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© 2013 Hartmut Geerken, Wartaweil 37, D-82211 Herrsching

2. Auflage

Umschlaggestaltung: Hartmut Geerken und Dr. Anton J. Kuchelmeister † unter Verwendung von Mynonas Unterschrift auf einem Brief an Herwarth Walden vom 16. September 1915 (Archiv der Akademie der Künste Berlin, Mynona Archiv, vormals Friedlaender/Mynona Archiv Geerken, FMAG). Gesetzt in Adobe Garamond Pro.

Layout und Formatierung: Barbara Bode, Arthur Bartl

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-7322-5835-2

Inhalt

Detlef Thiel

Die Hyperamerikanisierung Europas

  1. Entstehung, frühe Rezeption und zweite Auflage 1931
  2. Nachschlüssel
  3. Philosophische Strukturen
  4. Medientheorien, Literaturgeschichten, Verirrungen

’Tis true: there’s magic in the web of it.

Shakespeare: Othello, III 4

Philosophen, die Romane schreiben, ah, das ist doch was andres als die ewig graue Theorie .... Eco Sartre Laßwitz Fechner, F. H. Jacobi, die romanciers philosophes Voltaire Diderot Rousseau, der alte Apuleius, Der goldene Esel ... Seitdem vor 20 Jahren eine brave norwegische Philosophiegeschichte zum Bestseller ausposaunt wurde, floriert der Betrieb. Welche Personen und Probleme könnte man noch philoromantisieren? – „Im philosophischen Roman wird nicht philosophiert“, erklärte Hans Blumenberg, ebenfalls ein Meister des stilistischen crossover, in einer Betrachtung zu Melchior Vischers Miniaturroman Der Hase (1922); er hat auch Vischers Sekunde durch Hirn (1920) einige Seiten gewidmet.1 Er wußte wohl nicht, daß Vischer befreundet war mit Friedlaender/Mynona (im Folgenden: F/M), der die Unart hatte, in vordergründig nichtphilosophischen Texten erst recht zu philosophieren. Zu dieser Strategie paßt eine Notiz von Albert Camus (1972, 12; Januar 1936), die mehr ist als eine literarische Aufforderung: „Man denkt nur in Bildern. Wenn du Philosoph sein willst, schreib Romane.“

F/Ms „Unroman“ Die Bank der Spötter erschien 1920. Graue Magie will kein Schlüssel-, sondern ein Nachschlüssel-Roman sein. Doch im Fall F/M ist alles anders, als man auf Anhieb denkt. Gerade weil er so etwas wie einen Roman schreibt, versteckt er darin tiefe Weisheiten. Und weil die Leser sich oft einbilden, sie läsen einen Roman, überlesen sie diese Kristalle gern. Graue Magie ist ein Vernunftroman, ein Lehrstück in umgekehrter Philosophie. Den Text imprägnieren philosophische Argumente, Thesen, Spekulationen, aber sie bleiben verhüllt hinter ihren Bebilderungen, werden nur so weit vorgeführt, daß ihre Illustrationen plausibler erscheinen. F/M übertreibt die Bilder, versinnbildlicht die Abstraktionen.

Zwar erlebte das Buch 1931 eine zweite Auflage, aber erst mit dem von Sigrid Hauff 1989 herausgegebenen Nachdruck kam es zu intensiverer Rezeption, vor allem in den akademisch aufblühenden Kultur- und Medienwissenschaften. Das Ullstein-Taschenbuch von 1998 entsorgen Sie bitte im Papiercontainer, beim Neusatz unterliefen rund 300 Druckfehler!

1. Entstehung, frühe Rezeption und zweite Auflage 1931

Über die Genese ist wenig bekannt. Am 22. Mai 1921 entschuldigt sich F/M bei Emil Faktor, Chefredakteur des Berliner Börsen-Courier, dem er seit 1913 Dutzende Rezensionen geliefert hatte:

„Sehr verehrter Herr Doktor Faktor!

Misera conditio nostra: – ich bin kontraktlich verpflichtet, bis zu einem bestimmten Termin ein Buch zu schreiben. Dieser Frohndienst verhindert noch einige Wochen meine mir sonst so liebe Mitarbeit am Bücherkarren.“2

Welches Buch? Ein Jahr später, am 1. Mai 1922, antwortet Alfred Kubin auf eine nicht überlieferte Postkarte F/Ms etwas besorgt wegen ironischer Auskünfte:

„Mit der Nachricht daß Sie einen ,Roman’ unter der Feder haben brachten Sie meine Begierde nach demselben sehr in Wallung – nur die Worte, halb wegwerfend voll Ironie die Sie diesem Opus kurz auf der Postkarte weihen machen mich etwas bestürzt! Sie sollten ihn – – und tun das ja hoffentlich gewiß nicht! – nicht ,schmieren’ sondern so verfassen, daß Sie an Ihrem Werk dann später auch noch Vergnügen haben – Ein echter Mynona ist doch etwas, und ich beklagte es bei der ,Bank der Spötter’ schon wenn man an gewissen Stellen merkt es hat Sie die Arbeit wenig gefreut, während so Vieles wieder reich überströmt vom funkelnden Witz und schöner Dichtkunst bester Qualität. – –“

Einige Details in Graue Magie liefern weitere Anhaltspunkte für das Datum der Niederschrift. Etwa der Hinweis auf den Anfang April 1922 uraufgeführten Einsteinfilm. Oder die Bemerkung, ein Berliner Großkaufmann sei „neulich Minister geworden“: der „damalige deutsche Kultusminister, Herr von Mausenach“, das ist Walther Rathenau. Seit 1915 Präsident der von seinem Vater Emil gegründeten AEG, Organisator der wirtschaftlichen Kriegsführung, Kunstmäzen, Kulturschriftsteller, wurde er im Mai 1921 Wiederaufbauminister im Kabinett von Joseph Wirth, trat Ende Oktober zurück und übernahm am 31. Januar 1922 das Amt des Außenministers im Kabinett Wirth II. Er suchte die Forderungen des Versailler Vertrags zu erfüllen, was ihm von der Rechten böse Kritik und Bedrohungen eintrug. Am 24. Juni 1922, sechs Wochen nach dem Rapallo-Vertrag mit Rußland, wurde er in Berlin-Grunewald im offenen Auto erschossen. Dahinter stand die „Organisation Consul“, die im August 1921 Finanzminister Matthias Erzberger ermordet und am 4. Juni 1922 einen Blausäureanschlag auf Philipp Scheidemann verübt hatte. Ziel der Terrorakte war es, eine rechtsradikale Militärregierung durchzusetzen.

