinem Abizeugnis war noch nicht ganz trocken, da habe ich mich ins Studentenleben gestürzt. Ein kleines Appartement in einem renovierungsbedürftigen Wohnheim angemietet, das dadurch bezahlbar war, und sämtliche Vorbereitungskurse in Sachen Kommunikationswissenschaften gebucht, die in den Semesterferien angeboten werden.
Lisa kommt mit einem dicken Grinsen und einem Reisekatalog ins Café. »Seite 17«, sagt sie nur. Ich schlage die Seite auf und lese, wie entspannend Urlaub auf Korfu sein kann. Sehe Strand, Pool, glückliche und braungebrannte Menschen mit bunten Drinks in der Hand. Ich lese, dass man bei untergehender Sonne Aerobic am Strand machen kann oder mit den Mountainbikes die Gegend erkunden. Ich lese von Märkten, kleinen Orten, heimischen Delikatessen. Das wollte ich.
»Klar, gegen den Schwarzwald kann Korfu natürlich nicht anstinken. Aber irgendwo muss ich mich ja auch erholen. Hat ja nicht jeder das Glück, einen Lover mit Anwesen im siebten Himmel zu haben«, erklärt sie mir lachend.
»Hast du jetzt echt gebucht?«, staune ich.
»Soll ich im verwaisten Köln bleiben? Habe echt ein Schnäppchen gefunden. Kleines Hotel in Strandnähe mit Pilates und Zumba im Sand.«
»Können wir bitte das Thema wechseln«, stöhne ich nur und schließe ihren Katalog.
Und andere Themen haben Lisa und ich eigentlich ständig.
> Warum gibt es plötzlich fast nur noch Langarmshirts mit Dreiviertel-Arm?
> Warum trägt man öffentlich Leggings?
> Steht die Größe eines Tattoos im umgekehrten Verhältnis zur Intelligenz eines Mannes?
> Wie wird man wohl Influencer?
> Würden Katzen Menschenvideos gucken?
Auf dem Weg in mein Wohnheim frage ich mich, ob es wohl irgendeine Möglichkeit gibt, die grünen Bergwiesen Süddeutschlands gegen Korfus lange Sandstrände einzutauschen. Wenn ich Arne jetzt absage, sieht das doch total oberflächlich aus. Als wollte ich nur schnellen Spaß und würde sofort kneifen, wenn ich mal einen Hauch an Verantwortung übernehmen soll. Ganz hinten links in meinem Kopf weiß ich, dass das auch stimmt. Nicht das mit dem schnellen Spaß, aber das mit der Verantwortung. Ich fühle mich oft genug schon mit der Verantwortung für mein eigenes Leben überfordert. Aber immerhin bemühe ich mich, dass das niemand merkt. Anstrengend genug. Ich fand es gar nicht so schlecht in der Schule. Da hatte ich einen festen Stundenplan und bekam mittags eine warme Mahlzeit. Jetzt muss ich mir meinen Stundenplan selber zusammenpuzzeln und entscheiden, ob ich noch Fleisch esse. Ob ich mein Gemüse in Plastik abwiege. Ob ich noch Klamotten trage, die in Bangladesch gefertigt wurden. Wie oft ich bei einer Vorlesung, die montags um 8 Uhr beginnt, wohl fehlen darf. Ob ich zum Lach-Yoga gehe oder zur Achtsamkeits-Meditation oder doch ins Fitness-Studio. Ich hätte echt gerne eine Bedienungsanleitung für mein Leben. Mein Vater hat ein Display in seinem Auto, da erscheint manchmal die Aufforderung ‹Pause einlegen›. So etwas in der Art.
Ich bin am Abend schon fast eingeschlafen, als mir noch eine ganz dringende Frage für meine Liste einfällt: Auch wenn Oma ihre Tage nur sitzend oder liegend in einer Art Wachkoma verbringt, kann sie doch wohl noch alleine auf Toilette gehen, oder?
Oder?
Arne lacht laut auf, als ich ihn am Morgen um sechs Uhr anrufe. Er versichert mir, dass Oma Martha eigenständig aufs WC gehe und sich auch ansonsten regelmäßig um ihre Körperhygiene kümmere. Ich sage nicht, dass einmal monatlich feucht unterm Arm herwischen auch eine gewisse Regelmäßigkeit habe. Auch auf die Frage nach meiner Schlafstätte bekomme ich eine beruhigende Antwort. Er habe schon mit 16 ein XXL-Bett bekommen, über dem keine Starschnitte von irgendwelchen Fußballern hingen. Ich frage nicht, warum er kurz nach der Pubertät schon eine Spielwiese gebraucht habe. Es ist einfach nie gut, wenn man zu viel weiß. Bei der nächsten Frage meiner Liste kommt Arne ins Stocken. Dabei habe ich nur gefragt, wie der Ort denn genau heiße, in dem ich meinen Sommerurlaub verbringe. Er hustet etwas, das nach ‹Sexau› klingt.
»Wie hieß der Ort? Ich habe original Sexau verstanden«, lache ich laut.