Olaf Meier (2001, 180 u. 191) meint, die von F/M erwähnten „feig meuchelmörderischen Wikinger“ (348) seien die Rathenau-Mörder Fischer und Kern. Robert Stockhammer (2000, 215) zufolge erwähnt F/M den Mord nicht, sonst wäre seine Kritik an Rathenau nicht so scharf ausgefallen.3 Wenn das stimmt, so war das Manuskript vor Ende Juni 1922 abgeschlossen. Am 28. August schreibt F/M an Friedrich Schulze-Maizier: „Hoffentlich kann ich Ihnen schon Weihnachten meinen neuen Roman geben: eine Kantiade. [...] Hoffentlich wird der Roman Ihnen besser (ob auch nicht fröhlicher) zusagen als die beiden Bändchen.“4 Um diese Zeit stand auch die Widmung fest, denn Ernst Marcus notiert am 6. September: „Ihre Romanwidmung muß ich natürlich als fait accompli nachträglich genehmigen. Das schulde ich Ihnen. Vorher hätte ich es nicht getan, weil es nach Reclame schmeckt.“

Am 30. September unterzeichnet F/M den Verlagsvertrag mit Rudolf Kaemmerer, Dresden, für George Grosz (vgl. GS 13, 25) – gab es bereits einen Vertrag für Graue Magie? Anfang November und im Dezember erscheinen in der Prager Presse und in Der Sturm drei Vorabdrucke: Der unsichtbare Sultan (eine Szene aus Kapitel 5), Das Sternfest (ein Stück aus dem Schlußkapitel) und Jour bei Settegals (das erste Viertel von Kapitel 7). Die drei Texte wurden für das Buch stark überarbeitet; im Sultan etwa ist ein Detail eingefügt, das die Prager Presse wohl gestrichen hätte: Einem Wirt wird mit Abschiebung in die Tschechoslowakei gedroht.5

Seit Ende 1922 hält sich F/M mehrere Wochen in Essen und Worpswede auf. Am 22. Dezember bittet er seine Frau: „sollte das Paket ,Graue Magie’ an Dich gelangen, so öffne es & schick mir sofort [...] zwei Bände als eingeschriebene Drucksache her!“ 27. Dezember, an Kubin: „Sie erhalten selbstverständlich, sobald sie erscheint, ,Graue Magie’ & ,George Grosz’.“ Am 4. Januar 1923, aus Worpswede, bittet er seinen Schwager und Gastgeber Salomon Samuel in Essen, vergessene Bücher nachzuschicken, darunter „Graue Magie (Korrekturen in Kartendeckel)“: „Sobald ,Graue Magie’ an mich gelangt sein wird, erhaltet Ihr Euer Exemplar.“ Dieses Widmungsexemplar ist erhalten (Abb. 4).

Das Buch erscheint laut einer Zeitungsmeldung (Rezension 1) Mitte Januar 1923 bei Kaemmerer in Dresden; Impressum: 1922; 374 Seiten mit sechs Zeichnungen von Lothar Homeyer, Preis 5,50 Mark. Die Halbleinen-Ausgabe mit Farbganzschnitt hat eine verkleinerte Wiedergabe der Frontispiz-Zeichnung als Deckelvignette;6 die kartonierte Ausgabe hat dieselbe Zeichnung auf gelbem bzw. grauem Schutzumschlag, mit den Zusätzen: „Nachschlüsselroman aus dem Berlin von 192...“ / „Ein Roman? Ein Film? Charlie Chaplin oder Jules Verne?“ (Abb. 3)

Lothar Homeyer (Berlin 1883-1969), Maler, Illustrator, Zeichenlehrer, Mitglied der Novembergruppe, war einer der ältesten Freunde F/Ms, 1911 sein Trauzeuge; er hatte an der Berliner Kunsthochschule studiert, am Stern’schen Konservatorium und bei Herwarth Walden (Klavier und Komposition). Er war befreundet mit Jakob Steinhardt und den Künstlern der „Pathetiker“, Ludwig Meidner und Richard Janthur sowie mit Ernst Krantz, der 1920 die Titelzeichnung zu F/Ms Schauernovelle Unterm Leichentuch anfertigte (GS 4). Homeyer arbeitete für Die Aktion, Der Sturm, Die schöne Rarität, Die Fackel, Der Einzige. Er lieferte die Titelzeichnungen zu F/Ms Groteskenbänden Rosa die schöne Schutzmannsfrau (1913) und Ich möchte bellen (1924; GS 8). In Graue Magie taucht er am Rande auf als „Stefan Hollo“. Er blieb mit F/M in Kontakt; am 23. Juni 1946 berichtet er ihm in einem langen Brief von der Zerstörung seines Ateliers. Im Alter erblindete er; sein Grab liegt im Waldfriedhof Zehlendorf.

John Heartfields Entwurf für einen Schutzumschlag wird in der Literatur mehrfach erwähnt: „Mynona / Graue Magie / Ein Zukunftsroman“.7 Das half, das Buch vor dem Vergessen zu bewahren. Jan Tschichold (1928, 93 u. 228), Typograph, lobt den „Monteurdada“, den meistgehaßten Künstler der Weimarer Republik: „Er ist der Erfinder des Photomontage-Einbandes.“ Andererseits konnte F/M durch diesen Zusammenhang in falsches Licht geraten. Heartfield, der einen Tag nach Gründung der KPD (1. Januar 1919) beitrat und bis zu seinem Tod 1968 überzeugter Kommunist blieb, stand in keiner näheren Verbindung mit F/M; dieser hat Marxismus, Kommunismus, Sozialismus stets vehement abgelehnt. Anlaß und Kontext jenes Entwurfs sind unbekannt; für die Erstausgabe kann er nicht geplant gewesen sein, denn Andrés Zervigón (2009, 60 f.) fand heraus, daß Heartfield ein Filmstill aus Arnold Fancks Stummfilm Der heilige Berg verwendete: „eine traumhafte Vision der tanzenden Leni Riefenstahl, eine für Mensch und Tier gleichermaßen begehrenswerte Erscheinung.“

Riefenstahl (1987, 73-95) erwähnt, daß Fanck das Drehbuch eigens für sie geschrieben habe, erzählt von den Dreharbeiten und Liebesgeschichten mit Fanck und dem Darsteller Luis Trenker, Winter 1924/25 bis Winter 1925/26, und von der erfolgreichen Premiere am 14. Dezember 1926 im UFA-Palast am Zoo. Fanck hatte seit 1919 erfolgreich heroische Bergfilme produziert, fünfmal war die Riefenstahl der Star; 1932 trennten sie sich, Fanck geriet in Vergessenheit, Riefenstahl drehte in eigener Regie. In jenem Film spielt sie die Tänzerin Diotima, das ungezähmte Mädchen, umworben von einem Bergsteiger, der sie, so Susan Sontag (1974, 99), zu „den reinigenden Ekstasen des Alpinismus bekehrt“, zum Streben nach einem so schönen wie furchterregenden hohen, mythischen Ziel – das sich dann im Führerkult konkretisieren sollte.

Heartfield kann sich auf ein wichtiges Detail im Buch bezogen haben, auf die Urszene, den Ursprung der Schärpe in einem Nackttanz. Wenn der Entwurf für die zweite Auflage vorgesehen war, so kann er frühestens 1929 entstanden sein (vgl. unten); er wurde jedoch nie als Schutzumschlag verwendet, weil das Buch einen anderen Titel bekam.

F/M aus Frankfurt an seine Frau, 8. Februar 1923: „Meine Graue Magie wird hier, wie mir ein Buchhändler sagte, viel gekauft.“ Seinem Schwager Salomon Samuel meldet er am 14. Mai: „Im holländischen Telegraph langer Artikel über graue Magie.“ An seine Schwester Anna, 4. Juli:

„Immerhin sind alle Provinzblätter, charakteristischerweise nicht die führenden großen, voll Lobes über die Graue Magie. Sogar in Holland ist ein großer Artikel darüber erschienen. Auch in Wien und Prag ist man aufmerksam, und letzthin auch in Amerika, wo ich bereits einen sehr interessanten Korrespondenten habe. –“8

Die Rezensenten beginnen schon damit, einzelne Personennamen zu entschlüsseln. Richard Euringer, aktiver Nazi, liefert einen sprachlich bemerkenswerten Kommentar (Rezension 3). Friedrich Schulze-Maizier fixiert, wie andere Kritiker, den eher vordergründigen Gegensatz: „geistlose Tatkraft und machtlose Geistigkeit“ (Rezension 4). Albert Ludwig, Literaturhistoriker, fällt ein ambivalentes Urteil (Rezension 8); ein Jahr später erwähnt er das Buch in einer Glosse zur Golem-Figur bei Jakob Grimm, der Droste, Rathenau, Holitscher u. a. Er notiert eine Verschiebung der Akzente:

„jetzt tritt als charakteristisch hervor, daß der Golem nach dem Willen eines anderen sich bewegt, Geschöpf eines eigennützigen Schöpfers ist. So will in Mynonas ,Grauer Magie’ (1922) der Doktor Sucram die ,menschliche Maschine’ eines anderen ,gern zu seinem Golem’ machen; so wird in viel umfassenderer Weise in Wassermanns ,Christian Wahnschaffe’ (1919), also einem bezeichnenden Roman unserer Zeit, ein Menschenschicksal auf diesem Symbol aufgebaut.“9

Der mit F/M und Segal befreundete Kunstkritiker und Architekt Adolf Behne (1925) erläutert in einem Aufsatz seine These: Form bedeute Dekoration, diese aber Chaos; umfassende Ordnung des Ganzen entstehe aus Formlosigkeit; das Prinzip der Gestaltung sei „interformal“, antiromantisch. In der europäischen Kunst revolutioniere sich seit 1900 die Funktion; angestrebt werde kein neuer Stil, sondern eine „prinzipiell neue Stellung der Kunst innerhalb der menschlichen Gemeinschaft“ (ebd. 11 f.). Phasen des Umsturzes: Van Goghs „seelische Aktivierung des Bildes“; Kandinskys Abstraktion als letzte Konsequenz daraus; Cézannes Analyse der Relationen im Raum, die den Gegenstand als ein „System von Quanten und Proportionen enthüllte“ (ebd. 14); die Kubisten, die das Problem der Bild-Materialität anpackten. In der Krisis des Bildes entwinde sich die Kunst der angewandten Ästhetik; sie werde Gestaltung, Architektur, politisch. In El Lissitzkys Konstruktivismus, Mondrians Neo-Plastizismus, Schwitters’ Merz treten Relation und Proportion an die Stelle von naturalistischer Figur und idealistischer Form. Behne zieht Parallelen zu „den neuen wissenschaftlichen Gedanken“: Quanten-, Relativitäts-, Gestalttheorie (Wertheimer), Geopolitik (Kjellén), F/Ms Schöpferische Indifferenz. Aber das Publikum sperre sich:

„Es ist wirklich verwunderlich, wie romantisch selbst der radikale Politiker, Wissenschaftler, Techniker als ,Kunstfreund’ ist. Die Kunst soll und muß für ihn dumm bleiben. Ihm sagt S. Friedlaender: ,Auch dir gelingt es nicht, den Grundirrtum zu durchschauen, als rühre nicht auch die Kunst von der größten, einsichtigsten, klarsten Künstlerin her – das ist die Vernunft’.“10

Im April 1926 erinnert F/M an Kurd Laßwitz’ science fiction-Klassiker Auf zwei Planeten (1897). In dieser Marsphantasie sei die naturwissenschaftliche Aufklärung mit der sittlichen, der kantischen vereinigt. Leider nutze Laßwitz’ „moralisch-politische Allegorie“ nicht Kants Weltäthertheorie; die Kant-Gesellschaft habe das Opus postumum immer noch nicht korrekt ediert; in Mynonas Graue Magie finde man die Theorie illustriert (GS 3, 759 f.).

Der Hinweis hatte praktische Zwecke; zum 10. April 1929 klagt F/M bei Kubin: „auch Graue Magie verlegerlos“. Doch wenig später knüpft Paul Steegemann wieder Kontakt an. Er hatte 1920 in seiner berühmten Reihe Die Silbergäule F/Ms Unterm Leichentuch gedruckt und 1924 den Kant für Kinder. Nun gewinnt er F/M für eine Parodie auf Remarque (GS 11). Der Publizist Eberhard Buchner, der im November 1928 die Graue Magie erwähnt hatte (Rezension 10), gibt F/M am 2. November 1929 zu bedenken:

„Daß die ,Graue Magie’ den marktschreierischen Titel ,Die Geheimnisse von Berlin’ erhalten soll, tut mir an sich leid, aber schließlich ist ja jedes Mittel zu begrüßen, das diesem starken Werk zum Erfolg hilft. Ich singe ihm, wohin ich komme, stets ein Loblied und werde mir das auch künftig nicht abgewöhnen ...“

Der Buchtitel war wirklich nicht neu.11 Die Drucklegung zieht sich hin. F/M an Emil Tuchmann, 12. November 1929: „Übrigens äußerte sich St. [Steegemann] mir gegenüber, daß Antifreud und Graue Magie erst Ostern 30 erscheinen sollen.“ Anfang 1930 wird an einer Replik auf Kurt Tucholskys Verunglimpfung gearbeitet; auch das verzögert sich bis Juni 1931; die geplante Neuauflage der Bank der Spötter kommt nicht zustande.12 F/M an Steegemann, 23. März 1930: „Aber: – können Sie denn nun zu Ostern Antifreud und Berl. Geheimnisse (mein Explr. Graue Magie entbehre ich schmerzlichst) richtig herausbringen???“13 Erst am 10. Juli 1931 kann F/M seiner Frau melden: „Mein Roman ,Graue Magie’ ist unter dem Titel ,Berliner Geheimnisse’ neu erschienen.“14 Die Zweitauflage hat wenig Glück gehabt. Bruno Kirschner notiert in einem kritischen Nachbericht zum Jüdischen Lexikon:

Marcus, Ernst – dieser Altkantianer bezw. Kant-Analogist hätte wegen seiner Theorie der ,natürlichen Magie’ (das Denken nicht nur als Kategorie, sondern als schöpferisches Prinzip) und seiner Auseinandersetzung mit Einsteins Theorie wohl etwas eingehender behandelt werden können. Auch fehlt Literatur über ihn (vgl. auch F-Ms ,Graue Magie’).“15

Erneut dient die Golemfigur als Interpretationsmuster. Beate Rosenfeld (1934, 173 f.) bemerkt in ihrer Breslauer Dissertation, die „Vorstellung vom Golem als einem willenlosen Werkzeug seines Herrn“ sei bei F/M ganz deutlich. Er hebe das „Moment des Ungeistigen, Seelenlosen, rein Animalischen des Golem gegenüber der geistigen und beherrschenden Macht des Meisters“ hervor; auch klinge das Motiv des Golemaufstandes an, wenn der Beherrscher den Golem als Maschine, Automat, Tier bändigen und überwachen muß, um nicht zerrissen zu werden.16

In einem linientreuen Aufsatz will Karl Kindt 1935 nachweisen, warum Meister Eckhart sich für die Zwecke des „jungen Deutschland“ gar nicht eigne. Er sei stark vom „jüdischen Denken“ beeinflußt, übernehme von Maimonides das Verfahren der allegorischen Bibelauslegung: unter dem wörtlichen schlummere ein geheimer Sinn. Die Allegorese scheine „dem jüdischen Volkscharakter mit seiner Vorliebe für alles Doppeldeutige und Okkulte“ besonders angemessen zu sein. Kindt giftet weiter: „Diese Neigung läßt sich in ihren ,säkularen’ Ausstrahlungen verfolgen bis hinein in die Propagandamethoden der jüdischen Journaille. Auch ein Buch wie Mynona’s (= Anonym! = Salomon Friedlaender) Schlüsselroman ,Graue Magie’ [...] legt davon beredtes Zeugnis ab.“17 Luther habe nicht nur die „Judenfrage“ klar gesehen, sondern auch „den schlichten Schriftsinn“ wieder zu Ehren gebracht.