»So heißt der Ort auch«, sagt er ganz ruhig.
Ich nicke nur und frage mich, wie lange ich diese Information wohl vor Lisa geheim halten kann.
Ich habe immer noch ihren ungläubigen Gesichtsausdruck vor Augen, als ich ihr seinerzeit mitgeteilt habe, dass ich mit Arne zusammen sei. Sie hat mich angesehen, als hätte ich gestanden, kurz vor einer Geschlechtsumwandlung zu stehen. Ich hatte versucht, es beiläufig einfließen zu lassen. Blöderweise mitten in einer Bibliotheks-Führung. Sie hatte mich gefragt, ob ich abends mit ins Kino komme. Ich hatte geflüstert: »Kann leider nicht. Bin mit Arne verabredet. Wir sind übrigens zusammen.«
Sie hatte »MIT ARNE?« in einer Lautstärke gebrüllt, die ich nur von Punk-Konzerten kenne. Es war der Horror. Ich mag es schon nicht, wenn mir beim Geschenkeauspacken Menschen zugucken. Das ist mir zu viel Mittelpunkt. Den zweiten Teil der Führung habe ich ausgelassen.
Dabei konnte ich Lisa verstehen. Eigentlich bin ich selber immer noch ein bisschen ungläubig. Ich verstehe nicht wirklich, was Arne an mir findet. Ich will ihn auch nicht fragen. Hinterher fällt ihm auf, dass er das auch nicht weiß. Irgendwann wird er von alleine herausfinden, dass ich für ihn zu durchschnittlich bin. Bis dahin warte ich einfach und mache mir eine gute Zeit. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Menschen sich immer einen Partner mit gleichem Attraktivitätslevel aussuchen. Arne hat das wohl nicht gelesen. Ich bin jetzt nicht hässlich wie die Nacht. Aber Arne sieht schon ein bisschen zu gut für mich aus. Er studiert nicht nur Sport. Er ist der Sportler schlechthin, spielt Basketball, liebt Kite-Surfen, Ski fahren und Squash. Und so sieht er auch aus. Ich bewege mich auch ganz gerne. Aber nicht so schnell. Ich bin wohl eher der Typ ‹autogenes Training›. Und Denksport finde ich gut. Und Tanzen. Da kann es nicht schnell und wild genug sein. Wenn Lisa und ich in die Disco oder in den Club gehen, stürmen wir sofort die Tanzfläche und sind nach zehn Minuten völlig verschwitzt. Ich verstehe nicht, wie man in eine Disco gehen und den ganzen Abend auf einem Hocker kleben kann. Wie langweilig. Lisa ist dabei absolut im Vorteil. Sie kann mit ihren langen blonden Haaren herumwirbeln. Ja, ich habe dafür Locken. Aber keine, die fluffig fallen. Eher so Locken, die in die Höhe wachsen. Wenn ich nicht rechtzeitig zum Friseur gehe, sehe ich aus wie Struwwelpetra. Dafür kann ich die ganz gut mit Tüchern bändigen. Ich finde, das hat ein bisschen was wildes und ungezähmtes. Das gefällt mir.
Arne und ich haben uns auf einer Party kennen gelernt. Ich liebe Partys. Ich bin immer die, die nachts um drei in der Küche steht und einfach nicht nach Hause will. Ich liebe auch Nudelsalat mit Mayonnaise und tanze sogar zu 80er Jahre Deutschrock. Und ich liebe den Morgen danach. Ich habe mit Lisa beim Frühstück manchmal schon länger über die Party gequatscht, als die im Original gedauert hat. Der Morgen nach der Arne-Kennenlern-Party war etwas anders. Gegen halb drei in der Nacht stellte sich genau in der Partyküche heraus, dass er offenbar keine Schlammbowle verträgt. Kurz: Er war sternhagelvoll. Weil die Party bei mir um die Ecke war und alle Schlafplätze in der WG schon vergeben waren, habe ich ihn damals untergehakt und zu mir nach Hause dirigiert. Das mag auf den ersten Blick nach Abschleppen ausgesehen haben, war aber wirklich nur ein Akt der Nächstenliebe. Im Ernst: Arne war einfach eine Nummer zu groß für mich. Im wahrsten Sinne. Ich war nass geschwitzt, als ich ihn endlich in meinem kleinen Appartement hatte. Vor der Couch musste ich ihm nur einen kurzen Stupser versetzen und schon lag er schnarchend danieder. Was Arne bis heute nicht weiß: Ich habe in der Nacht Fotos von ihm gemacht. Habe sogar vorher seinen offenen Mund geschlossen und den Sabber abgewischt. Ich dachte, wenn man schon mal so ein Prachtexemplar an Land und aufs Sofa gezogen hat, kann man das auch für die Nachwelt festhalten.