Im Oktober 1933 muß F/M fliehen; in Paris erhält er von Doris Hahn am 15. April 1935 die Nachricht, daß die Liquidation des Steegemann-Verlages wohl bis zum 1. Juli hinausgeschoben werde:

„Jene Stelle, die Ihnen die Formulare wegen des Sperrmarkkontos schickte, soll Ihnen die Exemplare des Kantfürkinder zur Verfügung stellen! Bitte, schreiben Sie ihr das. Ich habe mit den Leuten nichts zu tun, und wünsche auch nicht, mit ihnen was zu tun zu haben. Schreiben Sie dabei, Sie würden auch Rohexemplare, die rohen Bogen annehmen. Es müssen noch welche da sein, und wenn Sie Wert auf die graue Magie legen und das Eisenbahnglück – fordern Sie die auch ruhig an.“

Gustav Steinschneider schreibt seinem Freund, „dem Schöpfer Mynona“, im zweiten Halbjahr 1937: „Seine graue Magie übte sich mit unveraltetem Nachdruck auf uns aus; gab es je ein Heimweh, so erweckte es ihre echte Empfindsamkeit.“

Als F/M erfuhr, daß René Schickele, der sich seit 1904 oft für ihn eingesetzt hatte, im Beratenden Komitee der „Forum-Bücher“ tätig war, fragte er am 19. Juni 1939 nach, ob man an seinen Sachen, darunter Graue Magie, interessiert sei.18

Aus dem Jahr 1954 datiert ein Blatt von Alfred Kubin: „Schwarze Magie“, beschriftet im Bild unten: „Pakistanischer Winkel“, eigenhändig bezeichnet am Unterrand: „(Schwarze Magie) / (Fortsetzung von Mynonas grauer Magie)“.19

2. Nachschlüssel

F/M liefert ein komplexes Kapitel Kulturgeschichte auf mindestens zwei Ebenen. Zunächst als Lokalgeschichte. Die rasend expandierende Großstadt Berlin, in der er von 1902 bis 1933 lebte und deren Tag- und Nachtseiten er kannte, porträtiert er so präzise wie Joyce, der nur wenig früher sein Dublin beschrieb.20 Fast alle genannten Straßen gibt es wirklich; die „Heiligengeiststraße“ heißt heute Heiligegeistgasse,21 der Reichskanzlerplatz Theodor-Heuß-Platz. Eine Präsident Ebert-Moschee hat Berlin, soweit wir wissen, bis heute nicht, auch noch keine Mynona-Allee .... „In diesen Tagen“ wurde ein neuer Reichspräsident gewählt (307). Das ist als Hinweis auf das Datum der Niederschrift zu vage, Friedrich Ebert amtierte 1919-25. Auch spricht F/M von einer Reichspräsidentin, die sich im Luftklettern übte (84) .... Die politischen Thesen verdienen genauere Aufmerksamkeit, Stichworte: Kapitalismus (Stinnes, Rathenau, Bohlen-Halbach), Kommunismus, Gemeinwohl, Utilitarismus, Antisemitismus, Zionismus usw. Dazu fallen zahlreiche Bemerkungen über die Eigenarten der Berliner, inklusive lokaler Redensarten (78). Die erzählte Zeit erstreckt sich vom Sommer bis 1. November.

Die zweite Ebene bilden die von F/M porträtierten Zeitgenossen. Ihre Namen sind aus Vorsichtsgründen verschlüsselt, teils nach phonetischen Assoziationen, teils nach dem Prinzip der Umkehrung. In zwei Szenen häufen sie sich (136, 155 ff.). Die Hauptfiguren seien hier vorgestellt.

1) Dr. Ernest Sucram – Ernst Marcus (1856-1928); Amtsrichter in Essen, autodidaktischer Kantianer, seit 1900 F/Ms wichtigster Gesprächspartner. Als Sucram agiert er in Der antibabylonische Turm (1932; GS 13) und in Kant und die sieben Narren (1934; GS 6).

2) Morvitius – Die Erklärung des Namens wird einem Alfred Müller-Schulze in den Mund gelegt (108; vgl. oben: Kerr): mors + vita, „Totleben“. Als Chef eines schier unermeßlichen Konzerns ähnelt er einem Alfred Hugenberg.

3) Agnes Schiller – von ihrer Schwester Tilde heißt es, sie sei verheiratet mit Dr. Orest Amsel. Das ist das Anagramm eines Anagramms: Ernst Samuel (Kulm bei Danzig 1878 - Carpentras, Vaucluse 1943) nannte sich Anselm Ruest. Er war F/Ms Vetter und Schwager, Schriftsteller, Kritiker, Philosoph nach Stirner und Bahnsen, tatsächlich auch Graphologe (vgl. 135); verheiratet mit Herta Schüler (?-1965), ihre Schwester hieß Hilde. F/M macht also aus Schüler Schiller und vertauscht die beiden Schwestern. Orest und Tilde haben einen Sohn, Sylvius – Ruest und seine Frau Herta bekamen erst 1925 einen Sohn, Frank; er wurde 1944 mit einer Gruppe der Résistance standrechtlich von Deutschen erschossen. Orest Amsel tritt bei F/M nochmals auf in Der antibabylonische Turm. Agnes wird einmal Sucrams „weibliches Duplikat“ genannt (313) und damit ihrer Eigenständigkeit beraubt. Aber ohne sie hätte Sucram seine entscheidende Erfindung nicht machen können. Diese notwendige Kraft des weiblichen Ferments ignoriert Friedrich Kittler, wenn er sagt, F/Ms Roman prophezeie „als technische Zukunft die Verwandlung von Frauen in Filmzelluloid (und nebenbei die der Männer in Schreibmaschinen)“.22

4) Richard Bosemann – „ein leidlich anständiger Bürger“ aus altberlinisch reputabler Familie (108), „phlegmatisch“ (124), taugt „nicht von fern zum Kriminalromanhelden“ (75, 117); er ist kein „Karl Mayscher Romanheld“. Gewiß nicht, Mynona ist ja auch nicht Karl May, über den er sich lustig macht.23 Niels Werber (2005, 55) hat vorgeschlagen, in Richard Bosemann Richard A. Bermann zu sehen, der unter dem Namen Arnold Höllriegel publizierte.24 In dessen Roman Die Films der Prinzessin Fantoche (1921) geht es um einen verabredeten Banküberfall, der, gefilmt, zum Kinoerfolg wird. So nahe das F/Ms Roman kommt, so unwahrscheinlich bleibt die Zuschreibung, denn Bermann begegnet bei F/M nur einmal: Im Frühjahr 1938 über die Tschechoslowakei und London in die USA geflohen, arbeitete er für Hubertus v. Loewenstein und die American Guild; er lehnte F/Ms für ein Preisausschreiben eingereichte Autobiographische Skizze ab (vgl. GS 18), erlag am 9. September 1939 einem Herzinfarkt. In einem frühen Feuilleton, 1910, berichtet er distanziert-amüsiert über einen Abend im Neopathetischen Cabaret (ohne F/M); im Mai 1914 über den plastischen Film Fantomo.25

5) Friedrich Salomon – „Humorist“ und, nach eigener Einschätzung, Philosoph (159). Der Autor tritt in eigener Person und Beschreibung auf.26 Er begegnet auch als „Neoklassiker“ Mynona.

6) Settegal – homophon zu „c’est égal“: Arthur Segal (Jassy, Rumänien 1875 - London 1944); Maler, Kunstpädagoge, 1910 Mitbegründer der „Neuen Sezession“, Ausstellungen mit der „Neuen Kunstgemeinschaft München“ (Marc, Kandinsky, Macke u. a.); 1912 Ausstellungen im „Sturm“. F/M erwähnt Segal erstmals im Juli 1914 (Postkarte), seitdem korrespondieren beide intensiv bis Mai 1922. Im September 1914 zieht Segal mit seiner Familie nach Ascona (Monte Verità), lebt in der Schweiz als politischer Flüchtling. Nach neo-impressionistischen, pointillistischen und expressionistischen Phasen realisiert er eine Philosophie der Gleichheit bildnerisch als Gleichwertigkeit: Verzicht auf Wertung und kompositorische Dominanten; Darstellung von Alltagsgegenständen. Kunst soll an die Gesetzmäßigkeit der Natur gebunden sein, nicht l’art pour l’art.27 Um 1917 entstehen die ersten ,Rasterbilder’: aufgeteilt in Felder wie comic strips, wird der Rahmen mit einbezogen. Kritiker nennen die Werke „extravagant, aber gekonnt“, würdigen die Farben. „Wie sein Sohn Walter berichtet, kaufte Segal ein 10 Zentimeter großes Prisma, wohl angeregt durch Mynona und dessen Beschäftigung mit Goethes Farbenlehre, und experimentierte damit: Es entstehen stark primärfarbige Bilder mit den Regenbogen-Konturen.“ (Herzogenrath 1987, 17)

Segal versucht vergebens eine Malschule zu gründen. Im Februar 1920 kann er nach Berlin zurückkehren, zieht im Juni in die Dernburgstraße 52; seine Frau Ernestine führt die Kunstschule, organisiert Vorträge, Rundfunkauftritte usw. Segal wird Vorstandsmitglied der Novembergruppe und führt seine schon 1905/06 (Manifest An das Publikum) geäußerte Idee eines Kunstverleihs weiter; vor allem lädt er seit etwa 1920 bis mindestens 1930 seinen weltweiten Bekanntenkreis monatlich zu einem jour fixe. Im 7. Kapitel gibt F/M die ausführlichste und, bis auf die phantastischen Elemente, wohl authentische Beschreibung eines solchen Abends.28 Sein Buch über Grosz (1922; GS 13) ist sinnigerweise Segal gewidmet. In der Korrespondenz ist seit Februar 1922 oft von Gleichwertigkeit die Rede. Wie im Roman kritisiert F/M das Konzept scharf – ein weiterer Hinweis auf das Datum der Niederschrift. Drastisch im Brief vom 2. März 1922:

„Sie brauchen dem Autor der schöpferischen Indifferenz keine Inklusivität zu predigen; hingegen lehnt dieser Autor die Unartikuliertheit Ihrer Inklusivität ab. Wer Wahrheit mit Irrtum gleichwertet, den bewiesenen mit dem widerlegten Kant, Wem Alles egal ist, der ist ein Riese nicht an Güte, aber an Konfusion. [...] Wir lieben auch den Kot, den Irrtum. Wir lieben das Negieren so sehr wie das Ponieren. Gerade der liebende Gleichwerter soll und kann der Entscheidende sein, der die Vorzeichen minus und plus (– & +) richtig hinsetzt, um das Gleichgewicht der Welt herzustellen, ihr echter Waghalter zu sein. Dann kann er wahrhaft lachen, sonst lacht er nur stuhldranghaft wie der Diarrhömensch auf der Klosettbrille. Scheiße ist gewiß so liebenswürdig wie der Leib eines jungen Mädchens, worin sie ja auch enthalten ist. Werte ich Beides gleich, so muß ich diese Gleichwertigkeit polar unterscheidend funktionieren lassen; oder ich erhalte nur Scheiße, nie ein junges Mädchen. [...]“

Settegal „wirkte wie ein Vollmond“ (232) – die Bemerkung malt F/M in der Groteske Mond- und Eifersucht aus (1928; GS 8, 259 ff.). Er würdigt den Freund 1923 in einem Essay anläßlich der Großen Berliner Kunstausstellung am Lehrter Bahnhof; dieser revanchiert sich mit einem Aufsatz.29 Beide beteiligen sich 1924 an der Mappe Acht Stunden.30 Segal stellt auch in Den Haag, Tokyo, Los Angeles aus, im Juli 1933 emigriert er nach Mallorca, Oktober 1936 London, bleibt in Korrespondenz mit F/M; die Londoner Malschule besteht bis 1977.

7) Violinist Sayad – August Ernst Söndlin (Berlin 1883 - Hamilton OH 1966), Duzfreund F/Ms, Kgl. Kammermusiker (Geiger) an der Berliner Oper, seit 1924 im Cincinnati Symphony Orchestra; blieb mit F/M in Korrespondenz. Seine Frau Karin Dayas-Söndlin (Helsingfors, Finnland 1892 - Hamilton 1971), Pianistin, Tochter des Liszt-Schülers William Humphrey Dayas, war bekannt als Interpretin avantgardistischer Musik

8) Luigi Saphir – Ludwig Rubiner (Berlin 1881 - ebd. 27. Feb. 1920); seit 1906 Duzfreund F/Ms, engagiert in der Freien Studentenschaft, schreibt ab 1904 Gedichte, Kritiken, Essays, das Textbuch für Waldens Oper Der Nachtwächter (1906), den Kriminalroman Die indischen Opale (1910, Pseudonym Ernst Ludwig Grombeck); übersetzt Tolstoj und Voltaire, 1911-18 Mitarbeiter der Aktion. Lebt zeitweise in Paris, seit 1917 in Zürich, Herausgeber des Zeit-Echo; 1919 Lektor bei Kiepenheuer in Berlin; ediert die Anthologien Kameraden der Menschheit. Dichtungen zur Weltrevolution und Die Gemeinschaft. Dokumente der geistigen Weltwende; gründet mit Arthur Holitscher, Rudolf Leonhard, Franz Jung und Alfons Goldschmidt den „Bund Proletarischer Kultur“; Theateraufführungen in Fabriken und Industriekreisen. Die von Rubiner, Friedrich Eisenlohr und Livingstone Hahn verfaßten Kriminalsonette (1913) regen F/M zu Hundert Bonbons an, er lobt Rubiners Beitrag zu Hillers erstem Ziel-Jahrbuch.