Am nächsten Morgen, eigentlich gegen Mittag, ist Arne aufgestanden und einfach geblieben. Ich habe Kaffee gekocht, dann Frühstück gemacht. Irgendwann später auch Mittagessen (Spaghetti mit Thunfischsauce). Am Abend haben wir nebeneinander auf dem Sofa gesessen und uns quer durch alle Sender gezappt. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wann er wohl endlich wieder in sein eigenes Leben gehen wolle. Wollte er aber nicht. Am nächsten Tag hat er mich zum Eisessen eingeladen, und ich habe mich wie 14 gefühlt. Der erste Kuss schmeckte nach Stracciatella. Ich habe mittlerweile eine These, warum Arne mit mir zusammen ist:
> Ich habe ihn gemocht, als er völlig zerknautscht und mit Mundgeruch an meinem Küchentisch saß. Er hatte den Abdruck eines bestickten Kissens auf der Wange, eine Frisur, die aussah, als hätten Vögel darin gebrütet, und rote Augen. Ich fand ihn trotzdem süß.
> Ich klammere nicht. Ich brauche viel Freiheit und das gefällt ihm. Er hatte unzählige Freundinnen, die plötzlich auch einen Segel- und/oder Surfschein gemacht haben. Die bei Basketballspielen brüllend am Spielfeldrand gesessen haben. Freundinnen, die ihn überwachten und verfolgten wie einen Sexualtäter auf Freigang.
Ich werde den Teufel tun und sportliche Ambitionen, die ich nicht besitze, vor Arne ausleben. Natürlich bin ich auch eifersüchtig. Die Vorstellung, dass er an irgendeinem Strand mit Frauen abhängt, deren Neoprenanzug noch die Form der Brustwarze erkennen lässt, besorgt mich ein bisschen. Aber ich habe auch einen sehr gesunden Verdrängungsmechanismus. Falls ich Arne irgendwann un- oder zu leicht bekleidet mit einer anderen Frau vorfinde, werde ich mir DANN dazu Gedanken machen. Vorher nicht. Wir haben ein einziges Mal gemeinsamen Sport versucht. Arne hatte mich gefragt, ob ich Lust auf eine Radtour hätte. Hatte ich. Als er klingelte, hatte ich mein Hollandrad mit Drei-Gang-Schaltung schon vor die Tür gestellt. Er stand da mit Radlerhose (iiiiih), Helm, Handschuhen und einem Rennrad. Wir hatten uns gegenseitig angesehen und gelacht. Die Tour führte dann nur zur nächsten Eisdiele. Für mich ist es kein Problem, wenn er freitags ein Spiel hat und am Wochenende auf irgendeinem See Wasserski ausprobieren will. Ich habe gerne viel Zeit für mich. Ich würde jetzt gerne behaupten, dass ich dann Hermann Hesse oder Faust 1 und 2 lese. Das stimmt leider nicht. Ich lasse mich einfach gerne durch den Tag treiben. Dann habe ich plötzlich das dringende Verlangen, ein Lied von Silly zu hören, das auf irgendeiner selbst gebrannten CD aus dem letzten Jahrhundert ist. Die muss ich dann erst finden. Oder ich bepflanze alle Blumentöpfe auf meinem Balkon neu und kaufe kurzentschlossen noch ein paar Quadratmeter Kunstrasen dazu. Oder ich habe auf dem Sperrmüll einen tollen Holzstuhl gefunden, den ich noch abbeizen will. Oder ich telefoniere und überlege dabei, ob ich nicht eine Wand meines Zimmers mit gelber Farbe und Wischtechnik aufpeppen soll. Oder ich mache Listen. Das liebe ich. Ich schreibe auf, was ich nächste Woche alles erledigen will. Wen ich zu meiner nächsten Geburtstagsparty einlade. Wem ich unbedingt mal wieder mailen will. Was ich wem zu Weihnachten schenke. Ich liebe meine Listen. Ich mache auch immer kleine Symbole davor. Und wenn ich was erledigt habe, mache ich einen Haken rein. Das sieht so strukturiert aus. Ich habe einfach keine Zeit, Arne auf den Wecker zu fallen. Ich glaube, das gefällt ihm am besten.
Ich starre auf meine neuen Schuhe. Besonders zu dem Homer-Simpson-Schlafanzug sehen die braunen Monster albern aus. Die Verkäuferin hatte gesagt, ich müsse sie auf jeden Fall einlaufen, ehe ich damit auf den Berg ginge. Ich sitze sie jetzt erstmal ein. Vielleicht hilft das ja auch schon. Dass diese Schuhe einen schlanken Fuß machen, kann man auf jeden Fall nicht behaupten. Im Gegensatz zu den Riemchen-Sandalen, die Lisa sich am Nachmittag bei unserem ultimativen Urlaubs-Einkaufsbummel gekauft hat. Eigentlich würde ich jetzt lieber ihre neuen Errungenschaften in meinem Koffer wissen. Das kurze Blümchenkleid, die ärmellose Bluse und das große Tuch, das von Strandlaken bis zu Wickelkleid alles darstellen kann. Ich bin jetzt im Besitz von kackfarbenen Wanderschuhen und einer Trekkinghose im Gegenwert von anderthalb Friseurbesuchen.