9) Hilberle – Ludwig Karl Hilberseimer (Karlsruhe 1885 - Chicago 1967); freier Architekt in Berlin, Mitglied der Novembergruppe, seit 1928 Lehrer am Bauhaus; seit 1938 Prof. f. Städtebau u. Regionalplanung in Chicago; in den 1960er Jahren Zusammenarbeit mit Mies van der Rohe. Er schrieb Bücher über Architektur und Städtebau, seit 1919 mindestens acht Beiträge zu F/M (Sozialistische Monatshefte u. a.); dieser läßt ihn in Grotesken auftreten.31

10) Kuno Hylk – Kurt Hiller (Berlin 1885 - Hamburg 1972); Jurist, Publizist, Mitbegründer des Neuen Club, einer Keimzelle des Expressionismus; plant den „Aufbau einer Republik des Friedens, der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit, des Geistes“, organisiert den „Aktivistenbund“, den „Rat geistiger Arbeiter“ (Ende 1918), den Aktivistenkongreß in Berlin (Mitte 1919). Über diesen Ansatz, mit einer Vereinsgründung zu beginnen, amüsiert sich F/M bereits 1916 in seiner Rezension zum ersten Band des Ziel-Jahrbuchs (GS 2, 476 ff.); in Graue Magie nimmt er mehrfach die „Aktivisten“ aufs Korn. Gleichwohl führt er mit Hiller die längste Korrespondenz (1911-46, mit Pausen); seit 1940 diskutieren sie intensiv, wie aus Deutschland ein Rechtsstaat zu machen sei.

11) Bessie Knerb – Bess Brenk Kalischer (Betty Levy; Rostock 1878 - Berlin 1933); absolviert ein Lehrerinnenseminar, studiert ein wenig Philosophie, heiratet 1906 den Schriftsteller Siegmund Kalischer (1880-1911); Rezitatorin, seit 1913 literarisch tätig, KPD-Sympathisantin; um 1917 Mitbegründerin der Expressionistischen Arbeitsgemeinschaft in Dresden-Hellerau; veröffentlicht den Band Dichtung (Dresden 1917), gründet mit Berta Lask, Witwe des 1915 gefallenen Philosophen Emil Lask, 1920 in Berlin den „Verband proletarischer Schriftsteller“. Befreundet mit F/M, erwähnt ihn in ihrem Roman Die Mühle, gehört 1931 zu den Unterzeichnern der öffentlichen Gratulation.32 Sie tritt in den Grotesken Kaffee und Der Prahlhans auf (1921/22). Ihr Bruder, der Sprachforscher Ernst Levy, korrespondiert bis 1946 mit F/M.

12) Dodo Würdig – Otto Freundlich (Stolp, Pommern 1878 - KZ Majdanek 1943); Maler, Graphiker, Bildhauer, Kunsttheoretiker; Vetter von F/Ms Freundin Ida Lublinski (Schwester Samuel Lublinskis) und von Einsteins Mitarbeiter Erwin Finlay Freundlich, der in Graue Magie „Edwin Feindlich“ heißt. Freundlich hatte 1904 bei Walden Musiktheorie und 1907/08 mit Homeyer studiert, kannte Rubiner.33 Mit Raoul Hausmann besucht er im Juni 1916 Marcus in Essen, liest das Manuskript über die Exzentrische Empfindung, weist in Aufsätzen darauf hin. Er studiert auch Kant, will aber die Ethik nicht mittels des Kategorischen Imperativs an die Welt zurückbinden, sondern kosmisch verankern; statt reiner Vernunft fordert er eine „optische Moral“. Nach der Revolution 1918 distanziert er sich von Kant, wendet sich mystischen Traditionen zu, propagiert einen „kosmischen Kommunismus“, von dem der ökonomische nur ein Teil sei. So hält er am 2. März 1921 im Graphischen Kabinett I. B. Neumann den Vortrag „Die Verwandlung der sichtbaren Welt“. Einige Passagen in seinen Texten kommen dem nahe, was Dodo Würdig bei Settegal weinend vorträgt.34 F/M im zitierten Brief vom 2. März 1922 an Segal: „Bewahre mich der Himmel vor Konfusion mit Ottoto.“ Im Herbst 1924 zieht Freundlich wieder nach Paris, bleibt in Kontakt mit F/M.

13) Lemmis – Ernst Simmel (Breslau 1882 - Los Angeles 1947); arbeitet seit 1908 in der Sozialmedizin, Mitbegründer des Sozialdemokratischen Ärztevereins in Berlin, Militärarzt; seine Schrift Kriegsneurosen und „Psychisches Trauma“ (1918) findet das Interesse Freuds, der ihm eine Lehranalyse bei Karl Abraham empfiehlt. Simmel lehrt seit 1920 an der ersten psychoanalytischen Poliklinik und Lehranstalt in Berlin; Vorsitzender des Vereins Sozialistischer Ärzte, 1926-30 Präsident der deutschen Psychoanalytischen Vereinigung; eröffnet 1927 das Sanatorium Schloß Tegel (1931 geschlossen). Er emigriert 1933 in die USA, wo Horkheimer und Adorno seine Vorlesungen hören.35 – F/M, dessen Ehe durch seine „vulgovagischen“ Exkursionen belastet war, ermahnt seine Gattin Marie Luise am 16. August 1920: „Versprich mir, Dich von Michaelis oder Simmel psychiatrisch behandeln zu lassen, damit ein friedliches Zusammenleben möglich werde!“36

In ihrer Studie zur Psychoanalyse in der Weimarer Republik notiert Veronika Fuechtner (2011, 28): „By all accounts, Simmel was a charismatic and social person, and he even makes a brief literary appearance as a party guest in Mynona’s Berlin novel Grey Magic.“ Sie knüpft eine Verbindung zu Georg Groddecks satirischem Roman Der Seelensucher (1921):

The Soul Searcher was a sensation in Berlin literary circles, and its themes remerged in other works such as Mynona’s 1922 Grey Magic. The latter, jokingly labeled a ,roman à skeleton key’ [Nachschlüsselroman], presents a philosophical-phantastical tour de force through Berlin in which Ernst Simmel cameos as a party guest.“ (Fuechtner ebd. 70)

Groddeck, Psychosomatiker, Nietzscheaner, gehört zu den Inspiratoren von Freuds Begriff des ,Es’, die man bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückverfolgen kann. Freud mochte den Roman auch, weil er das Unbewußte plausibel macht. Dieses lehnt F/M ebenso ab wie das Es; ob in seiner „psychoanalytic fiction“ Groddecksche Themen wiederauftauchen – oder umgekehrt mynonische Themen bei Groddeck, scheint zweifelhaft. In Stil und Art des Humors divergieren Der Seelensucher und F/Ms Grotesken allzu stark. Aber Ernst Simmel war oft bei Groddeck zu Gast. –

14) Luigi Hartwich – Ludwig Hardt (Neustadtgödens, Ostfriesland 1886 - New York 1947); seit 1905 gefeierter Rezitator; nimmt 1919 Grotesken von F/M in sein Programm auf (vgl. GS 7, 33 ff.).

15) Alfred Müller-Schulze – Alfred Kerr, einflußreicher Kritiker jener Jahre. F/M hatte sich mehrfach zu ihm geäußert, die „graziöse Originalität“ des Stils betont: „Harfe zugleich und Schleuder“.37 Doch als Kerr in den Einstein-Rummel einstimmte – „Alles ist relativ!“ –, erntet er nur noch F/Ms Spott: „Wahrscheinlich ist Einstein der Allah der Physik, und Mohamed Kerr sein Prophet?“ (GS 11, 192) Letzterer emigriert 1933 nach Paris, dann England; kurz nach Rückkehr begeht er in Hamburg 1948 Selbstmord. Am 9. April 1945 erkundigt sich F/M bei Kurt Hiller nach ihm: „Ich lernte ihn erst hier in Paris persönlich kennen.“ – Die Kerr-Stilparodie (108 f.) enthält Leitbegriffe des ganzen Buches.

16) Theo Tonner – Theodor Däubler (Triest 1876 - St. Blasien, Schwarzwald 1934); Lyriker, Erzähler, Essayist, Kunstkritiker; führt lange ein mediterranes Wanderleben. Er war mit F/M befreundet, der hier auf Däublers Leibesumfang anspielt; Lothar Schreyer (1948) erzählt eine Anekdote von beiden aus dem Jahr 1922 (GS 18). Womöglich hat F/M im Roman auch Däublers Muse versteckt: Toni Sussmann (1884-1967), seit 1921 Schülerin C. G. Jungs, Psychoanalytikerin in Berlin. Im Januar 1930 dankt F/M für eine Einladung; Sussmann besuchte ihn noch am 10. Oktober 1933, sechs Tage vor seiner Flucht nach Paris.

17) Hetta Dünneke – vielleicht Doris Hahn (Dorothea Sunderhoff, Wörlitz bei Dessau 1895 - Berlin 1973); studiert um 1913 an der Kunstgewerbeschule Bremen bei Otto Modersohn, heiratet, zieht um 1915 nach Berlin. Ihr Mann galt als im Krieg verschollen, sie wird um 1917 bekannt mit Gottfried Benn und mit F/M, lebt seit 1930 mit Steegemanns Lektor Karl Schodder, korrespondiert intensiv mit F/M im Exil. Die von ihr aufbewahrten Materialien bilden 1972 den Grundstock des F/M-Archivs der AKB.

Soweit F/Ms Freunde und Bekannte; weitere Personen sind im Namensverzeichnis aufgeschlüsselt. Freilich trägt er auch hier Sottisen auf Prominente vor: Hauptmann, Einstein, Ewers, Hans Blüher.38

3. Philosophische Strukturen

F/M legt drei philosophische Motive zugrunde, die Marcus entwikkelt und gerade zu der Zeit miteinander verknüpft hatte, als Graue Magie entstand: eine Lösung des Problems der Exzentrischen Empfindung, eine aus Kants Opus postumum gewonnene Äthertheorie und eine Theorie der natürlichen Magie. Dieser Komplex ist bislang noch niemals genauer betrachtet worden; in der spärlichen Literatur hat man ihn nur verkürzt, verzerrt, verlacht.39

a) Das Problem der exzentrischen Empfindung zieht sich als roter Faden durch Marcus’ Werk. Er sei am 7. März 1892 darauf gestoßen (Marcus 1918, 6). Wie ist es möglich, daß wir Wahrnehmungen von Objekten außerhalb unseres Leibes haben? Kant und Schopenhauer folgend, entwickelt er eine bizarr klingende Antwort. Die Objekte der Außenwelt wirken durch eine Art molekularer Bewegung, ähnlich Röntgenstrahlen, auf das Zentralorgan, das Gehirn und verändern es materiell. Es reagiert auf diese konzentrischen mit exzentrischen Strömen, welche die organische Materie des Leibes, die Schädelkapsel durchdringen, sich im transsomatischen Raum fortsetzen und auf die Objekte treffen; diese empfinden wir also dort, wo sie wirklich sind: draußen, bis ins Kosmische hinaus. Insofern ist die Haut nicht die Grenze des Leibes.

Den in mehreren Anläufen entwickelten Gedanken stellt Marcus 1915/16 in der Abhandlung Das Problem der exzentrischen Empfindung und seine Lösung dar, in streng logischer Argumentation und ausdrücklich als eine Hypothese und als Alternative zu aktuellen physiologischen Theorien (Verlegung, Lokalzeichen usw.). F/M sorgt 1918 für den Druck in Waldens Sturm-Verlag; im Roman skizziert er den Gedanken mehrmals: Marcus ziehe die „gewissesten Folgerungen aus der Kantischen Philosophie, besonders der Raumtheorie Kants“ (195). Zwar lehnte Marcus Nietzsche rundheraus ab, doch scheint eine Nachlaßnotiz des letzteren in dieselbe transsomatische Richtung zu weisen: „Aufhören, sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen! [...] Über ,mich’ und ,dich’ hinaus! Kosmisch empfinden!“ 40

b) Am 8. Juni 1795 erinnerte J. G. C. Kiesewetter seinen Lehrer Kant an ein Versprechen: Er habe „schon seit einigen Iahren einige Bogen dem Publiko schenken wollen, die den Übergang von Ihren metaph. Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik selbst enthalten sollten“ (AA 12, 23). In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786) hatte Kant die reine Physik dargestellt als mathematische Naturlehre aus Begriffen a priori. Im sogenannten Opus postumum sucht er das Folgeproblem zu lösen: Wie kann diese Metaphysik zur Physik, zur angewandten Naturlehre übergehen, so daß beide zusammen die „Wissenschaft von den bewegenden Kräften der Materie im Weltraum“ bilden?41 Die Brücke zwischen beiden Teilen, den bewegenden Kräften und der Erfahrung, muß ein Drittes, Vermittelndes sein, ein „Schema“, das die Anwendung der Kategorie auf die Erscheinung möglich macht. Das muß systematisch geschehen, „durch logische Eintheilung eines höheren Begrifs in die niedrigere die unter ihm enthalten sind“ (AA 21, 285). Soll die gesamte Natur unter einem einheitlichen Gesetz stehen, so muß das gesetzmäßige Verhalten der Weltkörper eine einheitliche Ursache haben. Erfahrung ist nur möglich, wenn ein Stoff mit folgenden Eigenschaften real existiert: a) er ist überall im Weltraum verbreitet, ohne Vakuum; b) er befindet sich äußerlich in Ruhe (verändert seinen Ort nicht, da er ja überall ist), innerlich aber in steter Bewegung von Anziehung und Abstoßung, Expansion und Kontraktion: „Agitation“, „Sollicitation“, „Erschütterung“, „Zitterung“, „Undulation“ usw.; c) er ist unwägbar, unsperrbar („alldurchdringend“), „unausleerbar“, „allbewegend“, „alldaurend“. Statt einer definitiven Bezeichnung gibt Kant mehrere an: Äther, Basis, Welt-, Elementar-, Feuer-, Licht-, Urstoff, „uranfanglich bewegender Stoff“ usw.42

Diese Äthertheorie stellt Marcus erstmals im Spätsommer 1921 dar, in einer ausführlichen Rezension zu Erich Adickes’ fast 900 Seiten starkem Kommentar zum Opus postumum; zugleich erweitert er sie um einige Elemente zu einer Hypothese, die problematisch, aber diskutierenswert bleibt.43 Die Naturwissenschaftler verstehen unter dem Äther nur einen den Körpern beigeordneten Stoff, der den Weltraum ausfüllt, eine Art Lückenbüßer. Kant jedoch erblickt darin die ununterscheidbare Ursache alles Unterscheidbaren. Hier gibt es nichts Meßbares, daher führte das Michelson-Experiment zu keiner Entscheidung, daher hielt Einstein den Lichtäther als Träger der elektrischen und magnetischen Kräfte für irrelevant, warf ihn 1905 aus der Physik hinaus, um stattdessen von „Kraft-“ und „Gravitationsfeldern“ sprechen.

Die Existenz des Äthers ist für Marcus Tatsache; was der Erfahrung notwendig zugrunde liegt, bleibt unerfahrbar: apriorisch, transzendental (primärer Äther). Spezifische Ätherhypothesen dagegen seien nicht weniger paradox als die Kopernikanische Revolution. Werden z. B. alle dynamischen Eigenschaften der Materie (der Kraft) als „Modi“ des Äthers gedacht, so erscheinen die kosmischen, die organischen und anorganischen Körper, auch der menschliche Leib, als konstante Wirbel oder Wellen des Äthers, dynamische Verdichtungen oder Gerinnungen (verkörperter oder sekundärer Äther). Dieser ist ihnen dynamisch übergeordnet, verhält sich zu ihnen wie die Ursache zur Wirkung. Definiert man die Erdbewegung als Ätherwelle, in der auch das Licht mit enthalten ist, so bedeutet das Michelson-Experiment keine Widerlegung des Äthers (vgl. unten, 240). Kant sei mit seinen Überlegungen steckengeblieben, doch können sie als Wegweiser dienen. In den folgenden Jahren baut Marcus seine Idee weiter aus und führt eine gründliche Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie, woran sich auch F/M beteiligt, bis zu Kant gegen Einstein (1932; GS 1).

c) Die Grundgedanken der Theorie einer natürlichen Magie lagen bereits im Frühjahr 1919 vor, denn am 21. April schreibt Marcus an F/M: „Es freut mich sehr, daß meine Magie zu Ihrer Erhebung beitrug. Ich glaubte, Ihnen diese Medizin, die nicht für Jedermann taugen dürfte, anvertrauen zu dürfen, und habe mich also nicht getäuscht.“ Das war auch eine Reaktion auf Schöpferische Indifferenz (1918). Was F/M dort unkritisch, schwärmerisch vortrug, sollte nun streng auf Kants Grundlagen zurückgeführt werden. Am 25. Oktober 1920 berichtet F/M an Kubin:

„In der zweiten Auflage von Kants Weltgebäude kündigt er sein Werk ,Natürliche Magie’ an, eine Ausgestaltung der Kantischen ,Macht des Gemüts’, worin der Einfluß der Autosuggestion auf das Befinden des Leibes die theoretische Bekräftigung erhält.“44

F/M sorgt im Frühjahr 1924 für den Druck auch dieses Buches: Theorie einer natürlichen Magie, gegründet auf Kants Weltlehre (Marcus 1924). Unter dem programmatischen Titel: Von der Macht des Gemüths durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu seyn weist Kant darauf hin, daß der bloße, aber feste Vorsatz als Willensakt psychisch wirkt, etwa bei Schlaflosigkeit, übermäßiger Ernährung und anderen, nach zeitgenössischem Sprachgebrauch ,hypochondrischen’ Gefühlen.45 Der Wille hat aber auch physische Wirkungen, z. B. beim Heben eines Armes. Marcus zögert nicht, dies „Vernunftmagie“ zu nennen – gerade angesichts des Aufschwungs von Spiritismus, Okkultismus, Esoterik seit dem 19. Jahrhundert. Gleich zu Beginn erwähnt er die dem Paracelsus zugeschriebene Vorstellung, daß es der Wille sei, der magische Wirkungen erzeuge.46 Übernatürliche Kräfte weist er zurück: sie können niemals Gegenstände der Erfahrung werden, machen diese unmöglich; es kann jedoch unbekannte Willenswirkungen geben. Die von Kant, wie von den Stoikern, gemeinte Meisterschaft betrifft die willentliche Beeinflussung der Materie des Leibes. Insofern Psychisches (Vorstellungen, Ideen) den Leib, die Materie, ja die Natur gesetzmäßig organisiert, kausale Wirkungen auf die Physis hat, kann diese Vernunftmagie Wissenschaft heißen.

Marcus verknüpft das mit der Äthertheorie. Der Wille wirkt auf den organisierten Äther, dadurch auf den Leib; dieser ist, wie die Materie, nur Vorstellung; zum mechanistischen kommt das teleologische Prinzip hinzu; so beginnt das Ich als Noumenon im Mutterleib damit, den Leib zu organisieren.47 Dahinter steht ein von Schopenhauer überlieferter Satz: anima struit corpus – „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“, übersetzt Schiller.48

Kant teilt „die Sinne der Körperempfindung in den der Vitalempfindung (sensus vagus), und die der Organempfindung (sensus fixus)“ ein; zu ersterem gehören Wärme und Kälte, Schauern und Grauen; die Organsinne sind die bekannten fünf: Getast, Gesicht, Gehör, Geschmack und Geruch.49 Die „Vitalgefühle“, erklärt Marcus, bleiben in der Regel unbemerkt, sie verhalten sich zu den Empfindungen wie der Nullpunkt des Thermometers zu den Plus- und Minusgraden. Sie haben vier organisierende Funktionen: Zeugen, Erhalten, Wiederherstellen und Entwickeln. All das beruhe auf organischen Ätherschwingungen (1924, 52 f., 59 ff.).

Marcus faßt seine Hypothese am Schluß seines letzten Buches zusammen (1927, 560-586); F/M führt die „Organotechnik“ weiter, in Graue Magie gibt er bereits Beispiele: die automatische Schreibmaschine; das künstliche Auge für frisch Erblindete; der Plan, exzentrische Empfindungen zu fotografieren (nach Marcus 1918, 58); das Metall mit abarischen Eigenschaften.50 Das „sublimste Streben“ gehe dahin, die exzentrischen Gehirnstrahlen willkürlich zu erzeugen, also nicht als Reaktion auf die von den Objekten kommenden konzentrischen Strahlen (195 f.). Dreidimensionale Projektion frei im Raum wäre keine Abbildung einer äußeren Realität, sondern unabhängig von jeglichem Objekt; der Projektionsschirm hätte sich erübrigt (282). Bisher sei nur „graue Magie“ realisiert, noch nicht die wahre, „weiße“ (196). Sucram erklärt, er sei „Physiker auf metaphysischer Basis“, wie sie Kant im Opus postumum gelegt habe; er sei im Begriff, das zu werden, was Schopenhauer einen „Experimentalmetaphysiker“ nannte: „,Magier’, aber rationaler, mit exakt naturwissenschaftlicher Methode“.51

F/Ms Polaritätskonzept bleibt im Hintergrund. Der anonyme Janus zerspringt in seine antagonistischen Gesichter, so ergibt sich die Struktur der Grauen Magie: eine Doppelhelix, zwei ineinander verdrehte Stränge: Gut/Böse, Freiheit/Versklavung, Autonomie/Heteronomie, Idealismus/Materialismus, Gehirn/Sexus, Apoll/Dionysos usw. Sucram und Morvitius haben die größten Redeanteile, sie bilden die Entzweiung derselben Figur, ihre Extreme. Nun müssen, nach Goethes Motiv von Polarität und Steigerung, beide Serien so stark wie möglich gemacht, bis auf die Spitze getrieben werden, da